Der klientenzentrierte Ansatz in der sozialpädagogischen Beratung. Chancen und Grenzen bei der Arbeit mit psychisch kranken Menschen


Diplomarbeit, 2002

149 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

VORWORT

A. EINFÜHRUNG
1. Thematischer Kontext und Zielsetzung der Arbeit
2. Methodenauswahl und Aufbau der Arbeit

B. DIE KLIENTENZENTRIERTE PSYCHOTHERAPIE NACH
CARL R. ROGERS
1. Ursprung und Entwicklung der Gesprächspsychotherapie
1.1 Ursprung
1.2 Entwicklung
2. Rogers´ Persönlichkeitstheorie
2.1 Aktualisierungstendenz und organismisches Wertesystem
2.2 Selbstkonzept und Wunsch nach positiver Beachtung
2.3 Zustand der Inkongruenz
2.4 Zustand der Kongruenz
3. Das therapeutische Beziehungsangebot und Differenzierungen der Gesprächspsychotherapie
3.1 Die therapeutische Beziehung
3.1.1 Empathie oder einfühlendes Verstehen
3.1.2 Akzeptanz oder positive Wertschätzung
3.1.3 Echtheit oder Kongruenz
3.2 Der therapeutische Prozess
3.3 Differentielle Interventionsformen und integrative Ansätze
4. Psychische Störungen im klientenzentrierten Konzept
4.1 Rogers´ Verständnis von psychischen Störungen: ein allgemeines Störungsmodell
4.2 Behandlung von psychischen Störungen
4.2.1 Die Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie
4.2.2 Die Entwicklung einer störungsspezifischen Krankheitslehre
5. Forschung und wissenschaftliche Anerkennung

C. DER KLIENTENZENTRIERTE ANSATZ IN DER SOZIALPÄDAGOGISCHEN BERATUNG
1. Sozialpädagogische Beratung
1.1 Begriffsklärung
1.1.1 Was ist Beratung?
1.1.2 Was ist sozialpädagogische Beratung?
1.2 Wo findet sozialpädagogische Beratung statt?
2. Der rechtliche Rahmen der sozialpädagogischen Beratung
2.1 Gesetzesgrundlagen
2.2 Vertrauensschutz
2.2.1 Schweigepflicht und Wahrung des Sozialgeheimnisses
2.2.2 Zeugnisverweigerungsrecht
2.3 Haftung
3. Die Bedeutung des klientenzentrierten Ansatzes in der sozialpädagogischen Beratung
3.1 Psychotherapeutische Methoden in der sozialpädagogischen Beratung
3.2 Integration des klientenzentrierten Konzepts in die sozialpädagogische Beratung
3.3 Die Zusatzausbildung in klientenzentrierter Gesprächsführung und die Verbreitung des Ansatzes im psychosozialen Bereich
3.4 Das klientenzentrierte Vorgehen im Spannungsfeld der sozialpädagogischen Beratung
3.5 Kompatibilität der klientenzentrierten Gesprächsführung mit anderen Methoden und Interventionsformen

D. ABGRENZUNG DER SOZIALPÄDAGOGISCHEN BERATUNG ZUR PSYCHOTHERAPIE.
1. Abgrenzung bezüglich äußerer Strukturelemente
1.1 Institutionelle Gegebenheiten
1.2 Dauer der Maßnahme
1.3 Die Klientel
1.4 Geh-Struktur versus Komm-Struktur
2. Fachliche Abgrenzung
3. Rechtliche Abgrenzung
3.1 Psychotherapeutengesetz
3.2 Zeugnisverweigerungsrecht
4. Zusammenfassende Diskussion

E. KLIENTENZENTRIERTE GESPRÄCHSFÜHRUNG MIT PSYCHISCH KRANKEN MENSCHEN
1. Betrachtungen bezüglich der eigenen Praxis: Eine Beschreibung des Untersuchungskontextes
1.1 Arbeitskontext
1.2 Zielgruppe
1.2.1 Um welche Gruppe der psychisch Kranken geht es?
1.2.2 Weitere Informationen zur Zielgruppe
1.3 Abgrenzung zur Soziotherapie
1.4 Der klientenzentrierte Ansatz in der Beratung von psychisch Kranken
1.4.1 Chancen
1.4.2 Grenzen
2. Durchführung und Auswertung eines qualitativen Interviews
2.1 Fragestellung und Begründung der Untersuchung
2.2 Darstellung und Begründung der Untersuchungsmethode
2.2.1 Klassifikation der qualitativen Befragung
2.2.2 Begründung der Untersuchungsmethode
2.3 Stichprobenbeschreibung
2.4 Die Interviewsituation
2.5 Durchführung des Interviews anhand eines Interviewleitfadens
2.6 Datenaufbereitung durch wörtliche Transkription
2.7 Datenauswertung

F. Zusammenfassende PrÄsentation der Ergebnisse
1. Welche Erwartungen / Wünsche werden an die Beratung gestellt?
1.1 Darstellung der Ergebnisse
1.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis
2. Womit sind die Klienten zufrieden, was hilft ihnen?
2.1 Darstellung der Ergebnisse
2.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis
3. Womit sind die Klienten unzufrieden bzw. womit fühlen sie sich unwohl?
3.1 Darstellung der Ergebnisse
3.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis
4. Welche Auswirkungen Haben die Gespräche?
4.1 Darstellung der Ergebnisse
4.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis
5. Wie wird der Berater bzw. der Kontakt mit diesem wahrgenommen?
5.1 Darstellung der Ergebnisse
5.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis
6. Können die Klienten in der Beratung über ihre Gefühle sprechen?
6.1 Darstellung der Ergebnisse
6.2 Diskussion mit Schlussfolgerungen für die Praxis

G. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang
Anhang I : Interviewleitfaden
Anhang II : Transkriptionsstandards
Anhang III : Interview 1
Anhang IV : Interview 2
Anhang V : Interview 3
Anhang VI : Interview 4
Anhang VII: Interview 5

Vorwort

In der vorliegenden Arbeit wird die „klientenzentrierte Gesprächsführung" genauer betrachtet. Außerdem wird untersucht, inwieweit der Ansatz in die Arbeit bzw. in die Beratung mit psychisch kranken Menschen einbezogen werden kann.

Mein Interesse am ersten Bereich, dem klientenzentrierten Ansatz, wuchs seit Beginn meines Sozialpädagogik-Studiums, nachdem ich in der Lehrveranstaltung „Gesprächsführung nach Rogers" damit zum ersten Mal in Berührung kam. Mich sprach die Forderung Rogers´ nach einem echten und unmittelbar menschlichen Kontakt mit dem Gegenüber an: In den Übungsgesprächen wurden keine Verhaltensmuster erprobt. Vielmehr waren die Öffnung zum Gesprächspartner hin, das Einfühlen in seine Situation und das akzeptierende Verstehen von Bedeutung.

Meine ersten positiven Erfahrungen bei der Anwendung des Konzepts machte ich in meinem studienbegleitenden Praktikum mit älteren Menschen und auch im privaten Umfeld. Das gab mir die Motivation, mich mit dem Ansatz weiter auseinander zu setzen. Ich wollte eine Vertiefung und mehr Handlungssicherheit erreichen. Zum einen weil ich nach meinem Abschluss gerne an einer Beratungsstelle arbeiten würde, zum anderen weil ich Kenntnisse in Gesprächsführung auch in sämtlichen anderen Tätigkeitsfeldern des Sozialwesens für essentiell halte. Da das Fachhochschulstudium sehr breit angelegt ist – was natürlich seine Berechtigung hat –, ist eine Spezialisierung auf eine bestimmten Ansatz und das Erlernen dessen praktischer Umsetzung meist nicht möglich. Daher begann ich eine Zusatzausbildung in „Klientenzentrierter Gesprächsführung" gemäß den Richtlinien der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG).

