Sprachkritik im 19. Jahrhundert - Ein Überblick


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

57 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gegenstandsbestimmung - Formen der Sprachkritik
2.1 . Formen der Sprachkritik nach Heringer
2.2. Formen der Sprachkritik nach von Polenz
2.3. Allgemeine Bemerkungen zur vorliegenden Arbeit

3. Der sprachkritische Weg ins 19. Jahrhundert
3.1. Joachim Heinrich Campe – Der französische Traum in Deutschland
3.2. Campes Sprachprogramm

4. Sprachkritik des 19. Jahrhunderts
4.1. Die erste Jahrhunderthälfte – Sprachkritik im Spiegel der Aufklärung
4.2. Die Situation des Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts
4.2.1. Klassengesellschaft als Ursache für Sprachkritik
4.2.2. Die politische Öffentlichkeit in Deutschland
4.3. Carl Gustav Jochmann – Sprache und Öffentlichkeit
4.4. Die zweite Jahrhunderthälfte - Sprachkritik im Dienst sozialer Abgrenzung
4.5. Jacob Grimm und der Sprachverfallsmythos
4.6. Grundlegende Veränderungen im Gesellschaftssystem
4.6.1 Kommunikative Folgen des gesellschaftlichen Wandels
4.6.2. Die Verteidigung bildungsbürgerlichen Sprachkapitals
4.6.3. Entkonturierung des Bildungsbürgertums und Verbürgerlichung
von Adel und Arbeiterschaft
4.7. Arthur Schopenhauer – Sprachskepsis und Sprachpessimismus
4.8. Friedrich Nietzsche – Sprachkritik als Begriffskritik
4.9. Friedrich ´Fritz` Mauthner – Erkenntniskritik und Ideologiekritik
4.10. Hugo von Hofmannsthal – (Ver-) Zweifeln an der Sprache
4.11. Pressekritik – Zeitungsdeutsch im und unter Druck
4.11.1 Ferdinand Kürnberger – Zeitungskritik im Zeitalter der Massenmedien
4.11.2. Karl Kraus – Der Nörgler

5. Anstelle eines Schlusswortes

6. Literatur

1. Einleitung

Eine grundlegende Feststellung gleich an aller erster Stelle: Die Sprachkritik existiert nicht. Wichtig aber auch problematisch ist, dass man unter dem Begriff ´Sprachkritik` verschiedene Vorstellungen einer wie auch immer gearteten Kritik an Sprache subsumieren kann. Es existieren also nur verschiedene Formen der Sprachkritik. Bei Schwinn findet sich eine minimale Definition von ´Sprachkritik`, die die Gemeinsamkeit aller Arten von Sprachkritik vereint; diese kann nur lauten:

Sprachkritik ist Kritik an Sprache mit Sprache.[1]

Gemeinsam ist jeder Kritik an Sprache also, dass sie sich der Sprache bedient, um eben dieselbe zu kritisieren. Trotz dieses offensichtlichen Zirkelschlusses kann man nicht umhin, festzustellen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als von einer Metaebene herab mit Sprache auf Sprache zu schauen. Eine sprachkritische Äußerung macht folglich von der metasprachlichen Funktion dadurch Gebrauch, dass etwas mit Sprache über Sprache ausgesagt wird, und sie gibt zusätzlich noch eine Bewertung desjenigen sprachlichen Gegenstands ab, über den die Aussage gemacht wird. Schiewe formuliert es in etwas anderen Worten: "Sprachkritik hat es mit dem Sollen von Sprache zu tun. Sie macht Aussagen darüber, wie Sprache ´aussehen` oder wie sie benutzt werden soll."[2] Im Vergleich zur Sprachwissenschaft allgemein besteht der Unterschied darin, dass die Sprachkritik Bestehendes wertet, während die Sprachwissenschaft dies lediglich beschreibt.

