Das Weltmachtstreben unter Wilhelm II.

Inwiefern war die vom Deutschen Reich betriebene Weltpolitik maßgeblicher Faktor für seine zunehmende politische Isolation?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Kaiser gegen Kanzler – Bismarcks Entlassung und Wilhelms „Neuer Kurs“

3 Der Drang nach „Weltgeltung“

4 Außenpolitische Konflikte

5 Die Krise spitzt sich zu – Politische Isolierung des Kaiserreichs

6 Fazit

7 Bibliografie

1 Einleitung

Der Tod Friedrichs III. am 15. Juni 1888 beendete dessen 99-Tage-Herrschaft und ebnete den Weg für den Regierungsantritt seines Sohnes, Wilhelm II. Nach der nahezu bedrückenden und lähmenden Atmosphäre der Vormonate wurde der neue Thronfolger freundlich von der Öffentlichkeit aufgenommen: „Ja der junge Kaiser hetzt seine Leute schön herum, besonders die Militärs, und die Zugluft, die gegenwärtig in Berlin weht, mag manchem gefährlicher dünken als ein Feldzug! Aber stände nicht als letzter der Helden der großen Zeit unser Kanzler hinter dem jungen Draufgeher, es könnte einem ab und zu bange werden vor dem Übereifer, der allzu scharf dareinfährt.“ 1

So beobachtete beispielsweise die Baronin von Spitzemberg im August 1888 das Handeln und Auftreten des jungen Kaisers. Allerdings sollte sich ihre Hoffnung, der Kanzler Bismarck werde das ungestüme Temperament Wilhelms II. im Zaum halten können, nicht erfüllen.

In der folgenden Einleitung werden die thematischen Schwerpunkte, mit denen sich die Arbeit auseinandersetzt, genannt und begründet. Darüber hinaus werden Fragestellungen aufgeworfen und der Aufbau der Arbeit skizziert, sowie der Forschungsstand erläutert. Die vorliegende Abhandlung analysiert die einzelnen Phasen der deutschen Außenpolitik unter Kaiser Wilhelm II. Zeitlich setzt sie dabei mit der Thronbesteigung des jungen Monarchen im Jahr 1888 ein. Zunächst wird das Verhältnis des Kaisers zum Reichskanzler Otto von Bismarck thematisiert und die ersten Jahre der Amtszeit des neuen Monarchen durchleuchtet. Wie der Titel der Arbeit bereits vorwegnimmt, liegt der Schwerpunkt der Untersuchungen hierbei immer auf der Außenpolitik des Kaiserreichs. Anschließend werden zwei Aspekte behandelt, die exemplarisch für das Weltmachtstreben des Kaisers waren: die Kolonial- und Flottenpolitik. Im darauffolgenden Kapitel soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden, wie unglücklich die deutsche Diplomatie und der Kaiser selbst auf dem Gebiet der Außenpolitik auftraten. Dabei werden sowohl bei der ersten Marokkokrise, als auch beim Hale-Interview, vor allem die Konsequenzen der deutschen Aktionen für die zwischenstaatlichen Beziehungen in den Mittelpunkt der Untersuchungen gerückt. Im letzten Kapitel des Hauptteils wird der Frage nachgegangen, ob die vorangeschrittene Isolation des Kaiserreichs noch durchbrochen werden konnte. Abschließend geht es darum, die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Diese Fragen werden für die Hausarbeit wie folgt formuliert: Inwiefern war die vom Deutschen Reich betriebene Weltpolitik maßgeblicher Faktor für seine zunehmende politische Isolation? Wie ist die Rolle des Kaisers Wilhelm II. in diesem Zusammenhang zu bewerten?

Da die turbulenten Ereignisse rund um die Julikrise des Jahres 1914 und die damit einhergehende Kriegsschulddebatte nicht für die Beantwortung der Fragestellungen relevant sind und eine detaillierte Analyse der Geschehnisse den Rahmen der Abhandlung sprengen würde, sind diese nicht mehr Gegenstand der Hausarbeit. Zum systematischen Vorgehen beim Verfassen der Arbeit ist folgende Anmerkung zu machen. Es geht im Verlauf der Abhandlung nicht um eine lückenlose und vollständige Auflistung aller Stationen der wilhelminischen Außenpolitik. Vielmehr sollen die aufgeworfenen Fragen anhand exemplarisch ausgewählter Beispiele beantwortet werden.

