Musik als Medium in der Therapie

Die Musikalische Improvisation als intermediärer Raum für therapeutische Veränderungen und persönliches Wachstum


Diplomarbeit, 2002

140 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I. Grundzüge der Musiktherapie
1. Definition: Musiktherapie als Psychotherapie
2. Die geschichtliche Entwicklung der Musiktherapie
2.1. Die magisch-mythische Form der Musikheilung
2.2. Die rational-wissenschaftliche Musikheilung
2.3. Musik und Medizin vom 15. - 19. Jahrhundert
3. Wirkungsweisen der Musik
3.1. Entwicklungsgeschichtliche Aspekte
3.1.1. Ontogenetische Aspekte
3.1.2. Hirnphysiologische Aspekte
3.2. Physiologische Aspekte
3.2.1. Ergotrope Musik
3.2.2. Trophotrope Musik
3.3. Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens
4. Die Beziehung zwischen Musiktherapie und anderen Therapiemodellen
4.1. Das medizinische Modell
4.2. Das tiefenpsychologisch-psychodynamische Modell
4.3. Das lerntheoretische Modell
Das humanistisch-existentialistische Modell
4.4. Theoretische Fundierung der Musiktherapie
5. Gegenwärtige Therapieformen und Therapieverfahren
5.1. Die rezeptive Musiktherapie
5.2. Die aktive Musiktherapie
5.3. Einzel- und Gruppentherapie
5.3.1. Einzeltherapie
5.3.2. Gruppentherapie
6. Indikation
7. Therapeutische Ziele der Musiktherapie

II. Grundlagen der Improvisation
1. Die musikalische Improvisation
1.1. Zum Musikverständnis
1.2. Wesen und Funktion der musikalischen Improvisation
1.3. Improvisationsformen
1.3.1. Freie Improvisation
1.3.2. Strukturierte Improvisation
2. Die einzelnen Komponenten der Musik
2.1. Klang
2.2. Rhythmus
2.3. Melodie
2.4. Dynamik
2.5. Form
2.6. Anmerkungen zur therapeutischen Arbeit mit dem Komponentenmodell
3. Die Musikinstrumente und ihre Funktionen
3.1. Das Instrumentarium
3.2. Zur Funktion der Musikinstrumente im therapeutischen Prozess
3.3. Das Instrument und die Musik als Übergangs- und Intermediärobjekt
4. Musik und Kommunikation
4.1. Allgemeines
4.2. Kommunikationstheoretische Aspekte
4.3. Zur therapeutischen Bedeutung der kommunikationstheoretischen Betrachtung

III. Die Improvisation und ihre psychologische Bedeutung
1. Die Phasen im therapeutischen Prozess
2. Zur Hermeneutik musikalisch-psychischer Prozesse
3. Gestalttherapeutische Elemente der Musiktherapie
3.1. Grundannahmen und Krankheitslehre der Gestalttherapie
3.2. Abwehrmechanismen in der Gestalttherapie
3.2.1. Die Introjektion
3.2.2. Die Projektion
3.2.3. Die Konfluenz
3.2.4. Die Retroflektion
3.2.5. Die Deflektion
3.3. Zur therapeutischen Bedeutung des Kontakt-Modells
4. Morphologische Elemente der Musiktherapie
4.1. Grundzüge der morphologischen Psychologie
4.2. Sechs Gestaltfaktoren
4.2.1. Aneignung und Umbildung
4.2.2. Einwirkung und Anordnung
4.2.3. Ausbreitung und Ausrüstung
4.3. Beschreibung und Rekonstruktion
4.4. Anmerkungen zur Beschreibung und Rekonstruktion

IV. Aspekte der musiktherapeutschen Behandlung
1. Der Austausch zwischen Musik und Sprache
1.1. Diskursive und präsentative Symbolik
1.2. Das Gespräch in der Musiktherapie
2. Die therapeutische Beziehung
2.1. Allgemeine Aspekte
2.2. Übertragungsphänomene
2.2.1. Übertragung
2.2.2. Gegenübertragung
2.3. Begegnung
3. Die Arbeit am Widerstand
4. Intervention und therapeutisches Handeln
V. Spiel und Kreativität
1. Das Spiel
2. Musiktherapie als kreative Methode der Psychotherapie
2.1. Zum Begriff der Kreativität
2.2. Kreativität und Gesundheit
2.3. Wirkfaktoren kreativer Methoden
2.3.1. Kreativität und Emotion
2.3.2. Kreativität und Kognition
2.3.3. Kreativität und Ästhetik

VI. Resümee

Literatur

Anhang

Einleitung

Die Wirkung der Musik auf die psychische und physische Gesundheit des Mensch ist schon seit Jahrtausenden bekannt. Trotzdem ist die Musiktherapie in Theorie und Praxis eine junge wissenschaftliche Disziplin. Besonders in den letzten Jahren haben sich mehrere musiktherapeutische Strömungen entwickelt, die einen großen Einfluss auf das Erscheinungsbild der gegenwärtigen Musiktherapie haben. Was die verschiedenen musiktherapeutischen Ansätze, mit ihren Methoden und theoretischen Bezügen jedoch verbindet, ist das gemeinsame Arbeitsprinzip der aktiven musikalischen Improvisation.

Die musikalische Improvisation existiert seit eh und je bei allen Völkern und in allen Kulturen. Sie kann als die Urform allen Musizierens angesehen werden. In einigen Kulturkreisen ist die Praxis der musikalischen Improvisation in ihrer Ursprünglich- und Selbstverständlichkeit bis heute erhalten geblieben, so z.B. im indischen Raga oder in der traditionellen afrikanischen Musik. Doch mit der Entdeckung von musikalischen Gesetzmäßigkeiten, aus denen heraus sich eine Lehre von Harmonie, Rhythmus und Komposition entwickelte, wurde das Musizieren immer mehr zu einer Tätigkeit, die über einen langen Zeitraum hinweg nur wenigen Menschen vorbehalten war, die über ein bestimmtes Musikverständnis und über gewisse Fähigkeiten verfügten. In den 70er Jahren wurde die spontane musikalische Improvisation als musikalisches Gestaltungsprinzip in der avantgardistischen Musik und im Jazz wiederentdeckt. Aus dieser aufkommenden musikalisch-emanzipatorischen Bewegung, die sich von dem musikalischen, traditionellen Formzwang und dem alten Musikverständnis befreite, ging eine neue Musik hervor, die den spontanen und freien Intentionen der Spieler einen Ausdrucksraum zur Verfügung stellte. In vielfältiger Weise wurde in der musikalischen Improvisation ein Nutzen für pädagogische und psychotherapeutische Bereiche gesehen. Die musikalisch Improvisation gewann vor allem durch Lili Friedemann Einzug in pädagogische Arbeitsbereiche und wurde zu unterschiedlichen pädagogischen Förderungszwecken eingesetzt. Im gleichen Zuge erhielt die musikalische Improvisation Einzug in die aktive Musiktherapie, die in ihrem gegenwärtigen Erscheinungsbild eine maßgebliche Rolle spielt. Mit der Zeit entwickelten sich hieraus unterschiedliche musiktherapeutische Ansätze.

