Das Varietätensystem des heutigen Italienisch


Seminararbeit, 2000

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Der Varietätenbegriff

3. Die vier Dimensionen synchroner Variation
3.1 Die diatopische Varietät
3.2 Die diamesische Varietät
3.3 Die diasituative Varietät
3.4 Die diastratische Varietät

4. Zur Abgrenzungsproblematik und Sonderstellung einzelner Varietäten

5. Die diachronische Variable

6. Schichtungsmodelle und Entwicklungen im italienischen Sprachrepertoire
6.1 Das diatopische Modell Pellegrinis
6.2 Sabatinis italiano dell’uso medio
6.3 Castellanis italiano normale
6.4 Tendenzen im italienischen Varietätenspektrum

7 Schlussbemerkungen

8 Literaturverzeichnis

1. Einleitung

“Cum igitur [...] homo sit instabilissimum atque variabilissimum animal, [nostra loquela] nec durabilis nec continua esse potest, sed [...] per locorum temporumque distantias variari oportet.”[1]

Bereits der „Vater der italienischen Sprache“ Dante Alighieri, der sich – unter anderem – als erster auch theoretisch mit Sprache auseinandersetzte, wies in seiner theoretischen Abhandlung De vulgari eloquentia auf das unbeständige Wesen des Menschen und die damit verbundene örtliche und zeitliche Variation von Sprache hin.

Die vorliegende Arbeit soll den modernen Aspekt der Diskussion um die Questione della lingua in der italienischen Sprachwissenschaft anhand des Varietätensystems untersuchen. Der Begriff des „Varietätensystems“ bringt mich zunächst zu einigen grundlegenden Überlegungen bezüglich der Themenstellung; ist doch von einem „System“ die Rede und nicht etwa vom „Varietätenspektrum“ oder schlicht von den „Varietäten“. Ferner geht es um das Varietätensystem „des heutigen Italienisch“, wobei dadurch einerseits die diachronische Variable eingeschränkt wird und sich andererseits die Frage aufdrängt, ob es denn „das“ heutige Italienisch im Sinne eines einzigen, eines bestimmten gibt. Dies lässt sich eben, aufgrund der Existenz von sprachlichen Varietäten, verneinen.

Einer grundlegenden Annäherung an den Begriff der Varietät, soll, in einem deskriptiven Teil, die Darstellung der synchronen und diachronen Varietäten folgen, die es anhand ausgewählter Beispiele zu verdeutlichen gilt. Weiterhin sollen die Verzahnungen zwischen diesen bisweilen schwer abgrenzbaren, letztlich voneinander untrennbaren Varietäten beleuchtet werden. Schließlich wird, nach dem von Giovanni Battista Pellegrini entwickelten, traditionell diatopisch ausgerichteten Modell zur Anordnung bzw. Schichtung der komplexen Varietätenvielfalt, ein ausgewähltes aktuelles Modell, nämlich das Francesco Sabatinis, einschließlich dessen Kritik durch Arrigo Castellani vorgestellt. Darauf folgen Untersuchungen zu Bewegungen bzw. Verschiebungen innerhalb des italienischen Sprachrepertoires. In einem abschließenden Teil soll zuletzt über die Bedeutung der einzelnen Varietäten, über ihre Stellung im Vergleich zueinander, reflektiert werden.

2. Der Varietätenbegriff

Im Widerspruch zur Annahme der Homogenität der von ihm definierten langue, von der der „Vater des Strukturalismus“ Ferdinand de Saussure ja ausging, lässt sich vom heutigen Standpunkt aus klar konstatieren: Sprache ist nicht homogen. Erst in den letzten 20-30 Jahren begann die Linguistik schließlich, sprachliche Varianten zu untersuchen und zu erkennen, dass neben der Veränderlichkeit von Sprache durch den Faktor „Zeit“, neben der diachronen Variable also, auch synchron sprachliche Variation vorliegt.[2] Nachdem lange Zeit nur die sprachliche Kompetenz eines idealen Sprechers bzw. Hörers untersucht wurde, entwickelte man jetzt neue Begriffe, wie etwa Eugenio Coseriu den des Diasystems, als eine Summe von „Sprachsystemen“ anstatt eines einzigen „Sprachsystems“.[3] Er unterschied hierbei diachronische, diatopische, diastratische und diaphasische (bzw. diasituative) Varietäten. Erst später trat der Begriff der diamesischen Varietät hinzu. Sprache ist also kein völlig homogenes System, was bereits aus der objektiven Tatsache der Existenz von Varietäten folgt. In Anbetracht der unendlichen Palette verschiedener Möglichkeiten, die das Gesamtsystem „Italienisch“ bietet, versteht man unter dem Begriff der Sprachvarietät also „l’insieme degli elementi mutevoli con cui un sistema linguistico si presenta pur restando, nell’insieme, la 'stessa' lingua.“[4] Die Varietätenlinguistik beschäftigt sich unter anderem mit den Beziehungen von Sprachvarietäten zueinander, insbesondere mit den Beziehungen zwischen dem Standard und anderen Varietäten.[5]

