1. Die Formierung der Nationalversammlung (Constituante)
Von den 291 Mitgliedern des Klerus in den Generalständen zählten über 200 zur "patriotischen Partei", die umfassenden Reformen aufgeschlossen gegenüber stand. Auch Träger hoher und höchster kirchlicher Würden waren darunter.
In der Gruppe des Adels dominierten allerdings die konservativen, auf Erhaltung ihrer Privilegien bedachten "Aristokraten". Zu ihnen gehörten von den 270 Abgeordneten 180, darunter durchaus auch Angehörige des "neuen" Amts- und des Niederen Adels. Die restlichen 90 Abgeordneten, meist zum Stand der adligen Großgrundherren zählend, gehörten zur "patriotischen Partei".
Unter der 578 Mitglieder starken Gruppe des Dritten Standes befanden sich weder Bauern noch Handwerker, sondern ausschließlich Mitglieder des Großbürgertums; es liegt im Wesen der Sache, daß sie durchweg Reformen forderten.
Die Frage des Abstimmungsmodus nach Ständen oder nach Köpfen war aufgrund dieser Kräfteverhältnisse zu einer Überlebensfrage des Ancien Régime geworden, da nur in der geschlossenen Abstimmung nach Ständen der Adel (der den Klerus politisch führte und in der Frage der Privilegien auf ihn zählen konnte) seine Überlegenheit ausspielen konnte. Weder die Eröffnungssitzung der Generalstände am 5. Mai 1789 noch die folgenden Wochen brachten eine Entscheidung in der Frage des Abstimmungsmodus, Königtum und Adel taktierten hinhaltend. Da der Adel die Forderung des Dritten Standes, die Legitimation der Abgeordneten gemeinsam zu prüfen, kategorisch ablehnte, erklärten sich die Abgeordneten des Dritten Standes schließlich in der "Erklärung über die Konstituierung der Versammlung" vom 17. Juni selbst zur "Nationalversammlung" und nahmen das Recht, Steuern zu genehmigen, für sich in Anspruch. Auf die Entscheidung des Klerus für gemeinsame Beratungen mit dem Dritten Stand hin (19. Juni) war das Königtum in die Defensive gedrängt und versuchte, durch eine Schließung des Versammlungsraums die gemeinsame Sitzung wenn nicht zu verhindern, so doch aufzuschieben. Die Abgeordneten tagten indessen in einem nebenan gelegenen Raum, dem Ballhaus (Jeu du Paume = Ballspiel). Durch den Affront des Königs in ihrem Selbstverständnis verletzt, erklärten sie, sich niemals zu trennen und sich überall zu versammeln, wo es die Umstände erfordern sollten, bis die Verfassung errichtet sei (Ballhausschwur vom 20. Juni). In der Thronsitzung vom 23. Juni wollte Ludwig XVI. die alten Beschlüsse über getrennte Sitzungen durchsetzen und die Beschlüsse des Dritten Standes für nichtig erklären. Auf sein Gebot zur Auflösung der Versammlung indessen bekräftigten die Abgeordneten des Dritten Standes ihren Beschluß vom 20. Juni und traten damit in offenen Gegensatz zum König (vgl. Heinrich von Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden über die Rolle Mirabeaus). Die realen Machtverhältnisse zwangen den König jedoch, am 27. Juni Adel und Klerus, soweit sie sich noch nicht mit dem Dritten Stand solidarisiert hatten, den Beitritt zur Nationalversammlung zu empfehlen. Nachdem der König sich mit der Ausarbeitung einer Verfassung einverstanden erklärt hatte, konnte die staatsrechtliche Revolution als abgeschlossen betrachtet werden. Der Dritte Stand hatte den Kampf um die Anerkennung als gesetzgebende Körperschaft gewonnen. Die Ergebnisse dieser Entwicklung waren:
- Das Königtum hatte den Weg des starren Festhaltens an der alten Ordnung verlassen und sich (notgedrungen) Konzessionen mit dem Dritten Stand zugewandt;
- die aus der Versammlung des Dritten Standes hervorgegangene Nationalversammlung erklärte sich am 9. Juli zur "Verfassunggebenden Nationalversammlung" und verwies damit den König in die Rolle eines Amtsträgers, der unter der Souveränität des Volkes stand;
- die alte Ständegliederung war - zumindest verfassungsrechtlich - aufgehoben zugunsten der einheitlichen Organisation in der Nationalversammlung, die politisch unter dem Einfluß des Dritten Standes stand;
- die alten Differenzen (Privilegien etc.) waren noch nicht ausgeräumt, mußten also mit oder ohne Kompromisse mit dem Ersten und Zweiten Stand bereinigt werden.