Auf der Grundlage der Musiktherapie als Psychotherapie werde ich der Frage nachgehen, welche Funktion die musikalische Improvisation im therapeutischen Prozess hat, welche spezifischen Wirkungen sie aufweist, welche inneren Prozesse sie im Spieler auszulösen vermag und worin ihr therapeutisches Potential als Methode der aktiven Musiktherapie liegt. Ausgehend von der These, dass die Methode der musikalischen Improvisation ein geeignetes Verfahren ist, im Bereich von psychischen Krankheiten heilsame Prozesse anzustoßen, die zu positiven Veränderungen des Krankheitszustandes führen, werde ich mich in dieser Arbeit auf verschiedene musiktherapeutische Strömungen und konzeptionelle Ansätze beziehen. Aufgrund der vielfältigen konzeptionellen Ansätze der Musiktherapie ist es mir leider nicht möglich, alle gegenwärtigen theoretischen und methodischen Ansätze der Musiktherapie einzubeziehen. Die vorliegende Arbeit baut daher auf den theoretischen Grundlagen der gestalttherapeutischen, der integrativen, der morphologischen und der analytischen Strömung der Musiktherapie auf. Obwohl diese Richtungen von ihrer jeweiligen theoretischen und methodischen Fundierung Unterschiede aufweisen, können sie sich m.E. für eine psychologische Betrachtungsweise der Improvisation fruchtbar ergänzen.

Im Dschungel der musiktherapeutischen Literatur zeichnet sich ein Erscheinungsbild der verschiedenen musiktherapeutischen Strömungen ab, dass sich sehr uneinheitlich gestaltet. Dabei sind auch die einzelnen Richtungen nicht klar voneinander abgegrenzt. Bruhn macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass „[...] kein Psychotherapie-Modell in Reinform in der Musiktherapie vertreten ist.“[1] Daher sieht er die moderne Musiktherapie als eine eklektische Mischform aus therapeutischen Richtungen.[2] Dennoch zeichnet sich ab, dass für den Großteil der Musiktherapeuten in ihrer Arbeit eine tiefenpsychologische Denkweise bestimmend ist, auch wenn wesentliche Anteile anderer Therapiemodelle enthalten sind. Aufgrund dieser Tatsache werden in der vorliegenden Arbeit an einigen Stellen Aussagen von Autoren, die sich zu unterschiedlichen musiktherapeutischen Richtung bekennen, nebeneinander existieren. Eine klare Abgrenzung der verschiedenen musiktherapeutischen Strömungen ist jedoch dort aufzufinden, wo auf wesentliche theoretische und methodische Grundlagen Bezug genommen wird.

Zum Aufbau der Arbeit

Im ersten Kapitel werden die „Grundzüge der Musiktherapie“ dargestellt. Dies geschieht anhand ihrer geschichtlichen Entwicklung, den Wirkungsweisen von Musik, den unterschiedlichen musiktherapeutischen Strömungen mit ihren theoretischen Bezügen sowie den heute anzutreffenden musiktherapeutischen Therapieformen und -verfahren. Dieser allgemeinen Darstellung folgt im zweiten Kapitel „Grundlagen der Improvisation“ eine Beschreibung der in der aktiven Musiktherapie vorzufindenden Methode der musikalischen Improvisation. Hierbei wird auf die therapeutische Funktion der Improvisation, die einzelnen musikalischen Grundelemente, auf die Funktion der Musikinstrumente sowie auf die Bedeutung der Kommunikation über das Medium Musik eingegangen. Im dritten Kapitel wird neben einer allgemeinen Darstellung und Hermeneutik des musiktherapeutischen Prozesses (aus der Sicht der „Integrativen Musiktherapie“) auf die Theorien und Methoden der gestalttherapeutisch orientierten Musiktherapie sowie auf die „Morphologische Musiktherapie“ Bezug genommen. Mit diesen theoretischen Hintergründen lässt sich das aus der Improvisation hervorgegangene Material rekonstruieren und auf ihre psychologische Bedeutung hin untersuchen. Sie beinhalten weiterhin prozessual-diagnostische Möglichkeiten, aus denen heraus therapeutische Ziele, Behandlungsschwerpunkte und therapeutische Maßnahmen entwickelt werden können. Im vierten Kapitel werden allgemeine Aspekte der musiktherapeutischen Behandlung dargestellt. Hierzu gehören der Austausch und der Wechsel zwischen Musik und Sprache, die therapeutische Beziehung, die therapeutische Arbeit am Widerstand des Klienten sowie therapeutisches Intervenieren und Handeln. Im fünften und inhaltlich letzten Kapitel steht die Bedeutung des Spiels und der Kreativität als ressourcenorientierte Methode der Musiktherapie im Mittelpunkt. Dem schließt sich im sechsten Kapitel ein Resümee der bisher dargestellten theoretischen und methodischen Modelle an.

Formale Aspekte

In dieser Arbeit werde ich mich der männlichen Schreibform bedienen. Sie erscheint mir für den Lesefluss die geeignetste Form der Darstellung. Wenn ich die männliche Form benutze, so steht sie gleichermaßen für Frau-Mann in einer Gleichwertigkeit.

Bis auf wenige wörtliche Zitate werde ich für den Begriff „Patient“, den mir sympathischeren in humanistischer Bedeutung stehenden Begriff „Klient“ verwenden. Er rückt die eigene Aktivität und Verantwortung des einzelnen Mensch in den Fordergrund und steht zugleich für die Abgrenzung gegen die Macht- und Herrschaftsfunktion des medizinisch-industriellen Komplexes.