Die politische und diplomatische Geschichtsschreibung kann sich zur Aufarbeitung des Themas auf zahlreiche Memoiren, Tagebücher und private Unterlagen stützen. Obwohl oder gerade weil der Wissenschaft zahlreiche Quellen vorliegen, gibt es bis heute kontroverse Ansichten über die deutsche Außenpolitik unter Kaiser Wilhelm II. und über die Rolle des Monarchen selbst.2 In den 1960er Jahren waren die Anhänger des Hamburger Historikers Fritz Fischer der festen Überzeugung, dass das Deutsche Reich sich unter Wilhelm II. selbst in eine Außenseiterrolle hinein manövrierte. Diese Ansicht griff für andere Geschichtswissenschaftler jedoch zu kurz. Der in Großbritannien lebende australische Historiker Christopher Clark richtete in seinem 2012 veröffentlichten Buch „The Sleepwalkers“ den Blick auf die Außenpolitik der anderen europäischen Staaten. Damit entfachte Clark eine neue Debatte über die Rolle der kontinentalen Großmächte bei der Entstehung von festgefahrenen Blocksystemen im Vorfeld des 1. Weltkrieges. Ein für die Arbeit unerlässliches Werk, ist die Monographie „Die nervöse Großmacht 1871 – 1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs.“ von Volker Ullrich. Ullrich zeigt in seinem Werk detailliert die Widersprüche der deutschen Außenpolitik auf. Dabei geht er außerdem explizit auf den Generationenwechsel von Bismarck zu Kaiser Wilhelm II. ein. Eine weitere literarische Grundlage für die Erschließung der Thematik bilden die Aufsätze des deutschen Historikers Michael Epkenhans. Dieser setzt sich dabei sowohl mit der Tirpitzschen Flottenplanung als auch verstärkt mit dem Einfluss des Kaisers auf dem Feld der deutschen Außenpolitik auseinander.

2 Kaiser gegen Kanzler – Bismarcks Entlassung und Wilhelms „Neuer Kurs“

Für viele Beobachter der Zeit lag schon vor 1888 auf der Hand, dass sich das Miteinander zwischen dem jungen Kaiser und dem 73-jährigen Kanzler schwierig gestalten werde. Während sich die Vorgänger Wilhelm II. nicht daran störten, im Schatten Bismarcks zu stehen, so wollte der junge Monarch mit aller Macht als der Mann da stehen, der selbst regiert. Trotz der ungünstigen Vorzeichen folgte unmittelbar auf die Thronfolge am 15. Juni zunächst eine Phase ruhiger Zusammenarbeit zwischen Kanzler und Monarch. Doch diese Harmonie sollte nicht lange Bestand haben. „Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst.“3 Diese Worte soll er im engen Kreis seiner konservativen Freunde gesprochen haben. Zu unterschiedlich waren die politischen Ansichten, vor allem auf den Schlüsselfeldern der Innenpolitik. Bismarck wollte den „Kulturkampf“ gegen den politischen Katholizismus fortsetzen, Wilhelm II. war strikt dagegen. Bismarck wollte das Sozialistengesetz verschärfen, der Kaiser es abschaffen. Der endgültige Bruch erfolgte im Frühjahr 1890. Nach den Reichstagswahlen im Februar, aus der die Sozialdemokraten als stärkste Partei hervorgingen, zeigte sich, dass Bismarcks System, der zwei Jahrzehnte lang geschickt versuchte, die Parteien in Schach zu halten, gescheitert war. Als Bismarck daraufhin, wie so oft eigenmächtig, Pläne schuf, den Reichstag aufzulösen und ihm eine Militärvorlage zu präsentieren, war der Bruch endgültig. Am Morgen des 15. März 1890 ließ Wilhelm II. den Kanzler wecken und beschwerte sich energisch gegen seine wiederholten Eigenmächtigkeiten und wies die genannten Pläne entschieden zurück. Zwei Tage später verkündete Bismarck seinen Entschluss zum Rücktritt. Wiederum einen Tag darauf reichte er sein Abschiedsgesuch ein. Gedemütigt durch seine Entlassung, formulierte er eben jenes Abschiedsgesuch so, dass dem Kaiser die volle Verantwortung für das Zerwürfnis zufiel. Besonders interessant war dabei, dass Bismarck unterschiedliche Auffassungen in der Außenpolitik als Grund für seine Entlassung nannte, wobei diese in Wahrheit keine fundamentale Rolle spielte. Der Vorwurf Bismarcks lautete, der Kaiser verfolge eine zum Krieg treibende Politik gegenüber dem Zarenreich, welche er selbst keinesfalls befürworten könne. Inwiefern Bismarcks Nachfolger rund um Wilhelm II. tatsächlich sein geschickt angelegtes Bündnissystem aufs Spiel setzen sollten, wird im Verlauf der Arbeit ersichtlich.4