Der Bereich „Arbeit mit psychisch kranken Menschen“ eröffnete sich mir im dritten Studienjahr, als ich ein Praxissemester an einer allgemeinen Beratungsstelle des Diakonischen Werks absolvierte. Dort hatte ich das Glück, auf einen Sozialarbeiter zu treffen, der im Rahmen der Beratung von psychisch belasteten Menschen klientenzentriert arbeitete. Hier lernte ich das klientenzentrierte Vorgehen nochmals in einer neuen Form kennen. Ich konnte die Gespräche nicht auf die selbe Art und Weise führen, wie z.B. innerhalb meiner Ausbildungsgruppe. Die Eigenschaften, die Erwartungen, die Fähigkeiten des Gegenübers, aber auch die Rahmenbedingungen der Einrichtung - das alles nahm Einfluss auf den Verlauf der Gespräche und erforderte eine Anpassung des klientenzentrierten Vorgehens an die Gegebenheiten.

Insgesamt motivierten mich meine Erfahrungen im Praktikum dazu, mich noch intensiver mit dem klientenzentrierten Ansatz zu beschäftigen. Ich wollte untersuchen, was bei seiner Anwendung im Rahmen der Beratung von psychisch kranken Menschen besonders zu beachten ist.

A. Einführung

1. Thematischer Kontext und Zielsetzung der Arbeit

Das klientenzentrierte Konzept nach dem amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers ist von seinem Ursprung her ein psychotherapeutisches. In Deutschland wurde es als Gesprächspsychotherapie bekannt. In der Literatur findet man eine große Anzahl an Untersuchungen zur klientenzentrierten Psychotherapie. Mit Hilfe von Tonbandaufnahmen der Therapiesitzungen wird analysiert, wie sich die Interaktion zwischen Therapeut[1] und Klient darstellt und wie sich das klientenzentrierten Beziehungsangebot (vgl. B.3.1) auswirkt. Außerdem werden - im Anschluss an Therapiesitzungen - Klientenbefragungen durchgeführt. Hier liegt das Hauptaugenmerk auf dem Aspekt der „Selbstexploration" (Definition, s. S. 20) des Klienten.

Auch im Bereich der sozialpädagogischen Beratung spielt der klientenzentrierte Ansatz eine wichtige Rolle. Klientenzentrierte Arbeit im Kontext der sozialpädagogischen Beratung bedeutet vereinfacht ausgedrückt:

- Der Klient ist die treibende Kraft des Beratungsprozesses.
- Die Gefühle des Klienten stellen einen zentralen Inhalt der Gespräche dar.
- Der Berater ist im Kontakt mit dem Klienten empathisch, akzeptierend und echt.
- Der Berater vertraut auf die Eigenkräfte des Klienten; er agiert nach dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe".

Viele Autoren – darunter Rogers selbst - betonen, dass die Ergebnisse der Psychotherapiestudien auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen werden können, in denen Gespräche stattfinden - also auch auf die Beziehung von Berater und Klient. Dennoch erscheint es mir wichtig, die spezifische Zielgruppe, sowie die konkreten Arbeitsbedingungen und Aufgaben eines Beraters zu berücksichtigen; wenn man Aussagen über die Wirksamkeit des Ansatzes in diesem Arbeitsfeld machen möchte. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte erhält man ein detaillierteres Bild davon, was den Ratsuchenden in der klientenzentrierten Beratung weiterhilft.

Ziel dieser Arbeit soll daher sein, eine Untersuchung im Bereich der sozialpädagogischen Beratung darzulegen, welche die Merkmale der Klienten und die vorhandenen Arbeitsbedingungen des Beraters berücksichtigt. Die Ergebnisse sollen Auskunft darüber geben, welche Bedeutung dem klientenzentrierten Ansatz hier zukommt.

Die Untersuchung wird sich auf die Zielgruppe „psychisch kranke Menschen“ beziehen. Psychische Erkrankungen sind keine seltenen Ereignisse. Es fällt aber schwer, genaue Zahlen zu nennen, da die Dunkelziffer hoch ist. Viele Erkrankungen der Psyche werden nicht behandelt und somit auch nicht erfasst. Andere werden als solche nicht erkannt. Aus den siebziger Jahren stammt eine Untersuchung von Dilling und Weyerer. Über eine Feldstudie versuchten sie, die wahre Prävalenz von psychischen Erkrankungen in der deutschen Bevölkerung festzustellen. Die Studie ergab, dass innerhalb eines Jahres „etwa 25% der erwachsenen Bevölkerung ... an einer behandlungswürdigen psychischen Erkrankung litt“ (Kainz, 2002).

Als Sozialpädagoge / -arbeiter - im sozialpsychiatrischen Dienst oder an Beratungsstellen für psychisch kranke Menschen - arbeitet man vor allem mit Personen zusammen, die an Psychosen erkrankt sind. Hier wiederum machen die schizophrenen und affektiven Psychosen den größten Anteil aus. Laut Gesundheitsbericht für Deutschland von 1998 (vgl. Statistisches Bundesamt, 2002) leiden rund 6% der Bevölkerung an Depressionen. Für die Schizophrenie werden keine Prozentzahlen genannt. Es liegen aber Angaben zur Neuerkrankungsrate vor. Man geht hier jährlich von 10-20 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohner aus.

Eine Betreuung der psychisch Kranken durch Beratungsangebote oder andere ambulante Hilfen ist sehr wichtig, denn:

- Die Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken werden von Jahr zu Jahr verkürzt.

Während etwa im Jahre 1930 die durchschnittliche Aufenthaltsdauer eines erstmals mit einer schizophrenen Psychose aufgenommenen Kranken noch 8,5 Jahre betrug, können heute rund 90% der erstmals an Schizophrenie erkrankten Patienten innerhalb von drei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen werden (Möller et al., 2001, 539).

- Insgesamt ist in der heutigen, postmodernen Gesellschaft zu beobachten, dass soziale Netzwerke, insbesondere die Familie, an Stabilität verlieren bzw. sich auflösen. Bei psychisch kranken Menschen kommt noch hinzu, dass der Umgang mit ihnen für die Angehörigen und Bekannten oft schwierig ist. Das verstärkt die soziale Isolation, die allgemein festzustellen ist. Dieser können ambulante Hilfsangebote entgegenwirken.

2. Methodenauswahl und Aufbau der Arbeit

Bei den auf die Einführung folgenden Kapiteln B bis D handelt es sich fast ausschließlich um Literaturarbeit. An einzelnen Stellen fließen auch persönliche Erfahrungen und mein Wissen im Bereich der klientenzentrierten Gesprächsführung ein.

Die Thematik des klientenzentrierten Ansatzes in der sozialpädagogischen Beratung kann nicht bearbeitet werden, ohne den Ursprung des Konzepts zu beleuchten, also die klientenzentrierte Psychotherapie nach Carl R. Rogers. Daher gibt Kapitel B einen Überblick über die Entwicklung und die wesentlichen Aspekte des Ansatzes. Außerdem wird angesprochen, welche Bedeutung psychische Störungen im klientenzentrierten Konzept haben.

Im Anschluss daran soll in Kapitel C geklärt werden, was man sich unter sozialpädagogischer Beratung vorstellen kann und in welchem rechtlichen Rahmen sie stattfindet. Diese Abhandlung bildet die Grundlage für die Thematik, inwieweit der klientenzentrierte Ansatz in die sozialpädagogische Beratung integriert werden kann. Dabei drängt sich die Frage auf, wo nun der Unterschied zwischen (klientenzentrierter) Beratung und (klientenzentrierter) Psychotherapie liegt. Es ist anzumerken, dass Rogers selbst die Termini Beratung und Therapie synonym verwendete.

Auf die Frage nach einer Unterscheidung gibt es keine eindeutige Antwort. Da eine Klärung aber für alle beraterisch tätigen Sozialpädagogen / -arbeiter von großer Bedeutung ist, wird sie im darauf folgenden Kapitel D erörtert.