Zitate zu Beginn einiger Abschnitte beziehen sich auf deren nachfolgenden Inhalt, spiegeln diesen wieder oder heben einzelne zentrale Aspekte hervor.

I. Grundzüge der Musiktherapie

In wesentlichen Zügen werden nun die Grundlagen der Musiktherapie, von ihrer geschichtlichen Entwicklung bis hin zu ihrem heutigen Erscheinungsbild, vermittelt. Aufgrund ihrer vielfältigen Strömungen ist es jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, alle theoretischen und methodischen Ansätze der Musiktherapie aufzuzeigen und zu beleuchten. Wie eingangs erwähnt, ist die folgende Darstellung an der Musiktherapie als Psychotherapie orientiert. Die Berücksichtigung verschiedener musiktherapeutischer Konzepte und Positionen sowie die Einbeziehung aktueller Entwicklungen wird verdeutlichen, dass das Erscheinungsbild der Musiktherapie nur in unscharfen Konturen beschreibbar und permanenten Wandlungen unterworfen ist. Bevor nun auf die Grundzüge der Musiktherapie näher eingegangen wird, sei eine Definition der Musiktherapie als Psychotherapie vorangestellt.

1. Definition: Musiktherapie als Psychotherapie

Musik wird international sehr unterschiedlich zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Dabei reicht die Spannbreite vom Musikhören zur Entspannung über das Musik machen mit Behinderten bis hin zur Psychotherapie mit musikalischen Mitteln. Die folgenden Definitionen aus der einschlägigen Literatur basieren auf dem Hintergrund der Musiktherapie als Psychotherapie, deren Methoden tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischen, systemischen, anthroposophischen und ganzheitlich-humanistischen Ansätzen folgen.

Als Standard der britischen Musiktherapie galt über viele Jahre hinweg die Definition von Juliette Alvin, der zufolge Musiktherapie als der gezielte Einsatz von Musik bei Behandlung, Rehabilitation, und Erziehung von Kindern und Erwachsenen, die an physischen, psychischen und emotionalen Störungen[3] leiden, gilt.[4] Diese Definition verfolgt einen therapeuten-zentrierten Ansatz, bei dem die Therapie an Kindern und Erwachsenen vollzogen wird. Ähnlich orientiert ist Bruscias Definition der Australischen Musiktherapie-Vereinigung, wonach Musiktherapie den gezielten Einsatz von Musik verfolgt, um therapeutische Ziele bei Kindern und Erwachsenen zu erreichen, die bestimmte soziale, emotionale, körperliche oder intellektuelle Probleme haben.[5] Therapeutische Ziele stehen ebenso im Mittelpunkt der von der National Association for Music Therapie (NAMT) veröffentlichten Definition: „Musiktherapie ist der Einsatz von Musik, um die therapeutischen Ziele: Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer und körperlicher Gesundheit zu erreichen.“[6] „Durch Musiktherapie soll dem Klienten Gelegenheit gegeben werden, sich selbst und seine Umwelt besser zu verstehen, sich in ihr freier und effektiver zu bewegen und eine bessere psychische und physische Stabilität und Flexibilität zu entwickeln.“[7]

Andere Definitionen heben Verhaltensänderungen hervor, die durch Musiktherapie bewirkt werden und die sich innerhalb des kreativen Verlaufs einer therapeutischen Beziehung entwickeln.[8] Dieser Ansatz durchdringt auch den beziehungsorientierten Ansatz von der Nordoff & Robbins Musiktherapie.

In der Entwicklung der Musiktherapie kam der Musik, dem Therapeuten und der therapeutischen Beziehung episodenhaft unterschiedliche Bedeutung zu. Diese verschiedenen Schwerpunkte bestimmen die Diskussion weiterhin auf nationaler und internationaler Ebene.

Die Vertreter der bedeutendsten musiktherapeutischen Vereinigungen in Deutschland[9] haben 1998 in den „Kasseler Thesen“ Musiktherapie als eine praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin gekennzeichnet, die in enger Wechselbeziehung zu verschiedenen Wissenschaftsbereichen steht. Der Begriff Musiktherapie wird verstanden als „[...] summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutisch zu charakterisieren sind [und insofern, A.S.] an die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung gebunden [sind, A.S.].“[10] In der musiktherapeutischen Beziehung wird Musik als subjektiver Bedeutungsträger verstanden, der „[...] den Prozess des Wiedererkennens interiorisierter Erfahrungen [ermöglicht, A.S.]. Musik ist Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materialen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. Das musikalische Material eignet sich, Ressourcen zu aktivieren und individuell bedeutsame Erlebniszusammenhänge zu konkretisieren, was zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung genommen wird.“[11]

2. Die geschichtliche Entwicklung der Musiktherapie

„Die Lebenskraft eines Zeitalters liegt nicht in seiner Ernte, sondern in seiner Aussaat.“

Ludwig Börne

Aufgrund der Art, wie die Wirkung der Musik auf den Menschen erklärt wird, lässt sich die geschichtliche Entwicklung der Musiktherapie in die nachfolgenden drei Kategorien einteilen. Die Darstellungen des gegenwärtigen Erscheinungsbildes der Musiktherapie, mit ihren zugrundeliegenden Theorien und Methoden, folgt im weiteren Verlauf des ersten Kapitels.

2.1. Die magisch-mythische Form der Musikheilung

In Zeiten, in denen die Menschheit an Götter oder an andere übernatürliche Kräfte glaubte, wurde der Musik eine magische Kraft zugeschrieben. Mit ihr konnte man die Götter beschwichtigen, die für Krankheiten verantwortlich gemacht wurden. Durch die Initiation eines Schamanen kam der Musik dabei die Funktion einer Art Zauberformel zu und bot dem Kranken ein besonders intensives, rauschhaftes und kathartisches Erlebnis mit überaus großen Emotionen, die ihm den Zugang zur magisch-mythischen Welt eines unbegrenzten Seins öffnete. In ihr sind Ich und Außenwelt, Vorstellung und Wahrnehmung, Phantasie und Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden. Die kathartische Wirkung der Musik, der Glaube an die Kompetenz des Schamanen, an das Ritual und an die Mythen des Heilungsprozesses wurden als ausschlaggebend für die Heilung von Krankheiten angesehen. Bei den Ritualen spielten auch die Angehörigen und Bekannten der Kranken eine große Rolle. Sie waren aktiv beteiligt und ihre Aufgabe bestand u.a. darin, den zuvor oft sozial isolierten Patienten in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Die Funktion und Bedeutung solcher Rituale wird jedoch erst auf dem Hintergrund der jeweiligen Kultur verständlich, in der sie stark verwurzelt sind. Charakteristisch für die magisch-mythische Form der Musikheilung sind nicht Beobachtungen und Tatsachen, sondern Glaube, Hoffnungen und Wünsche, die nicht enttäuscht werden dürfen.[12]