Während man im Ausland besorgt auf die Ereignisse im Kaiserreich blickte – die berühmte Karikatur „Dropping the Pilot“ der englischen Zeitschrift Punch brachte diesen Zustand markant zum Ausdruck – blickten die Menschen in Deutschland der Zukunft freudig entgegen. „Schweren Herzens sieht das deutsche Volk den Mann aus dem Amte scheiden, dem es seine heutige Größe und Machtstellung verdankt, aber es blickt auch mit vollem Vertrauen zu seinem Kaiser auf, der mit jugendkräftiger Hand nun selbst das Steuer zu führen gewillt ist.“5 Diese Zeilen schrieb der „Hannoversche Courier“ einen Tag nach der Entlassung Otto-von-Bismarcks. Anhand dieser Äußerungen lässt sich sehr gut die allgemeine Stimmungslage im Kaiserreich nachvollziehen. Zwar sprachen es nur die Wenigsten offen aus, doch wurde der politische Abschied Bismarcks von einem Gefühl der Erleichterung begleitet. Vor allem auf dem Feld der auswärtigen Politik hatten viele Reichsbürger die letzten Jahre der Ära Bismarck als Zeit der Stagnation wahrgenommen. In der Person des Reichskanzlers sahen viele nur noch ein Hindernis auf dem Wege zu „neuen Ufern“. Denn das Verlangen nach Macht und Prestige und die Vision von Deutschland als Großmacht wuchsen mehr und mehr. Wilhelm II. war nun die Person, an der jene Hoffnungen eng geknüpft waren. Er stellte für viele Zeitgenossen, den nach vorne blickenden Staatsmann dar.6

„Der Kurs bleibt der alte, und nun Volldampf voraus!“.7 Mit diesen Worten kündigte der neue Kaiser am 22. März 1890, also nur wenige Tage nach der Entlassung Bismarcks, seine politische Vorgehensweise an. Doch der Kurs sollte mitnichten der alte bleiben. Nach der Entlassung Bismarcks berief Wilhelm II. den preußischen Offizier Leo von Caprivi zum neuen Reichskanzler. Bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit traf dieser eine Entscheidung, welche für die weitere Entwicklung des Kaiserreichs von ungeahnter Bedeutung sein sollte: die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags. Der Rückversicherungsvertrag wurde im Jahr 1887 von Bismarck ausgehandelt und stellte ein geheimes Neutralitätsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und dem Russischen Reich dar. Der Vertrag war ein wesentlicher Bestandteil des komplexen Bündnissystems, welches Otto von Bismarck geschaffen hatte. Sein Nachfolger Caprivi hingegen war kein Verfechter dieser Bündnispolitik und wollte in der Außenpolitik für klare und überschaubare Verhältnisse sorgen. Gestützt wurde Caprivi von einigen seiner wichtigsten Berater im Auswärtigen Amt, wie dem Vortragenden Rat Friedrich von Holstein, der in den frühen Jahren nach Bismarck zu einer wichtigen Figur in der deutschen Außenpolitik aufstieg. Für eben jene Vertreter des „Neuen Kurses“ galt es, das vielschichtige und komplizierte Vertragswerk Bismarcks auf ein handhabbares Maß zurückzuführen.8 Caprivi versuchte daher vehement, Wilhelm II. von der Sinnhaftigkeit einer Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags zu überzeugen. Das Hauptargument, auf welches sich der neue Reichskanzler stützte war, dass der Vertrag nicht mit anderen vertraglichen Verpflichtungen des Reiches vereinbar sei. Zwar entsprach dieses Argument durchaus den Tatsachen, doch übersah man, dass diese Widersprüchlichkeit von Bismarck gewollt gewesen ist, um die Spannungen vom Zentrum Europas an die Peripherie zu verschieben.9 Trotz des erkennbaren Willen Russlands, das Abkommen zu verlängern, wurden alle Vereinbarungsversuche von der Wilhelmstraße entschieden zurückgewiesen. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags wird noch heute von vielen Historikern als eine verhängnisvolle Fehlentscheidung interpretiert, welche die Annäherung Russlands an Frankreich beschleunigte. Diese Annäherung wurde 1894 vertraglich festgehalten. Mit dem französisch-russischem Zweiverband trat somit die von Bismarck stets gefürchtete Zweifrontenlage für das Deutsche Reich ein.10

