Schillers klassizistische Ästhetik und "Maria Stuart"


Bachelorarbeit, 2008

42 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Schillers klassizistische Ästhetik
2.1. Kunstautonomie
2.2. Schillers Konzept der schönen Seele
2.3. Schillers Anforderungen an das Drama

3. „Maria Stuart“
3.1. Schillers Bearbeitung des historischen Stoffs
3.1.1. Das Verhältnis von Maria und Leicester
3.1.2. Die Gestalt des „Doppelagenten“ Mortimer
3.1.3. Das Treffen der Königinnen
3.2. Die formale Gestaltung von „Maria Stuart“
3.2.1. Die Euripidische Methode
3.2.2. Metrik und Stilmittel
3.2.3. Symmetrie
3.3. Maria als schöne Seele

4. Fazit

Bibliographie

1. Einführung

Schiller ist in seinem literarischen Werk weder auf eine einzige Gattung noch auf eine einzige Literaturepoche zu reduzieren. Hatte sich der junge Schiller noch mit Werken wie Die Räuber oder Don Karlos einen Namen als Vertreter des Sturm und Drang gemacht, so ist der späte Schiller mit Werken wie Wallenstein, Wilhelm Tell oder auch Maria Stuart zu einem der bedeutendsten Vertreter der Weimarer Klassik avanciert. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Phasen seines Lebens bildet seine theoretische Schaffensphase, in der er sich mit der griechischen Antike, mit den Lehren Kants und den Werken von Winckelmann und Moritz beschäftigte. Das Resultat dieser Phase sind zahlreiche Schriften zur Ästhetik und zur Dramentheorie, aber auch viele Briefe, in denen er sich mit diesen Fragen auseinander setzte.

Ziel dieser Arbeit wird es sein, zunächst Schillers theoretisches Schaffen näher zu untersuchen und einige wesentliche Punkte zu analysieren. In einem zweiten Schritt wird dann Schillers Maria Stuart untersucht und auf Einflüsse seiner theoretischen Schriften und Briefe hin überprüft werden. Zum Schluss werden die Ergebnisse dieser Untersuchungen noch einmal kurz in einem Fazit zusammengefasst werden. Die grundsätzliche Methode dieser Arbeit wird es sein, Schillers Positionen zur Ästhetik und zur Dramentheorie aus Schillers Schriften herauszuarbeiten und diese an einigen Stellen durch Zitate, teils von Schiller selbst, teils aus Quellen, teils aus Sekundärmaterialien zu untermauern.

2. Schillers klassizistische Ästhetik

Es gehört zu den Besonderheiten der „Weimarer Klassik“, dass die Grundsätze ihrer literarischen und philosophischen Produktion durch ihre Vertreter selbst, speziell durch Schiller und Goethe, in theoretischen Abhandlungen dargelegt worden sind. Gerade Schiller ist es, der sich in vielen Schriften und Briefen mit dem Thema der klassizistischen Ästhetik beschäftigt. Insbesondere in seinen Schriften Über die tragische Kunst, Über Anmut und Würde, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Über naive und sentimentalische Dichtung, Kallias oder über die Schönheit und Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen legt Schiller sein Konzept einer klassizistischen Ästhetik dar, das sich an Bildungs- und Kunstidealen der griechischen Antike orientiert. Eine vollständige Darstellung von Schillers Position ist auf Grund ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Dieses Kapitel wird sich auf einige wesentliche Aspekte von Schillers Ästhetik konzentrieren: Kunstautonomie, Schillers Konzept der schönen Seele und Schillers Anforderungen an das (klassizistische) Drama, da diese eine wichtige Grundlage für das Verständnis von Maria Stuart bieten. Zunächst wird das Thema Kunstautonomie behandelt werden, da dies die Grundlage für Schillers Ästhetik, insbesondere für seine Wirkungsästhetik, bildet.

