Weibliches Selbstbewusstsein und Emanzipation. Die Ballade "Vor Gericht" von Johann Wolfgang Goethe


Seminararbeit, 2020

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Weibliches Selbstbewusstsein und Emanzipation: Goethes Vor Gericht

2. Die Ballade im sozialkritischen Kontext
2.1. Die Reime und die metrische Struktur
2.2. Die Redeform und ihre Bedeutung

3. Die Frau und ihre Rolle als Mutter in der spätfeudalistischen Gesellschaft
3.1. „Hure“ oder „ehrlich Weib“?
3.2. Das Verhältnis zum Vater des ungeborenen Kindes
3.3. Unzucht als Straftatbestand und das Motiv des Kindsmords
3.4. „Herr Pfarrer und Herr Amtmann“: Widersetzen gegen geistliche und weltliche Obrigkeit

4. Über den Sinn und Zweck des Gedichts

5. Literatur- und Quellenverzeichnis

*Alle Zitate des Gedichtes beziehen sich auf folgenden Abdruck: Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756-1799. Hg. Karl Eibl. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag 2010.

1. Weibliches Selbstbewusstsein und Emanzipation: Goethes Vor Gericht

Welche Charaktereigenschaften zeichnen die Frau in der Verhörszene vor Gericht aus, die den Namen des Erzeugers ihres ungeborenen Kindes partout nicht preisgeben will? Die ledige, zukünftige Mutter befindet sich in einem drastischen Konflikt mit den vorgegebenen Konventionen und ihrer Lebenswirklichkeit. Sie setzt sich auf eine emanzipierte und selbstbewusste Art und Weise über die gesellschaftlichen Schranken hinweg und weist die obrigkeitliche Frage nach dem Vater ihres ungeborenen Kindes entschieden zurück.

Goethes Ballade Vor Gericht erhielt in der Tat nur wenig Beachtung von ,Anthologisten‘ und Interpreten1, bietet jedoch genügend interpretatorischen Spielraum und verdeutlicht zugleich, dass Goethe die historischen Möglichkeiten der Frauenrollen bedeutend überschritt. Um die Besonderheit dieses Gedichts ausarbeiten zu können, ist es daher unumgänglich, die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit etwas umfassender darzustellen, weshalb unter anderem auf die Stellung lediger Frauen im 18. Jahrhundert, Unzucht als Straftatbestand und der Kindsmord als häufige Konsequenz näher eingegangen wird. Abschließend soll die Kritik am Justizsystem und die damit einhergehende öffentliche Auflehnung gegen Kirche und Staat thematisiert werden.

Als Grundlage für die Analyse in dieser Seminararbeit dient mitunter die Interpretation des Literaturwissenschaftlers Walter Müller-Seidel, die er im Jahr 1983 verfasste. Er stellte bereits fest, dass die Einheit der Balladendichtung Goethes in der „Verbindung von Sozialkritik und Naturmagie“2 beruhe.

Zweifelsfrei werden bei Goethes Vor Gericht soziale Missstände aufgegriffen und beanstandet. Die Angeklagte, die das lyrische Ich verkörpert, muss die gesellschaftliche Missachtung ertragen, bleibt aber entschlossen und steht zu sich, ihrem Liebespartner und ihrem ungeborenen Kind. Sie fordert einen Wandel der Mentalität, sowie des Rechtssystems und zeigt, dass eine Frau selbstbestimmt handeln und zudem gleichberechtigt behandelt werden sollte.

2. Die Ballade im sozialkritischen Kontext

2.1. Die Reime und die metrische Struktur

Im Jahr 1815 erschien Goethes Vor Gericht erstmals im Druck, nachdem es zuvor lediglich im handschriftlichen Sammelheft der Frau von Stein aufgeführt war. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass es vor dem Jahr 1778 entstanden sein muss.3 Das Gedicht lässt sich formal allerdings nicht in ein strenges Schema einordnen. Jedoch kann man es der Balladendichtung zuweisen, da es lyrische, epische und dramatische Elemente miteinander kombiniert. Die angeklagte Frau tritt in diesem Fall als die handelnde Person auf, die in Form einer Verteidigungsrede spricht. Des Weiteren erzeugt die besonders emotionale Thematik Spannung und Empathie.

Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils vier Versen, woraus sich ein Umfang von insgesamt 16 Versen ergibt. Durchgehend reimen sich jeweils der zweite und vierte Vers einer Strophe, der erste und dritte hingegen reimen sich nie. Eine Ausnahme besteht in den Versen 4 und 8, in denen sich die verweigernde Aussage „das sag‘ ich euch nicht“ refrainartig wiederholt4 und deshalb ein Reim zwischen diesen jeweils ersten Versen der ersten und zweiten Strophe zustandekommt. Damit wird noch einmal unterstrichen, dass die Angeklagte die Namen des Vaters unter keinen Umständen preisgeben wird.