Wie bereits erwähnt, ist Sprachkritik nicht gleich Sprachkritik. An dieser Stelle wird es notwendig, einen Überblick zu geben über all das was man unter Sprachkritik verstehen kann. Hierzu sollen zwei Autoren herangezogen werden, die sich bereits ausführlich mit dem Bereich ´Sprachkritik` befasst haben und dementsprechend die verschiedenen Arten differenziert und dargelegt haben. Heringers Versuch einer Systematisierung der Facetten der Sprachkritik soll den Anfang dieses einführenden, theoretischen Teils der Ausführungen zum Thema ´Sprachkritik` bilden, gefolgt vom Gliederungsvorschlag von Peter von Polenz.

2. Gegenstandsbestimmung - Formen der Sprachkritik

2.1. Formen der Sprachkritik nach Heringer

Wie Heringer mit Recht feststellt, wurde noch keine Universal-Geschichte der Sprachkritik geschrieben: "Die Geschichte der Sprachkritik ist nicht geschrieben. Sie scheint zu umfassend und zu disparat, um als Geschichte einer Disziplin geschrieben zu werden."[3] Heringer unternimmt nun den Versuch, die verschiedenen Formen der Sprachkritik zu systematisieren. Sein Ziel bzw. seine Vorgehensweise ist es, die Geschichte der Kritik an politischer Sprache anhand unterschiedlicher Stränge innerhalb der Sprachkritik nachzuzeichnen.

Heringer unterscheidet zwischen philosophischer Sprachkritik, Kritik an einer Einzelsprache und der Kritik an individuellen Äußerungen einzelner Sprecher. Die Darstellungsweise Heringers wirkt zunächst verwirrend, da er die einzelnen Stränge der Sprachkritik zusätzlich noch aus Perspektive zweier unterschiedlicher Bedeutungstheorien heraus betrachtet. Die sprachkritische Vorgehensweise trennt er in die Kritik am Sprachsystem und die Kritik der Sprachverwendung; und zusätzlich bemerkt er noch, dass bei einer sprachkritischen Betrachtung der Sprachverwendung neben der abbildungstheoretischen auch noch die gebrauchstheoretische Vorstellung eine wesentliche Rolle spielt. Damit nicht genug: den einzelnen dargestellten Strängen der Sprachkritik ordnet Heringer noch die jeweils eigene Sprachbeschreibungsebene zu: der philosophischen Sprachkritik die Metaebene der erkenntnistheoretischen Sprachbetrachtung, der Kritik an einer Einzelsprache die Ebene der Sprachsystembeschreibung und der Kritik an individuellen Äußerungen einzelner Sprecher die Ebene der Sprachverwendung.

Die Aufteilung in die drei erwähnten Stränge erscheint sinnvoll, wenn auch die Grenzziehung zwischen ihnen nicht einfach zu leisten ist. Heringer äußert dazu: "Da aber der Darstellung eine schlichte Ordnung gut tut, wollen wir uns die Geschichte der Sprachkritik in drei großen Strängen denken, allerdings vielfältig ineinander verwachsen, verdröselt und verfilzt"[4]. Heringers Systematisierungsversuch entbehrt wahrscheinlich aufgrund dieser Erkenntnis ein wenig ihrer Schlüssigkeit. Vielleicht umgeht man diese Verwirrung einfach, indem man der Dichotomie von ´lange` und ´parole` die philosophische einfach als dritte Beschreibungsebene hinzufügt.

Die Sprachkritik des ersten Stranges – die philosophische Sprachkritik (universalsprachliche Erkenntniskritik) – ist, so Heringer, wahrscheinlich ebenso alt wie die Sprache selbst. Als "professionelle Sprachkritik"[5] beginne sie spätestens bei Heraklit, der bemängelte, dass jedes Wort den bezeichneten Gegenstand beschränke und verfälsche, dass also eine Kluft zwischen Wirklichkeit und Sprache existiere. Die Aufklärung schürte nun den Gedanken. dass der Mensch diese Vagheit der Sprache mittels seiner Vernunft durchschauen könne. Einen entscheidenden Bruch mit der aufklärerischen Tradition machte die sprachphilosophische Einsicht, dass unser Denken, unsere Vernunft gar nicht unabhängig von der Sprache existieren, dass Sprache erst den Gedanken bildet. Diese erkenntnistheoretische Sprachkritik zieht sich von Philosophen wie Nietzsche über Schopenhauer bis hin zur allgemeinen Sprachkrise um 1900, deren hervorstechender Vertreter Fritz Mauthner war. Es erwuchs eine radikale Skepsis gegen Sprache und Denken vor dem Hintergrund der Auffassung, dass die Sprache den Bezug zur Wirklichkeit gänzlich verloren habe, ihre Begriffe leer seien und sie somit nicht mehr als Mittel der Verständigung dienen könne.

