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21. August 2024 • Lesedauer: 8 min

Studentenkarzer in Deutschland: Vom Arrest zur Attraktion

Vom Kerker zum Kult: Welche wilden Geschichten und kreativen Proteste lauern hinter den Mauern der historischen Studentenkarzer in Deutschland? Wärst du damals im Karzer gelandet?

Was dich erwartet:

Das Wichtigste vorweg:

  • Studentenkarzer waren universitäre Haftanstalten für Studenten und ursprünglich Teil der autonomen Gerichtsbarkeit der Universitäten.
  • Typische Vergehen: nächtliche Ruhestörungen, Duelle, Alkoholmissbrauch.
  • Im 19. Jahrhundert wurden Karzer zu Symbolen des studentischen Protests und Selbstdarstellung.
  • Heute sind einige Karzer als Museen erhalten, z.B. in Heidelberg und Göttingen.
  • Die Karzer bewahren die studentische Kultur und den kreativen Widerstand gegen die Obrigkeit.

Die Faszination der Studentenkarzer- Ursprünge und Entwicklung

Der Karzer als Ausdruck der Universitätsautonomie

Im Mittelalter genossen Universitätsmitglieder zahlreiche Privilegien und unterstanden der eigenen Gerichtsbarkeit. Für Vergehen wurden nicht städtische Gefängnisse, sondern eigene Arrestzellen, die sogenannten Karzer, genutzt. Diese entstanden erstmals im 16. Jahrhundert und wurden später fester Bestandteil der Universitäten, wie in Heidelberg, wo sie bis ins späte 18. Jahrhundert erweitert wurden. Grundlage hierfür waren Gesetze wie das von 1879, das festlegte, welche Vergehen als „strafwürdig“ galten.

Übergang von strengen Haftbedingungen zur „akademischen Freiheit“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Karzerhaft immer mehr zu einem „Sport“ für Studenten. Es war fast eine Ehre, einmal im Karzer gelandet zu sein. Der Einzug in den Karzer wurde als karnevalsartige Karikatur der Obrigkeit gefeiert, bei dem Kommilitonen sich als Richter, Henker oder Klageweiber verkleideten und den Verurteilten lautstark zum Haftantritt begleiteten.

Obwohl die Sonderprivilegien der Universitäten 1886 aufgehoben wurden, behielten diese weiterhin die Disziplinargerichtsbarkeit für kleinere Vergehen. So konnten Universitäten weiterhin Karzerhaft bis zu vier Wochen oder sogar den Ausschluss von der Universität verhängen.

Delikte und Strafen: Was führte in den Karzer?

Typische Vergehen

Für folgende Vergehen landeten Studenten im Karzer:

  • Diebstahl (z.B. Vieh oder Früchte von Bauern, Schweinejagd durch die Gassen)
  • Prügeleien
  • Nächtliche Ruhestörungen (z.B. lautes Singen)
  • Zerstören von Straßenlaternen oder Beleuchtungen
  • Bäume entwurzeln oder beschädigen
  • Erregung öffentlichen Ärgernisses (z.B. Nacktbaden im Neckar oder Marktplatzbrunnen)
  • Fehlverhalten nach übermäßigem Alkoholgenuss, unsittlicher Lebenswandel
  • Rauchen auf der Straße
  • Zu schnelles Reiten durch die Stadt
  • Austragen von Duellen
  • Widerstand gegen die Staatsgewalt (Polizisten verspotten)
  • Ehrverletzungen gegenüber Kommilitonen
  • Leichtsinniges Schuldenmachen
  • Störung der Ordnung und Ruhe

Die Strafen waren entsprechend vielseitig: Kleinere Delikte konnten mit bis zu drei Tagen Karzerhaft oder einer Geldstrafe geahndet werden. Bei schwerwiegenderen Vergehen konnte der Aufenthalt im Karzer auch mal zwei bis vier Wochen dauern. In Extremfällen drohte der Ausschluss von der Universität oder sogar der endgültige Rauswurf.

Prominente Insassen und ihre Vergehen

Nicht nur Durchschnittsstudenten landeten im Karzer. Otto von Bismarck, der spätere Reichskanzler, war 1832 wegen verbotener Duelle, nächtlichem Lärmen und Rauchens auf der Straße mehrfach im Göttinger Karzer. Er verbrachte insgesamt 18 Tage hinter Gittern und verewigte sich auf der Karzertür, die noch heute existiert.

Karl Marx verbrachte 1836 eine Nacht im Bonner Karzer – ebenfalls wegen nächtlichen Lärmens. Auch Genies brauchten eben manchmal eine Auszeit.

