Die Differenz zwischen Mensch und Tier aus der Sicht von Ernst Cassirer


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

18 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Geist und Leben - ein unüberwindbarer Dualismus?

2. Der Mensch als animal symbolicum

3. Die Beziehung des Menschen zum Symbol

4. Literatur

1. Geist und Leben - ein unüberwindbarer Dualismus?

In seinem Aufsatz "Geist und Leben in der Philosophie der Gegenwart" aus dem Jahre 1930 erörtert Ernst Cassirer die Beziehung zwischen dem menschlichen Geist und dem Leben (als metaphysisches Prinzip der Lebensphilosophie) des Menschen, einen Dualismus, welchen er auch seinerzeit in der Relation Natur-Geist bzw. Leben-Erkenntnis sah. Die Ansicht von Natur und Geist als disparate Prinzipien verfechten vor allem die Vertreter der Lebensphilosophie wie Ludwig Klages oder Georg Simmel und ebenso der Phänomenologe Max Scheler, dessen Reflexionen für Cassirer einen Weg vorgeben, auf dem er sich zu seinem eigenen Gedankengebäude begibt. Gerade der Konnex zwischen Geist und Leben erschien mir für die Erörterung des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier im Rahmen von Cassirers Argumentationen geeignet, da er sich dieser Differenz von einer größeren Perspektive, d. h. von der dem Symbolbegriff überhaupt zugrundeliegenden Prinzipien, nähert. Das zweite Kapitel der Hausarbeit wird diesen Unterschied (Mensch und Tier) von einem näheren Blickpunkt aus beleuchten, in dessen Zentrum der Mensch als animal symbolicum stehen wird. Schließlich soll im dritten Kapitel das Verhältnis des Menschen zum Symbol und somit das Wesen des animal symbolicum erläutert werden.

Ausgehend von der Romantik, welche nach Auffassung des Philosophen Ernst Cassirer die Begriffe und Kategorien für die Problematik der aufgeführten Relationen liefert, geht dieser zu Ludwig Klages über: Während die Romantiker noch eine Verbindung zwischen Natur und Geist, wenn auch auf einer metaphysischen Ebene, geschaffen haben, spricht Klages dem Geist ein widergöttliches und lebensfeindliches Wesen zu. Der Geist bricht in die Harmonie von Körper (der Ausdruck der Seele) und Seele (der Sinn des Leibes) ein und führt so zu einer Entzweiung vom Leben.

Eine andere Darstellung über den Dualismus Geist-Leben findet Cassirer in Max Schelers Anthropologie. Scheler beschäftigt sich u. a. mit der Fragestellung, was nun genau den Menschen charakterisiert und verweist dabei auf ein Prinzip, welches dem Leben entgegengesetzt ist. Es ist der Geist, der sich der ursprünglichen Richtung der Lebenskräfte entgegenstellt. Dadurch ergibt sich für das Leben, rein als Lebenstrieb, rein in seiner eigenen Sphäre und rein im Prinzip seiner eigenen dynamischen Bewegtheit ein Verweilen bei und eine Abkehr von allem, worauf es gerichtet ist.[1] Der Mensch wird daher erst Mensch sein, wenn er sich von den Lebenskräften, den Trieben, lossagt, wenn er frei und nicht umweltgebunden lebt. Cassierer gibt weiterhin Schelers Gedankengang wieder, der sich in ähnlicher Weise im Abschnitt "Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: Das Symbol"[2] findet. Im Vergleich zum Tier besitzt die geistige Kreatur, der Mensch, eine Weltoffenheit, sie kann sich über die ihm gegenüberstehende Umwelt erheben, d. h. die möglichen Reaktionen von Gegenständen oder Personen vor Augen führen. Der Geist übt beim Menschen sozusagen einen Einfluss auf den Lebenstrieb aus, wogegen es sich beim Tier geradezu andersherum verhält. Weiterhin lobt Cassirer die Überlegungen Schelers über die Erkenntnisfunktionen, die den Aufbau einer "objektiven" Welt ermöglichen, wobei der reine Raum und die reine Zeit als Leerformen, bzw. Ordnungsformen fungieren. Diese beziehen sich nicht nur auf das wirklich Gegebene, sondern auch auf das Mögliche, was sich bereits in Leibniz' Definition des Raumes andeutete. "Der Raum ... ist die Ordnung des möglichen Beisammen, wie die Zeit die Ordnung des möglichen Nacheinander ist."[3] Gerade der Ausdruck "Möglichkeit" erweist sich bei Scheler als ein spezifisch-menschlicher Begriff, da das Tier nicht über seine Wirklichkeit hinaus gelangt, es von den Dingen der Umwelt die Leerformen Raum und Zeit nicht abstrahieren kann und quasi nur einen gegenwärtigen Zustand der Außenwelt feststellt. Man könnte an diesem Punkt entgegnen, dass das Tier doch einen zeitlichen Bezug zur Umwelt herstellt, wenn es sich beispielsweise an eine schmerzvolle Situation erinnert, somit ein Ereignis oder einen Gegenstand aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückruft und analog dazu eine mögliches (bevorstehendes) Ereignis erwartet. Allerdings wird dieser Einwand entkräftet, wenn das Augenmerk auf die Art und Weise des Erinnerns gerichtet wird: es kommt nicht darauf an, ob sich das Tier einen zeitlichen Bezug schaffen und folglich an etwas erinnern kann, sondern wie es sich erinnert. Cassirer versteht unter Erinnerung keine bloße Wiederholung der Vergangenheit als vielmehr einen schöpferischen und konstruktiven Prozess, der nicht nur einzelne Daten aus vergangener Erfahrung entnimmt, sondern diese neu zusammenstellt, organisiert, synthetisiert und sie zu einem Gedanken verdichtet.[4] Daher liegt die Annahme auf der Hand, dass Tiere sich nur in unmittelbarer Nähe zum jeweiligen Gegenstand an gewonnene Erfahrungen mit ihm erinnern, und gerade diese Nähe ist beim Menschen nicht erforderlich. Ich meine deshalb Annahme, weil es eben nicht möglich ist, einen direkten Zugang zum tierischen Bewusstsein zu erlangen, woran sich ebenso das Problem einer Anthropomorphisierung bei Tieren knüpft, d. h. legen wir Menschen dem Aussehen, Gesichtsausdrücken und Verhalten von Tieren nur eine Schablone einer menschlichen Psychologie auf? Sieht man nun von diesem fundamentalen Problem ab, kann der These Schelers und Cassirers zugestimmt werden, dass Tiere im Vergleich zum Menschen der unmittelbaren Wirklichkeit verhaftet bleiben, obgleich ihnen eine eigene Art des Erinnerns zugebilligt werden könnte.