Der zweite Strang der Sprachkritik – die Kritik an einer Einzelsprache (einzelsprachliche Sprachentwicklungskritik) - beginnt bei Heringer wieder bei den alten Griechen, nämlich in ihrer Abwertung der sogenannten Barbaren und ihrer Sprache. Die Kritik einer fremden Sprache setzt für Heringer das Bewusstsein von der eigenen Sprache voraus.[6] Ein solches Sprachbewusstsein setzte für das Deutsche, im Verhältnis zu anderen Sprachen und Kulturen, recht spät ein, denn die Bedingungen für eine Deutsche Nationalsprache waren äußerst ungünstig.

Diese Form der Sprachkritik beinhaltet, so Heringer, in ihrer Entwicklung betrachtet, einerseits Bemühungen um die Vereinheitlichung der Sprache, andererseits aber auch Bemühungen um Sprachverbesserungen[7] – für das Deutsche beginnt beides etwa im 16. Jahrhundert. Im Grunde genommen entfalteten jene sprachkritischen Aktivitäten ihre Wirkung jedoch eigentlich erst in dem dritten Strang Heringers Systematisierung: bei schriftlichen oder sprachlichen Äußerungen von Zeitgenossen. Dort setzte nämlich die Kritik beispielsweise am Gebrauch von neuem und ´modischem` und fremdem Wortgut an. Besonders die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts hatten sich dessen Verdeutschung zu ihrer Pflicht gemacht. Konkrete sprachpflegerische Bestrebungen, die Bemühungen um ´richtigen` Sprachgebrauch gibt bis in die heutige Zeit.

Sprachkritik des dritten Stranges – Kritik an individuellen Äußerungen einzelner Sprecher (Stilkritik und Textkritik) – bezeichnet Heringer alt im literarischen Sinne, setzt aber im engeren Sinne der Sprachkritik den Anfang bei Ferdinand Kürnberger in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.[8] Bei Kürnberger wird die Sprachkritik zur Kritik einzelner Presseerzeugnisse. Sprachkritik wird in diesem Sinne praktisch und sie ist bezogen auf die öffentliche Sprache, auf Gesellschaft und Politik. Als unumstrittenen Meister dieser Kritik sieht Heringer Karl Kraus, der der festen Überzeugung war, dass die Sprache selbst nicht kritisierbar sei, wohl aber ihre Sprecher.

Auch wenn die eben vorgestellte Systematisierung auch diejenige sein wird, auf die im Verlauf dieser Arbeit an den entsprechenden Stellen Bezug genommen wird, so soll doch noch ein weiterer Beitrag zur theoretischen Unterscheidung der verschiedenen Formen von Sprachkritik vorgestellt werden – der von Peter von Polenz.

2.2. Formen der Sprachkritik nach von Polenz

War die Beschreibung des Gegenstandes ´Sprachkritik` bei Heringer die Unterscheidung in drei Stränge, so variiert der Ansatz von von Polenz etwas von diesem Systematisierungsversuch. Von Polenz geht bei seiner Systematisierung vom Phänomen Sprache aus und den Möglichkeiten seiner Beschreibung[9]. Dies führt ihn zu sechs Erscheinungsweisen von Sprache.

