Nihilismus als Negation oder Kritik?

Strukturelle und intertextuelle Analyse der Nachtwachen von Bonaventura


Hausarbeit, 2005

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Auf den ersten Blick: Nichts

2. Strukturanalyse
2.1 Strukturelle Merkmale im Aufbau
2.2 Strukturelle Merkmale der Motive

3. Intertextuelle Analyse
3.1 Intertextuelle Bezüge zwischen den Nachtwachen und Hamlet
3.3 Demaskierung als Kritik oder Negation?

4. Nichts hinter dem Nichts?

5. Literaturverzeichnis

1. Auf den ersten Blick: Nichts

„Nichts“ scheint am Ende der letzten Nachtwache übrig zu bleiben. Das dreifach ausgerufene „Nichts!“ beschließt endgültig eine Reihe nihilistischer Aussagen und Episoden, die im Verlauf des Textes zunehmend an Schärfe gewinnen. Die Hausarbeit steht unter der Frage, ob der in den Nachtwachen von Bonaventura von Klingemann[1] so deutlich formulierte Nihilismus als Negation oder als Kritik zu verstehen ist. Die Nihilismus-These, wie sie in der Literatur verwendet wird, bezieht sich zumeist auf den Nihilismus als Leugnen und Negieren aller Werte und jeden Sinns. Möglich ist aber auch eine Interpretation, die in dem vorgetragenen Nihilismus ein dichterisches Mittel Klingemanns sieht, um scharfe Kritik am Zeitgeist zu üben und aufzuklären.

Wolfgang Paulsen[2], Jeffrey Sammons[3], Walter Pfannkuche[4], Richard Brinkmann[5] und Dieter Arendt[6] bewerten den Nihilismus in den Nachtwachen als negativ und sinnleugnend und als „Kehrseite der Frühromantik“[7]. Linde Katritzky[8], Jörg Schönert[9] und Rita Terras[10] hingegen interpretieren die Nachtwachen als Satire und sehen den vorgetragenen Nihilismus als Mittel zur Aufklärung und Kritik, durch den Werte infrage gestellt, aber nicht geleugnet werden.

Das breite Spektrum der unterschiedlichen Deutungsansätze und Interpretationsmethoden macht deutlich, dass es weder die eine richtige Methode noch das eine korrekte Interpretationsergebnis geben kann. Diese Hausarbeit bedient sich daher zweier unterschiedliche methodischer Ansätze, deren Ergebnisse sie miteinander vergleicht. Gegliedert ist der Hauptteil dementsprechend in zwei Abschnitte: Zunächst werden die Deutungsmöglichkeiten betrachtet, die sich mithilfe einer Strukturanalyse ergeben. Danach werden die intertextuellen Bezüge des Textes erarbeitet. Im Schluss werden die erarbeiteten Interpretationsangebote zusammengefasst und beide Methoden in ihrer Anwendbarkeit auf die Nachtwachen unter der Frage der Plausibilität ihrer Ergebnisse bewertet.

Nicht leisten kann die Hausarbeit einen Überblick oder gar eine Kritik der verwendeten Sekundärliteratur, die vor allem dazu benutzt wurde, neue Ansätze und Bedeutungsspielräume kennen zu lernen. Das Ergebnis der Bewertung wird sich daher eng auf die Nachtwachen selbst beziehen.[11]

2. Strukturanalyse

Einige Motiv- und Strukturanalysen[12] beginnen mit der Feststellung, dass sich in der Abfolge der sechszehn Nachtwachen keine inhaltliche oder chronologische eindeutige Ordnung finden lässt. Auch der Titel hat keine strukturierende Funktion, da es sich nicht nur um Nachtwachen handelt, sondern sehr lose Ereignisse auch am Tage erzählt werden. Strukturanalysen bemühen sich um das Aufspüren einer nicht-linearen Struktur, um Licht in das rätselhafte Dunkel der Nachtwachen zu bringen.[13]

Werden die einzelnen Nachtwachen als fragmentarische Einheiten einer übergeordneten Struktur betrachtet, bieten sich wie oben angedeutet zwei Möglichkeiten besonders an: Erstens lassen sich im Aufbau Erzählzyklen finden, die sich in ihrem Ablauf ähnlich sind.[14]