Sobald beim Menschen, so Schelers Feststellung, die Trieberwartung größer als die tatsächliche Trieberfüllung in einer Wahrnehmung oder Empfindung ist, wird er sich erst der räumlichen und zeitlichen Leere bewusst. Der Geist und das Leben figurieren hier wieder nach Cassirer als Gegenspieler, unter denen jenem der Vorrang zuerkannt wird, d. h der Geist steht innerhalb der metaphysichen Rangordnung an oberster Stelle, er besitzt den höchsten Wert. Das Paradoxon auf welches Cassirer aufmerksam macht, liegt in Max Schelers Auffassung, dass der hohe Wert im gänzlichen Sein und Geschehen nicht mit einer hohen Macht korrespondiert - hoher Wert heißt nicht hoher Status im Sein und im Wirken. Durch die starke Zusammenballung an Wert innerhalb des Geistes resp. der Idee können diese sich nicht an Macht, an unmittelbarer Wirklichkeit oder an den rein vitalen Kräften messen. Der Geist kann sich nur über Umwege die Energie (die Macht) aus der Askese, Verdrängung und Sublimierung - also genuin humane Vorgänge - verschaffen. Und dies bedeutet für den Phänomenologen ferner, dass diese Denkkraft den Lebenskräften die Ideen nur vorzeigen kann; er agiert gewissermaßen symbolisch, und dies gelingt ihm nicht einmal mit einer von ihm selbst erzeugten Energie. Wenn nun nach Scheler Leben und Geist zwei gänzlich verschiedenen Welten angehören, wie erklärt sich dann - so Cassirer - deren einheitliche Leistung im Netzwerk der Sinne? Und wie - als zweite Frage - "vermöchte das Leben die Ideen, die der Geist ihm vorhält, auch nur sehen und seinen Lauf, wie nach Sternbildern, nach ihnen zu richten, wenn es seinem ursprünglichen Wesen nach als bloßer Trieb, also als spezifisch geist-blind, zu bestimmen wäre?"[5]

Hierbei deckt Cassirer einen Zusammenhang methodischer Art zum Leib-Seele-Problem auf, welches analog zu Schelers Einheit von Geist und Leben gesehen werden kann. Die Seele kann nach Descartes keine neue Energie erzeugen oder bestehende Energie im Körper vernichten, sie besitzt nur eine Lenkungsfunktion und beherrscht den Körper mehr als umgekehrt. Doch mit Leibniz' Kritik an Descartes schwächt Cassirer Schelers Argument der Machtlosigkeit des Geistes. Angenommen der Geist setzt den vitalen Kräften etwas entgegen, was kann dies anderes sein als Energie? Nämlich Energie, die nicht aus dem Nichts entsteht oder dorthin verschwindet! Genau mit dieser Energie muss der Geist den Lebenskräften entgegnen, ansonsten bleiben Geist und Leben ein binäres Begriffspaar, was für den Kulturphilosophen Cassirer eben nicht haltbar ist. Das eigentliche Problem ist aber von subtiler Art, so lässt sich der Begriff "Macht" nach Cassirer nicht eindeutig bestimmen, und gerade dieser Punkt bringt die Dichotomie mächtiger/ohnmächtiger Geist ins Wanken, d. h. hat man den Geist wirklich entweder als ein mächtiges oder (ausschließend) als ein ohnmächtiges Prinzip zu verstehen? Dabei wirft Cassirer Scheler vor, er habe nicht zwischen der Energie des Wirkens und der Energie des Bildens, d. i. die Energie des reinen Gestaltens, unterschieden. Die Differenz beider Energiearten besteht in ihren abweichenden Verlaufsrichtungen: Die Wirkenergie bezieht sich unmittelbar auf die Umwelt des Menschen, um etwa diese zu besitzen oder um sie mit Werkzeugen zu verändern, die Bildungsenergie richtet sich hingegen ausschließlich mittelbar auf die Umwelt, d. h. sie operiert in der Dimension des reinen Bildes. Cassirer illustriert den Ausdruck "Bildungsenergie" mit folgenden Worten:

Der menschliche Geist kehrt sich hier nicht direkt gegen die Dinge, sondern er spinnt sich in eine eigene Welt der Zeichen, der Symbole, der Bedeutungen ein. Und damit geht er freilich jener unmittelbaren Einheit, die beim Tier "Bemerken" und "Bewirken" verknüpft, verlustig.[6]

Wieder zeigt sich hier eine Parallele zum oben genannten Kapitel des "Versuch über den Menschen", in welchem Cassirer dem Tier ein "Merknetz" und ein "Wirknetz", dem Mensch darüber hinaus ein "Symbolnetz" zuweist, so dass Mensch und Tier sich dadurch der Umgebung anpassen können. Der Funktionskreis des Menschen, das entspricht dem Verband von Merknetz und Wirknetz, ist also nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mittels des Symbolnetzes verändert worden.

Als problematisch empfinde ich aber Cassirers Geistbegriff: Einerseits würde der Geist eine Wirkenergie und eine Gestaltungsenergie besitzen, andererseits beginnt die Welt des Geistes für ihn immer erst dann, wenn die Flut des Lebens nicht nur dahinströmt, wenn also ausschließlich die gestaltende Energie wirkt.[7] Was bedeutet Geist denn nun genau? Die sich daran anschließende Frage lautet: Kann eigentlich den Tieren eine gewisse Energie des Geistes zugemessen werden? Denn Tieren ist es ja möglich, ihre Umwelt zu beeinflussen. Zunächst erschiene es plausibel ihnen eine Wirkenergie zuzugestehen, das hieße aber, ihnen Geist und somit Bewusstsein einzuräumen. Und das menschliche Bewusstsein kann höchstens mit einem "tierischen Bewusstsein" verglichen werden, sofern es sich um höhere Säugetieren handelte. Ein höheres Tier wie z. B. ein Primat verfügt über ein Körperbewusstsein, Sozialbewusstsein, Ortsbewusstsein und ein Selbstbild. Es besitzt folglich ein Verständnis über die Ausdehnung seines Körpers, über seine soziale Stellung und Funktion, über seine lokale Lage und über seinen eigenen Duft bzw. sein Spiegelbild. Dennoch fehlt ihm ein transitives Bewusstsein, ein reflexives Bewusstsein und ein Selbstbewusstsein, und damit drei Bewusstseinsweisen, welche den Begriff des menschlichen Bewusstseins anreichern. Man sieht folglich, dass die beiden Energien nur für den Menschen zutreffen, da Geist menschliches und nicht tierisches Bewusstsein beinhaltet.