Die Literaturarbeit der Kapitel B bis D bildet die notwendige theoretische Grundlage für die Durchführung und Auswertung der Untersuchung, die in Kapitel E und F folgen. In Kapitel E beginnt demnach der praktische Teil der Arbeit: ein qualitatives Interview mit psychisch kranken Menschen. Die „Darstellung und Begründung der Untersuchungsmethode" ist Inhalt des Kapitels E.2.2. Aus diesem Grund wird dies an dieser Stelle nicht weiter erläutert. Die Befragung wurde an einer Beratungsstelle des Diakonischen Werks durchgeführt. Dort arbeitet ein Sozialarbeiter klientenzentriert mit psychisch Kranken. Zunächst wird der Arbeitskontext vorgestellt, in dem die Gespräche stattfinden. Es soll geklärt werden, mit welcher Gruppe psychisch kranker Menschen sich das Kapitel befasst und welche Bedeutung dem klientenzentrierten Ansatz hier zukommt. Im Anschluss wird das Vorgehen bei der Durchführung und Auswertung des problemzentrierten Interviews erläutert.

In Kapitel F werden die Resultate der Untersuchung präsentiert. Es finden Vergleiche, Bewertungen und Interpretationen der Klientenäußerungen statt, und die Praxisrelevanz der Ergebnisse wird herausgearbeitet.

Im abschließenden Kapitel G erfolgen eine Zusammenfassung der Gesamtarbeit und Schlussfolgerungen.

B. Die KLIENTENZENTRIERTE psychotherapie nach Carl R. Rogers

1. Ursprung und Entwicklung der Gesprächs-psychotherapie

1.1 Ursprung

Die „Gesprächspsychotherapie" oder „Klientenzentrierte Psychotherapie" (Rogers) hat - wie auch die Gestalttherapie (Perls), die Logotherapie (Frankl) und das Psychodrama (Moreno) - ihren Ursprung in der Humanistischen Psychologie. Nach einer Entwicklung, die bereits Ende der 30er Jahre begann, wurde im Jahre 1962 in den USA die „Gesellschaft für Humanistische Psychologie" gegründet. Zu den Begründern gehörten einige bekannte Psychologen und Sozialwissenschaftler wie A. Maslow (1908-1970), C. R. Rogers (1902-1987) oder Ch. Bühler (1893-1974). Seitdem wird die Humanistische Psychologie neben der Psychoanalyse und dem Behaviorismus meist als „Dritte Kraft" in der Psychologie bezeichnet. Besonders kennzeichnend ist, dass sie sich mehr an der Natur des Menschen orientiert. Daraus ergibt sich ein Menschenbild, dessen wesentliche Aspekte hier kurz erläutert werden sollen:

Es ist ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen. Der Mensch wird als biologisches, psychisches und soziales Wesen angesehen. Gefühl, Vernunft, Körper und Seele bilden eine Einheit entsprechend dem Grundsatz der „Übersummativität" aus der Gestaltpsychologie: „[Das Ganze ist] mehr als die Summe der Teile" (Fitzek et al., 1996, 18).

In Anlehnung an die Bedürfnispyramide nach Maslow geht man in der Humanistischen Psychologie davon aus, dass der Mensch danach strebt, elementare Bedürfnisse, nach Nahrung, Schlaf, Sexualität und auch nach Sicherheit, zu befriedigen. Unter der Voraussetzung, dass diese - hauptsächlich physiologischen - Bedürfnisse erfüllt sind, rücken psychosoziale Bedürfnisse in den Vordergrund. Zu diesen zählen unter anderem das Streben des Menschen nach Achtung, nach Sinnhaftigkeit, nach Autonomie und nach Selbstverwirklichung. Aus diesem Streben resultiert ein zielgerichtetes, freies und damit auch eigenverantwortliches Handeln.

Hier zeigt sich auch deutlich die philosophische Verwurzelung im Existenzialismus, Humanismus sowie in der Phänomenologie (vgl. Kriz, 1994, 174-176).

Durch das beschriebene Verständnis vom Menschen unterscheidet sich die Humanistische Psychologie stark von den Vorstellungen der klassischen Psychoanalyse und des Behaviorismus. Exemplarisch kann hier vor allem die Triebgesteuertheit des Menschen in der Psychoanalyse und die Deutung von menschlichem Verhalten als Reiz-Reaktions-Funktion im Behaviorismus angeführt werden.

1.2 Entwicklung

Die Anfänge der klientenzentrierten Psychotherapie („client-centered therapy") liegen in den 40er Jahren. Die Therapieform geht auf den amerikanischen Psychologen Carl R. Rogers (1902-1987) zurück, der mit seinem Buch „Die nicht-direktive Beratung" (1942 / 1972) das Fundament für ihre bis heute andauernde Entwicklung schuf. Als besonderes Kennzeichen gilt zum einen die große Bedeutung der Erlebensebene des Klienten und zum anderen die von Rogers beschriebene Beziehung zwischen Therapeut und Klient. In den sechziger Jahren wurde das Konzept von Anne-Marie und Reinhard Tausch als „Gesprächspsychotherapie" nach Deutschland gebracht.

Es gibt mehrere Bezeichnungen für Rogers´ Ansatz. Die geläufigsten sind „nicht-direktiver", „klientenzentrierter" und „personzentrierter" Ansatz. Die unterschiedlichen Betitelungen beschreiben entsprechende Entwicklungs-phasen innerhalb der Gesprächspsychotherapie.

Von der „nicht-direktiven", d.h. nicht lenkenden Psychotherapie sprach Rogers in den Jahren 1938-1950. Kennzeichnend für diese Jahre ist sein 1942 erschienenes Buch „Counseling and Psychotherapy" (deutsch : „Die nicht-direktive Beratung"). Zunächst ging es ihm darum, das Konzept klar von den anderen Therapieformen abzugrenzen, welche er als zu direktiv, zu dirigierend empfand. Nach seinen Vorstellungen ist nicht der Therapeut die treibende Kraft des Prozesses, sondern er richtet sich nach den Äußerungen und Anliegen des Klienten. Er selbst hört aufmerksam zu und spiegelt dem Klienten wider, was er von dessen Aussagen aufgenommen und verstanden hat. Aufgabe des Therapeuten ist es, eine angstfreie und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in welcher der Klient sich sicher fühlen und über seine Gefühle sprechen kann. Diese Atmosphäre entsteht durch Wärme und bedingungslose Akzeptanz.

Im Jahre 1951, während der zweiten Entwicklungsphase, veröffentlicht Rogers sein Buch „Client-centered Therapy" (deutsch : „Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie"), in dem er den Schwerpunkt auf die inneren Erfahrungen des Klienten legt. Der Therapeut hat die Aufgabe, sich in die Erlebenswelt des Klienten einzufühlen. Er verbalisiert dessen Emotionen, teilt ihm eigene Wahrnehmungen und Gefühle mit und fördert so die Selbstreflektion des Klienten. Insgesamt kann man sagen, dass der Klient die Inhalte bestimmt, während der Therapeut den Gesprächen eine Struktur gibt.

Die Bezeichnung „nicht-direktiv" impliziert, dass der Therapeut nur zuhört und überhaupt keinen Einfluss auf den Gesprächsverlauf nimmt. Dies ist, wie hier kurz angedeutet wurde, nicht (mehr) der Fall. Der Therapeut begleitet den Klienten aktiv, was die veränderte Bezeichnung als „klientenzentriert" ausdrücken soll. Etwa seit den 60er Jahren bekommt der Therapeut, auf der Grundlage der therapeutischen Beziehung, in Form von differentiellen Interventionsformen noch mehr Möglichkeiten zur Intervention (vgl. B.3.3).

Ab 1963 wendet sich Rogers der Arbeit mit Encounter[2] -Gruppen zu. Ihn beschäftigen die tiefen persönlichen Erfahrungen und die Einstellungs- und Verhaltensänderungen, welche durch intensive Gruppenerfahrungen erreicht werden können. Der Anwendungsbereich der Encounter-Gruppen erstreckt sich über viele Bereiche des täglichen Lebens. Die Teilnehmer sind meist sozusagen „normale" Menschen, die sich ein Wachsen ihrer Persönlichkeit erhoffen. Durch diese Arbeit und auch aufgrund seiner Erfahrungen als Erzieher, Lehrer u.a. kommt Rogers zu der Erkenntnis, dass eine klientenzentrierte Haltung in jeder sozialen Beziehung, also auch außerhalb von Beratung, Therapie und Erziehung, hilfreich ist. Er nennt seinen Ansatz fortan „personzentriert" oder „personbezogen".