2.2. Die rational-wissenschaftliche Musikheilung

In der klassischen Antike wurde die magisch-mythische Denkweise von der rational-wissenschaftlichen abgelöst. Insbesondere die Griechen erweiterten in beachtlichem Maße die Verwendung von Musik zur Vorbeugung und Heilung von physischen und psychischen Krankheiten.[13] Zur Wirkungsweise der Musik gehören hier Erklärungen, die auf dem pythagoreischen Denken und der Idee der `Harmonie der Sphären´ aufbauen. Pythagoras und seine Anhänger (um 500 v.Chr.) waren der Überzeugung, dass die Zahl das alles durchdringende metaphysische Grundelement sei. Den einfachen Frequenzverhältnissen verschiedener Intervalle, z.B. der Oktave (1:2) oder der Quinte (2:3), wurden besondere Eigenschaften zugesprochen, weil diese Zahlenverhältnisse auch in der Natur und beim Menschen auffindbar waren. Die Musik wurde damit zu einem umfassenden therapeutischen Prinzip zur Wiederherstellung geistig-seelischer Harmonie und zur Schaffung entsprechender psycho-physischer Proportionen. Nach dieser Auffassung wirkt Musik, indem sie seelische Unordnung durch ihre eigene Harmonie wieder in den Zustand natürlicher Ordnung verwandelt. Diese Vorstellung wurde später noch um die Bedeutung der Tonskalen, mit ihren spezifischen Wirkungen, erweitert. Die phrygische[14] Tonleiter kann demnach z.B. aufmuntern und motivieren, die dorische[15] beruhigen.

Aristoteles (384-322 v.Chr.) verlagerte den Schwerpunkt vom Metaphysisch-ideellen hin zum Sinnlich-empirischen. Magisch-mythische Erklärungen der Musikheilungen und die Annahmen, dass Zahlenproportionen eine heilende Wirkung auf den leib-seelischen Organismus haben, wurden nunmehr durch beobachtbare Tatsachen abgelöst. Weiterhin wurde die Musik zu einem Mittel der Erziehung und der Muße.[16]

2.3. Musik und Medizin vom 15. - 19. Jahrhundert

Im 15. und 16. Jahrhundert nahm das Interesse an der Musikheilung stark zu. Sie stand im Mittelpunkt vieler abstrakt-spekulativer Arbeiten im Bereich der Medizin und anderer Wissenschaften. Die heilende Kraft der Musik wurde der Beziehung zwischen der Musik und den menschlichen Affekten zugeschrieben. Der Arzt und Philosoph Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535) versuchte die Heilwirkung der Musik, vor allem des Gesangs, zu erklären. Er kam zu der Überzeugung, dass der Gesang den Geist und die Einbildungskraft des Singenden harmonisch ausdrücken kann. Gefühle und Leidenschaften könnten somit weitergegeben werden.[17]

Im Zeitalter des Barock (1580-1750) beeinflussten zwei bedeutende Ereignisse die Anschauungen über die Musikheilung. Zum einen war dies Descartes Trennung von Leib und Seele und die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey. Um die Wirkung von Musik auf Kranke zu erklären, bediente man sich nun physikalischer und chemischer Erkenntnisse. Gesundheit erschien als ein ungestörter Ablauf von vor allem mechanischen Vorgängen im Körper. Man vermutete, dass Geisteskrankheiten auf quantitativen und qualitativen Veränderungen der „spiritus animalis“ (Seelengeister) beruhen.[18]

Die praktische Anwendung der Musik in der Medizin wurde im 19. Jahrhundert immer mehr auf psychische und psychogene Leiden beschränkt. Körperliche Krankheiten wurden nur noch als indirekte Folge der psychischen Erkrankungen mit Musik behandelt.

3. Wirkungsweisen der Musik

Aufgrund zahlreicher Forschungsergebnisse lassen sich heute viele Wirkungsweisen des Wahrnehmens und Erlebens von Musik sowohl beim aktiven Musizieren, als auch bei der rezeptiven Musikwahrnehmung aufzeigen. Im Hinblick auf die Wirkung und therapeutische Anwendbarkeit spielt die physiologische, die soziologische, die sozialpsychologische, die tiefenpsychologische und die ästhetische Dimension der Musik in der Therapie eine große Rolle. Im Folgenden werden lediglich einige grundlegende Aspekte der Wirkungsweise von Musik aufgezeigt, die jedoch im weiteren Verlauf dieser Arbeit, in thematisch anderen Zusammenhängen, eine Ergänzung finden werden.

3.1. Entwicklungsgeschichtliche Aspekte

„Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“

Lorenz Oken

3.1.1. Ontogenetische Aspekte

Tomatis zeigt in den Ergebnissen seiner langjährigen Forschungsarbeit, dass akustische Reize seit unserer frühesten intrauterinen Existenz eine übergeordnete Rolle für unsere Wahrnehmung spielen. Vom anatomischen Gesichtspunkt her ist die Entwicklung des Innenohrs bereits beim 4 ½ Monate alten Fötus abgeschlossen, womit er in akustischer Kommunikation mit seiner unmittelbaren Umgebung steht. Als Außengeräusche nimmt er vor allem den mütterlichen Herzschlag[20], ihre Darmgeräusche, ihre Stimme und Atmung, aber auch die Stimme anderer Personen und allgemein akustische Reize der unmittelbaren Umgebung der Mutter auf.[21] Auch Musik kann in dieser Zeit eine große Rolle spielen. So zeigen mehrere Forschungsergebnisse, dass das ungeborene Kind schon differenziert Musik wahrnehmen kann und auf verschiedene Arten von Musik unterschiedlich reagiert sowie Vorlieben und Abneigungen zeigt.[22] Auch lassen sich durch akustische Reize, die das ungeborene Kind wahrnimmt, erste Dialoge zwischen dem werdenden Kind und seiner Mutter nachweisen. Diese erste „Klangbasis“ hat für den Fötus eine große Bedeutung, da hierdurch erste Kommunikationserfahrungen gemacht und Grundlagen für postnatale Sprach- und Interaktionsstrukturen gelegt werden.[23] Timmermann weist auch darauf hin, dass der mütterliche Klangraum sowie das akustische Ambiente des Elternhauses und der weiteren Umgebung die primäre Konstruktion der Wirklichkeit eines individuellen Bewusstseins begleiten und bedingen. Sie wirken mit an einer „[...] ersten Weltordnung oder lassen daran zweifeln, lassen Vertrauen entstehen oder werden als bedrohlich erlebt.“[24][19]