2.1. Kunstautonomie

Das Konzept der Selbstbestimmung der Kunst oder der Kunstautonomie ist keine Erfindung Schillers. Es geht zurück auf Karl Philipp Moritz (1756-1793), der in seinem Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) schrieb:

„Bei der Betrachtung des Schönen aber wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe“.[1]

Moritz gesteht dem Kunstwerk erstmals ein eigenes Recht zu und löst es somit von jeglicher Forderung nach einem Zweck, die, „gemäß der horazischen Maxime, [dass] Poesie idealiter nutzen und erfreuen solle“[2], seither gegolten hatte. Das Kunstwerk ist also nur um seiner selbst willen schön, nicht weil es wie auch immer gearteten Zwecken genügt: „Dieses [das Schöne] hat seinen Zweck nicht außer sich, und ist nicht wegen der Vollkommenheit von etwas anderem, sondern wegen seiner eigenen inneren Vollkommenheit da“.[3]

Ein ähnliches Konzept findet sich auch bei Immanuel Kant (1724-1804), dessen Werke einen maßgeblichen Einfluss auf Schiller hatten. In seiner Kritik der Urteilskraft (1790), die Schiller mit großem Interesse las, definiert Kant Schönheit als „Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird“.[4] Auch hier wird der Kunst jedwede Zweckbindung abgesprochen, sie ist autonom. An diesem Punkt setzt Schiller mit seinen Überlegungen zur Autonomie der Kunst ein und revidiert, was er noch 1784 in seiner berühmten „Schaubühnenrede“ vertreten hatte:

„Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Geseze sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet, und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten, und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwerd und Waage, und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl“.[5]

Noch ganz Vertreter des Sturm und Drang, hatte er hier der Bühne die Aufgabe zugedacht, dort für Gerechtigkeit zu sorgen, wo die weltliche Gerichtsbarkeit versagt hatte. Nach seiner Beschäftigung mit Moritz und Kant in den Kallias -Briefen verwirft Schiller diesen Ansatz und gesteht der Kunst einen Autonomieanspruch zu: „Schönheit ist also nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung“.[6] Er führt weiter aus: „Die Freiheit in der Erscheinung ist also nichts anders, als die Selbstbestimmung an einem Dinge, insofern sie sich in der Anschauung offenbart“.[7] Selbstbestimmung an einem Dinge bedeutet aber nichts anderes als Autonomie. Hier zeigt sich also der Wechsel, der sich im Denken Schillers seit seiner „Schaubühnenrede“ vollzogen hatte. Die Kunst wird von ihrer gesellschaftsverbessernden Funktion befreit und es wird ihr ein Eigenrecht zugestanden. Dieser Wandel wird auch in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen deutlich, wenn er sagt: „Nicht weniger widersprechend ist der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben“.[8] Kunst ist also losgelöst von jedwedem Zweck zu betrachten, wenn Kunst an einen Zweck gebunden ist, kann sie niemals schön im Sinne Schillers sein.

Schiller geht aber in seiner Autonomiebestimmung noch weiter. Wiederum im Rückgriff auf Kant[9] erweitert er seinen Autonomiebegriff: „Die Form muß im eigentlichsten Sinn zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein, nicht bloße Autonomie sondern Heautonomie muß da sein“.[10] Damit kommt Schiller zu einem der komplexesten Definitionsansätze für Autonomie überhaupt. Autonomie der Kunst bedeutet zwar Kunst von allen gesellschaftlichen Zwecken und Zwängen zu lösen, aber es bedeutet nicht, dass der Künstler in der Ausübung seiner Kunst willkürlich vorgehen kann. Vielmehr ist es das Kunstwerk selbst, das dem Künstler die Regeln aufstellt, an die er sich zu halten hat und die das Kunstwerk selbst zu erfüllen hat. Für Schiller ist Schönheit „Natur in der Kunstmäßigkeit“[11], die er folgendermaßen definiert: „Sie [die Natur in der Kunstmäßigkeit] ist die reine Zusammenstimmung des innern Wesens mit der Form, eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist“.[12] Hier wird deutlich, dass Schiller eine klare Abgrenzung zwischen Künstler und Kunstwerk vornimmt. Es ist das Kunstwerk, dem Schiller Autonomie zugesteht, nicht der Künstler. Es ist die Aufgabe des Künstlers, sein Kunstwerk so zu erschaffen, dass dieses seine Heautonomie bewahrt.