Kein Sprecher, geprägt durch verschiedenste sprachliche Einflüsse, spricht eine homogene Sprache.[6] Im Zusammenhang mit der sprachlichen Variation ein und desselben Sprechers spielen die Begriffe des Ideolekts und des Registers eine entscheidende Rolle. Geographische Faktoren beeinflussen das Individuum ebenso, wie soziale und situative Faktoren. Es sind also außersprachliche Größen, die das Sprachverhalten des Sprechers (situationsbedingt) determinieren. Der Ideolekt eines – zur Vereinfachung einsprachig anzunehmenden – Sprechers, ist die Gesamtheit der Subsysteme über die dieser verfügt.[7] Das zu wählende Register hängt vom Grad der Formalität der Interaktion ab, wobei entsprechend eine Variation im sprachlichen Gebrauch erfolgt.[8] Was die Sprachkompetenz eines Sprechers betrifft, ließe sich abschließend Folgendes festhalten:

”(...) la competenza di un parlante consiste nel disporre di un ideoletto che gli permetta di usare la varietà di lingua giusta nella situazione comunicativa giusta, nel contesto giusto, ed in modo adeguato all’argomento da trattare.”[9]

3. Die vier Dimensionen synchroner Variation

Im Zusammenhang mit der Darstellung der verschiedenen Varietäten des Italienischen folgen zunächst Ausführungen unter synchronen Gesichtspunkten. Auf die Ebene des zeitlichen, diachronen Verlaufs soll weiter unten eingegangen werden. Nachdem die Notwendigkeit der Einbeziehung von Variation in künftige Modelle erkannt wurde, gewann der Begriff des Diasystems an Bedeutung. In der Linguistik versteht man unter Diasystem „un insieme di sistemi con molti tratti in comune“[10] oder mit spezifischeren Worten ausgedrückt „un sistema di livello superiore costruito a partire da più sistemi (in particolare, diversi per localizzazione spaziale) aventi somiglianze parziali”[11]. Man unterscheidet diatopische, diamesische, diaphasische bzw. diasituative und diastratische Varietäten.

3.1 Die diatopische Varietät

Das Konzept der diatopischen Varietät bezieht sich auf geographische, örtliche Faktoren; mit anderen Worten auf das Gebiet, in dem die Sprache verwendet wird bzw. auf die Region, aus der die Sprecher stammen. Auf dem Territorium der Italoromania divergieren gerade die Dialekte in diesem Maße sicherlich unter anderem aufgrund der zahlreichen Substrate und Superstrate. Eine genaue sprachgeschichtliche Betrachtung kann in diesem Rahmen jedoch nicht erfolgen, zumal ja das „Varietätensystem des heutigen Italienisch“ untersucht werden soll. Auch was die Einteilung der italienischen Dialekte betrifft, kann hier lediglich auf die in der Literatur übliche Grobgliederung in ober- bzw. norditalienische (dialetti settentrionali), mittel- und süditalienische (dialetti centro-meridionali) und schließlich toskanische Dialekte (dialetti toscani) hingewiesen werden.[12]