Eine weitere wichtige Informationsquelle für den Fötus sind coenästhetische[25] Erfahrungen, die er in den ersten Lebensmonaten durch die pränatale Kommunikation mit der Mutter macht und die sich auch als Grundelemente bzw. -verhältnisse in der Musik wiederfinden lassen. Nach Spitz sind hier Zeichen und Signale zu benennen, die folgenden Kategorien angehören: „[...] Gleichgewicht, Spannungen (der Muskulatur und andere), Körperhaltung, Temperatur, Vibration, Haut- und Körperkontakt, Rhythmus und Tempo, Dauer, Tonhöhe, Klangfarbe, Resonanz, Schall und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer .[26]

War die akustische Welt vor der Schwangerschaft einer körperlich und seelisch gesunden Mutter noch vertraut und angenehm, so ist das Neugeborene nach der Geburt vielen fremden Geräuschen und Klängen ausgesetzt. Nach Kohut entwickelt der Säugling eine frühe Form des „musikalischen Ich“, um zwischen Geräuschen, die eine Bedrohung durch die Außenwelt darstellen und solchen, die Ruhe und Sicherheit gewähren, unterscheiden zu können.[27] Hier spielt der Klang der mütterlichen Stimme und das Erkennen ihres rhythmischen Herzschlags eine besondere Rolle. Denn mit diesen Klängen sind Gefühle der Sättigung und Geborgenheit assoziativ verbunden.

Aus der ontogenetischen Betrachtungsweise lässt sich nun schlussfolgern, dass die Einflüsse der prä- und postnatalen Klangerfahrungen sehr prägend sind und auch den weiteren Verlauf der Entwicklung eines Kindes beeinflussen. Beimert sieht in der Darbietung von akustischen Reizen, die den pränatalen Klangerfahrung eines Menschen annähernd entsprechen, therapeutische Möglichkeiten.[28] Einerseits sei auf einem regressiven Niveau ein Nacherleben der nährenden, wärmenden und schützenden Situation im Mutterleib gegeben; andererseits können die emotionalen Reaktionen auf Musik, mit ihren subjektiven Bedeutungen für den Hörer, Aufschlüsse über pränatale Konditionierungen ermöglichen.

3.1.2. Hirnphysiologische Aspekte

Hirnphysiologisch gesehen werden akustische Reize viel intensiver umgesetzt, als visuelle, olfaktorische und sensorische Reize.[29] Bspw. reagieren Hörzellen im Hirn auf Reize, die von ihrer Energiemenge zehnmillionenmal kleiner ist, als diejenige Reiz-Energie-Menge, die für die Wahrnehmung einer Berührung über die Haut notwendig ist. Musik `be-rührt´, so gesehen, unvergleichlich früher als jeder andere Reiz. Phylogenetisch[30] betrachtet war das Ohr derjenige Sinneskanal, der auch im Schlafzustand vor Gefahren warnte und damit dem Überleben diente.

Für die psychotherapeutische Behandlung von großer Bedeutung ist die Erkenntnis aus der Neurophysiologie, dass akustische Reize aufgrund unserer Wahrnehmungsstruktur besonders stark auf den emotionalen Haushalt des Menschen einwirken. Einer der Gründe hierfür liegt in der direkten Verbindung der Hörkanäle unseres Ohrs über den Thalamus[31] zum Limbischen System, dem Gefühlszentrum unseres Gehirns.[32] Emotionen, gleich welcher Art, werden somit am unmittelbarsten über das Ohr ausgelöst. Hinzu kommt, dass das vegetative Nervensystem, das für die Reaktionen auf akustische Reize verantwortlich ist, im Vergleich zum Zentralnervensystem, nicht willentlich zu steuern ist. Nach Tomatis kann das Ohr in seiner psychisch-emotionalen Bedeutung für den Menschen als das wichtigste lebensbestimmende Organ gesehen werden.[33]

3.2. Physiologische Aspekte

Im Folgenden werden die physiologischen Faktoren der Musikwahrnehmung und Wirkung auf den Menschen anhand der Unterscheidung in ergotroper und trophotroper Musik dargestellt. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass lediglich Aussagen über die physio-psychische Wirkung einzelner musikalischer Elemente getroffen werden können. Sie geben jedoch keinen Aufschluss über den emotionalen und psychischen Erlebnisinhalt, den der Mensch bei der Musikwahrnehmung hat. Hierfür ist die subjektive Beziehung des Hörers zu der Musik ausschlaggebend. Die individuelle Besetzung einer Musik mit bestimmten Gefühlen, die in der Biographie des Hörers begründet sind, kann auch zu ganz gegenteiligen Wirkungen führen.

3.2.1. Ergotrope Musik

Sinngemäß bedeutet die griechische Übersetzung von „ergotrop“, die Mobilisierung aller Energien des Organismus.[34] Ergotrope Musik weist Merkmale auf, die in ihrer Zeitstruktur vorwiegend mit rigiden, durchgehend harten Rhythmen tönt, sich im Verlaufe eines Musikstückes beschleunigt, vorwiegend in Dur-Tonarten steht und Dissonanzen aufweist. Hört man Musik mit diesen Eigenschaften in höheren Dezibelstärken, so führt das beim Hörer überwiegend zu einer Erhöhung des Blutdrucks, Beschleunigung von Atemfrequenz und Puls, vermehrtem Auftreten rhythmischer Kontraktionen der Skelettmuskulatur, Pupillen-erweiterung und einem erhöhtem Hautwiderstand.[35] Dieser Art von Musik begegnet man, weil sie belebt, ermutigt und positiv stimuliert, überall dort, wo gute Stimmung herrschen soll, so z.B. in Diskotheken, bei Partys, Karneval usw.. Wenn bei ergotroper Musik intensive Rhythmisierungen mit einer Lautstärke von 65 Dezibel kombiniert werden, beeinflusst sie eine Gehirnregion, die für unser Wachsein und damit für unseren Bewusstseinszustand zuständig ist. So reagiert das vegetative Nervensystem eines Menschen auch ohne seinen Willen und unabhängig von der psychischen Einstellung des Hörers zum Gehörten. Auch kann ergotrope Musik zu rauschartigen Zuständen führen, die sonst nur mit härteren Drogen erreicht werden können.