Gelingt es dem Künstler die Heautonomie der Kunst zu bewahren, so kann sie dennoch einen gesellschaftlichen Zweck erfüllen. Was zunächst paradox klingt, liegt begründet in Schillers komplexer Definition von Schönheit und in seiner Gegenwartsdiagnose. Schiller sieht den Menschen seines Zeitalters aufgrund der voranschreitenden Arbeitsteilung als defizitär:

„Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft“.[13]

Das einzige Mittel, das Schiller sieht, um diesen defizitären Zustand zumindest temporär zu überwinden, ist die Kunst. Dabei greift er auf mehrere duale Begriffspaare zurück, die die Zerrissenheit des Menschen verdeutlichen sollen. Er unterscheidet zunächst „Person“ und „Zustand“: „Sie [die Abstraktion] unterscheidet in dem Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das bleibende nennt sie seine Person, das wechselnde seinen Zustand“.[14] Ferner unterscheidet er zwischen der Sinnlichkeit und der Sittlichkeit des Menschen. Diesen beiden Strebensrichtungen werden zwei Triebe zugeordnet, die den Menschen beherrschen. Dem Streben nach Sinnlichkeit wird der Stofftrieb zugeordnet, der laut Schiller „beschäftigt [ist], ihn [den Menschen] in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen“.[15] Dem Streben nach Sittlichkeit wird der Formtrieb zugeordnet, der „bestrebt [ist], ihn [den Menschen] in Freyheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen, und bey allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten“.[16] Diese beiden an sich nicht zu vereinenden Triebe dennoch zu vereinen, ist für Schiller die Herausforderung der Kunst. Zu diesem Zweck führt er einen dritten Trieb ein, der beide Triebe in sich vereinigt: den Spieltrieb. Hier sieht er die Möglichkeit gegeben den Menschen Freiheit empfinden zu lassen, allerdings, wie der Name schon sagt, nur im Spiel oder auch im ästhetischen Schein. Die Möglichkeiten des Spieltriebs definiert Schiller wie folgt:

„Der Spieltrieb also, als in welchem beyde verbunden wirken, wird das Gemüth zugleich moralisch und physisch nöthigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufhebt, auch alle Nöthigung aufheben, und den Menschen, sowohl physisch als moralisch, in Freyheit setzen“.[17]

Im Reich des ästhetischen Scheins sieht Schiller die Möglichkeit gegeben, sein anthropologisches Ideal des ganzen Menschen zu verwirklichen. Nur im Spiel bietet sich dem Menschen die Möglichkeit seine innere Zerrissenheit zu überwinden und zu seinem Idealzustand zu gelangen. Schiller bringt dies auf die prägnante Formel: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.[18] Die Kunst und nur sie allein vermag den Menschen für einen kurzen Moment wieder ganz zu machen. Begründet liegt dies in den Eigenschaften der Schönheit,

„die in dem angespannten Menschen die Harmonie, in dem abgespannten die Energie wieder herstellt, und auf diese Art, ihrer Natur gemäß, den eingeschränkten Zustand auf einen absoluten zurückführt, und den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht“.[19]

Dieses kann Kunst aber nur leisten, wenn sie von Zwecken freibleibt, also autonom ist, wenn sie das gewährt, was Schiller „freyes Vergnügen“[20] nennt. Dadurch dass Kunst autonom bleibt, kann sie letzten Endes die höchste Funktion erfüllen: die Wiederherstellung des ganzen Menschen, wenn auch nur im Bereich des Scheins. Eine praktische Umsetzung dessen, was Schiller unter einem ganzen Menschen versteht, bildet sein Konzept der schönen Seele, das in 2.2. erläutert werden soll.

2.2. Schillers Konzept der schönen Seele

Die Konzeption der schönen Seele geht auf die griechische Antike zurück. Schon bei Platon wird der Begriff der „Kalokagathia“ erwähnt, der übersetzt „Schön- und Gutheit, Vortrefflichkeit“[21] bedeutet. In diesem Begriff kommt der „doppelte[n] Aspekt des Ästhetischen und Ethischen“ zum Ausdruck „unter dem die Griechen die menschliche Trefflichkeit zu betrachten pflegen“.[22] Aufgegriffen wurde dieser Begriff in der Epik des Mittelalters, in der er als Idealbild der Charaktererziehung diente. Er fand seinen Weg in die Werke Shaftesburys, Wielands und Herders und überlebte so bis in die Zeit Schillers.