Wie aber entwickelte sich der Gebrauch des Dialekts einerseits und der Standardsprache andererseits? Unter Standard soll ein neutraler, werturteilsfreier Begriff für die weitgehend verbreitete, (im Gegensatz zur Norm) tatsächlich realisierte und ziemlich homogene Sprachvarietät verstanden werden, die in Opposition zu den sogenannten italiani regionali steht.[13] Betrachtet man die Tendenzen im Bereich der dialettofonia[14], so lässt sich ein Übergang von einer ausgeprägten Verwendung des (lokalen) Dialekts zu einem intensiveren Gebrauch der Standardsprache bzw. auch der verschiedenen italiani regionali im Laufe der letzten 20-30 Jahre feststellen. Sprachen 1974 beispielsweise noch 42,3% immer oder überwiegend im Dialekt und nur 35,6% immer bzw. öfter die italienische Hochsprache, reduzierten sich bis zum Jahre 1991 die reinen Dialektsprecher auf lediglich 22,8%, während der Anteil derjenigen, die sich überwiegend der Standardsprache bedienen, bis dahin auf 48,1% anstieg.[15] Dieser kontinuierliche Rückgang der dialettofonia, ist unter anderem zurückzuführen auf die Italianisierung der Dialekte, die daraus resultiert, dass italienische Elemente, infolge einer Vervielfachung der Kontaktmöglichkeiten zwischen Italienisch und Dialekt (besonders vorangetrieben durch das Fernsehen), verstärkt Eingang in die Dialekte finden. Sobrero bezeichnet diesen Prozess der Italianisierung der Dialekte als „'naturale'“[16] und es lässt sich feststellen, dass kaum mehr die traditionellen Dialekte vorliegen (als Ausnahmen sind hier die Regionen Sizilien, Kampanien und das Veneto zu nennen, in denen der Dialekt mit einem ausgeprägten Prestigedenken verknüpft ist und dieser daher sehr stark und lebendig geblieben ist), sondern sozusagen in unterschiedlichem Maße „italianisierte Neodialekte“[17]. Im zeitlichen Verlauf ist erkennbar, dass der reine Dialekt (dialetto) zunächst von einem regionalen Dialekt (dialetto regionale) ersetzt wurde, der im Laufe des 20. Jahrhunderts langsam einem regional geprägten Italienisch (italiano regionale) wich.[18] War also vormals die Situation der Diglossie linguadialetto typisch, so beschreiben Zwischenvarietäten der beiden Extreme Standardsprache – Dialekt die heutige Situation.[19] Will man das in diesem Zwischenbereich angesiedelte italiano regionale näher charakterisieren, muss zunächst die sich vollziehende Interferenz zwischen Dialekt und Sprache spezifiziert werden. Greift man beispielsweise das Wortgut (als flexibelste und, im Vergleich etwa zur Morphosyntax, am wenigsten starre Größe der Sprache mangels eines fixen Regelkatalogs) heraus, so finden sich in ihm einerseits dialektale Einheiten, die ins Italienische übertragen wurden und andererseits italienische Einheiten, die einem regional beschränkten Bedeutungswandel unterworfen waren.[20] Synonyme wie etwa ora – adesso, cocomero – anguria oder cacio – formaggio werden als Geosynonyme (geosinonimi)[21] bezeichnet und resultieren genau aus dem Aufsteigen einiger lexikalischer Einheiten aus dem italiano regionale in die Nationalsprache.

[...]


[1] Dante Alighieri, De vulgari eloquentia, a cura di M. Barbi, E. G. Parodi u.a., Le Opere di Dante, Florenz ²1960, I, ix, 6, S. 304

[2] D. Antelmi / G. Garzone / F. Santulli, Lingua d’oggi. Varietà e tendenze, Milano 1998, S. 1

[3] E. Coseriu, Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes, hg. v. G. Narr, Tübingen ²1973, S. 32

[4] Antelmi, S. 1

[5] M. Berretta, „Varietätenlinguistik des Italienischen. Linguistica delle varietà “, in: G. Holtus / M. Metzeltin / C. Schmitt (Hgg.), LRL, Bd. IV, Tübingen 1988, S. 762

[6] G. Holtus / E. Radtke (Hgg.), Varietätenlinguistik des Italienischen, Tübingen 1983, S. 12

[7] Antelmi, S. 7

[8] Ebd., S. 8

[9] Ebd.

[10] G. Berruto, „Le varietà del repertorio”, in: A. A. Sobrero (Hg.), Introduzione all’italiano contemporaneo. La variazione e gli usi, Bari 1993, S.4

[11] Ebd.

[12] Vgl. beispielsweise L. Coveri / A. Benucci / P. Diadori, Le varietà dell’italiano. Manuale di sociolinguistica italiana, Roma 1998, S. 35

[13] Antelmi, S. 6

[14] vgl. A. A. Sobrero, “Varietà in tumulto nel repertorio linguistico italiano”, in: K. J. Mattheier / E. Radtke (Hgg.), Standardisierung und Destandardisierung europäischer Nationalsprachen, Frankfurt a. M. 1997, S. 46

[15] Ebd. (Zahlen des Istituto di indagini statistiche DOXA)

[16] Sobrero, S. 48

[17] A. Scholz, „Das Varietätenspektrum des Italienischen im Wandel“, in: K. J. Mattheier / E. Radtke (Hgg.), Standardisierung und Destandardisierung europäischer Nationalsprachen, Frankfurt a. M. 1997, S. 67

[18] Vgl. M. Dardano, Manualetto di linguistica italiana, Bologna 21996, S. 186

[19] Vgl. M. Dardano, ”Profilo dell’italiano contemporaneo”, in: L. Serianni / P. Trifone (Hgg.), Storia della lingua italiana, Bd. 2, Torino 1993/94, S.345

[20] Vgl. E. Blasco Ferrer, Handbuch der italienischen Sprachwissenschaft, Berlin 1994, S. 207

[21] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Das Varietätensystem des heutigen Italienisch
Hochschule
Universität Passau  (Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar "Die Questione della lingua von Dante bis heute"
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
15
Katalognummer
V114586
ISBN (eBook)
9783640153343
ISBN (Buch)
9783640155101
Dateigröße
414 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Varietätensystem, Italienisch, Proseminar, Questione, Dante
Arbeit zitieren
Thomas Strobel (Autor:in), 2000, Das Varietätensystem des heutigen Italienisch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114586

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