Für die Beziehung in der Therapie bedeutet diese Bezeichnung, dass der Kontakt zwischen Therapeut und Klient ein partnerschaftlicher sein soll, eine Begegnung von Person zu Person. Es ist ein unmittelbar menschlicher Kontakt, der angestrebt wird.

Da sich in Theorie und Praxis vorwiegend die Bezeichnung „klientenzentriert" durchgesetzt hat, wird diese auch in der vorliegenden Arbeit hauptsächlich verwendet.

2. Rogers´ Persönlichkeitstheorie

In Anlehnung an das beschriebene humanistische Menschenbild entwickelte Rogers seine Persönlichkeitstheorie, deren wesentliche Bestandteile in den folgenden Abschnitten vorgestellt werden.

2.1 Aktualisierungstendenz und organismisches Wertesystem

Nach Rogers´ Vorstellung besitzt jeder Mensch von Natur aus die Fähigkeit und den Drang sich in Richtung größerer Reife und Selbstverwirklichung weiterzuentwickeln. „Es ist der Drang, der sich in allem organischen und menschlichen Leben zeigt: sich auszuweiten, auszudehnen, zu entwickeln, autonom zu werden, zu reifen" (Rogers, 1973, 49). Dieses innere Potential nennt er Aktualisierungstendenz.

Die Aktualisierungstendenz findet ihre Richtung durch ein angeborenes, organismisches Wertesystem, das jedem Menschen innewohnt. Im Kleinkindalter ist es zunächst Grundmotiv für jede Art von Handlung. Im Laufe der menschlichen Sozialisierungsprozesse kommen zu diesen angeborenen Wertvorstellungen auch solche der Gesellschaft, der Eltern oder anderer Personen und Gruppen hinzu. Wenn zwischen diesen beiden eine Diskrepanz besteht, so führt dies für die betroffene Person zu einem inneren Konflikt.

2.2 Selbstkonzept und Wunsch nach positiver Beachtung

Als Selbstkonzept bezeichnet Rogers das dem Bewusstsein zugängliche Bild, das jeder Mensch von sich selbst, und von sich im Bezug zu anderen, hat. Es entsteht - und entwickelt sich fortlaufend weiter - zum einen aus eigenen Erfahrungen, Fähigkeiten, Wahrnehmungen oder Bewertungen (des organismischen Wertesystems). Zum anderen bildet es sich aus Wertvorstellungen, Urteilen, Erwartungen oder Gedanken, die aus dem sozialen Umfeld an jedes Individuum herangetragen werden. Dabei ist es der natürliche Wunsch nach Anerkennung und positiver Beachtung durch die Mitmenschen, der die Aktualisierungstendenz begrenzt. Er veranlasst den Menschen dazu, diese äußeren Elemente in sein Selbstkonzept zu integrieren und sie teilweise sogar als eigen anzusehen.

2.3 Zustand der Inkongruenz

Es sind Erfahrungen von Inkongruenz, die in der Gesprächspsychotherapie als Ursprung von psychischem Leiden definiert werden.

Inkongruenz entsteht, wenn das Individuum Erfahrungen macht, die es nicht oder nur verzerrt in sein bewusstes Selbstkonzept integriert, da sie mit den Vorstellungen, welche die Person von sich hat, nicht übereinstimmen. Bei diesen Vorstellungen handelt es sich meist um übernommene Bilder davon, wie man sein soll, welche das Individuum jedoch nicht als übernommen erkennt. Dies führt zu Verunsicherung, zu Spannung und zur Selbstentfremdung.

Ein schlichtes Beispiel wäre die Frau, die den Satz in sich trägt „Ich muss meine Eltern bedingungslos lieben". Kommen in ihr nun Gefühle von Ablehnung, Wut und Hass gegen die Eltern auf, so kann es zu einer Verdrängung oder zu einer verzerrten Wahrnehmung dieser Emotionen kommen, da sie in ihrer Intensität eine Bedrohung darstellen. Die Frau versucht zunächst, das bestehende Selbstkonzept aufrecht zu erhalten. Wird sie sich allmählich der Widersprüchlichkeit bewusst, so entstehen zunehmende Spannungen. „Wenn es gar nicht mehr anders geht und die Inkongruenz zwischen Erfahrung und Selbstkonzept zu offensichtlich wird, kann sich ein schmerzhafter Prozess zur Reorganisation des vormals starren in ein flexibles Selbstkonzept entwickeln" (Sander, 1999, 51).

2.4 Zustand der Kongruenz

Die Therapie ist auf das Selbstkonzept des Klienten ausgerichtet: als oberstes Ziel steht immer ein flexibles Selbstkonzept. Flexibel bedeutet, dass neue Erfahrungen aufgenommen und in das bestehende Konzept integriert werden. In dem angeführten Beispiel könnte das heißen, dass sich der Satz „Ich muss meine Eltern bedingungslos lieben" durch die negativen Gefühle verändert, z.B. in „Ich liebe meine Eltern, aber ihre Verhaltensweisen lösen immer wieder Wut und Hass in mir aus". Angenommen, dies würde mit allen Erfahrungen und Erlebensinhalten und in allen Situationen des Lebens gelingen, so könnte man mit den Worten Rogers´ von „the fully functioning person" (Rogers, 1991, 59) sprechen. Eine solche sich voll entfaltende Person ist in höchstem Maße kongruent und kann als eine Art Idealvorstellung aufgefasst werden.

Die Frage stellt sich, wie sich der entsprechende Klient an das Leitbild der kongruenten Persönlichkeit annähern kann bzw. wie diese Annäherung gefördert werden kann. Als wichtigster Wirkfaktor zur Erreichung dieses Ziels gilt die Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Daher soll die therapeutische Beziehung nun ausführlich behandelt werden.

3. Das therapeutische Beziehungsangebot und Differenzierungen der Gesprächspsychotherapie

3.1 Die therapeutische Beziehung

Bei der Gesprächspsychotherapie geht es nicht um die Anwendung von bestimmten Techniken, sondern es ist die menschliche Beziehung zwischen Therapeut und Klient, die als wichtigster Wirkfaktor im Mittelpunkt steht. Diese Beziehung ist so beschaffen, dass sie dem Klienten ermöglicht, sich selbst in Richtung größere Freiheit und Persönlichkeitsentfaltung weiterzuentwickeln.

Durch eine bestimmte Haltung des Therapeuten wird sie dem Klienten angeboten. Die Haltung zeichnet sich durch die drei sogenannten „Basisvariablen" oder „Therapeutenmerkmale" Empathie, Akzeptanz und Echtheit aus. Die Verwirklichung dieser Variablen ist vor allem eine Einstellungssache und hängt auch von der Persönlichkeit sowie der Selbsterfahrung des Therapeuten ab.

Auf der Verhaltensebene lässt sich die Umsetzung der Merkmale jedoch zu einem gewissen Grad „üben". Dies ist sinnvoll, denn „damit der Klient das therapeutische Beziehungsangebot auch wahrnehmen und annehmen kann, ist es nötig, dass der Therapeut seine Einstellung von Akzeptanz, Empathie und Echtheit deutlich und eindeutig vermittelt" (Sander, 1999, 68). Ebenso meint Finke (1994, 20), dass „aus den drei Prinzipien, die im wesentlichen therapeutische Grundhaltungen darstellen, konkrete Behandlungsanweisungen, also eine Therapietechnik, abzuleiten [ist]". So haben in der psychosozialen Praxis die Lehrbücher von Sabine Weinberger (1996) oder Wilfried Weber (1994) - um nur zwei Beispiele zu nennen -, die eine ganze Reihe von praktischen Übungen zur Realisierung der klientenzentrierten Grundhaltung beinhalten, großen Zuspruch erfahren.

Und auch die Skalen von Truax oder Carkhuff dienen der Einschätzung und des „Trainings" der drei Basisvariablen.