Wenn auf diesen verschiedenen Ebenen der Sprache jeweils eine Beschreibung möglich ist, so muss auf ihnen ebenso eine Kritik am Beschreibungsgegenstand möglich sein. Da der Beschreibungsgegenstand in allen diesen Fällen die Sprache ist, ist die Kritik am Gegenstand dementsprechend in allen Fällen Sprachkritik. Von Polenz kommt nun zu folgenden sechs Formen von Sprachkritik:

Unter Kritik der Sprachverwendung versteht er die Kritik an Äußerungen einzelner Sprecher. Diese Form der Sprachkritik obliegt, so von Polenz, im wesentlichen den Lehrern im schulischen Bereich[10]. Einzelne sprachliche Äußerungen der Schüler werden unter Berufung auf Regeln über die Richtigkeit der Sprachverwendung kritisiert. Publizistisch, so von Polenz weiter, sei diese Art der Sprachkritik nur selten geübt worden. Als berühmtes und wohl auch einzigartiges Beispiel erwähnt er den Wiener Publizisten und Satiriker Karl Kraus, der am Ende der vorliegenden Arbeit noch eine ausführliche, wenn auch seinem Schaffen nicht ansatzweise angemessene Berücksichtigung erfährt. Kraus` sprachkritischem Kampf in der Zeit des aufkommenden Faschismus` kam die Besonderheit zu, dass er den Sprachgebrauch einzelner Personen oder Gruppen namentlich kritisierte.

Kritik kann also auch an einzelnen Äußerungen von Mitgliedern einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe geübt werden. Abgesehen vom Beispiel Karl Kraus fällt dies für von Polenz jedoch schon in die Kritik des Sprachverkehrs. Der Übergang von der Kritik der ersten Art zu dieser ist fließend. Es muss entschieden werden, ob die kritisierte Sprachverwendung rein individuell oder schon durch gruppenspezifische Merkmale bestimmt ist.[11] Kritik des Sprachverkehrs ist also Kritik der Sprachverwendung bestimmter Gruppen oder der Sprachgemeinschaft schlechthin. Von Polenz ordnet diesem Typ von Sprachkritik auch die Kritik an Fachsprachen bzw. der Wissenschaftssprache allgemein und an bestimmten Soziolekten zu.[12] Beispiele für die Kritik des Sprachverkehrs gibt es viele. Im 19. Jahrhundert war es hauptsächlich Einzelwortkritik. Kritik an Fremdwörtern, Modewörtern, Neologismen. Im Zusammenhang mit den immer wiederkehrenden Sprachglossen über den ´falschen` Gebrauch von Sprache und deren oftmals äußerst verbissenen Verfassern führt von Polenz Georg Wustmann auf.

Bei beiden Formen – Kritik von Sprachverwendung und Kritik des Sprachverkehrs – wird jeweils eine realisierte Form (Siehe dazu Fußnote 9) der Sprache kritisiert. Zusammen entsprechen sie also einer Kritik der ´parole` oder der ´Performanz`.

Unter Kritik von Sprachkompetenzen versteht von Polenz allerdings nicht die Sprachfähigkeit im Sinne der Kompetenz in der Terminologie Chomskys als das erworbene Wissen eines Sprechers über seine Muttersprache, sondern unter Sprachkompetenzen begreift er die "sprachliche Begabung einer Person", welche, so von Polenz weiter "gesellschaftlich geübt [wird] in Sozialisationsprozessen in Schule und Beruf"[13].

Die vierte Form der Sprachkritik – die Kritik des Sprachsystems – umfasst bei von Polenz zum einen die kritische Betrachtung der "Möglichkeiten aller natürlichen Sprachen überhaupt, als anthropologische, philosophische oder theologische Beschäftigung mit der Sprachfähigkeit des Menschen"[14] und zum anderen die Kritik an einer Einzelsprache. Dem ersten Aspekt ordnet er die Überlegungen über die vorhandene Verschiedenheit aller natürlicher Sprachen zu. Die Überwindung dieser Unterschiede und der Versuch, einen vor-babylonischen Zustand wieder herzustellen, ist laut von Polenz Aufgabe dieser Art von Sprachkritik. Diese übergreifende Kritik am Sprachsystem unterscheidet er streng von einer Kritik an einer Einzelsprache. Hier nennt er für das Deutsche z.B. die Kritik am logischen Aufbau der Sprache oder an fehlenden grammatischen Regeln, für die in früherer Zeit das Lateinische als Maßstab diente. Auch sich im Sprachwandel vollziehende Veränderungen, wie beispielsweise der Wegfall von Flexionsendungen, werden in diesem Feld der Sprachkritik angegriffen.