Zweitens können die Motive innerhalb der Nachtwachen auf die Art ihrer Verwendung hin untersucht und verglichen werden. Für diese Untersuchung bieten sich nicht nur einzelne zentrale Leitmotive an, sondern vor allem die Suche nach einem strukturierenden Merkmal, das die Art der Verwendung möglichst vieler Motive erklärt.[15]

2.1 Strukturelle Merkmale im Aufbau

Trotz des verwirrenden Charakters in der Anordnung der Nachtwachen, die sich sehr grob an einer rückwärts geschriebenen Biographie Kreuzgangs orientieren, lassen sie sich in vier bzw. fünf Erzähleinheiten zusammenfassen.[16] Der Vorschlag der fünf Erzählzyklen ist strukturell begründbar durch die Abfolge von Satiren, die sich schließlichs in eine katastrophale Richtung wenden und die jeweils mit Nihilismus, Bitterkeit und Verzweiflung enden.[17] Dieser in allen Erzählkreisen wiederzufindende Kreislauf beginnt mit dem nächsten wieder von vorne: Satire und Katastrophe wechseln sich gegenseitig ab, wobei die Satiren weniger zufällig und ausdrucksstärker werden.[18] Die Komödien werden immer weiter ausgehöhlt und unterwandert, bis das Gewicht des Nihilismus als stärkstes in den Vordergrund tritt. Zum Schluss bricht er schließlich als alles beherrschendes Moment aus. Mit jedem neuen Zyklus werden verschiedene Konstanten und Lebensinhalte der Menschheit aufgelöst.[19]

Der erste Zyklus leugnet religiöse Vorstellungen wie göttliche Erlösung und die Kirche als Institution der Erlösung (der Priester wird in die Nähe des Teuflischen gerückt, er ist für die Verdammnis des Atheisten verantwortlich, vgl. 8, 9, 12) und die Souveränität des Menschen über sein Leben, indem Don Juan sich vergeblich zu töten versuchen muss (29-31, 39-40), und sein Wollen, indem die unglückliche Liebesgeschichte Don Juans als Marionettenspiel zur Komödie gemacht wird und die Grenzen zwischen Puppe und Mensch in beiden Episoden verwischt werden.[20]

Der zweite Zyklus parodiert in einem Weltgericht die gesellschaftliche Ordnung und Hierarchie bei der Ausrufung des Jüngsten Gerichtes (49-50), die Eindeutigkeit des menschlichen Charakters beim Versuch des Selbstporträts Kreuzgangs (56-57), die Rechtssprechung bzw. weltliche Gerechtigkeit (62-65) und der Wert des Menschen werden geleugnet (79).

Im dritten Zyklus, der mit der Zeit im Irrenhaus beginnt, werden Allmacht und Allwissenheit Gottes[21] sowie der Wert des Menschen als oberstes Wesen der Schöpfung verneint, der nur noch ein „Sonnenstäubchen“ (80) ist, es wird das Besterben des Menschen parodiert, in alles Ordnung bringen zu wollen (82), die Grenze zwischen geistiger Normalität oder Krankheit verwischt, da die meisten Insassen nicht im pathologischen Sinne krank sind, sondern an der Poesie, der Liebe oder dem Staat scheiterten. Die Schönheit und Bedeutung der Natur wird angesichts ihrer Unvollkommenheit infrage gestellt (87), ebenso wie der Wert, den es für den Menschen gemeinhin bedeutet, nicht blind zu sein (94-98).

Im vierten Zyklus wird der freie Wille demontiert, als sich Kreuzgang wider Willen in die Ophelia-Darstellerin verliebt (113, 116), die Suche der zeitgenössischen Dichter nach Originalität und Unsterblichkeit (100-102), es wird die Bedeutungslosigkeit der alten Götter und Helden verdeutlichet (108-109) und Kreuzgang leugnet die Möglichkeit, hinter allen Masken und Rollen ein Ich zu finden (119).