3.1.1 Empathie oder einfühlendes Verstehen

Empathie meint die Bemühungen des Therapeuten, den Klienten zu verstehen. Dieses Verstehen ist ein ganzheitliches Verstehen; ein erforschendes Einfühlen in das Gegenüber, bei dem der Therapeut versucht, die Welt durch die Augen des Klienten wahrzunehmen und zu erleben. Es kommt vor allem auf die Erlebniswelt, die Gefühle, die emotionalen Einstellungen oder Wertvor-stellungen des Klienten an. Der Therapeut gibt seine Eindrücke dabei fragend an den Klienten weiter.

Diese Mitteilungen durch den Therapeuten können als „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte" bezeichnet werden. Wie aus den vorangegangenen Beschreibungen aber zu erkennen sein sollte, handelt es sich bei dem Therapeutenmerkmal der Empathie keinesfalls um ein reines Spiegeln von Klientenäußerungen - wie es immer wieder behauptet wird. Der Therapeut kann in diesem Prozess des Verstehens auch Sinngehalte der Erfahrungen des Klienten aufnehmen, deren dieser sich selbst gar nicht oder nur sehr vage bewusst ist und versuchen, sie für ihn in Worte zu fassen.

Das Verstanden-Werden durch den Therapeuten hilft dem Klienten, sich selbst besser wahrzunehmen, zu verstehen und über sich zu sprechen; auch in Aspekten, die er zuvor unterdrückte.

3.1.2 Akzeptanz oder positive Wertschätzung

Akzeptanz meint „ein warmherziges Anerkennen [eines jeden] Individuums als Person von bedingungslosem Selbstwert - wertvoll, was auch immer seine Lage, sein Verhalten oder seine Gefühle sind" (Rogers, 1973, 47). Die Akzeptanz stellt also immer eine bedingungslose und uneingeschränkte Wertschätzung der Person des Klienten dar - ohne jegliche Bewertung von Seiten des Therapeuten. Bewerten soll und kann sich nur der Klient selbst. Auf dieser Grundlage entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und der Sicherheit.

Die bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung durch den Therapeuten fördern die Selbstachtung des Klienten. Es wird ihm möglich, auch Eigenschaften an sich zu akzeptieren, die er bisher ablehnte oder unterdrückte. Der Zugang zu den eigenen Gefühlen wird erleichtert. So bekommt der Klient ein ganzheitlicheres und realistischeres Bild von sich selbst. Er erneuert dieses auf eine Art, die ihm erlaubt, mehr und mehr Gefühle und Erfahrungen in sein Selbstkonzept zu integrieren. Die Selbstachtung macht ihn überdies unabhängiger von Bewertungen seiner Mitmenschen.

Es handelt sich um ein Missverständnis, wenn die Akzeptanz so verstanden wird, dass der Therapeut immer derselben Meinung sein muss wie sein Klient, oder dass er jegliches Verhalten gut heißen soll. Zwischen dem Wert als menschliches Wesen an sich und der persönlichen Einstellung, die der Therapeut gegenüber bestimmten Äußerungen oder Handlungen hat, wird klar unterschieden. Erläutert wird dieser Aspekt nochmals im nächsten Absatz zur „Echtheit oder Kongruenz".

3.1.3 Echtheit oder Kongruenz

Im Kontakt mit dem Klienten spielt der Therapeut keine Rolle, sondern er lässt seine eigene Persönlichkeit in Erscheinung treten. Wichtig dabei ist der Aspekt, dass zwischen dem inneren Zustand des Therapeuten (seinen Gedanken und Gefühlen) und dem, wie er sich dem Klienten gegenüber verhält und äußert, kein Widerspruch besteht. Das bedeutet, dass der Therapeut selbst kongruent ist. Wenn er z.B. merkt, dass ihn etwas an den Aussagen des Klienten stört, weil er selbst eine andere Meinung vertritt, so soll er dies auch äußern. Dabei muss der Klient aber spüren, dass er deshalb nicht als Person weniger wertgeschätzt wird. Voraussetzung für die geforderte Echtheit ist, dass der Therapeut sich selbst, seine Gefühle, Einstellungen, Wertvorstellungen sehr gut kennt und auch während den Sitzungen mit dem Klienten einen Kontakt zu sich selbst hat / sich reflektiert.

Der Therapeut, der sich seinem Gegenüber „echt" verhält, bietet ihm eine Transparenz, die für den Vertrauensaufbau eine wichtige Voraussetzung ist.

Die Realisierung aller Therapeutenmerkmale, so wie sie hier beschrieben sind, ist eine Idealvorstellung, an die der Therapeut sich meist nur annähern kann.

Die Haltung des Therapeuten ist der Ausgangspunkt für die Selbstexploration des Klienten bzw. für den therapeutischen Prozess.

Selbstexploration bedeutet, daß der Klient über sich selbst sowie über seine gefühlsmäßigen Bewertungen zu seinem eigenen Verhalten und Erleben und zu seiner Umwelt spricht, daß er mehr Klarheit über seine gefühlsmäßigen Einstellungen, seine Wünsche und Hoffnungen (Idealselbst) erhält, zumindest um Klärung bemüht ist (Gerbis, 1977, 37).

3.2 Der therapeutische Prozess

Der therapeutische Prozess wurde von Rogers ausführlich beschrieben (vgl. Rogers, 1973, 130-162). Einige wesentliche Aspekte werden hier aufgeführt: Rogers beschreibt verschiedene Prozessvariablen, d.h. Bereiche, in denen eine konstruktive Veränderung beim Klienten stattfinden kann. Hierzu zählt z.B. die Offenheit des Klienten gegenüber zwischenmenschlichen Beziehungen oder die Wahrnehmung seiner eigenen Gefühle. Zugleich teilt Rogers den Veränderungsprozess in sieben Stufen ein.

Auf Stufe 1 können sich die Variablen folgendermaßen darstellen: Der Klient spricht nicht über sich selbst, sondern ausschließlich über äußere Gegebenheiten. Er nimmt die eigenen Gefühle weder wahr, noch kann er sie äußern. Seine Probleme erkennt er nicht und er ist sich somit auch keinem Wunsch nach Veränderung bewusst. Seine Einstellungen und Vorstellungen folgen rigiden Strukturen. Meist zeigt sich dabei, dass er stark in der Vergangenheit verhaftet ist. Beziehungen mit Mitmenschen werden als bedrohlich wahrgenommen.

Diese Person würde sich wohl kaum freiwillig in eine Psychotherapie begeben. Biermann-Ratjen et al. (1979, 100) betonen jedoch, dass die Stufen „nicht Therapiephasen und schon gar nicht Reifungsphasen beschreiben, sondern Stadien, die ein Mensch durchläuft, wenn er Zugang zu einem Empfinden gewinnen möchte, das für ihn irgendwie wichtig ist, von dem er aber abgeschnitten ist". Es kann also sein, dass sich ein Mensch mit seinen unterschiedlichen Problemen auch auf verschiedenen Stufen befindet.

Stufe 7 beschreibt mehr eine Zielvorstellung, als eine wirklich zu erreichendes Stadium. Hier würden sich die Variablen etwa so zeigen: Der Klient ist kongruent. Er erlebt seine Emotionen unmittelbar und kann sie ausführlich mitteilen. Neue Erfahrungen werden akzeptierend aufgenommen. Über seine gegenwärtigen Probleme und auch über Wünsche ist er sich bewusst. Seine Einstellungen, sein Erleben etc. orientiert sich an seinem organismischen Wertesystem, Maßstäbe findet er also in sich selbst. Neue Beziehungen können angstfrei eingegangen werden.

Demnach wäre der Klient der Gesprächstherapie bereits entwachsen. Der therapeutische Prozess bewegt sich also i. d. R. zwischen den beiden Extremstufen.

3.3 Differentielle Interventionsformen und integrative Ansätze

In den Anfängen bezeichnete Rogers die drei Therapeutenmerkmale als notwendige und auch als hinreichende Bedingungen für eine positive Persönlichkeitsveränderung beim Klienten (vgl. Schmid & Rogers, 1991, 168-169). Unter der Voraussetzung, dass eine Gesprächspsychotherapie indiziert ist, so ist die Notwendigkeit heute durch zahlreiche Untersuchungen empirisch belegt. Allerdings geht man nicht mehr davon aus, dass diese Merkmale in jedem Fall hinreichend sind. Besondere Herausforderungen ergeben sich z.B. bei Menschen, die an tiefgreifenden sozialen Ängsten leiden, die sich eine dirigierendere Begleitung wünschen, wenig Autonomie zeigen o.ä.