Schiller definiert diesen Begriff nun unter dem Eindruck der Lehren Kants neu. Hatte Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in seiner Kritik der praktischen Vernunft noch die Forderung nach einem kategorischen Imperativ aufgestellt: „Ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“[23], bzw. „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“[24], so geht Schiller in seinem Konzept der schönen Seele noch einen Schritt weiter. Die schöne Seele „kennzeichnet demnach [für Schiller] die Internalisierung des Sittengesetzes“.[25] Deutlich macht Schiller dies in der Definition, die er selbst von der schönen Seele gibt:

„Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen. Daher sind bey einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es“.[26]

Die schöne Seele prüft nun also nicht mehr bei jeder Entscheidung, ob ihre Handlungen mit dem kategorischen Imperativ konform sind, sondern handelt intuitiv richtig, weil dieser kategorische Imperativ die Grundlage ihres Handelns und ihres Wesens ist: „Daher weiß sie selbst auch niemals um die Schönheit ihres Handelns, und es fällt ihr nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden könnte“.[27] Die Richtigkeit ihrer Handlungen ist für die schöne Seele so selbstverständlich geworden, dass es für sie nicht mehr nötig ist, zu reflektieren, ob diese Handlungen moralisch oder unmoralisch sind. Sie handelt richtig, weil sie richtig handeln muss, aber nicht aufgrund eines äußeren Zwanges, sondern weil sie aufgrund ihres Naturells richtig handelt. Schiller schreibt dazu: „In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“.[28] Die schöne Seele ist es also, die, wie schon der Spieltrieb, die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze, wie etwa Pflicht und Neigung, in sich vereinigt und harmonisch auflöst. Die schöne Seele erweist sich aber erst in der direkten Konfrontation mit dem Leiden als solche. Schiller definiert dies gleichsam als die Probe, der man die schöne Seele unterziehen solle: „Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der Temperamentstugend unterscheiden kann“.[29] Erhabenheit drückt sich also nach Schiller dadurch aus, dass der Mensch den Affekt durch moralischen Widerstand überwindet und sich so in moralische Freiheit setzt, sich also zur schönen Seele erhebt. Der Zustand der schönen Seele ist nicht zu verstehen als ein langwieriger Prozess, an dessen Ende als Resultat die schöne Seele steht. Vielmehr ist die schöne Seele eine spontane Erscheinung, die sich dadurch ergibt, dass sich der Mensch über das rein Irdische erhoben hat und seine Totalität im Angesicht des Leidens wiederhergestellt hat. Dadurch kommt der schönen Seele in Bezug auf den Zuschauer eine Vorbildfunktion zu:

„Wir erfahren also durch das Gefühl des Erhabenen, daß sich der Zustand unsers Geistes nicht nothwendig nach dem Zustand des Sinnes richtet, daß die Gesetze der Natur nicht nothwendig auch die unsrigen sind, und daß wir ein selbstständiges Prinzipium in uns haben, welches von allen sinnlichen Rührungen unabhängig ist“.[30]

Die schöne Seele soll dem Zuschauer also ein Beispiel dafür geben, dass es möglich ist auch unter den widrigsten äußeren Bedingungen seine moralische Freiheit zu behaupten und sich durch moralischen Widerstand in einen Zustand der Totalität versetzen zu lassen.

Die schöne Seele fällt, wie ihr Name schon verrät, unter Schillers Definition des Schönen, weshalb auch für sie der Anspruch der Zweckfreiheit gilt: „Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist“.[31] Da es der schönen Seele möglich ist, eigentlich unversöhnliche Positionen miteinander harmonisch zu vereinigen, lässt sie sich als menschliches Idealbild verstehen. Die schöne Seele ist der ganze Mensch, da sie nicht nur sinnlich ist, sondern auch den Verstand gleichberechtigt in sich wirken lässt. Sie bildet somit den Zielpunkt der ästhetischen Erziehung wie sie Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen vorschwebte. Da sich die schöne Seele in der Auseinandersetzung mit dem Affekt erweisen muss, bildet das Drama die logische Form, in der sie auf der Bühne präsentiert werden kann. Welche Anforderungen Schiller an das Drama stellt, soll im Folgenden analysiert werden.

2.3. Schillers Anforderungen an das Drama

Das Drama sieht Schiller wie keine andere literarische Gattung dazu prädestiniert die Anforderungen, die er an Kunst stellt, zu erfüllen. In vielen Briefen und Abhandlungen hebt er die besonderen Vorzüge dieser Gattung hervor und erläutert dabei die Ansprüche, die er an den Stoff, die Charaktere, die künstlerische Gestaltung und den Künstler selbst stellt.