Im weiteren Text gesteht Ernst Cassirer Scheler zwar zu, dass eine bloße quantitative Steigerung des Lebens nie in das Gebiet des Geistes gelänge, weil dieser nur durch Umkehrung, also eine Richtungsänderung jener Lebenskräfte, erreichbar wäre. Dass der Geist jedoch schlechthin kein eigenes Movens besitzen sollte, stellt Cassirer in Abrede und zwar mit Bezug auf Spinoza, der echten Ideen und somit den Produkten des Geistes eine Selbsterzeugung zuerkennt. Die Tätigkeit des Bildens und des Wirkens besitzen den Status reiner Tätigkeit (actus purus), trotz ihrer unterschiedlichen Richtungen und Ziele.

Die gestaltende Kraft des Geistes, mit anderen Worten die Fähigkeit zur symbolischen Formung, vermag es, eine Demarkationslinie zwischen Welt und Ich zu ziehen, ein Charakteristikum, wie es im vitalen Bereich nicht auftritt, wo nämlich nur Reflexketten (Reiz-direkte Reaktion) vollzogen werden, alles im Kontext von Ereignis und Wirken. Nunmehr schließt sich an die Einwirkung der Umwelt auf das Ich nicht dessen unmittelbare Reaktion (innerhalb der Welt des Geschehens/Ereignisses und Wirkens) an, sondern eine über die Welt des bildenden Gestaltens vermittelte Erwiderung. Das heißt nach Cassirer, dass erst nach dem langen Weg des inneren Gestaltens die Wirklichkeit wieder in den Blickpunkt des Menschen tritt.[8] Unter Rückgriff von Ergebnissen der Verhaltensforschung bei Tieren macht der Kulturphilosoph zwar auf symbolische Verstehensprozesse insbesondere bei Anthropoiden aufmerksam, diese seien nichtsdestoweniger simpler als beim Menschen. Sie handhaben, mit Cassirers Worten, den Umweg über die Welt des Gestaltens als "Kunst", während der Mensch über eine "Kunst des Umwegs" verfügt, die beliebig modifizierbar ist. Der Symbolgebrauch bei Primaten erklärt sich so als eine besondere Fertigkeit der Reaktion auf die Umwelt, während der Mensch außerdem die Maßstäbe dieser Fertigkeiten aufzustellen vermag. Die Sprache, der Werkzeuggebrauch, die Kunst und die begriffliche Erkenntnis - all dies sind "Künste", welche der menschliche Geist erzeugt, und auf welche Art er sich die unmittelbare Welt in die Ferne rückt, um sie anschließend wieder zu sich zu holen. Die Abstoßung und die Anziehung der Welt konzentrieren sich in der einheitlichen Tätigkeit des Geistes, wenngleich seine Wirkrichtungen entgegengesetzt verlaufen.

Aus dem methodischen und prinzipiellen Gegensatz erarbeitet Scheler - nach Auffassung Cassirers - einen anderen metaphysischen Gegensatz, gewissermaßen einen Gegensatz realer Seinspotenzen, der allerdings absolutistisch geprägt ist. "Geist oder Leben!"[9] würde Schelers Maxime lauten, ein lebensfremder Geist versus begriffsblindes Leben, die sich beide durch Askese vereinigen lassen, jene Praktik, welche die Fesseln der vitalen Schicht sprengen könnte. Die absolute Eigenschaft der Askese als Ausgangspunkt der Grundphänomene des Geistes entlarvt Cassirer als ein relatives Merkmal, da sie keine Abkehr vom Leben generell bedeutet. Vielmehr entdeckt das Leben eine innere Änderung und Wende in sich selbst, währenddessen Energien verschiedener Ordnung bzw. verschiedener Dimensionen sich gegenüberstehen. Der umfangreichste Geistbegriff Schelers beinhaltet Sachlichkeit, die Menschen gegenüber Tieren mit der Fähigkeit auszeichnet, das Gegenständlichsein, d. h. den Objektcharakter von Gegenständen als solches zu erkennen, ohne der instinktgebundenen Einschränkung bezüglich der Welt zu unterliegen. Für Cassirer stellt sich dabei dennoch die Frage, womit der Grundakt der Objektivierung bewerkstelligt werden soll. Daher verweist er wieder auf die symbolischen Formen, welche die mannigfaltigen Bild-Welten konstruieren, die der Mensch zwischen sich und die Wirklichkeit positioniert.

Die Sprache und die Kunst, der Mythos und die theoretische Erkenntnis - sie alle arbeiten, eine jegliche nach eigenem inneren Gesetz, an diesem Prozeß der geistigen Distanzsetzung mit: sie sind die großen Etappen auf dem Wege, der von dem Greif- und Wirk-Raum, in dem das Tier lebt und in den es gleichsam gebannt bleibt, zum Anschauungs- und Denk-Raum, zum geistigen "Horizont", hinführt.[10]

Cassirers Intention richtet sich auf ein Verständnis, welches Geist und Leben nicht als substantielle Entitäten wie Schelers dinglicher Geistbegriff mit einem Sein sui generis betrachtet, vielmehr lassen sich diese in ihrem reinen Vollzugssinn denken, so dass der Geist nicht mehr gewaltsam in das Leben eingreift. Dieser ist daher Kehre und Umkehr des Lebens selbst. Es scheint, dass das Leben sich wider den Geist erheben will und doch bedarf es der Sprache des Geistes, weil es stumm und abgeschottet ist. Somit liegt im Fokus des Philosophen der Geist, der sich in sich selbst negieren kann und sich dabei eigentümlicherweise nicht zerstört, sondern gerade dadurch hervorbringt. Via dem "Nein" stößt er auf die eigentliche Selbstbejahung, erst wenn der Geist auf sich mittels selbst aufgeworfenen Fragen zurückgeworfen wird, konstituiert er sich. Dieser Punkt berührt den anthropologischen Aspekt, wonach der Mensch als das Wesen typisiert wird, welches allein die Fähigkeit zum Fragen besitzt. Es ist das frag-würdige Wesen, anders gesagt, ein Wesen, dass einer Frage wert ist. Charles Taylor spricht in diesem Zusammenhang auch vom Menschen als selbst-interpretierendes Tier, das immer zum Teil durch Verstehen der Bedeutungen, die auf es einwirken, besteht. Selbst ein Gefühl, dass man zunächst noch nicht beschreiben kann, läßt sich von der Sprache nicht isolieren. "We experience our pre-articulate emotion as perplexing, as raising a question. And this is an experience that no non-language animal can have."[11]