Auf der Grundlage der klientenzentrierten Haltung stehen dem Therapeuten daher eine Anzahl von differentiellen Interventionsformen zur Verfügung, welche die Grundeinstellung ergänzen sollen. So kann er flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse einer bestimmten Person eingehen (vgl. Sachse, 1999, 38-40). „Differentiell vorgehen heißt, geplant und wissenschaftlich begründet bei unterschiedlichen Klienten oder Situationen sich unterschiedlich verhalten". (Tscheulin, 1983, 53). Im Gegensatz zum therapeutischen Basisverhalten handelt es sich beim differentiellen Vorgehen um den Einsatz von Techniken.

Man spricht von „Selbsteinbringung", wenn der Therapeut dem Klienten eigene Gefühle, Erfahrungen oder Bewältigungsstrategien mitteilt. Damit kann er dem Klienten neue oder alternative Sichtweisen anbieten, ihm Zuversicht geben, Selbstabwertungen des Klienten abschwächen o.ä.

Eine andere Möglichkeit ist die „Konfrontation". Ziel dabei ist es, den Klienten auf bestimmte Aspekte aufmerksam zu machen und ihn zu einer Auseinandersetzung mit diesen Inhalten zu veranlassen; z.B., wenn der Klient bestimmte Themen immer wieder vermeidet oder wenn eine Diskrepanz zwischen verbalen Äußerungen und dem non-verbalen Auftreten zu erkennen ist.

Weitere Handlungsmöglichkeiten hat der Therapeut in Form von „Konkretheit", „Ansprechen von Beziehungen zu anderen Personen", „Ansprechen der Beziehung zwischen Therapeut und Klient", „Spezifizieren" oder „Verallgemeinern".

Obwohl es sich hier im Vergleich mit den Basisvariablen um direktivere Interventionsformen handelt, nimmt der Therapeut nicht die Rolle eines Experten ein. Ratschläge, Interpretationen, Empfehlungen und Bewertungen werden von ihm vermieden.

Integrative Ansätze stellen eine andere Möglichkeit der Erweiterung der Gesprächspsychotherapie dar. Es gibt z.B. Kombinationen mit folgenden therapeutischen Verfahren:

- Focusing nach E. T. Gendlin (Gendlin, 1999; Gerl, 1982)
- Gestalttherapie (Cochrane & Holloway, 1982)
- Verhaltenstherapie (Jocobi & Plaikner, 1982)
- Transaktionale Analyse (Hagehülsmann, 1982)

Insgesamt findet eine Annäherung der verschiedenen Therapierichtungen statt. Grawe (1994) plädiert für eine schulenunabhängige „Allgemeine Psychotherapie". Diese sollte auf den folgenden vier Wirkfaktoren basieren, deren Effektivität empirisch geprüft ist:

1. Aktive Hilfe zur Problembewältigung

Durch unterschiedliche Maßnahmen kann der Therapeut dem Klienten aktiv helfen, an seine Probleme heranzugehen und diese besser zu bewältigen. Durch die positiven Erfahrungen in der Therapie bekommt der Klient das Zutrauen, dass er mit Schwierigkeiten besser als zuvor umgehen kann.

2. Klärungsarbeit

Der Therapeut unterstützt den Klienten dabei, seine Gefühle, Wertvorstellungen oder Verhaltensweisen wahrzunehmen und deren Bedeutungen zu erkennen. Diese Selbstreflektion führt zu konstruktiven Veränderungen beim Klienten.

3. Problemaktualisierung

Der Therapeut begleitet den Klienten dabei, die für ihn problemrelevanten Gefühle / Bedeutungen, im Hier und Jetzt zu erleben. Dabei soll er auch auf neue oder veränderte Aspekte stoßen.

4. Ressourcenaktivierung

Auch die positiven Eigenschaften und die Stärken des Klienten werden in der Therapie aktiviert. Als wichtigste Ressource gilt hierbei die positive Beziehung zwischen Therapeut und Klient.

Wenn ein Therapeut sich auf das klassische klientenzentrierte Vorgehen beschränkt, lässt sich feststellen: Er nutzt verstärkt die Wirkfaktoren „Klärungsarbeit", „Problemaktualisierung" und auch „Ressourcenaktivierung", um seinem Klienten zu helfen. Den Wirkfaktor „Aktive Hilfe zur Problembewältigung" ignoriert er hingegen. Untersuchungen von Grawe et al. (1994, 118-140) zur klassischen Gesprächspsychotherapie lassen annehmen, dass eine klientenzentrierte Therapie oft noch effektiver sein könnte, wenn sie um diesen Wirkfaktor ergänzt werden würde.

4. Psychische Störungen im klientenzentrierten Konzept

4.1 Rogers´ Verständnis von psychischen Störungen: ein allgemeines Störungsmodell

Der Ausgangspunkt für psychisches Leiden ist Inkongruenz (vgl. B.2.3). Sie wird hervorgerufen, wenn die Erfahrungen und Erlebensinhalte eines Menschen, welche nicht mit dessen Selbstkonzept übereinstimmen, durch psychische Abwehrmechanismen unterdrückt und geleugnet werden. Grund dafür ist das Fehlen von Empathie, Echtheit und besonders von bedingungsloser Wertschätzung in zwischenmenschlichen Beziehungen; z.B., wenn die Eltern dem Kind vermitteln: „Wenn du Wutausbrüche hast bist du böse, und dann mögen wir dich nicht mehr". Dann ist die Person das Selbst, das sie sein soll oder will, aber nicht das, welches sie wirklich ist. Die eigenen Bedürfnisse werden ignoriert, und ein realistisches Selbstbild geht verloren.[3]

Wenn die Inkongruenz ins Bewusstsein zu kommen droht, können daraus Angst, Spannungen, ein negatives Selbstbild, die Tendenz zur Selbstbestrafung oder Symptome wie Wahnvorstellungen o.ä. resultieren. Schon an dieser Stelle können sich demnach psychische Störungen etablieren.

Andererseits kann es - quasi als Schutzmechanismus - zu weiteren Verdrängungen und Verzerrungen dieser Erfahrungen kommen. In diesem Fall wird die Struktur der Persönlichkeit immer starrer und unflexibler. Ein hohes Ausmaß an Inkongruenz hat zur Folge, dass durch „auslösende Momente" (Graessner, 1995, 35) wie Veränderungen in der Lebenssituation, Misserfolge etc. eine psychische Krankheit[4] ausbrechen kann. Es kann auch sein, dass die Inkongruenz aus einer eigenen Dynamik heraus empfunden wird, wenn die unterdrückten Erfahrungen immer stärker werden: Die Person kann nicht verstehen, was sich in ihr abspielt, warum sie so fühlt und handelt. Doch erkennt sie, dass sie voller Widersprüchlichkeiten ist. In diesem Zustand kann das Individuum sein Erleben und Verhalten gar nicht mehr kontrollieren und eine psychische Störung kann entstehen.

Die Störung resultiert demnach immer aus einem Zustand der Inkongruenz. Dabei sieht Rogers keinen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Krankheitsbildern, also z.B. zwischen einer neurotischen oder einer psychotischen Störung.

4.2 Behandlung von psychischen Störungen

Durch die Symptome einer psychischen Erkrankung kommt die pathogene Inkongruenz zum Vorschein. Auch wenn jede klientenzentrierte Behandlung die Auflösung der Inkongruenz und die Entwicklung eines flexiblen Selbstkonzepts zum Ziel hat, bedeutet dies nicht, dass die Symptome direkt therapeutisch bearbeitet bzw. entfernt werden. Vielmehr wird der Klient dabei unterstützt, die Bedeutung der Symptome und ihre Entwicklungsgeschichte nachzuvollziehen.