Die "Kritik am Üblichen und Normalen in der Sprache"[15] bildet einen weiteren Bereich der Sprachkritik – Kritik des Sprachbrauchs. Dieser Begriff, den von Polenz hier wählt, erscheint etwas irreführend, wenn man sich bewusst ist, dass es ihm bei dieser Kritik nicht um das tatsächlich Realisierte, sondern um das tatsächlich Unterlassene im alltäglichen Sprachgebrauch geht, nämlich um eine Kritik an der individuellen Begrenztheit der Ausdrucksmöglichkeiten in der alltäglichen Kommunikation.[16] Jene Begrenztheit komme dadurch zustande, so schreibt Schwinn diesbezüglich, "da wir die eingefahrenen Wege der Sprachverwendung gehen und uns keine Gedanken über ein Anderssagen machen"[17]. In einem aufklärerischen Sinn sollte aus dieser Kritik die Forderung nach der Erweiterung und Verbesserung der individuellen Sprachkompetenz resultieren. Eine solche Forderung ist einer puristischen Sprachkritik entgegengesetzt. Das Erlernen von Fremdsprachen, die Verwendung von Fremd- und Dialektwörtern sowie die Bildung von Neologismen stellen gerade eine Erweiterung der Kompetenz dar und führen keineswegs zum Sprachverfall.[18]

Kritik des Sprachbrauchs ist für von Polenz aber nicht nur Kritik am nicht realisierten, potentiellen Sprachgebrauch, sondern bedeutet ebenfalls Kritik am aktuellen Sprachgebrauch. Hierbei handelt es sich vor allen Dingen um wortsemantische Überlegungen – inwiefern ein Wort verwendet werden sollte oder nicht.

Der sechste und letzte Bereich der Sprachkritik nach von Polenz ist die Kritik von Sprachnormen. Sprachnormenkritik, so von Polenz, werde hauptsächlich in der Sprachplanung betrieben. Eine Kritik an Sprachnormen bewegt sich auf dem Grenzweg zwischen Kritik an überkommenen Normen, deren Einhaltung von Sprachlehrern u. a. überwacht werden soll und der Kritik an Normen des Sprachsystems, deren Einhaltung dann keinen rechten Sinn mehr macht, wenn die Sprecher sie im alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr beachten. Von Polenz führt in diesem Kontext eine ganze Reihe von Beispielen auf.[19] Sprachnormenkritik, so stellt von Polenz fest, kann also einerseits zur Sprachkonservierung führen, andererseits kann sie dem ständigen Sprachwandel Rechnung tragen, indem sie Normen reformiert.

Diese Systematisierung war für von Polenz keine endgültige, denn bereits 1968, also recht früh, wurde sie von ihm entwickelt. Während seiner späteren, umfangreichen Forschung zum Thema, griff er ergänzend zur vorgestellten Klassifizierung weitere Ansätze auf. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll seiner bzw. allgemein der theoretischen Auseinandersetzung mit den Formen der Sprachkritik allerdings genüge getan sein.

2.3. Einleitende Bemerkungen zur Sprachkritik im Rahmen der vorliegenden Arbeit

Zahlreiche historische Beispiele der Sprachkritik bezeugen: Sprachkritik war allzu oft ein Vehikel der Kritik an ideologischen oder allgemeinen gesellschaftlichen Zuständen, und Ideologie- und Gesellschaftskritiker bedienten sich nicht selten sprachkritischer Elemente. Und so soll neben einigen ´Ausflügen` in die erkenntnistheoretische Sprachkritik Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit auf dem Bereich der Kritik am konkreten Sprachgebrauch vor ideologie- und kulturkritischem Hintergrund liegen.