Das Verhältnis von Geist und Leben erklärt sich nun für Cassirer am geeignetsten in der Sprache, die für ihn eine besondere geistige Grundstruktur birgt. Sprache darf für ihn nicht als starre Substanz, als substantielles Medium gedeutet werden - sie symbolisiert keinen Keil, der zwischen Mensch und dessen Umwelt eingetrieben wird. Eher kann ihr eine lebendige dynamische Funktion zugewiesen werden. Vermeintlich enthält die Sprache ein antithetisches Moment: Einerseits verknüpft sie das Ich und die Umwelt als Bindeglied - andererseits sondert sie beide Welten ähnlich einer Scheidewand voneinander. Dieses Moment fußt nach Meinung Cassirers lediglich auf einer unzureichenden Metapher zur Darstellung der Sprache, in der wiederum die vermeintlich binären Oppositionen Geist-Leben durchscheinen. Das Kommunikationsmittel Sprache sollte daher in seiner Tätigkeit erfasst werden, nicht als Ergon (Werk) - so der Bezug zu Humboldt - doch als Energeia (Tätigkeit). Doch nicht nur ihr fortwährender Wandel, auch ihre Erscheinungsform als menschliche Rede bestimmen nach Humboldt die Sprache. Eine aufschlussreiche Passage über die Differenz zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sprache fand sich ebenso bei ihm:

Zum Sprachlaut endlich paßt die, den Tieren versagte, aufrechte Stellung des Menschen, der gleichsam durch ihn emporgerufen wird. Denn die Rede will nicht dumpf am Boden verhallen, sie verlangt, sich frei von den Lippen zu dem, an den sie gerichtet ist, zu ergießen, von dem Ausdruck des Blickes und der Mienen, so wie der Geberde der Hände, begleitet zu werden, und sich so zugleich mit Allem zu umgeben, was den Menschen menschlich bezeichnet.[12]

Seine biologische Entwicklung scheint den Menschen sozusagen für die Sprache zu qualifizieren, doch enthält dieser Gedanke wiederum die typisch menschliche Sichtweise, das Tier nach Kategorien des Menschen zu bestimmen, d. h. der aufgerichtete Gang als Normalfall besitzt einen höheren Status als der Sonderfall des Gang auf allen Vieren. Warum führt das körperliche Merkmal des aufrechten Gangs zum körperlichen Merkmal eines entwickelten Sprechapparates? Ein Primat, der sich überwiegend in gebeugter Haltung fortbewegt, brächte genauso Laute zustande, nur ist sein Rachenraum für Sprechbewegungen gleich die eines Menschen ungeeignet. Die wirklich relevante physische Besonderheit, die auf eine ausgeprägte Sprache hindeutet, befindet sich im Gehirn des Menschen. Denn die Großhirnrinde verfügt über beträchtliche Regionen, die an komplexen Erkenntnis- und Entscheidungsprozessen teilhaben. Man nennt diese Gebiete auch Assoziationsregionen und gerade ihre große Anzahl beim Menschen differenzieren ihn vom Tier.

Nach Cassirer entspricht nun die Sprache keiner gegebenen starren Form, sie schafft neue Formen, währenddessen sie alte Formen zerbricht oder gänzlich vernichtet. Jede ihrer Tätigkeiten gelangt in ein Meer der Sprache, "jeder Sprech akt fließt wieder in das große Strom bett der Sprache ein, ohne doch schlechthin in ihm auf- und unterzugehen"[13].Selbst das Terrain der grammatischen Formen kann sprachlich durchpflügt werden, nichts bleibt wie es ist. So entschleiert die Sprache - gemäß Cassirer - einen inneren Widerspruch, welcher jeder symbolischen Form immanent ist und der sie paradoxerweise nicht destruiert, hingegen die Voraussetzung dafür bildet, ihre Unität aus dem Dualismus zu erzeugen und ihre Darstellung in der Umwelt des Menschen zu ermöglichen.

Im Resümee des ersten Kapitels dieser Arbeit kann ich feststellen, dass es Ernst Cassirer gelungen ist, die Prinzipien Geist und Leben zu vereinigen und zwar in einem gegenseitig bedingenden Verhältnis. Der Geist verkörpert bereits das Leben in sich, er stellt die Umkehr und Wendung des Lebens selbst dar. Sofern das Leben sich gegen die vorgebliche Macht des Geistes behaupten will, bedarf es mit Cassirers Worten des Geistes. Diese Abhängigkeit zwischen Leben und Geist signalisiert für den Kulturphilosophen ein Problem, welches einzig mit dem Geist zu tun hat. Denn dieser richtet sich auf sich selbst, er kehrt sich sozusagen gegen sich und nicht gegen das Leben; und gerade dadurch bildet er sich. Analog dazu spürte der Neukantianer in der Sprache diesen Widerspruch auf, weil sie eine geistigen Konstruktion einschließt. Auch wenn das symbolische System "Sprache" sich zunächst wie eine Schlucht zwischen Ich und dessen Umwelt erscheint, so bildet sie beim nächsten Blick eine Brücke, die Ich und Umwelt verbinden.