3.2.2. Trophotrope Musik

Unter Trophotropie versteht Decker-Voigt den Zustand des vegetativen Nervensystems, der der Erhaltung oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit dient.[36] Trophotrope Musik weist schwebende, wenig akzentuierte Rhythmen auf, steht vorwiegend in Moll-Tonarten, lässt deutlich Konsonanzen vorherrschen und durchgängig harmonische Grundbewegungen erkennen. Weiterhin ist sie von sanften, fließenden Melodien gekennzeichnet und erschallt in geringeren Dezibelstärken. Diese Musik bewirkt einen Abfall des Blutdrucks, flacheren Atem, Pulsverlangsamung, Entspannung der Skelettmuskulatur, Pupillenverengung, geringeren Hautwiderstand, allgemeine Beruhigung und Somnolenz (Benommenheit, bzw. Schläfrigkeit).[37]

Die musikalisch-akustischen Reize trophotroper Musik stimulieren den Vagus-Nerv und damit den parasympathischen Teil des Vegetativums, dessen Tonus (Spannung) damit wächst und ein Übergewicht über den Sympathikus erhält. Dies lässt beim Menschen eine entspannende und beruhigende Wirkung einsetzen. Einige Arzneistoffe (z. B. Psychopharmaka) beschreiten die gleichen Pfade wie trophotrope musikalische Reize, die teilweise dieselben Reaktionen bewirken und bei einigen Klienten Medikamente ersetzen können.[38]

Gewissermaßen der Prototyp einer Musik, die die meisten der trophotropen Merkmale aufweist, ist das Wiegenlied. Aber auch das gesamte pentatonische[39] Liedgut weist throphotrope Merkmale auf. Durch ihre bestehenden Tonverhältnisse lassen sie keine harten Dissonanzen zu und haben daher einen schwebenden Charakter mit wenigen Akzenten. Allgemein kann davon gesprochen werden, dass eine melodiöse Führung mit fallender Melodie oft eine Introspektion nach sich zieht.

3.3. Tiefenpsychologische Aspekte des Musikerlebens

Viele Autoren verbinden früheste Klang- und Musikerlebnisse des Menschen mit der Erfahrung von Angst und ihrer Bewältigung. Willms weist auf die bereits oben erwähnte Besonderheit der Wehrlosigkeit des Säuglings gegenüber akustischer Reize hin[40], die seiner Ansicht nach als ein Ausgeliefertsein erlebt werden muss. So kommt es zu einer frühen Verbindung zwischen dieser präverbalen akustischen Erfahrung, dem Geräusch, und einer als bedrohlich erlebten Außenwelt. Doch kommen auch andere, angenehmere akustische Klangerfahrungen des Säuglings hinzu, etwa die beruhigende Stimme oder das Singen der Mutter. Ihre klanglichen Äußerungen und rhythmischen Bewegungen verbindet der Säugling mit angenehmen Erfahrungen der Geborgenheit und Sicherheit. Das Wiedererkennen der mütterlichen Stimme bedeutet außerdem ein Lusterlebnis, da es möglicherweise entstandene Angst wegen des Nichtvorhandenseins der Mutter wieder löst.[41] Umgekehrt schreit der Säugling bei Erfahrungen von Unlust und lernt bald, dass sein Schreien die Mutter herbeiruft, die sich um sein Wohlergehen bemüht. Er macht die Erfahrung, dass er mit Hilfe seiner eigenen klanglichen Äußerung die bedrohliche klangliche Außenwelt beeinflusst, prägt, verändert und mit dem Eingriff in die ihn umgebende Klangwelt seine Lebensumstände verändern kann.

Racker sieht im Schrei die phylogenetische Wurzel des gesunden Tons bzw. der Musik. Der Schrei ist nach seinem Verständnis Ausdruck von Schmerz, Angst und Aggression, aber auch von Triumph und Freude. In der Umwandlung des Schreis in Töne sieht Racker einen revolutionären Schritt in der Entwicklung des Menschen, der seine instinktiven Äußerungen zu lenken gelernt habe. Musik ist danach der „civilizer of emotions“, da sie Ängste in Kreativität als Abwehrmechanismus gegen Gefahren, die das Ich bedrohen, transformiert.[42] Beispielsweise haben schon seit vielen Jahrhunderten Menschen die Naturmächte wie Gewitter, Feuer, Wind, etc. analog in eigene Klangproduktionen verarbeitet, um ihnen den Schrecken zu nehmen. Damit wurde Ungreifbares greifbar und die Angst gemildert.

Priestley und Kohut bringen das Musikerleben mit den von Freud beschriebenen psychischen Funktionen des Es, Ich und Über-Ich[43] in Verbindung und sprechen der Musiktherapie eine harmonische Integration dieser psychischen Instanzen zu.[44] Die Lustorientierung des Es kann (zumindest teilweise) durch den freien tonalen Ausdruck von Gefühlen, die seine Bedrängnisse und Wünsche betreffen, befriedigt werden. Das Realitätsprinzip des Ich findet Befriedigung, da seinen Impulsen durch die Musik eine geordnete Gestalt gegeben wird. Weiterhin findet die Funktion des Ich eine Befriedigung durch Freude an der musikalischen Beherrschung, bspw. bei der Melodiebildung. Dies trägt durch die Fähigkeit, selbst Klänge hervorzubringen und geordnet wahrzunehmen, zur Überwindung von Geräuschangst bei. Musizieren wird der moralischen Ausrichtung des Über-Ich gerecht, da es sich hierbei i.d.R. um eine sozial akzeptierte und gutgeheißene Aktivität handelt. Einen weiteren Bezug zur Funktion des Über-Ich hat das Musizieren durch die Unterwerfung unter eine Reihe ästhetischer Regeln (Harmonielehre, Rhythmik) oder auch im kreativem Umgang mit ihnen (Rebellion).