Andere Bündnisse hingegen, wie der Dreibund von 1882 zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, wurden verlängert. Zumindest diese Strategie der Bündnissicherung stand noch am ehesten im Zeichen der Kontinuität der Außenpolitik Bismarcks. Der entscheidende Unterschied war hierbei jedoch, dass Bismarck das Deutsche Reich mit seiner Gleichgewichtspolitik in ein europäisches Sicherheitssystem einband, während sich nach ihm mehr und mehr verfestigte Allianzen und Blöcke mit unterschiedlichen machtpolitischen Interessen bildeten. Darüber hinaus führte Caprivi ein gänzlich neues außenpolitisches Element ein. Er versuchte durch Abschluss einer Reihe von Handelsverträgen die mitteleuropäische Machtbasis des Reiches zu stärken. Auf den Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn im Mai 1891 folgten schnell Verträge mit der Schweiz, Belgien, Italien, Spanien, Rumänien und Serbien. Innerhalb weniger Jahre schuf Caprivi auf diese Weise ein vernetztes System von Handelsverträgen, das auf eine Liberalisierung des zwischenstaatlichen Handels abzielte und somit im kompletten Gegensatz zu Bismarcks Schutzzollpolitik stand. Selbstredend spielten bei der Handelsvertragspolitik nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch machtpolitische Überlegungen eine große Rolle. Ziel war es dem Deutschen Reich, durch die Schaffung eines von ihm dominierten mitteleuropäischen Wirtschaftsraumes, eine Vormachtstellung auf dem Kontinent zu sichern.11

Es lässt sich zusammenfassend festhalten: Als Wilhelm II. im Jahr 1888 den Thron bestieg, hatte das Amt des Kaisers nicht viel mehr als eine repräsentative Funktion inne, ein Umstand, der sich fortan ändern sollte. Der Thron war nicht länger der bloße Sitz der Autorität, sondern eine eigenständige politische Kraft. Vor allem der Kurswechsel auf dem Feld der Außenpolitik ist wie kein anderer eng mit den Personen Bismarck und Wilhelm II. verbunden. Der Wandel von einer Politik der Saturiertheit und der Konfliktvermeidung, gestützt auf teilweise nur schwer miteinander vereinbare Bündnissysteme, zu einer Politik der möglichst freien Hand und der Machterweiterung, kennzeichnete den Wechsel der Generationen zwischen Bismarck und Wilhelm II. Allgemein lässt sich die Außenpolitik in den ersten Jahren nach der Ära Bismarck als Phase des Übergangs beschreiben. Zum einen bewegten sich die Vertreter des „Neuen Kurses“ trotz neuer Akzente noch immer im Schatten der außenpolitischen Vorstellungen des Reichsgründers. Zum anderen zeichnete sich früh das Ziel einer deutschen Hegemonie in Europa ab, beispielsweise durch die Handelsvertragspolitik Caprivis. Dennoch darf die Politik des „Neuen Kurses“ nicht mit dem später einsetzenden Weltmachtstreben gleichgesetzt werden. So blieb in der ersten Hälfte der 1890er Jahre das Denken und Handeln der Repräsentanten des „Neuen Kurses“ auf die kontinentaleuropäische Mächtekonstellation beschränkt. Doch das immense Kraftgefühl und die Dynamik des jungen Reiches sollten alsbald dafür sorgen, dass das Verlangen nach überkontinentaler Macht den Weg in die Weltpolitik bereitete.12