2. Der Mensch als animal symbolicum

Zu Beginn des Kapitels "Ein Schlüssel zum Wesen des Menschen: Das Symbol" stellt Cassirer die Theorie des Biologen Johannes von Uexküll dar, welcher die Wahrnehmung bei Tieren zu beschreiben versuchte. Jeder Organismus ist ihm zufolge nicht nur an seine Umwelt angepasst, sondern gänzlich eingepasst. Weiterhin weist ein Lebewesen ein bestimmtes "Merknetz" und ein bestimmtes "Wirknetz" auf, die miteinander harmonieren müssen, weil andernfalls dessen Fortbestehen gefährdet wäre. Das Merknetz empfängt Reize aus der Umwelt, worauf das Wirknetz reagiert. Beide Netze sind eng miteinander verbunden und bilden den Funktionskreis. An dieser Stelle setzt Cassirers Fragestellung ein, ob die Deskription von Uexküll sich auf den Menschen erweitern ließe. Wie schon im vorigen Kapitel der Hausarbeit erwähnt, würde, so Cassirer, der Ausdruck "Funktionskreis" das Wesen des Menschen nicht hinreichend wiedergeben. Der Neukantianer bemerkt dazu, dass der Funktionskreis nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ modifiziert worden ist. Der Mensch fügt sich nicht mehr vollständig in die Umwelt ein, er entwickelte seine eigene Methode, sich der jeweiligen Umwelt anzupassen. Mitten im Merk- und im Wirknetz entfaltete sich das "Symbolnetz", bzw. das Symbolsystem, was nach Ansicht des Kulturphilosophen dem Menschen eine neue Dimension der Wirklichkeit eröffnet. Auf die Außenwelt kann daher das animal rationale nicht mehr direkt reagieren, dagegen wird die Reaktion, besser die Antwort, verlängert.

Meiner Meinung nach unterschlägt diese Ansicht aber die Reflexhandlungen beim Menschen, die sich z. B. bei einer schmerzhaften Situation einstellen, man überlegt nicht erst, sobald die Sonne grell in die Augen scheint, ob man diese offen lässt oder schließt. Mich verwundert diese Auslassung, da Cassirer in seinem Aufsatz "Geist und Leben" dem Menschen eine Wirkenergie zuerteilt, mit der er unmittelbar seinen Lebensraum beeinflussen kann. Hier tritt meines Erachtens wieder Cassirers problematischer Geistbegriff auf, der entweder Wirkenergie oder[14] Bildungsenergie meint. Ernst Cassirer konzentriert sich meiner Meinung nach bei seinem Geistbegriff auf die Bildungsenergie, während er die Wirkenergie ausblendet.

Doch komme ich zurück zur menschlichen Befähigung der verzögerten Antwort. Die Unterbrechung der Reflexkette erfolgt durch einen langsamen und komplexen Denkprozess, was nun den Status des Homo sapiens von anderen Lebewesen unterscheidet. Die gleiche Überzeugung hat der Begründer des symbolischen Interaktionismus George Herbert Mead, der im Zentralnervensystem eine Kontrolleinheit sieht, welche das Verhalten des Einzelnen steuert. Eine verzögerte Reaktion definiert ein Abgrenzungskriterium zwischen reflektivem und nicht-reflektivem Verhalten, wobei dieses eine direkte Reaktion impliziert.

Die höher entwickelten Zentren des Zentralnervensystems sind im ersteren Fall im Spiel, indem sie, zwischen Reiz und Reaktion innerhalb des einfachen Reiz-Reaktions-Bogens, die Einschaltung eines Prozesses ermöglichen, durch den die eine oder andere Reaktionsreihe oder Kombination von Reaktionen gewählt werden kann.[15]

Die Konsequenzen der verlängerten Antwort-Reaktion sind für Ernst Cassirer eine neue Ordnung, in welcher der Mensch zu leben hat, genauer gesagt, existiert er nicht mehr in einem nur physikalischen Universum, sondern in einem symbolischen Universum, welches aus Sprache, Mythos, Kunst und Religion zusammengesetzt ist. Diese vier symbolischen Systeme bilden das geschlossene Gesamtsystem, in welcher sich die Bildungsenergie (siehe erstes Kapitel) bewegt. Mit abnehmender gegenständlicher Realität steigt die Symboltätigkeit beim Menschen; ohne die artifiziellen Medien wie sprachliche Form, künstlerische Bilder oder mythische Symbole vermag er, so der Kulturphilosoph, nichts mehr zu sehen oder zu erkennen. Ähnliches gelte für die praktischen Situationen, in denen nicht die harten Tatsachen vorherrschten und in denen nicht geradewegs Bedürfnissen oder Wünschen nachgegangen werde. Vielmehr umgäben uns imaginäre Emotionen, Hoffnungen und Ängste, Täuschungen und Phantasien. Doch warum geht der Mensch nicht direkt seinen Interessen oder Wünschen nach, so wie es der Neukantianer bemerkt? Meiner Auffassung nach bleibt Cassirer an dieser Stelle dem Leser eine Begründung schuldig. Auch sein Verweis auf den stoischen Philosophen Epiktet, der die Meinungen und Vorstellungen von den Dingen als die eigentlichen Quellen menschlicher Sorge kennzeichnet, rechtfertigt meiner Meinung nur die theoretische Sphäre der Erkenntnis.

Die Fähigkeit des Menschen, mittels Symbole die Welt zu begreifen, erfordere, so Ernst Cassirer im Folgenden, eine neue Definition des Menschen. Ein bedeutendes Kriterium für das Definiendum "Mensch" bildet die Rationalität, welche jegliches menschliche Handeln wie einen roten Faden durchzieht. Sogar der Mythologie räumt Cassirer eine systematische und begriffliche Form und somit ein rationales Wesen ein, obwohl er der Struktur eines Mythos Rationalität aberkennt. Man muss dabei aber im Auge behalten, dass der Mythos für Cassirer eine Form des Symbolisierens darstellt, eine Sprache sinnlichen Ausdrucks, die noch nicht zwischen dem Innen und Außen, d. h. zwischen dem Bild und der Sache unterscheidet. Ferner kann für den Kulturphilosophen die Sprache nicht mit der Vernunft auf eine Stufe gestellt werden, da jene nicht nur Ideen oder Gedanken ausdrückt, sondern darüber hinaus Gefühle und Affekte. Besonders die letzten beiden psychischen Bestandteile sind seit jeher mit der Vernunft nicht vereinbar, sie konterkarieren diese sogar. Die begriffliche Sprache scheint der Vernunft am angemessensten zu sein, dennoch handelte es sich hier nur um eine Sprachfunktion, die von Cassirer noch um eine emotionale und eine poetische Komponente erweitert wird. Dabei ließen sich noch weitere Funktionen der Sprache aufführen, wie die Kontaktfunktion oder die metasprachliche Funktion (nach Dell Hymes), die Cassirer aber nicht berücksichtigt. Obwohl man durch Sprache Gefühle und Affekte ausdrücken kann, welche ja nicht der Vernunft entstammten, bedarf es eigentlich doch einer rationalen Systematik und Begrifflichkeit der Vernunft, was aber z. B. bei Immanuel Kant die Spontaneität des Verstandes leistete. Vernunft oder Rationalität spielen bei der Sprache daher eine bedeutsame Rolle, auch wenn jene die irrationalen Zustände des Subjektes referiert. Entschieden spricht sich Ernst Cassirer im weiteren Text gegen den Begriff der Vernunft als Indikator einer Kulturform aus, da er deren Fülle und Vielfältigkeit nicht zu erfassen vermag. "Vernunft" steht seiner Meinung nach in einem moralischen Kontext innerhalb der Philosophiegeschichte, die den Menschen nicht unter empirischen Gesichtspunkten analysierte. Allen Formen der Kultur wohnt die Gemeinsamkeit der symbolischen Form bei, daher plädiert Cassirer für den Begriff animal symbolicum zur Bezeichnung des Menschen. Dieser Begriff umfasst für den Kulturphilosophen mehr als der des animal rationale und beinhaltet für ihn die spezifische Differenz zwischen Mensch und Tier.