In diesem Zusammenhang unterscheidet Kohut drei Funktionen der Musik: emotionale Katharsis für unterdrückte Wünsche, spielerische Kontrolle einer traumatisierenden Bedrohung und lustbetonte Unterordnung unter Regeln. Katharsis, Kontrolle und Unterordnung würden dabei in einem nonverbalen Medium erlebt werden, außerhalb der Sphäre der meisten strukturalen Konflikte.[45]

Nach Schumann sind musikalische Erfahrungen „[...] mit Erlebnissen oder Erinnerungen aus meist sehr frühen Stadien der individuellen Entwicklung [...]“[46] verknüpft. Insofern hat die Musik „[...] für jeden einzelnen, der sie hört oder ausübt, eine ganz individuelle Bedeutung.“[47] Musik kann alte Emotionen mobilisieren, Erfahrungen intensivieren und vertiefen sowie psychische Abwehrmechanismen durchbrechen. Die tiefenpsychologische Bedeutung der Musik liegt für Haisch in ihrer Potenz, Material aus dem Unbewussten[48] fassbar werden zu lassen. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Entfaltung einer emotionalen Wirkung und der Vermittlung von Erlebnisinhalten, „[...] die rational kaum oder überhaupt nicht zu begreifen sind.“[49] Die regressionsfördernde Wirkung der Musik spielt hierbei eine bedeutende Rolle und wird im Folgenden erklärt.

Der Begriff der Regression bezeichnet nach Willms „[...] die Rückkehr zu oder den Rückgriff auf frühere Formen des Erlebens und Verhaltens, des Denkens und der Beziehungen.“[50] Freud definierte die Regression in dreifachem Sinne: psychogenetisch, formal und topisch.

Unter psychogenetischen Gesichtspunkten ist Regression der Rückgriff auf Erlebnisqualitäten frühkindlicher Entwicklungsstufen, z.B. vom Problemlösungsverhalten Erwachsener auf dasjenige, das Kindern eigen ist, oder vom Erlebnisniveau erwachsener, abgegrenzter Objektbeziehungen zur frühkindlichen symbiotischen Beziehungsebene. Unter formaler Regression ist das sich Auflösen von differenzierten und strukturierten Ausdrucks- und Darstellungsweisen zu verstehen, die durch primitivere und frühere Vorstellungs- und Ausdrucksmuster ersetzt werden. Das Betreten anderer Bewusstseinsstufen und die damit einhergehende Bewusstseinsveränderung, wie sie bspw. im Traum, unter Halluzinationen und in Trancezuständen erreicht werden, bezeichnet den topischen Aspekt der Regression. Hierbei treten unbewusste Inhalte stärker in den Mittelpunkt des Erlebens.[51]

Nach Klausmeier lässt sich die regressionsfördernde Wirkung der Musik durch eine Verbindung der beiden beim Musikerleben wirksam werdenden psychischen Mechanismen, der Projektion und Identifikation, erklären. Bei der Projektion werden eigene Gefühlsanteile, Wünsche, Bedürfnisse, etc. in die Musik hineingelegt. Die Musik wird zu einer Projektionsfläche, auf der sich psychisches Geschehen abbildet und auf der ggf. eigene Ausdruckswünsche stellvertretend erfüllt werden können. Bei der Identifikation hingegen erlebt der Hörer musikalische Prozesse, als wären sie seine eigenen seelischen Bewegtheiten.[52] Die Projektion und Identifikation stehen somit in starkem Zusammenhang mit dem subjektiven Erleben des Hörers und den dabei angestoßenen Symbol-bildungsprozessen über die musikalischen Gestaltungsprinzipien.

In der Regression kommen frühe Gefühlszustände wieder ins Erleben, die Realität wird in prälogischen, bildhaften, synthetischen und animistischen Formen erlebt und das Erleben des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle intensiviert. Der Weg über die Regression kann somit unbewusstes, verdrängtes und konflikthaftes Material freisetzten. Dabei werden Reifungsschritte ermöglicht und es besteht die Chance der Nach- und Weiterentwicklung der Persönlichkeit.[53] Diese Art der Regression, die mit der französischen Redensart „reculer pour mieux sautur“ (zurückgehen, um besser springen zu können) beschrieben werden kann, versteht Kris als eine „Regression im Dienste des Ich“[54]. Sie hat eine Entlastungs- und Erholungsfunktion und kann durch eine „[...] freiwillig vorgenommene, zeitlich begrenzte und eingeschränkte Rückkehr zu früheren Formen der Anpassung höhere Ich-Funktionen neu beleben.“[55] Engelmann betont jedoch, dass beim Hören von Musik, neben dem Zurückgehen auf frühere Ich-Zustände, gleichzeitig reife, kognitive Prozesse aufrecht erhalten bleiben, die erforderlich sind, um das Einströmen von organisierten Tönen zu erkennen und zu meistern.[56]

Weiterhin lässt nach Klausmeier eine Entsprechung der Gesetze des psychischen Primärprozesses und der Musik feststellen. Er kommt zu der These, „[...] dass alle Kunst und speziell alle Musik durch Gesetze des psychischen Primärprozesses geprägt sind [...]“[57]. Psychische Primärprozesse sind gekennzeichnet von der sprachlichen Syntax unabhängigen Logik, die sich im kindlichen Verhalten bis zum Spracherwerb feststellen lassen, deren Inhalte unbewusst im Menschen verwurzelt sind und die sich in Träumen, Mythen, Märchen und Witzen manifestieren. Psychische Sekundärprozesse hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass durch den Erwerb der Sprache Objekte benannt und erkannt werden können. Ihre Inhalte sind vorbewusst gespeichert und können jederzeit bewusst gemacht werden. Die unbewussten, präverbalen Anteile lassen sich laut Klausmeier unter anderem in der Mimik, der Gestik, der Sprachmelodie und im spielerisch-künstlerisch-musikalischen Verhalten beobachten. Die Sprache hingegen vermag nicht in diese Bereiche vorzudringen, da diese Prozesse in der vorsprachlichen Phase stattfanden.[58]

[...]


[1] Bruhn 2000, S. 76.

[2] Vgl. Bruhn 2000, S. 77.

[3] Unter einer psychischen Störung ist im allgemeinen ein klinisch bedeutsames Verhaltenssyndrom bzw. Merkmalsmuster zu verstehen, das mit aktuellen Beschwerden, einer Behinderung, einem erhöhten Todes-, Schmerz-, oder Behinderungsrisiko oder einem Verlust an Frieden einhergeht.