3 Der Drang nach „Weltgeltung“

3.1. Außenpolitik im Zeichen des Imperialismus – Wilhelm II. und die Kolonien

Zweifelsohne stellte der „Neue Kurs“ eine bedeutende außenpolitische Zäsur dar. Dennoch war, wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, für die Vertreter des „Neuen Kurses“ das Thema „Weltpolitik“ noch nicht die vielversprechende Losung der Zukunft. Hinzu kommt, dass der Reichskanzler Leo von Caprivi höchstpersönlich kein Verfechter einer kolonialen Expansion des Deutschen Reiches war. Er war der Überzeugung, dass die deutschen Kräfte im Kriegsfall ohnehin nicht ausreichen würden, um ein ausgedehntes Kolonialreich gegen die Seemacht Großbritannien verteidigen zu können. Im Oktober 1894 wurde Caprivi jedoch aufgrund zunehmender Widerstände in den konservativen Kreisen gegen seine Politik zum Rücktritt gezwungen. Sein Rücktritt machte nun den Weg frei für eine Außenpolitik der imperialen Großmachtsucht.13 Die Jahre zwischen 1894 und 1897 können folglich als Inkubationsphase der deutschen „Weltpolitik“ betrachtet werden, also als jene Zeit, in der das Verlangen nach Kolonialexpansion nie zuvor da gewesene Dimensionen annahm. Den eigentlichen Startschuss in die „Weltpolitik“ gab Kaiser Wilhelm II. aber erst drei Jahre später. Mit der Ernennung von Bernhard von Bülow und Alfred von Tirpitz zu Staatssekretären im Auswärtigen Amt und im Reichsmarineamt, saßen nun zwei Verfechter der Kolonialpolitik am Entscheidungshebel. „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“14 Mit diesen unmissverständlichen Worten machte Bülow im Dezember 1897 deutlich, dass das Deutsche Reich die Fesseln der Kontinentalpolitik lösen und sich voll und ganz der Kolonialpolitik verschreiben müsse. So spektakulär sich die Äußerung in der heutigen Betrachtung anhören mag, so folgte sie lediglich der allgemeinen Bewegung, die sich um die Jahrhundertwende unter dem Begriff „Imperialismus“ einbürgerte. Das Kaiserreich tat letztendlich nur das, was die führenden Industrienationen der westlichen Welt bereits zuvor taten: es wetteiferte um Kolonien und Einflusszonen auf der ganzen Welt. Die Aussicht auf neue Handelsplätze, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Flottenstützpunkte war bereits aus rein wirtschaftlicher Perspektive Anlass genug für den Wettkampf unter den Großmächten. Allgemein wurde der Erwerb von Kolonien an sich bereits zu einem Statussymbol, ganz egal welchen ökonomischen Wert diese doch letztendlich hatten.15

Von entscheidender Bedeutung für die offensiv geführte Expansionspolitik war nicht zuletzt die Stimmung in der Bevölkerung selbst. In Deutschland war eine kraftvolle Bewegung erwacht, die sich nicht, wie in den Jahrzehnten zuvor, nur aus Vertretern der Oberschicht zusammensetzte. Auch Menschen aus der Mittelschicht und dem Bildungsbürgertum standen nun für eine kraftvolle Weltpolitik ein. Die Spitze dieses neudeutschen Imperialismus bildeten insbesondere die Deutsche Kolonialgesellschaft und der 1891 gegründete Alldeutsche Verband.16

Doch wie gestaltete sich der Eintritt Deutschlands in den Imperialismus? Versucht man die „Weltpolitik“ des Deutschen Reiches zu charakterisieren, so lässt sich festhalten, dass dieser eine klare, zielgerichtete Konzeption fehlte. Es mangelte schlichtweg an durchdachter Planung. Vielmehr kennzeichnete hektischer Aktionismus, gepaart mit mangelnder Erfahrung, das Weltmachtstreben Deutschlands. Es ging der wilhelminischen Außenpolitik in erster Linie darum, überall Flagge zeigen zu wollen. 1899 beispielsweise kaufte das Deutsche Reich der spanischen Regierung einige kleine Inselgruppen im Pazifik ab, darunter die Karolinen und Palau. Ein Jahr darauf sicherte es sich die Anerkennung seiner Ansprüche auf dem nördlichen Teil des Samoa-Archipels. Dieses Eingreifen in den pazifischen sowie fernöstlichen und afrikanischen Raum war zwar ökonomisch kaum profitabel, dennoch erhöhte es die Spannungen zu England, Russland und den Vereinigten Staaten. So verwundert es nur wenig, dass der Neuling auf der imperialistischen Bühne bald als Störenfried wahrgenommen wurde.17