Im vorigen Kapitel der Hausarbeit wurde jedoch erwähnt, dass Cassirer den höheren Säugetieren eine symbolische Leistung zugestand, die er auch als Kunst des "Umwegs" bezeichnete. Die Frage, die sich nun sicherlich stellt, lautet: "Warum bedeutet der Begriff animal symbolicum ausschließlich "Mensch" und nicht "Anthropoid"?" Die schon dort angedeutete Lösung (Kunst des "Umwegs" beim höheren Säugetier kontra "Kunst des Umwegs" beim Mensch) arbeitet Ernst Cassirer im Abschnitt "Von der tierischen "Reaktion" zur menschlichen "Antwort""[16] aus. Das folgende Kapitel wird die eben aufgeworfene Frage und Cassirers anschließende Antwort zum Gegenstand haben.

3. Die Beziehung des Menschen zum Symbol

Um den spezifisch menschlichen Umgang mit Symbolen näher zu erläutern, d h. diesen von anderen Arten symbolischen Verhaltens zu unterscheiden, führt Cassirer zuerst eine "Begriffsbestimmung der Sprache" ein, welche methodisch gesehen sukzessive erfolgt. Die Basisform der Sprache bilde, so Cassirer, die Sprache der Emotionen, in der noch ein bemerkenswerter Teil der menschlichen Äußerungen nachweisbar sei. Obendrein existiert für den Neukantianer eine Sprachform mit ganz anderen Charakteristika, in welcher das Wort niemals nur eine Interjektion repräsentiert. Der Ausdruck einer Emotion wird hierbei nicht plötzlich vom Menschen artikuliert, wie dies z. B. beim Ausruf von Erstaunen der Fall wäre, er tritt vielmehr für ein Element eines Satzes mit determinierter Syntax und logischer Struktur auf. Des weiteren behauptet Cassirer eine Verbindung zwischen der hochentwickelten, theoretischen Sprache und der emotionalen Sprache: jeder Satz, ausgenommen rein formale Sätze der Mathematik, weise bestimmte affektive oder emotionale Züge auf. Dieser Nexus erscheint mir sehr weitreichend, bleibt dazu aber unklar. Wo lassen sich derartige Eigenschaften aufspüren, in den emotional gefärbten Metaphern oder vielleicht in den schmückenden Beiwörtern (Epitheta ornantia)? Vermeintlich könnte bei diesem Problem die Stilistik oder gar die Psychoanalyse Abhilfe schaffen.

Innerhalb der Tierwelt stößt man gleichermaßen auf eine emotionale Basisform der Sprache wie beim Homo sapiens, der Nachweis gestischer Ausdrucksweisen wie Wut, Schrecken oder Verzweiflung bei Schimpansen belegen dies. Was unterscheidet nun genau die emotionale Artikulation zwischen Mensch und Tier? Der Kontrast wird bei der Funktion von Wörtern deutlich, die in der menschlichen Sprache eine designative Rolle übernehmen, d. h. dass Wörter den Bereich des Subjektiven überschreiten, weil sie auf Dinge der Außenwelt rekurrieren. Tierische Sprache hingegen verfügt über keine Zeichen, welche objektive Referenz resp. objektive Bedeutung demonstrieren. Den archimedischen Punkt formuliert der Kulturphilosoph folgendermaßen:

"Die Unterscheidung zwischen aussagender, propositionaler Sprache ("propositional language") und emotionaler Sprache ("emotional language") bezeichnet die eigentliche Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt."[17]

Der Weg der menschlichen Sprache führte folglich von der subjektiven zur objektiven, von der emotionalen zur propositionalen Sprache. Den Weg der tierischen Sprache, insbesondere der Menschenaffen diagnostiziert Cassirer als Sackgasse, ungeachtet ihrer progressiven Entwicklung bestimmter Symbolprozesse. Zur genauen Erläuterung dieses Sachverhalts führt er die Distinktion Zeichen-Symbol im folgenden Text ein, was immer noch zu seinem Anliegen einer "Begriffsbestimmung der Sprache" gehört.

Signale und Symbole gehören zwei unterschiedlichen Diskursen an; ein Signal ist Teil der physikalischen Seinswelt; ein Symbol ist Teil der menschlichen Bedeutungswelt. Signale sind "Operatoren", Symbole sind "Designatoren".[18]