Da es in der menschlichen Natur liegt, von tragischen Ereignissen nicht nur betroffen und schockiert, sondern auch fasziniert zu sein, empfindet der Mensch auch bei der Betrachtung eines Dramas Vergnügen, da die dargestellte Handlung in ihm Mitleid weckt. Der scheinbare Widerspruch, der sich dadurch ergibt, dass der Mensch dem Leiden einen Genuss entnimmt, wird von Schiller so erklärt, dass die Tragödie eben nicht nur die menschlichen Sinne anspricht, sondern auch den Verstand des Menschen:

„So scheint es eine Zweckwidrigkeit in der Natur zu seyn, daß der Mensch leidet, der doch nicht zum Leiden bestimmt ist, und diese Zweckwidrigkeit thut uns wehe. Aber dieses Wehethun der Zweckwidrigkeit ist zweckmäßig für unsere vernünftige Natur überhaupt und in so fern es uns zur Thätigkeit auffordert, zweckmäßig für die menschliche Gesellschaft“.[32]

Da diese scheinbare Zweckwidrigkeit den Menschen dazu anregt, seinen Verstand zu gebrauchen, ist sie letztendlich in hohem Grade zweckmäßig, da sie moralisch zweckmäßig ist. Nicht nur der Zuschauer soll aber dazu angeregt werden, mit Hilfe seines Verstandes über seine Affekte zu triumphieren, auch der Held der Tragödie soll dies verkörpern. Schiller fasst dies in zwei Gesetzen der tragischen Kunst zusammen: „Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweyte ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“.[33] Der Held soll sich eben nicht seinen Affekten hingeben, sondern soll sein Unglück mit Hilfe seiner moralischen Natur überwinden. Hierbei stehen nun die Stärke des Affekts und der Effekt, den der Kampf des Helden mit diesem Affekt beim Zuschauer auslöst, in direktem Verhältnis:

„Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt in dem Gebiet der Thierheit sich äußert, ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können; desto mehr wird diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos“.[34]

Je stärker also der Affekt ist, über den der Held mittels seiner moralischen Natur siegt, desto größer ist die Wirkung auf den Zuschauer. Nur im Widerstand gegen die Affekte erweist sich die wahre Größe der sittlichen Natur:

„Diese moralische Zweckmäßigkeit wird am lebendigsten erkannt, wenn sie im Widerspruch mit andern die Oberhand behält; nur dann erweißt sich die ganze Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt wird und alle neben ihm ihre Gewalt über ein menschliches Herz verlieren“.[35]

Aufgabe des Dramas ist es also, das Leiden des Menschen und die moralische Auseinandersetzung mit dem Leiden auf die Bühne zu bringen. Dann ist die scheinbare Zweckwidrigkeit aufgehoben und der Zuschauer kann Mitleid mit dem Helden entwickeln.

So kommt Schiller zu einer ersten, knappen und prägnanten Definition des Dramas oder der Tragödie: „Diejenige Kunst aber, welche sich das Vergnügen des Mitleids ins besondre zum Zweck setzt, heißt die tragische Kunst im allgemeinsten Verstande“.[36] Dabei kommt nach Schiller der Wahl des Stoffes und der Gestaltung der Charaktere eine besondere Bedeutung zu. Nicht jeder Stoff ist tragödientauglich, da nicht jeder Stoff Mitleid und Rührung hervorrufen kann. Ebenso verhält es sich mit der Gestaltung der Charaktere. Daher wird die Tragödie „die Natur in denjenigen Handlungen nachahmen, welche den mitleidenden Affekt vorzüglich zu erwecken vermögen“.[37] Dabei kommt es zunächst auf die Auswahl eines geeigneten Charakters an. Schiller definiert die idealen Charaktere zunächst negativ:

„So schwächt es jederzeit unseren Antheil, wenn sich der Unglückliche, den wir bemitleiden sollen, aus eigner unverzeihlicher Schuld in sein Verderben gestürzt hat, oder sich auch aus Schwäche des Verstandes und aus Kleinmuth nicht, da er es doch könnte, aus demselben zu ziehen weiß. […] Unser Mitleid wird nicht weniger geschwächt, wenn der Urheber eines Unglücks, dessen schuldlose Opfer wir bemitleiden sollen, unsre Seele mit Abscheu erfüllt“.[38]

In der Zeichnung des Protagonisten ist es also zu vermeiden, ihn mit so großen Fehlern auszustatten, dass das Unglück, in das er gerät, nur die logische Folge seiner Fehler ist, da sonst der Effekt des Mitleids, den der Dramatiker anstrebt, ausbleibt. Für die Rolle des Antagonisten sieht es Schiller als nötig an, diese so darzustellen, dass sie nicht zu sehr ins Böse und Schlechte abgleitet, da sonst der Effekt des Mitleids durch den Effekt des Ekels und der Abscheu überlagert wird. Als ideale Konstellation des Dramas sieht es Schiller, wenn Protagonist und Antagonist beide, ohne eigenes Zutun, ungewollt zum Opfer bzw. zur Ursache des Unglücks werden:

[...]