Zur metrischen Struktur kann man sagen, dass abwechselnd zunächst vier und drei Hebungen pro Vers zu zählen sind. Außerdem können ausschließlich männliche Kadenzen vorgefunden werden, die zum dramatischen und starken Ton beitragen. Diese könnten zudem eine Anspielung auf das patriarchalisch geprägte System der Gesellschaft sein und verdeutlichen somit die Vormachtstellung der Männer. Zwar lässt sich kein einheitliches Versmaß erkennen, jedoch überwiegt der Jambus. In den Versen 1, 5, 8 und 9 kann man teilweise eine daktylische Silbenbetonung feststellen.

2.2. Die Redeform und ihre Bedeutung

Goethe schrieb das Gedicht aus der Perspektive der angeklagten Frau, die als lyrisches Ich auftritt. Bereits im ersten Vers ist eine Inversion zu erkennen, die Spannung erzeugt. In Vers 1 wird zunächst das Pronomen „es“ verwendet und erst im Anschluss enthüllt, dass damit das Kind in ihrem Leib gemeint ist. Besonders in Vers 1 und Vers 5 wird deutlich, dass die Anklage zudem einen tiefen Eingriff in die Privatsphäre der Angeklagten darstellt. Parallelismen treten mehrfach beispielsweise in den Versen 1, 5, 7, 8, 11 und 15 auf. Bei den Versen 7 und 8 ist zusätzlich eine Anapher zu erkennen, die gleichzeitig durch die Antithese mit der „goldne[n] Kett‘“ und dem „strohernen Hut“ verstärkt wird. Die Verwendung dieser Stilmittel sind mitunter ausschlaggebend für den entschlossenen und selbstbewussten Ton dieser Verteidigungsrede.

Es handelt sich bei dieser Rede lediglich um einen Ausschnitt des Gerichtsprozesses. Diese ähnelt zwar einem Monolog, enthält jedoch auch dialogähnliche Elemente, die ein typisches Merkmal für die Balladendichtung ausmachen. Zwar befinden sich keine Anführungsstriche in Vers 3, jedoch ist offensichtlich, dass die Ausdrücke „Pfui“ und „die Hure da“ eine indirekte Wiedergabe dessen sind, was die anwesenden oder auch außenstehende Personen zu ihr gesagt haben. Grundsätzlich richtet sich ein Monolog nicht direkt an einen Gesprächspartner, aber genau darin unterscheidet sich die Rede des lyrischen Ichs. Sie äußert gezielt Befehle und Bitten an den Pfarrer und den Amtmann und erwartet somit eine Antwort, in Form von Worten oder Taten. Walter Müller-Seidel bezeichnet die Verteidigungsrede als eine „Aussageform, in der nur eine Person spricht, die Rede und Antwort steht, in einem ganz wörtlichen Sinn.“5 Das bekräftigt die Tatsache, dass es sich in diesem Fall um eine Mischform handelt, die nicht eindeutig als Monolog zu identifizieren ist.

3. Die Frau und ihre Rolle als Mutter in der spätfeudalistischen Gesellschaft

3.1. „Hure“ oder „ehrlich Weib“?

Im Goethe-Wörterbuch findet sich folgende Definition für den Begriff „Hure“: „Fremdenmädchen, Prostituierte, [...] neben anderen gesellschaftlich geringgeachteten Personen“6. Der Begriff kann allerdings auch für eine „in erotischer Hinsicht freizügige Frau“7 stehen. Im Zusammenhang mit dem Verb „ausspeien“ hingegen bildet „Hure“ in jedem Fall einen sehr vulgären Ausdruck, der unmissverständlich als eine Beleidigung aufgefasst werden kann. Laut Goethe-Wörterbuch bezeichnet das Ausspeien „verächtlich abwehrend vor jemandem ausspucken“8 und wird in diesem Fall als eine abwertende Bezeichnung für den Sprechakt verwendet. Damit charakterisiert die Angeklagte die Personen, die sie eine Hure genannt haben, auf eine negative Weise und bringt damit zum Ausdruck, dass die ihr vorgeworfenen Anschuldigungen nicht gerechtfertigt sind und sie sich keiner Schuld bewusst ist.

Besonders dieser und der darauffolgende Vers stellen eine Antithese dar, die widerspiegeln soll, wie die Frau von außenstehenden Personen gesehen wird und wie sie selbst über sich denkt. Sie drückt damit außerdem aus, dass eine Hure nicht ehrlich ist oder auf eine unehrliche Art und Weise ihr Geld verdient. Zugleich wurde das Subjekt in Vers 4 ausgelassen, wodurch eine Ellipse entstand, die umgangssprachlich und deshalb auch authentisch wirkt. Zum Adjektiv „ehrlich“ finden sich im Goethe-Wörterbuch folgende Definitionen: „rechtschaffen, innerlich anständig, ohne Fehl [...] [oder auch] in Besitz weiblicher Würde, sittsam [,..]9 “ Das lyrische Ich verweist mit der Verwendung dieses Adjektivs darauf, dass es sich keiner Schuld bewusst ist, den nötigen Anstand besitzt und seiner Auffassung nach sittsam verhalten hat. Weiterhin wird betont, dass die Angeklagte ihre Würde nicht verloren hat. Im Gegenschluss schreibt sie einer Hure gegenteilige Eigenschaften zu. Es entwickelte sich allerdings auch ein Bild, dass eine Frau im Allgemeinen überhaupt keine Hure mehr sein konnte, sondern vielmehr ein Opfer männlicher Triebe wurde:

„Der Mann, dem allgemein die größere sexuelle Triebhaftigkeit zugesprochen wurde, wirbt aktiv um die Frau, die sich, mangels Durchsetzungskraft, nach einer gewissen Zeit nicht mehr verweigern kann und sich dem Mann hingeben muss. Die Frau steht dem Verhalten des Mannes hilflos gegenüber und hat dem aufgrund ihrer natürlichen Charaktereigenschaften nichts entgegen zu setzen.“10 Anhand dieser Aussage wird die damalige Vorstellung verdeutlicht, dass es der Frau an Durchsetzungsvermögen fehle und sie dadurch einen schwächlichen Charakter habe. Es wird suggeriert, dass eine Frau nicht in der Lage sei, ihre Rechte zu verteidigen und sie praktisch dazu gezwungen sei, sich letztendlich der Unzucht hinzugeben. Daraus kann man schlussfolgern, dass der Frau eine opferhafte Rolle zugeschrieben wurde, da sie aufgrund ihrer psychischen Gegebenheiten keine andere Wahl habe, als sich den Wünschen des Mannes zu unterwerfen. Dem Mann wird außerdem - im Gegensatz zur Frau - ein größeres Interesse an sexueller Aktivität zugesprochen. Er verfügt nach Ulrike Lembke über „biologisch ununterdrückbare Sexualtriebe“, die er nur mit Mühe bewusst steuern kann.11

Im Gegensatz dazu wird bei Goethes Vor Gericht ein deutlich abweichendes Bild der Frau erzeugt. Die Angeklagte wendet sich öffentlich gegen jegliche Normvorstellungen, beweist eine äußerst hohe Durchsetzungsfähigkeit und verteidigt auf diese Weise sich selbst, den Erzeuger wie auch das ungeborene Kind. Es ist demnach unwahrscheinlich, dass es sich hierbei um einen erzwungenen Vorfall gehandelt hat. Zudem sprechen mehrere Aussagen dafür, dass der Geschlechtsverkehr auf freiwilliger Basis stattfand, weshalb man annehmen kann, dass durchaus auch von der weiblichen Seite ein sexuelles Interesse bestand. Diese Beziehung zwischen Mutter und Vater soll im nächsten Abschnitt näher betrachtet werden.

3.2. Das Verhältnis zum Vater des ungeborenen Kindes

In der Tat lassen sich mehrere Anzeichen dafür finden, die den Anschein erwecken, dass die Angeklagte und der Vater des Kindes ein harmonisches Verhältnis zueinander haben. Anhand der tautologischen Äußerung „lieb und gut“ (V. 6) charakterisiert die zukünftige Mutter den Vater des ungeborenen Kindes auf positive Weise und betont gleichzeitig ihre Loyalität ihm gegenüber. Ferner gibt auch die Bezeichnung „Schatz“, die man üblicherweise für eine geliebte Person verwendet, einen Hinweis darauf, dass die beiden eine Liebesbeziehung miteinander führen. Es deutet daher darauf hin, dass der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand.

[...]


1 Vgl. Walter Müller-Seidel. Vor Gericht. Balladendichtung und Justizkritik. Zu einem wenig bekannten Gedicht Goethes. Rechtsdenken im literarischen Text: deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Hg. Gunter Reiß. Berlin: De Gruyter 2017. S. 3.

2 ebd. S. 3.

3 Vgl. Müller-Seidel 2017, S. 3.

4 Vgl. ebd. S. 7.

5 ebd. S. 8.

6 Goethe-Wörterbuch. Band 4: Geschäft - inhaftieren. Stuttgart: Kohlhammer 2004.

7 ebd.

8 Goethe-Wörterbuch. Band 1: A - azurn. Stuttgart: Kohlhammer 1978.

9 Goethe-Wörterbuch. Band 3: Einwenden - Gesäusel. Stuttgart: Kohlhammer 1998

10 Karin Stukenbrock: Das Zeitalter der Aufklärung. Kindsmord, Fruchtabtreibung und medizinische Policey. In: Geschichte der Abtreibung. Von der Antike bis zur Gegenwart, Hg. Robert Jütte, München: Beck 1993, S. 105.

11 Ulrike Lembke. Vis haud ingrata - die “nicht unwillkommene Gewalt“ Die kulturellen Wurzeln sexualisierter Gewalt und ihre rechtliche Verarbeitung. Bern 2008, S. 6.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Weibliches Selbstbewusstsein und Emanzipation. Die Ballade "Vor Gericht" von Johann Wolfgang Goethe
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
15
Katalognummer
V989770
ISBN (eBook)
9783346351258
ISBN (Buch)
9783346351265
Sprache
Deutsch
Schlagworte
weibliches, selbstbewusstsein, emanzipation, ballade, gericht, johann, wolfgang, goethe
Arbeit zitieren
Isabell Horn (Autor:in), 2020, Weibliches Selbstbewusstsein und Emanzipation. Die Ballade "Vor Gericht" von Johann Wolfgang Goethe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/989770

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