Die Signale beinhalten etwas Physikalisches oder Substantielles wie z. B. Rauch, der das Signal für Feuer ist. Rauch gehört der physikalischen Sphäre an, er besitzt zunächst noch keinen symbolischen Wert. Erst wenn dem Rauch ein Funktionswert zukäme, änderte sich der Zeichenwert in einen Symbolwert. So könnte den Rauchzeichen der Indianer ein symbolischer Status zuerkannt werden: Rauch steht nicht mehr nur für Feuer, sondern darüber hinaus für eine Mitteilung. Auch eine Glocke kann ein "Zeichen für Essen" sein, welche die Fress-Situation des Tieres beeinflusste. Der bedingte Reflex des Tieres, um den es sich hier ja handelt, lässt trotzdem in keiner Weise auf ein symbolisches Denken schließen. Denn das Zeichen der Glocke ist mit der Situation der Nahrungsaufnahme fest integriert, ja geradezu verschmolzen. In die "Zeichen-Symbol-Differenz" schiebt Cassirer die Frage der tierischen Intelligenz ein, die bei höheren Tieren durchaus einen Geltungsanspruch hat. Eine Anzahl von deren Reaktionen auf eine Reihe Aufgabenstellungen konnten Verhaltensforscher nicht als einfache Zufallsprodukte abtun, sie entstanden tatsächlich durch Versuch und Irrtum (trial and error). Generell seien Tiere in der Lage auf vielerlei Umwegen zu reagieren, so Cassirer, sie können u. a. die Verwendung von Hilfsmitteln lernen und Werkzeuge erfinden. Den Ausdruck tierische Intelligenz präzisiert der Neukantianer daher mit dem Begriff der praktischen Intelligenz, bzw. der im Tier veranlagten praktischen Phantasie. Einzig der Homo sapiens bildete eine symbolische Phantasie und symbolische Intelligenz aus.

Anhand eines Beispiels zweier blind und taubstumm geborener Kinder versucht Cassirer die Aufeinanderfolge von der praktischen zur symbolischen Auseinandersetzung mit der Umwelt zu skizzieren. In beiden Fällen lernten die Kinder seiner Auffassung nach, Wörter nicht nur als Zeichen oder Signale für genau einen Gegenstand zu benutzen, sondern sie als Denkinstrumente anzuwenden. Dafür spricht die Universalität des Symbolischen, wodurch Helen Keller (eines dieser beiden Kinder) lernte, dass das Wort "Wasser" nicht nur die herausströmende Flüssigkeit des Wasserhahnes benennt; d. h. dass "Wasser" nicht nur ein mit der Situation des morgendlichen Waschens integriertes Signal verkörpert. Der Ausdruck "Wasser" designiert auch die aus der Pumpe herausfließende Flüssigkeit, wobei "Wasser" jetzt in einer neuen Situation auftaucht. Der Ausdruck "Wasser" erhält nun einen symbolischen Gehalt, er stellt nicht mehr nur ein Zeichen inmitten einer genau abgegrenzten Situation dar. Ich glaube, dass Cassirer auf dieses Ergebnis abgezielt hat, obwohl seine Skizzierung auf mich etwas unklar wirkte. Ein Mangel an Sinneseindrücke kann, wie die Beispiele zeigten, das Prinzip des Symbolischen nicht verhindern. Wie der Mensch seine Welt aufbaut, hängt für Cassirer daher nicht von der Beschaffenheit des Sinnesmaterials ab, wobei natürlich mindestens eine Sinnesart vorhanden sein sollte, wenn wir den Gleichgewichtssinn unterstellen. Des Menschen Weltbild konstituiert sich gewissermaßen aus der Form:

Der spezifische Charakter der menschlichen Kultur und ihre intellektuellen und sittlichen Werte gehen nicht auf das Material zurück, aus dem sie besteht, sondern auf ihre Form, ihre architektonische Struktur.[19]

Daraus folgt, dass sich diese Form an jeglichem Sinnesmaterial gestalten lassen kann. Egal ob taktile oder akustische Sinnesreize von einer Person empfangen werden, letztendlich kommt es auf die Form des Verständigungsmittel Sprache, auf ihre Struktur, an, die sich entweder in Gebärdensprache oder in Rede zum Gegenüber bewegt. Doch zurück zur Zeichen-Symbol-Differenz.

Den ersten wesentlichen Vorzug des Symbols habe ich bereits erwähnt, seine Universalität. Diesem schließt sich seine Variabilität an, denn die Bedeutung des Symbols ist in verschiedenen Sprachen formulierbar. Auch eine Idee lässt sich nach Cassirer mit gänzlich unterschiedlichen Wörtern bekunden, was dann soviel wie die Synonymie von Wörtern bedeutet. "Kennzeichnend für das menschliche Symbol ist nicht seine Einförmigkeit, sondern seine Vielseitigkeit und Wandelbarkeit."[20] Das Zeichen oder Signal ist dagegen mit dem Ding fest und eindeutig gekoppelt, wofür es steht - genau ein Zeichen entspricht einem Gegenstand.

Schließlich erläutert Cassirer die Abhängigkeit des relationalen Denkens oder Beziehungsdenkens vom symbolischen Denken. Allein ein Bewusstsein von Beziehungen reicht seines Erachtens nicht aus, als intellektueller Akt oder abstraktes Denken bezeichnet zu werden. Zur Unterstützung dieser These zieht er deshalb Ergebnisse der Gestaltpsychologie heran, die dokumentieren, dass einfachste Wahrnehmungen auf fundamentalen Strukturelementen bzw. bestimmten Mustern aufbauen. Tiere können räumliche und optische Muster wahrnehmen, was als psychische Eigenleistung zählt, und verfügen in dieser Hinsicht über ein bewusstes Wahrnehmen von Beziehungen. Der Mensch wiederum entfaltete eine Fähigkeit, der nichts Wesensgleiches in der Fauna ähnelt, eine Fähigkeit, Beziehungen zu isolieren, d. h. Beziehungen in ihrer abstrakten Bedeutung zu begreifen. Diese Fähigkeit verdeutlicht eine andere Form des Beziehungsdenkens, die Tieren nicht gegeben ist. Ein Mensch vermag es deshalb, Bedeutungen zu verstehen, die nicht auf unmittelbaren Sinneseindrücken beruhen, die er vielmehr sozusagen in seiner geistigen Welt produziert. Wir befinden uns somit wieder in Cassirers konstruiertem symbolischen Universum, in welchem der Mensch nicht direkt auf Reize zu reagieren hat, sondern mittels Symbolisierung eine verzögerte Antwort darauf geben kann. Auch wenn bei höheren Tieren eine Fähigkeit zur "Isolation von Wahrnehmungsfaktoren" nachgewiesen worden ist, kann diese aufgrund ihrer Seltenheit und Unvollkommenheit nicht dem Menschen gleichgestellt werden. Dem Tier mangele es schier an einem Symbolsystem wie das der menschlichen Sprache, so Cassirer, Ansätze einer distinctio rationis seien von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Dieses Argument untermauert er mit Johann Gottfried Herders Reflexionen, der seiner Ansicht nach die angesprochene Isolation von Beziehungen beim Homo sapiens zuerst erkannte. Sprache hat keinen Objektcharakter, ihr wohnt eine wandelbare, gestaltende Energie inne. Sie ist ihrer Natur nach prozessual und eine allgemeine Funktion des menschlichen Verstandes. Nach Herder besitzt der Mensch das Vermögen der Reflexion resp. reflexiven Denkens, mit dem er aus der undifferenzierten Flut der vorbeiströmenden Sinneseindrücke gewisse feste Elemente herausgreift, um sie zu isolieren und das Augenmerk darauf zu lenken. Während Johann Gottlieb Herder den Zustand der Besonnenheit[21] für Sprache verantwortlich macht, bildet für Cassirer die gestaltende Energie des Geistes die Grundlage dafür. Dieser Passus verknüpft eine Textstelle aus "Geist und Leben", wobei die Parallele zwischen Herder und Cassirer offenkundig hervortritt:

"Die Welt des Geistes ... ersteht immer erst dann, wenn die Flut des Lebens nicht mehr bloß dahinströmt, sondern wenn sie an bestimmten Punkten angehalten wird - wenn das Leben statt aus sich selber unablässig neues Leben zu gebären und sich in seinen eigenen Geburten zu verzehren, sich zu dauernden Gestalten zusammennimmt und diese aus sich heraus und vor sich hinstellt."[22]

Resümierend kann ich feststellen, dass der Kernpunkt einer Mensch-Tier-Differenz in der Unterscheidung zwischen propositionaler und emotionaler Sprache besteht. Diese ist den Tieren eigen, wobei emotionale Äußerungen nicht als Bestandteile eines logisch strukturierten Satzes zu bewerten sind. Da höhere Tiere über bestimmte symbolische Prozesse verfügen, erschien Cassirers Unterscheidung von Zeichen und Symbolen angebracht. Die sogenannten niederen Formen aus der Fauna können nur auf Zeichen (mittelbare Reize) reagieren, wogegen entsprechend höhere Formen mit Symbolen agieren konnten. Menschlich Symbole sind dennoch durch ihre Universalität und Variabilität gekennzeichnet, sie sind wandelbar und beweglich. Und gerade dieser Punkt schränkt die symbolischen Leistungen von Anthropoiden ein, für die Symbole eher nur eine Eigenschaft des Dinges darstellen, z. B. „Computer“-Tasten mit geometrischen Symbolen bei Experimenten mit Affen. Aufgrund der mangelnden tierischen Symbolik (bei höheren Formen) fehlt bei ihnen auch das Beziehungsdenken, welches gerade symbolisches Denken voraussetzt. Menschen bildeten im Laufe ihrer Evolution die Fähigkeit aus, Beziehungen zu isolieren und zwar universelle räumliche Beziehungen. Höheren Tieren gelang es hingegen nur, gewisse Wahrnehmungsfaktoren zu isolieren, die sich aber als rudimentär und unzureichend herausstellten. Somit kann Ernst Cassirer den Menschen mit Recht als animal symbolicum bezeichnen, welches sich die Welt primär mittels Symbolen zugänglich macht.

Obwohl - nach Cassirer - nur uns Menschen der geistige Akt der Symbolisierung eigen ist, sollten wir uns nicht einem Dünkel überantworten, da es wahrscheinlich ein evolutionärer Zufall war, dem wir unseren Status zu verdanken haben. Unsere Vorfahren befanden sich zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, sie konnten sich der Umgebung anpassen und besaßen die notwendigen körperlichen Charakteristika. Hinzu kamen eine omnivore Lebensart und eine entsprechende soziale Organisation zur Nutzbarmachung der Savannen. Vergessen wir also nicht: Ohne die nun gerade so verlaufene natürliche Selektion stünde der Mensch auf einer Stufe mit den sogenannten "niederen" Lebensformen!

4. Literatur

Cassirer, Ernst: "Geist" und "Leben" in der Philosophie der Gegenwart in ders.: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache. Hrsg. von Ernst Wolfgang Orth. 1. Auflage. Leipzig: Reclam Verlag 1993

Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. 2. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1990

Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In Wilhelm von Humboldts gesammelte Werke . 6. Bd. Berlin 1988

Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1980

Taylor, Charles: Human Agency and Language in ders.: Philosophical Papers.Volume 1. Cambridge: Cambridge University Press 1985

[...]


[1] Vgl. Ernst Cassirer: Geist und Leben, S. 36

[2] Dieser Abschnitt steht im Buch "Versuch über den Menschen. Eiführung in eine Philosophie der Kultur" und dient gleichzeitig dem zweiten Kapitel dieser Hausarbeit als Vorlage.

[3] Ernst Cassirer: Geist und Leben, S. 37

[4] Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 86

[5] Ernst Cassirer: Geist und Leben; S. 40

[6] Ebd. S. 45

[7] Vgl. ebd.

[8] Vgl. ebd. S. 47

[9] Das absolutistische Wesen des metaphysischen Kontrastes soll sich hier im exklusiven Oder widerspiegeln.

[10] Ebd. S. 51

[11] Charles Taylor: Human Agency and language, S. 74

[12] Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, S. 53

[13] Ernst Cassirer: Geist und Leben, S. 57

[14] hier inklusives Oder

[15] George Herbert Mead: Geist, Identität, Gesellschaft, S. 158

[16] Der Abschnitt befindet sich im Buch "Versuch über den Menschen".

[17] Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 56

[18] Ebd. S. 58

[19] Ebd. S. 63

[20] Ebd. S. 65

[21] Bei Herder sind die Begriffe Besonnenheit und Reflexion bedeutungsgleich.

[22] Ernst Cassirer: Geist und Leben, S. 45

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Differenz zwischen Mensch und Tier aus der Sicht von Ernst Cassirer
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Veranstaltung
Grundzüge einer pragmatistischen Kulturphilosophie
Note
2,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
18
Katalognummer
V108554
ISBN (eBook)
9783640067510
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Hierbei handelt es sich um eine Hauptseminararbeit.
Schlagworte
Differenz, Mensch, Tier, Sicht, Ernst, Cassirer, Grundzüge, Kulturphilosophie
Arbeit zitieren
Hendrik Hohmann (Autor:in), 2000, Die Differenz zwischen Mensch und Tier aus der Sicht von Ernst Cassirer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108554

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