Der letzte Zyklus nimmt wieder das Marionettenmotiv auf, indem Kreuzgang zu ihnen eine menschliche Beziehung aufbaut und sprachlich den Puppen menschliche Attribute zugeordnet werden (126-127, 131). Schließlich löst sich alles in Nichts auf: Kreuzgangs Vater, der Alchimist, die Geister, die der Friedhofspoet umarmt, und das Echo der Toten (143).

Sowohl Vernunft des aufgeklärten Zeitalters als auch Empfindsamkeit der Romantik werden als nicht geeignete Lebensweisen parodiert.[22] Die diesen menschlichen Lebensinhalten gemeinhin zugesprochene Bedeutung wird zynisch verlacht, Werte zu Scheinbarkeiten und Zufälligkeiten degradiert und die fraglich gewordene Weltordnung wird auf den Kopf gestellt.

Die immer wiederkehrende Zerstörung der Werte, die Wiederholung der Fehler und Torheiten wie die ständigen vergeblichen Selbstmordversuche Don Juans und die immer von neuem bewiesene Fehlanwendung rationaler Begründungen[23] sind ein Leitprinzip der Nachtwachen, das sich in den fünf Erzähleinheiten steigernd wiederholt,[24] bis „am Ende [...] der vollständige Nihilismus“[25] steht. „Die Nachtwachen sind ein höchst negatives, zerstörendes, vernichtendes Werk.“[26] Die Alternativfrage „Gott, oder Nichts“ (71) wird am Ende dreifach wie im Echo mit „Nichts!“ beantwortet.

Während sich aus den fünf Erzählzyklen ergibt, dass es sich in den Nachtwachen um eine Form des Nihilismus handelt, dessen Kritik dekonstuktiv ist und auf einen „total decay of values“[27] abzielt, bietet der Text auch eine andere Interpretationsmöglichkeit an, indem er sich als Satire begreifen lässt. In einer Vielzahl von Hinweisen charakterisiert sich Kreuzgang selbst als Satiriker oder sein Handeln und Berichten als Satire (6, 18, 35, 50, 60, 76, 126, 140).

[...]


[1] Im folgenden wird der Name „Klingemann“ als Autor der Nachtwachen verwendet, der sich erwiesenermaßen hinter dem Pseudonym Bonaventura verbirgt. Vgl. dazu: Dietzsch: Lachen, S. 423. „Bonaventura“ wird nur dort verwendet, wo die Bedeutung der Wahl dieses Pseudonyms als fiktiver Bestandteil der Nachtwachen hervorgehoben werden soll.

[2] Vgl. Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 477,496-497.

[3] Vgl. Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 40.

[4] Vgl. Pfannkuche: Idealismus und Nihilismus, S. 86f.

[5] Vgl. Brinkmann: Nachtwachen von Bonaventura, S. 134, 153f.

[6] Vgl. Arendt: Der Nihilismus, S. 545, 548, 558. Vgl. dazu auch Dietzsch: Lachen, S. 427.

[7] Brinkmann: Nachtwachen von Bonaventura, S. 153.

[8] Vgl. Katritzky: Defining the Genre, S. 19.

[9] Vgl. Schönert: Fragen ohne Antwort, S. 216-218.

[10] Vgl. Terras: Juvenal und Bonaventura, S. 18, 20f.

[11] Ich zitiere im folgenden nach der Reclamausgabe der Nachtwachen. Hg. von Wolfgang Paulsen. Stuttgart 1988. Die in Klammern stehenden Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.

[12] Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 447. Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 33. Terras: Juvenal und Bonaventura, S. 18. Vgl. auch: Grimm: Namensspiel und Urszene, S. 108.

[13] „We must somehow be able to make sense out of the order of the night-watches.” In: Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 33.

[14] Sammons ordnet die Nachtwachen in fünf Kreise, nämlich Nachtwache 1-5, 6-8, 9-11, 12-14 und 15-16, die als Satire beginnen und in Verzweiflung enden. Vgl. dazu Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 33-57. Paulsen gliedert den Text in vier Erzähleinheiten, nämlich Nachtwache 1-5, 6-9, 10-13 und 14-16. Vgl. dazu Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 501.

[15] Sowohl Sammons als auch Paulsen arbeiten Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Verwendung bestimmter Motive und literarischer Figuren wie beispielsweise das der Marionette, der Maske, des Lachens oder der Nacht heraus. Vgl. Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 454-483.