Dieses Verstehen erscheint als ein bedeutender Schritt bei der Integration der verdrängten Erfahrungen und Erlebensinhalte in das Selbstkonzept. Um ein flexibles Selbstkonzept zu erreichen, müssen überdies Ängste, Spannungen und Abwehrhaltungen überwunden werden. Das wird durch die therapeutische Beziehung möglich, da hier für den Klienten keine äußere Bedrohung besteht. Er erlebt eine vertrauensvolle Atmosphäre, die ihn zur Selbstexploration befähigt. Sie ermöglicht ihm auch zu den Anteilen seines Selbst zu stehen, die er als unangenehm auffasst. Man spricht von Selbstakzeptanz, durch die er in der Lage ist, sukzessiv die Person zu werden, die er wirklich ist. Er kann sich darauf konzentrieren, was ihm selbst wichtig ist und wird unabhängiger von den Bewertungen anderer. Dieser therapeutische Prozess „weg von der Inkongruenz hin zur Kongruenz“ wurde unter B.3.2 bereits beschrieben.

Rogers nahm an, dass die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie in ihrer klassischen Form bei allen Störungsbildern erfolgreich angewandt werden kann. Er entwickelte ein allgemeines Störungsmodell und beschrieb - unabhängig von bestimmten Symptomatiken - folgende universelle Voraussetzungen für einen konstruktiven Therapieverlauf:

- Der Klient befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz.
- Therapeut und Klient nehmen einen therapeutischen Kontakt auf.
- Der Therapeut realisiert die Variablen der Empathie, Akzeptanz, Kongruenz.
- Der Klient nimmt das Beziehungsangebot des Therapeuten zumindest ansatzweise wahr.

Ebenso beurteilen Biermann-Ratjen et al. (1979, 117-122) eine Indikationsstellung aufgrund einer bestimmten Symptomatik als ungünstig. Vielmehr sollte versucht werden, in den Anfangsgesprächen herauszufinden, inwieweit die Therapieform den Klienten anspricht (vgl. Tausch, 1976, 65).

Das steht in Einklang mit Rogers´ Vorgehen bei der Beschreibung der ätiologischen Aspekte (vgl. B.2.3; B.4.1) und des therapeutischen Prozesses (vgl. B.3.2). Auch dies geschah auf einer sehr allgemeinen Ebene. Es wurden zudem keine klaren diagnostischen Leitlinien entwickelt. Dies ist verständlich, wenn wir an den humanistischen Hintergrund und an die Grundauffassungen der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie denken. Der Therapeut ist demnach nicht der diagnostizierende Experte, der weiß, warum der Klient krank ist und welche Mittel bzw. welche Techniken nun am besten für ihn sind. Es ist die Eigenverantwortlichkeit des Klienten, die an erster Stelle steht. Etikettierungen werden somit vermieden und der Individualität des Klienten wird Rechnung getragen.

4.2.1 Die Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie

Die psychiatrische Therapie basiert auf drei Säulen: biologische Therapie (vor allem Psychopharmakatherapie), Psychotherapie und Soziotherapie. Diese werden je nach Art und Schwere der Erkrankung unterschiedlich gewichtet (vgl. Möller et al., 465). Wir beschäftigen uns an dieser Stelle mit der 2. Säule, in welche die Gesprächspsychotherapie einzuordnen ist und konzentrieren uns vor allem auf die Einzeltherapie.

Im Bereich der Psychiatrie stößt das Fehlen von spezifischen Störungsmodellen und diagnostischen Leitlinien auf Kritik. Diese beruht auf folgender Sachlage: Aufgrund ihrer psychischen Krankheiten handelt es sich bei den Patienten oftmals um Menschen, bei denen das Denken und der Realitätsbezug stark gestört sind. Sie haben keinen Zugang zu ihrem Erleben und Verhalten und / oder es muss die Selbstverfügbarkeit in Frage gestellt werden; z. B., weil eine Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt. Von Patient zu Patient muss entschieden werden, wie viel Eigenverantwortlichkeit er aufgrund seiner Erkrankung tatsächlich noch hat und inwieweit der Arzt / Psychotherapeut für ihn Verantwortung übernehmen muss. Diagnose und Indikationsstellung durch den Psychiater sind für den weiteren Behandlungsplan erforderlich.

Diese klare Rollenverteilung von Arzt und Patient auf der einen Seite und das Streben nach einem unmittelbar menschlichen und gleichrangigen Kontakt auf der anderen Seite, kann für den Therapeuten mit klientenzentrierter Orientierung in der Psychiatrie immer wieder zu Spannungen oder Unsicherheit führen.

4.2.2 Die Entwicklung einer störungsspezifischen Krankheitslehre

Die Notwendigkeit einer störungsbezogenen Krankheitslehre wurde mit der Zeit immer deutlicher. In den 80er Jahren begann Speierer (1994) mit der Entwicklung des differentiellen Inkongruenzmodells (DIM). Hierbei handelt es sich um eine Störungstheorie, die das allgemeine Modell Rogers´ erweitert. Sie beschreibt die Gesprächspsychotherapie als Inkongruenzbehandlung. Auf dieser Grundlage wird die Entstehung und der Verlauf spezifischer international klassifizierter Störungsbilder erklärt. Die Inkongruenz wird dabei analysiert und bezüglich ihrer Quellen in verschiedene Bereiche aufgeschlüsselt. Dadurch soll eine Differentialdiagnose, eine Indikationsstellung und die spezifische Therapieplanung ermöglicht werden.

Die Erweiterung des allgemeinen Störungsmodells bringt eine Modifizierung der allgemeinen Therapietheorie mit sich. So ist man sich heute weitgehend einig, dass die therapeutische Beziehung in der Gesprächspsychotherapie bei der Behandlung von bestimmten psychiatrischen Krankheitsbildern, erweitert oder akzentuiert werden muss. Nur so kann man dem breiten Spektrum an psychischen Störungen, der multifaktoriellen Genese der Erkrankung sowie dem ärztlichen Kontext - in welchem die Therapie oft stattfindet - gerecht werden. Für einige Krankheitsbilder wie Angststörungen, Persönlichkeits-störungen, Schizophrenie oder psychosomatische Störungen, konnte ein störungsspezifisches klientenzentriertes Vorgehen bereits sehr gut erarbeitet und überprüft werden, für andere steht diese Entwicklung noch aus.

Andere Autoren wie z. B. Eckert (1985, 115-177) lehnen störungsspezifische Ansätze in der Gesprächspsychotherapie eher ab. Seiner Ansicht nach sollte ein Therapeut, der auf Arbeitsbedingungen bzw. auf Klientenmerkmale trifft, die sich mit dem klientenzentrierten Konzept nicht oder nur schwer vereinbaren lassen, sich fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Gesprächspsychotherapie durchzuführen, anstatt seine Methoden zu erweitern.

Was die Diagnostik betrifft, so spielt diese heute auch in der Gesprächspsychotherapie eine entscheidende Rolle. Unterschieden wird zwischen Eingangs-, Prozess-, und Erfolgsdiagnostik (vgl. Sachse, 1999, 94-114). Das diagnostische Vorgehen dient dabei unter anderem der Indikationsklärung, der Erfolgsmessung und Qualitätssicherung (durch Fragebögen), sowie der empirischen Überprüfung von Thesen zur Therapie.

5. Forschung und wissenschaftliche Anerkennung

In den 40er Jahren, als die Entwicklung der klientenzentrierten Psychotherapie begann, zählten Rogers und seine Mitarbeiter zu den ersten Praktikern, die sich darum bemühten, die Wirksamkeit ihres therapeutischen Ansatzes empirisch zu überprüfen. Dabei versicherte Rogers, dass alle zentralen „Hypothesen testbar, beweisbar oder widerlegbar [sind]" (Rogers, 1972, 23). Die wichtigsten Grundlagen der wissenschaftlichen Forschungsarbeit waren umfangreiche Untersuchungen mit Hilfe von Tonband- und später auch Filmaufnahmen von Therapiesitzungen. Daneben wurden klinische Experimente durchgeführt. Von einigen bemerkenswerten Untersuchungen berichtet Rogers in „Entwicklung der Persönlichkeit" (1973, 244-266).