Eine Form der Sprachkritik, die sowohl im 19. Jahrhundert als auch in allen anderen sprachkritisch aktiven Epochen existent war, muss hier leider ausgespart werden – nicht aufgrund etwaiger Unwichtigkeit oder geringerer Bedeutsamkeit. Hierbei handelt es sich um die Formen sprachkritischen Bestrebens, die in Verbindung zu sprachverbessernden und sprachpuristischen Bemühungen stehen; diese Art der Sprachkritik war nur nicht in dem Maße typisch für das 19. Jahrhundert und die angrenzenden Jahrzehnte, wie es die Sprachkritik aus Politikbezogenheit und Sprachskepsis war.

Die Tradition der Sprachverbesserungsbücher setzt sich mit diverse Neubearbeitungen und Neuerscheinungen bis heute fort. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um jene "sprachkritischen Ladenhüter"[20], wie von Polenz sie bezeichnet, die sich mit den Sprachformen beschäftigen, die trotz steter Kritik nach wie vor im festen Gebrauch sind und deren Vermeidung in der Kommunikationspraxis bis heute nicht durchgesetzt werden konnte. Dass solch punktuelle Sprachlenkung keinen bzw. kaum Erfolg hatte auf die tatsächliche Sprachentwicklung spricht für deren Erfolglosigkeit.

3. Der sprachkritische Weg ins 19. Jahrhundert

Bevor nun aber die Sprachkritik des 19. Jahrhunderts in Augenschein genommen wird, soll erst einmal ein kurzer Blick auf das ausgehende 18. Jahrhundert geworfen werden, denn die Sprachkritik des 19. Jahrhunderts entsprang nicht einer quasi jungfräulichen Geburt, sondern hatte ihre Wurzeln in einer Vergangenheit, die prägend für sie war. Viele Aspekte der Sprachkritik des 19. Jahrhundert erscheinen viel klarer, wenn man zuvor einen kurzen Einblick in das Schaffen ihrer Vordenker gewonnen hat.

Obwohl nach der zeitlichen Einordnung seiner Schaffenszeit von den meisten Autoren noch ins 18. Jahrhundert eingeordnet, soll Joachim Heinrich Campe in dieser Arbeit über die Sprachkritik des 19. Jahrhundert den Anfang bilden, denn er stellt das entscheidende Bindeglied zwischen den sprachkritischen Bestrebungen vor und nach seiner Zeit dar.

3.1. Joachim Heinrich Campe – Der französische Traum in Deutschland

Mit Campes Sprachprogramm wurde die Sprachkritik des 18.Jahrhunderts um einen Aspekt erweitert, der ihr bisher fehlte: dem politischen Aspekt.

Entsprechend seiner humanistischen Bildung vertrat Campe jenen Grundgedanken von der natürlichen Gleichheit der Menschen als Gegensatz zu egalitär-aristokratischer Standeserziehung und religiös - philosophischer Buchgelehrsamkeit.[21] Sein Credo war die Aufklärung des Volkes durch Aneignung von Wissen. Es liegt nahe, dies in Verbindung zu den Ereignissen in Frankreich zu sehen, die Campes ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen. Im Anschluss an eine Reise nach Paris berichtete Campe in seinen „Briefen aus Paris“ nicht nur über das Revolutionsgeschehen in Frankreich, sondern stellte mit großer Offenheit direkte politische Bezüge zu Deutschland her. Wie aber sah nun aber Campes Sprachprogramm als sprachkritisches Unternehmen aus?