Besonderheiten des Heidelberger und Göttinger Karzers

Der Heidelberger Karzer erlaubte den Insassen trotz der Haft die Teilnahme an Lehrveranstaltungen. Nach den ersten Tagen konnten sie sich von Kommilitonen Essen bringen lassen und Besuch empfangen. Sogar die eigene Bettwäsche durften die Insassen mitbringen.

Im Göttinger Karzer mussten die Studenten dagegen über 34.500 Karzertage absitzen, rund 24.500 Strafen wurden verhängt. Beide Karzer wurden zu Orten des kreativen Protests, wie die vielen Wandmalereien und Karikaturen zeigen.

Der Karzeralltag: Leben hinter Gittern

Haftbedingungen im Wandel: von Strohbetten zu besserer Verpflegung

Die ersten Karzer boten lediglich Strohbetten und Klos. Feuchte, kalte Räume machten den Aufenthalt zur echten Strafe – die hygienischen Bedingungen waren so miserabel, dass manche Studenten es vorzogen, von der Uni verwiesen zu werden, statt ihre Strafe abzusitzen. Dauerhaft nasse Kleidung und Ratten als Mitbewohner waren an der Tagesordnung und viele Insassen wurden krank.

Mit der Zeit wurden die Vorschriften gelockert: Ab dem 19. Jahrhundert durften die Studenten bessere Verpflegung erhalten und Kreative nutzten die Karzerwände für Zeichnungen und Schmähtexte, die oft die Obrigkeit verspotteten – allen voran den „Pedell“, den Hausmeister, der gleichzeitig als Universitätspolizist fungierte und von den Studenten humorvoll „Pudel“ genannt wurde.

Das soziale Ereignis „Karzer“: Verpflegung durch Kommilitonen, Besucher und Touristen

Im 19. Jahrhundert wurde der Karzer zunehmend zum gesellschaftlichen Ereignis. Insassen konnten sich Essen und Trinken von Kommilitonen oder Touristen bringen lassen. Die Haftzeit selbst war oft alles andere als eine Strafe. Stattdessen nutzten die Studenten die Tage im Karzer, um Lehrveranstaltungen zu schwänzen, Karten zu spielen oder kreative Malereien an die Wände zu bringen. Da sie sich selbst verpflegen mussten, verwandelte sich die „Strafe“ schnell in eine Gelegenheit für exzessiven Alkoholkonsum und gesellschaftliche Zusammenkünfte.

Kreativer Protest: Wandmalereien und die Bedeutung der Polypen (Polizeikarikaturen)

Die Karzerwände, Tische und Fensterrahmen wurden zu Leinwänden für kreativen Protest. Mit Kohle, Kreide, Bleistiften und sogar Messern ritzten die Insassen ihre Vergehen, Namen und Schattenrisse in die Wände. Ein gewisser Sündenstolz war unverkennbar: Man hielt das Vergehen, das zur Verhaftung führte, gern fest. Ein Beispiel aus Heidelberg zeigt diesen Humor: Das Werfen von Steinen auf die Polizeistation wurde als „Fundobjekte in Polizeistation abgeliefert“ verewigt.

Im Kaiserreich gehörten viele Studenten Verbindungen an, daher finden sich zahlreiche Wappen und Farben an den Wänden. Besonders beliebt waren die „Polypen“-Karikaturen – Kraken als Symbol für Polizisten, die die Studenten „erhaschen“ wollten. Diese Protestkunst war ein Symbol für den Widerstand gegen die Obrigkeit. Der „Polyp“ war der natürliche Feind der studentischen Freiheit.

Neben Wappen und Monogrammen fanden auch Frauen in mythologischer Gestalt oder in korrekter Bekleidung ihren Platz in den Zeichnungen – obwohl Frauen nie selbst Insassen des Karzers waren. Unsittliche Darstellungen wurden sofort entfernt, ebenso wie offensichtlich antisemitische Parolen. Doch Karikaturen, die im Gewand des Humors daherkamen, wurden toleriert – so etwa die „Verleitung eines Hundes zum Antisemitismus“, die als „witzige“ Pointe gedacht war.

Es herrschte eine Art Ehrenkodex: Nur die Verzierungen, bei deren Anbringung man ertappt wurde, mussten entfernt werden. Die Kunst bestand darin, beim Verlassen des Karzers die Aufmerksamkeit geschickt abzulenken, damit die neuen Malereien unentdeckt blieben.