Truax und Carkhuff entwickelten in den 60er Jahren Schätzskalen zur Operationalisierung der Therapeuten- und Klientenvariablen. Auf der Seite des Therapeuten betrifft dies vor allem Skalen zur Empathie, Akzeptanz und Echtheit. Auf der Seite des Klienten bezieht es sich auf das Ausmaß der Selbstexploration. Die Überprüfung erfolgt durch Tonband- oder Videoaufnahmen von Therapiesitzungen, deren Transkription und die anschließende Bewertung der Therapeutenäußerungen durch mehrere Beobachter. Andere Studien richten sich nach der Beurteilung durch den Klienten, d.h., dass dieser einschätzt, inwieweit die Therapeutenmerkmale realisiert wurden.

1970 wurde die „Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie" (GwG) gegründet. Es handelt sich um einen Bundesverband von Psychologen, Sozialpädagogen / -arbeitern, Pädagogen, Studenten, Ärzten u.a., die den klientenzentrierten Ansatz in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld anwenden, lehren und erforschen.

Gesprächspsychotherapie wird [gegenwärtig] an 28 von 37 psychologischen Instituten deutscher Universitäten (75%) gelehrt, erforscht und weiterentwickelt. Darüber hinaus ist der Personzentrierte Ansatz in zahlreichen anderen Fachbereichen der Hochschulen und Fachhochschulen vertreten (Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, 2002, 1).

Heute gilt es, aufgrund von zahlreichen Forschungsstudien, als empirisch gesichert, dass die drei Basisvariablen entscheidend zur Selbstexploration und zu einer positiven Veränderung der Persönlichkeit der Klienten beitragen - unter der Voraussetzung, dass eine Gesprächspsychotherapie indiziert ist. Im Vergleich mit unbehandelten Kontrollgruppen zeigen die Klienten nach einer klientenzentrierten Therapie ein positiveres und realistischeres Selbstbild, mehr Offenheit für Erfahrungen, eine größere Anpassungsfähigkeit und mehr Akzeptanz gegenüber Mitmenschen. Allerdings dürfen die positiven Ergebnisse von Untersuchungen nicht ausschließlich auf die Therapeutenmerkmale zurückgeführt werden. Neben diesen benennen Geißler und Hege (1988, 84) Variablen des Klienten, Situationsvariablen und Prozessvariablen, die entscheidend zu Veränderungen beim Klienten beitragen.

Zur Effektivität der Gesprächspsychotherapie schreiben Grawe et al. (1994, 741):

Die Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie kann als sehr gut bestätigt angesehen werden. Fast immer, wenn in einer Untersuchung Maße für die Hauptsymptomatik und das allgemeine Wohlbefinden erhoben worden waren, wurden in diesen Bereichen signifikante Verbesserungen festgestellt. Oft traten zusätzlich positive Veränderungen im Persönlichkeitsbereich und im zwischenmenschlichen Bereich ein. Dabei erstreckten sich die Untersuchungen über einen relativ breiten Anwendungsbereich. Der wissenschaftliche Status der Gesprächspsychotherapie wird zusätzlich dadurch untermauert, dass viele Untersuchungen darüber vorliegen, wie bestimmte, in der Gesprächspsychotherapie theoretisch angenommene Wirkfaktoren tatsächlich mit dem Therapieerfolg zusammenhängen.

Neue Herausforderungen ergaben sich für die Vertreter der Gesprächspsychotherapie durch das 1998 verabschiedete Psychotherapeuten-gesetz (PsychThG). Zu diesem Zeitpunkt galt die Gesprächspsychotherapie bereits unumstritten als „wissenschaftlich anerkannt". Die wissenschaftliche Anerkennung eines Behandlungsverfahrens ist Voraussetzung dafür, dass ein Psychologe mit der entsprechenden Zusatzausbildung eine Approbation gem. §2 PsychThG erhalten kann und sich z. B. als psychologischer Gesprächspsychotherapeut niederlassen kann.

In den letzten Jahren kam es jedoch zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Wissenschaftlichen Beirat[5] (§11 PsychThG) über die Zulassung der Gesprächspsychotherapie zur vertieften Ausbildung gem. §5 PsychThG. Ihre wissenschaftliche Anerkennung wird in Frage gestellt.

Am 29. September 1999 beschloß der Beirat „Kriterien für die Anerkennung". Bestandteil dieser Kriterien ist, ein Verfahren müsse in vier von acht klassischen Anwendungsbereichen der Psychotherapie oder in fünf von 12 Anwendungsbereichen seine Wirksamkeit durch entspr. Studien belegen (koh, 2001b, 178).

Am 30. September 1999 wurde die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie aufgrund dieser Kriterien abgelehnt: Nur in drei klassischen Anwendungsgebieten (affektive Störungen, Angststörungen und Anpassungsstörungen / somatische Störungen) akzeptierte der Beirat die vorgelegten Studien als wissenschaftlichen Nachweis für die Wirksamkeit. Da alle stimmberechtigten Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats Vertreter der alten Richtlinienverfahren sind (und zum großen Teil aus dem ärztlichen Berufsstand stammen), stößt man in diversen Veröffentlichungen auf den Vorwurf, dass es sich um eine Art Verschwörung gegen die anderen Therapieverfahren - also die Konkurrenz - handle. Die Kriterien werden als zweifelhaft bezeichnet, was ihre Aussagekraft und ihre Überprüfung durch den Wissenschaftlichen Beirat betrifft. Aufgrund zahlreicher Proteste im In- und Ausland und aufgrund der Einreichung von weiteren Studien zum Anwendungsbereich „Belastungsstörungen" durch Prof. Reinhard Tausch, erfolgt gegenwärtig eine neue Überprüfung der Datenlage. Die Diskussion begründet eine große Unsicherheit aber auch Ärger unter den Praktikern, die schon jahre- oder jahrzehntelang die Gesprächspsychotherapie erfolgreich anwenden und nun um ihre Approbation fürchten müssen.

Bevor dieser Prozess nicht abgeschlossen ist besteht keine Chance, dass die Gesprächspsychotherapie als sogenanntes Richtlinienverfahren zugelassen werden wird. Das bedeutet, dass von Seiten des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen keine Anerkennung zu ihrer Durchführung besteht. Sie fällt also nicht in die Kassenversorgung. Dies widerspricht sowohl der Verbreitung des Verfahren in Lehre, Forschung und Praxis (in der BRD) als auch seiner internationalen Bewertung. Zu den Richtlinienverfahren zählen bis heute nur die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie.

[...]


[1] Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit durchgehend grammatikalisch gesehen die männliche Form verwendet. Damit sind sowohl Frauen als auch Männer gemeint.

[2] encounter (engl.) = Begegnung

[3] Sachse (1999, 54) definiert ein "Allgemeines Störungsmodell" als "ein Modell darüber, wie bestimmte psychologische Prozesse zu bestimmten, psychologisch relevanten Problemen führen können".

[4] Graessner (1995, 35f.) nimmt eine Unterscheidung der Phänomene "psychische Krankheit" und "psychische Störung" vor. Da die Übergänge fließend sind, werden sie hier jedoch vereinfacht synonym verwendet.

[5] Der Wissenschaftliche Beirat PsychThG ist ein Gremium von ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, welches die Behörden der Länder in ihrer Entscheidung zur wissenschaftlichen Anerkennung von therapeutischen Ansätzen berät.

Ende der Leseprobe aus 149 Seiten

Details

Titel
Der klientenzentrierte Ansatz in der sozialpädagogischen Beratung. Chancen und Grenzen bei der Arbeit mit psychisch kranken Menschen
Hochschule
Katholische Hochschule Freiburg, ehem. Katholische Fachhochschule Freiburg im Breisgau  (Hochschule für Sozialwesen, Religionspädagogik und Pflege)
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
149
Katalognummer
V10135
ISBN (eBook)
9783638166607
Dateigröße
810 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
(Gesprächspsycho-) Therapie - C.R.Rogers - Beratung - psychische Krankheit
Arbeit zitieren
Silke Bayer (Autor:in), 2002, Der klientenzentrierte Ansatz in der sozialpädagogischen Beratung. Chancen und Grenzen bei der Arbeit mit psychisch kranken Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10135

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