[16] Hierbei liefert Sammons die plausibelsten Ergebnisse, da er mit seiner Kreisstruktur von Satire zu Nihilismus ein strukturbildendes Kriterium vorlegt. Paulsen hingegen schlägt nur die Einteilung in vier Erzählabschnitte aufgrund von inhaltlichen Kriterien vor, konzentriert sich aber größtenteils auf die Mikrostruktur, d.h. auf strukturelle Ähnlichkeiten in Situationen, Handlungen oder Motiven, unabhängig davon, in welcher Nachtwache sie zu finden sind. Vgl. Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 501f. Vgl. Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 33-57.

[17] Vgl. Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 38.

[18] Vgl. ebenda.

[19] Auch Paulsen kommt zu dem Schluss, dass die verwendeten Motive, wie er es am Hamlet-Charakter demonstriert, zunehmend zynischer und satirischer im Laufe der Nachtwachen verwendet werden. Vgl. Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 494. In der Anordnung macht er eine Zielstrebigkeit auf das Ende hin aus. Vgl. ebenda, S. 503. Er bezeichnet den Text daher als „Ausdruck tiefster weltanschaulicher Desillusion“. Ebenda, S. 510. Vgl. auch Brinkmann: Frühromantik, S. 143.

[20] In der vierten und fünften Nachtwache finden sich immer wieder Marionettenhaftes, wo es um Menschen geht, und Menschliches bei den Marionetten. Dazu schreibt Pfannkuche: „Nicht nur kann der Mensch nicht tun, was er will, weil der Marionettendirektor alles vereitelt, sondern er kann nicht einmal mehr wollen, was er will, weil all sein Wollen notwendig aus seinem Charakter folgt, der ihm von demselben Marionettendirektor zugeteilt worden ist.“ In: Pfannkuche: Idealismus und Nihilismus, S. 32.

[21] Zu Gottes Allwissenheit schon der paradoxe Titel des Stückes: „Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers“ (80) oder seine Langeweile und Entscheidungslosigkeit (82). Dazu bemerkt Pfannkuche: „Gott hat keine Aufgabe, sein Tun ist beliebig und bedeutungslos, da es nichts gibt, auf das bezogen es bedeutsam sein könnte.“ In: Pfannkuche: Idealismus und Nihilismus, S. 73. Der Mensch erschafft sich Gott aus „Verdruss an seiner eigenen Nichtsnutzigkeit“. Ebenda, S. 36.

[22] Vgl. Paulsen: Bonaventuras Nachtwachen, S. 452.

[23] Beispielsweise die Bewegung des „Standbildes” Kreuzgang vor der Ehebruchszene: „Da wachte der Satyr in mir auf, und als jener die Hand gleichsam auf meinen Mantel legte, schüttelte ich mich boshaft ein wenig, worüber beide [der Mann und seine Geliebte] erstaunten; doch der Liebhaber nahms auf die leichte Achsel, und meinte der Quader unter dem Standbilde habe sich gesenkt, wodurch es das Gleichgewicht in etwas verloren.“ (18)

[24] Vgl. Katritzky: Defining the Genre, S. 20. Vgl. Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 50, 57.

[25] Pfannkuche: Idealismus und Nihilismus, S. 14.

[26] Brinkmann: Nachtwachen von Bonaventura, S. 134. Leopoldseder nennt es das „vielleicht schwärzeste[ ] Nachtstück der Romantik“. In: Leopoldseder: Groteske Welt, S. 74.

[27] Sammons: Nachtwachen von Bonaventura, S. 40.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Nihilismus als Negation oder Kritik?
Untertitel
Strukturelle und intertextuelle Analyse der Nachtwachen von Bonaventura
Hochschule
Universität Trier  (Gremanikstik)
Veranstaltung
Seminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
20
Katalognummer
V116295
ISBN (eBook)
9783640178131
ISBN (Buch)
9783640178230
Dateigröße
505 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nihilismus, Negation, Kritik, Seminar
Arbeit zitieren
Anna Milena Jurca (Autor:in), 2005, Nihilismus als Negation oder Kritik?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116295

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