Entdecke hier unsere Reels über die Studentenkarzer:

Die kulturelle Bedeutung des Karzers

Der Karzer als Symbol studentischer Freiheit: Zwischen Zeitgeist und Romantik

Der Karzer spiegelte den Zeitgeist und das Männlichkeitsbild des Kaiserreichs wider. Für viele Studenten war die Karzerhaft weniger eine Strafe als ein „Ritterschlag“ – ein Zeichen dafür, dass man die Regeln der Obrigkeit herausgefordert hatte. Die Strafe wurde selten ernst genommen und diente eher als Gelegenheit für gesellschaftliche Ereignisse.

Die Obrigkeit wirkte oft schwerfällig und ließ sich von den Studenten auf der Nase herumtanzen. Ob das Verhalten dem Männlichkeitsideal der Zeit entsprach oder einfach Ausdruck des damaligen Zeitgeistes war, bleibt offen. Erst 1908 begann man ernsthaft darüber nachzudenken, ob die Karzerhaft noch zeitgemäß sei.

Die Romantisierung des Karzers trug zusätzlich zur Mythenbildung bei. Ein Göttinger Student bezeichnete den Karzer 1902 ironisch als „Hotel zur akademischen Freiheit“, was zeigt, dass der Aufenthalt mehr mit Stolz als mit Reue verbunden war. Der Karzer wurde zum Symbol für die Freiheit, sich gegen die Autoritäten aufzulehnen, und schuf eine eigene studentische Kultur.

Karzer im Spiegel der Literatur: Mark Twain und andere Beobachter

Die Studentenkarzer fanden nicht nur in der studentischen Kultur ihren Platz, sondern zogen auch die Aufmerksamkeit berühmter Schriftsteller auf sich. Mark Twain war 1887 während seiner Europareise von der Eigenart fasziniert, dass Touristen den inhaftierten Studenten Speisen brachten. In seiner Reisebeschreibung „Bummel durch Europa“ notierte er humorvoll: „Es ist fraglich, ob die Weltgeschichte des Verbrechens einen seltsameren Brauch aufzuweisen hat als diesen“. Der Heidelberger Karzer war für ihn ein ebenso kurioses wie unterhaltsames Ziel.

Auch Heinrich Heine, der sich in Göttingen aufhielt, nahm die Eigenheiten des Karzers aufs Korn. In seinem Werk „Reisebilder“, das 1824 erschien, empfiehlt er augenzwinkernd das „Hotel de Brühbach“ – eine Anspielung auf Brühbach, den damaligen Pedell des Karzers. Mit dieser humorvollen Darstellung hielt Heine die skurrile Verbindung zwischen studentischer Freiheit und Obrigkeitsschelte fest.

Studentenkarzer heute: Vom Haftort zur Touristenattraktion

Restaurierung und Erhalt der historischen Karzer

Heute sind die Karzer nicht mehr Orte der Disziplinierung, sondern Zeugnisse einer vergangenen Kultur. Viele von ihnen, wie der Göttinger Karzer, wurden restauriert und zu Museen umfunktioniert, die die Wandmalereien und Graffiti der Insassen bewahren. Dank großzügiger Sponsoren wurde beispielsweise der Göttinger Karzer 2007 umfassend restauriert. Seitdem zählt er zu den am besten erhaltenen Karzern in Deutschland und zieht zahlreiche Besucher an.

Studentenkarzer als Museen und kulturelle Gedenkstätten

Die Faszination für die Karzer lebt weiter: Historische Zellen in Heidelberg, Göttingen, Marburg, Bonn und Tübingen wurden zu Museen und Gedenkstätten, die den Geist vergangener Zeiten bewahren. Der Tübinger Karzer, der älteste bis heute erhaltene Karzer, bietet Einblicke in die universitäre Identität. Diese Orte bewahren nicht nur die Wandmalereien der Studenten, sondern auch den Geist einer vergangenen Ära, die Teil der universitären Identität ist.

Der Karzer als Teil der studentischen Identität

Für viele Besucher ist die Uni-Romantik das, was den Reiz der Karzer ausmacht. Die Vorstellung des trinkfesten, gerne mal über die Stränge schlagenden Studenten, der jede Gelegenheit nutzt, um sich selbst zu inszenieren, bleibt bis heute lebendig. Die Karzer stehen heute für eine Zeit, in der Studenten Freiheit und Selbstdarstellung auf kreative Weise nutzten. Die damaligen Wandmalereien sind so etwas wie die analogen Vorläufer von Social Media – ein Raum für Protest und persönliche Botschaften, der bis heute eine besondere Faszination ausübt.

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