Direkt nach seiner Parisreise veröffentlichte er 1789 erste Überlegungen zur Sprache in „Proben einiger Versuche von deutscher Sprachbereicherung“. Diese Arbeit setzte er kontinuierlich und sie ständig verbessernd fort. Sie fand ihren ersten Höhepunkt in der Preisschrift „Über die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache“ aus dem Jahre 1793. Nicht ohne Grund fallen Campes „Briefe aus Paris“ und seine ersten Sprachschriften zeitlich zusammen. Seine Vorstellungen von der Reinigung seiner deutschen Muttersprache sind denn als politische zu verstehen - ganz im Sinne der Ideen der bürgerlichen Französischen Revolution.

3.2. Campes Sprachprogramm

Die Anfänge von Campes Spracharbeit lagen aus den oben erwähnten Gründen in Frankreich. Die Beobachtung, dass in Paris ein Mann oder eine Frau aus den unteren Schichten sich sprachlich auf ähnlichem Niveau wie die Gebildeten ausdrücken konnten, ließ ihn über die Zustände in Deutschland nachdenken. Grundsätzliche Kritik übten Campe und seine sprachkritischen Zeitgenossen wie beispielsweise Carl Gustav Jochmann an der einseitig schreibsprachlichen, akademischen und belletristischen Beschränkung der deutschen Sprache und am Fehlen einer mündlichen öffentlichen Sprachkultur. Campe bewunderte sowohl das Interesse des einfachen Mannes am politischen Zeitgeschehen als auch die öffentlichen Versammlungen, in denen jene neuesten politischen Ereignisse diskutiert wurden. In seinen Briefen aus Paris schrieb er:

" Mit Erstaunen bemerkte ich vor einigen Tagen, dass die Broschüre, die ein solcher Straßenclub

von Wasserträgern, Savoyarden und anderem Pariser Pöbel sich vorlesen ließ, einer von den

Entwürfen der ´Déclarations des droits des Hommes` war, welche einige Mitglieder der National-

versammlung [...] drucken ließen. [...] Lastträger sich mit den Rechten der Menschheit unterhalten

zu sehn, welch ein Schauspiel."[22]

Solche Äußerungen Campes bezeugen seine Bewunderung für die Fähigkeit des Pöbels[23], sprachlich, und damit auch gedanklich am politischen Geschehen teilzunehmen. Aus dieser Beobachtung ergab sich für ihn der erste Anstoß, über Sprache, speziell natürlich über seine deutsche Muttersprache, nachzudenken. Einher damit ging der aufklärerische Gedanke, dass ohne die politische Bildung aller gesellschaftlicher Schichten die unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen einer Revolution nicht gegeben sei. Denn es waren jene Umwälzungen durch die revolutionäre Energie des Volkes, für die Campe das französische Nachbarland bewunderte und die er sich für Deutschland wünschte. Deutschland, das wußte Campe, war für solch tiefgreifende Veränderungen noch längst nicht bereit. Die deutschen Verhältnisse waren gänzlich anders als im benachbarten Frankreich. Gerade das Programm der Aufklärung insbesondere der unteren Schichten war noch nicht umgesetzt, und solange die unteren Volksschichten nicht aufgeklärt sind, „würde eine mögliche Revolution in Deutschland auszuarten drohen“[24].

Für Deutschland wäre der erste Schritt in die richtige Richtung die Schaffung einer Sprache, die, vor allem im politischen Bereich, den Angehörigen aller Bevölkerungsschichten zugänglich ist, die also gemeinverständlich ist. Das aufklärerische Wissen darf demnach kein abgegrenztes Wissen einer Elite sein, sondern das eines großen Publikums. Bevor in Deutschland politisches Handeln zu erwarten ist und solch einschneidende gesellschaftliche Veränderungen wie in Frankreich in Angriff genommen werden können, müsse überhaupt erst einmal ein politisches Bewußtsein in allen Schichten der Gesellschaft geweckt und entsprechende Kommunikationsbedingungen geschaffen werden. Genau an dieser Stelle setzt Campe mit seinen Sprachreinigungsbestrebungen an. Schiewe fasst fünf Komponenten dieses Programms zusammen, die an dieser Stelle aufgeführt werden sollen:

Die pädagogische Komponente: In seiner Schrift „Über die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache“ stellt Campe zum Zusammenhang von Sprache, Sprachreinheit und Volksaufklärung folgendes grundsätzlich fest: „Eine, von aller Einmischung des Fremd=artigen rein und unbefleckt erhaltene Sprache ist [...] das beste und wirksamste Mittel oder Werkzeug zu der geistigen, sittlichen und bürgerlichen Ausbildung desjenigen Volkes, welches das Glück hat, sie zu besitzen.“[25] Nach Campes Ansicht trägt eine reine und damit auch allgemeinverständliche Sprache zur Volksbildung bei, die wiederum unumgänglich münden werde in die politische Befreiung des Volkes. Dieser Gedanke geht einher mit einer weiteren Komponente des Campe´schen Sprachprogrammes: Der bürgerlich-emanzipatorische Komponente: Unter diesem Aspekt wird bei Campe der Gedanke laut, niemand solle dem Volke seinen Sprachgebrauch zu befehlen haben. Augenscheinig ist, dass sich an dieser Stelle direkt eine Parallele zwischen Sprachverfassung und Staatsverfassung ziehen läßt. Das demokratische Prinzip ´Öffentlichkeit in einem bürgerlichen Sinne` gilt hier in gleichem Maße für die Wahl des Sprachgebrauchs, der als Grundvoraussetzung für die Aufklärung jener Schichten unabdingbar ist.

Die dritte, die nationale Komponente ergibt sich aus den bisher aufgeführten Bestrebungen Campes. Die Schaffung einer einheitlichen, allen Schichten und auch allen Regionen zugänglichen Sprache bedeutete für Campe zugleich die Idee bzw. den Impuls zur nationalen Einheit. Eine gemeinsame Deutsche Muttersprache sieht er als die einzige Möglichkeit an, die Kleinstaaterei im Deutschland seiner Zeit zugunsten einer geeinten, selbständigen Nation aufzulösen.

[...]


[1] Schwinn (1997), S. 1.

[2] Schiewe (1989), S. 15.

[3] Heringer (1988), S. 4f.

[4] Heringer (1988), S. 5.

[5] Ebd., S. 5.

[6] Ebd., S. 9.

[7] Ebd., S. 10.

[8] Ebd., S.11.

[9] Bei von Polenz gibt es acht Beschreibungsebenen von Sprache. Diese sollen hier lediglich aufgeführt werden.

Individuell oder Sozial – realisiert oder potentiell – funktional oder institutional – deskriptiv oder präskriptiv

Vgl. dazu von Polenz (1988), S. 70.

[10] Ebd., S. 71.

[11] Ebd., S. 72.

[12] Ebd., S. 72f.

[13] Ebd., S.74.

[14] Ebd., S.74.

[15] Ebd., S.79.

[16] Vgl. dazu Ebd., S. 79.

[17] Schwinn (1997), S. 23.

[18] Vgl. dazu von Polenz (1988), S. 81f.

[19] Ausführlich dazu: Ebd., S. 88ff.

[20] Von Polenz (1999), S. 299.

[21] vgl. Schiewe (1998), S. 126.

[22] Campe, J.H. (1790), S. 150, Anmerkung 1.

[23] Der Begriff ´Pöbel` wird hier ohne die heutige negative Konnotation verwendet, und bezieht sich lediglich auf die sogenannte ´einfache` Bevölkerung

[24] Schiewe (1998), S. 134.

[25] Campe, J.H.: Ueber die Reinigung und Bereicherung der Deutschen Sprache (1794); zitiert nach Schiewe (1998), S.131.

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Sprachkritik im 19. Jahrhundert - Ein Überblick
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Germansitik)
Veranstaltung
Hauptseminar: Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
57
Katalognummer
V10283
ISBN (eBook)
9783638167499
Dateigröße
625 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sprachkritik, Jahrhundert, Hauptseminar, Sprachgeschichte, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Antje Leupold (Autor:in), 2002, Sprachkritik im 19. Jahrhundert - Ein Überblick, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/10283

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