[1] Karl Philipp Moritz: „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten“, in: Johann Erich Biester/ Friedrich Gedike (Hrsg.): Berlinische Monatsschrift (1785), Bd. 5, S.225-236, hier S.226.

[2] Peter-André Alt: Schiller. Leben-Werk-Zeit, Bd. 2, München 2004, S.91.

[3] Moritz: Versuch einer Vereinigung, S.228.

[4] Immanuel Kant: „Kritik der Urteilskraft“, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. 5, Reutlingen 1957, S.237-620, hier S.319.

[5] Friedrich Schiller: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.87-100, hier S.92.

[6] Friedrich Schiller: „Kallias oder über die Schönheit“, in: Otto Dahn, Axel Gellhaus, u.a. (Hrsg.): Friedrich Schiller. Werke und Briefe, Bd.8: Theoretische Schriften, Frankfurt a.M. 1992, S.276-329, hier S.285.

[7] Ebd. S.288f.

[8] Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.309-412, hier S.382.

[9] Kant hatte in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft den Begriff der Heautonomie verwendet und sie folgendermaßen definiert: „Diese Gesetzgebung müßte man eigentlich Heautonomie nennen, da die Urteilskraft nicht der Natur, noch der Freiheit, sondern lediglich ihr selbst das Gesetz gibt“ (Immanuel Kant: „Einleitung in die Kritik der Urteilskraft“, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Band 5, Reutlingen 1957, S.173-232, hier S.203.)

[10] Schiller: Kallias, S.306.

[11] Ebd. S.301.

[12] Ebd. S.306.

[13] Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S.323.

[14] Ebd. S.341.

[15] Ebd. S.344.

[16] Ebd. S.345f.

[17] Ebd. S.354.

[18] Ebd. S.359.

[19] Ebd. S.354.

[20] Friedrich Schiller: „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.133-147, hier S.134.

[21] Franz-Peter Burkard/ Peter Prechtl (Hrsg.): Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, Stuttgart; Weimar 1999, S.276.

[22] Ebd.

[23] Immanuel Kant: „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Band 4, Reutlingen 1957, S.11-119, hier S.28.

[24] Immanuel Kant: „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Band 4, Reutlingen, 1957 S.125-302, hier S.140.

[25] Burkhard Meyer-Sickendiek: Scham und Grazie. Zur Paradoxie der „schönen Seele“ im achtzehnten Jahrhundert (28.05.2004). In: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/meyers_seele.pdf (06.03.2008), S.4.

[26] Friedrich Schiller: „Über Anmuth und Würde“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.251-308, hier S.287.

[27] Ebd.

[28] Ebd., S.288.

[29] Ebd., S.294.

[30] Friedrich Schiller: „Über das Erhabene“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 21: Philosophische Schriften. Zweiter Teil, Weimar 1963, S.38-54, hier S.42.

[31] Schiller: Über Anmuth und Würde, S.287.

[32] Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, S.138.

[33] Friedrich Schiller: „Über das Pathetische“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.196-221, hier S.199.

[34] Ebd., S.205.

[35] Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, S.139.

[36] Friedrich Schiller: „Über die tragische Kunst“, in: Liselotte Blumenthal/ Benno von Wiese (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar 1963, S.148-170, hier S.153.

[37] Ebd., S.154.

[38] Ebd., S.155.

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Schillers klassizistische Ästhetik und "Maria Stuart"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
42
Katalognummer
V112519
ISBN (eBook)
9783640121991
ISBN (Buch)
9783640123759
Dateigröße
560 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schillers, Maria, Stuart, Ästhetik, Klassik, Klassizismus
Arbeit zitieren
B.A. Dennis Alexander Goebels (Autor:in), 2008, Schillers klassizistische Ästhetik und "Maria Stuart", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112519

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