[4] Alvin vgl. Bunt 1998, S. 16.

[5] Bruscia zit. n. Bunt 1998, S. 16.

[6] NAMT zit. n. Bunt 1998, S. 16.

[7] Eschen zit. n. Bruhn 2000, S. 1.

[8] Fleshman & Fryrear zit. n. Bunt 1998, S. 17.

[9] Hierzu zählen: Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie (DGMT), Deutscher Berufsverband der Musik-therapeutinnen und Musiktherapeuten (DBVMT), Berufsverband klinischer Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten (BKM), Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost (DMVO), Sektion des Berufsverbandes für Anthroposophische Kunsttherapie (BVAT), Verein zur Förderung der Nordorff/Robbins Musiktherapie, Bundesarbeitsgemeinschaft der staatliche anerkannten Musiktherapieausbildung und die Ständige Ausbildungsleiterkonferenz privatrechtlicher musiktherapeutischer Ausbildungen (SAMT).

[10] Bruhn 2000, S. 1.

[11] Kasseler Konferenz 1998, S. 232ff..

[12] Vgl. van Deest 1994, S. 133f..

[13] Vgl. Benenzon 1983, S. 157.

[14] Eine nach dem Volksstamm der Phryger benannte Kirchentonart auf dem Grundton e.

[15] Eine in der griechischen Antike vom Stammeswort der Dorier abgeleitete Bezeichnung für die absteigende Tonleiter e¹-e.

[16] Vgl. van Deest 1994, S. 142.

[17] Vgl. van Deest 1994, S. 150.

[18] Vgl. van Deest 1994, S. 152.

[19] Die Ontogenese beschreibt die Individualentwicklung einzelner Lebewesen.

[20] Der mütterliche Herzschlag wird vor der Geburt, bei einer normalen Entwicklung des Embryos, ca. 28 Millionen mal wahrgenommen.

[21] Vgl. Tomatis 1991, S. 182ff..

[22] Vgl. Timmermann 1994, S. 125.

[23] Vgl. Tomatis 1991, S. 182ff..

[24] Timmermann 1994, S. 125.

[25] Der Begriff Coenästhesie bezieht sich auf die ganzheitliche, gefühlshafte Körperwahrnehmung in Zusammenhang mit der pränatalen Kommunikation.

[26] Spitz zit. n. Loos 1986, S. 104.

[27] Kohut vgl. Schroeder 1995, S. 56.

[28] Vgl. Beimert 1985, S. 32.

[29] Vgl. Decker-Voigt 1991, S. 41.

[30] Die Phylogenese (Stammesentwicklung) beschreibt den Werdegang der Lebewesen von der Eizelle bis zum Tod. Dabei berücksichtigt sie die Veränderungen der verschiedenen Arten über Generationen hinweg, von Urorganismen bis zu heute lebenden Pflanzen, Tieren und Menschen.

[31] Thalamus ist eine zusammenfassende Bezeichnung für die den dritten Gehirnventrikel umschließenden Wände des Zwischenhirns der Wirbeltiere.

[32] Vgl. Decker-Voigt 1991, S. 41f..

[33] Vgl. Tomatis zit. n. Decker Voigt 1991, S. 50.

[34] Vgl. Mayers Grosses Taschenlexikon 1990 (Bd. 6), S. 213.

[35] Vgl. Decker-Voigt 1991, S. 55f..

[36] Vgl. Mayers Grosses Taschenlexikon. 1990 (Bd. 6), S. 232.

[37] Vgl. Decker-Voigt 1991, S.77ff..

[38] Vgl. Decker-Voigt 1991, S. 73.

[39] Die Pentatonik ist ein Tonsystem, das aus fünf Tönen besteht und keine Halbtöne enthält.

[40] Siehe Kapitel I. 3.1.1. „Ontogenetische Aspekte“.

[41] Vgl. Willms 1975, S. 25 ff..

[42] Vgl. Racker zit. n. Strobel & Huppmann 1997, S. 61.

[43] In der Psychoanalyse unterscheidet man die drei psychischen Instanzen des Es, Ich und Über-Ich, die die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen bestimmen. Das Es wird als primitiver unbewusster Teil der Persönlichkeit betrachtet, als Sitzt der primären Triebe. Das Über-Ich ist der Sitz der Werte, einschließlich der erworbenen, in der Gesellschaft geltenden moralischen Einstellungen. Das Ich verkörpert den realitätsorientierten Aspekt der Persönlichkeit, der im Konflikt zwischen den Impulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ich abwägt und vermittelt.

[44] Priestley vgl. Strobel & Huppmann 1997, S. 65 sowie Kohut 1977, S. 218f..

[45] Kohut vgl. Strobel & Huppmann 1997, S. 65.

[46] Schumann 1982, S. 31.

[47] Schumann 1982, S. 31.

[48] Unbewusstes, unbewusster Prozess oder unbewusst sind zentrale Begriffe aus der Psychoanalyse und beziehen sich auf psychische Vorgänge, die sich zwar nicht im Bewusstsein vollziehen, jedoch in symbolischer oder sublimierter Form das Verhalten eines Menschen beeinflussen oder stören können.

[49] Haisch zit. n. Stroebel & Huppmann 1997, S. 60.

[50] Willms 1993, S. 431.

[51] Freud vgl. Willms 1993, S. 431f..

[52] Vgl. Klausmeier 1978, S. 229ff..

[53] Langenberg 1988, S. 9.

[54] Kris zit. n. Strobel & Huppmann 1997, S. 61.

[55] Kohut vgl. Engelmann 2000, S. 161.

[56] Vgl. Engelmann 2000, S. 161.

[57] Klausmeier 1984, S. 125.

[58] Vgl. Klausmeier 1984, S. 126f..

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Musik als Medium in der Therapie
Untertitel
Die Musikalische Improvisation als intermediärer Raum für therapeutische Veränderungen und persönliches Wachstum
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Fachbereich Erziehungswissenschaften)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
140
Katalognummer
V11722
ISBN (eBook)
9783638177955
Dateigröße
816 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musik, Medium, Therapie, Musikalische, Improvisation, Raum, Veränderungen, Wachstum
Arbeit zitieren
Armin Schreiber (Autor:in), 2002, Musik als Medium in der Therapie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11722

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