Für die „Weltpolitik“ kam erschwerend hinzu, dass das Kaiserreich mit seinem Anspruch auf einen „Platz an der Sonne“ im Grunde zu spät kam. Die Aufteilung der Kolonialgebiete war um das Jahr 1900 herum schon weitestgehend abgeschlossen. Dieser Verspätung war sich die deutsche Außenpolitik durchaus bewusst. Der Umstand führte zum Gefühl, dass das Versäumte überstürzt nachgeholt werden müsse, was wiederum zu nervösen und unstrukturierten Handlungen führte.18 Des Weiteren erwiesen sich die letztendlich erworbenen Kolonien als ökonomisch nicht rentabel. So hatten die großen deutschen Wirtschaftsunternehmen viel engere Handelsbeziehungen zu den englischen Kolonien als zu den eigenen. Auch der Versuch, mittlere und untere Einkommensschichten zu einem finanziellen Engagement in den Kolonien zu bewegen, scheiterte. So wanderten zwischen 1887 und 1906 eine Millionen Deutsche in die Vereinigten Staaten aus, in den deutschen Kolonien hingegen ließen sich bis zum Jahr 1910 vergleichsweise nur ca. 15.000 Auswanderer nieder. Dementsprechend waren die deutschen Kolonien auch als „Siedlungsgebiet“ unbedeutend.19

[...]


1 Zit. nach: Vierhaus, Rudolf: Am Hof der Hohenzollern. Aus dem Tagebuch der Baronin Spitzemberg 1865 – 1914. München 1965. S. 110. In: Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1870/71 – 1914. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. Frankfurt am Main 1999. S. 113.

2 Clark, Christopher: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. München 2008. S. 203.

3 Zit. nach: Frank, W.: Hofprediger Adolf Stöcker und die christlich-soziale Bewegung. Hamburg 1928. S. 318. In: Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1870/71 – 1914. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. Frankfurt am Main 1999. S. 113.

4 Ullrich. S. 118.

5 Zit. nach: Loth, Wilfried: Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung. München 1996. S. 21. In: Gall, Lothar (Hrsg.): Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels? Paderborn 2000. S. 7.

6 Gall, Lothar (Hrsg.): Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels? Paderborn 2000. S. 8.

7 Zit. nach: Schröder, Wilhelm.: Das persönliche Regiment. Reden und sonstige Äußerungen Wilhelms II. München 1907. S. 92. In: Ullrich, Volker: Die nervöse Großmacht 1870/71 – 1914. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs. Frankfurt am Main 1999. S. 182.

8 Balfour, Michael: Der Kaiser. Wilhelm II. und seine Zeit. Berlin 1996. S. 200.

9 Ullrich. S.183.

10 Ebenda. S. 184.

11 Balfour. S. 202.

12 Clark. S. 72

13 Mommsen, Wolfgang J.: Bürgerstolz und Weltmachtstreben: Deutschland unter Wilhelm II. 1890 – 1918. Berlin 1995. S. 290.

14 Zit. nach: Penzler, Johannes: Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Bd.1. Berlin 1907. S. 71. In: Gall, Lothar (Hrsg.): Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels? Paderborn 2000. S. 34.

15 Fesser, Gerd: Reichskanzler von Bülow – Architekt der deutschen Weltpolitik. Leipzig 2003. S. 51.

16 Mommsen. S. 296.

17 Ullrich. S. 201.

18 Gall. S. 35.

19 Mommsen. S. 297.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Weltmachtstreben unter Wilhelm II.
Untertitel
Inwiefern war die vom Deutschen Reich betriebene Weltpolitik maßgeblicher Faktor für seine zunehmende politische Isolation?
Hochschule
Universität Rostock
Note
1,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
23
Katalognummer
V994793
ISBN (eBook)
9783346364296
ISBN (Buch)
9783346364302
Sprache
Deutsch
Schlagworte
weltmachtstreben, wilhelm, inwiefern, deutschen, reich, weltpolitik, faktor, isolation
Arbeit zitieren
Philip Sell (Autor:in), 2019, Das Weltmachtstreben unter Wilhelm II., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/994793

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Weltmachtstreben unter Wilhelm II.



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden