Was hat eigentlich das ‚O’ zu bedeuten? - Das Motiv der Identität in Alfred Hitchcocks ,North By Northwest’


Hausarbeit, 2004

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Begriff der Identität und zur Bildung von Persönlichkeit

3. Das Motiv der Identität in ‚North By Northwest’
3.1 ‚Was hat eigentlich das O zu bedeuten?’ - Thornhills Suche nach Identität
3.2 ‚Als ich noch ein kleiner Junge war, erlaubte ich nicht mal meiner Mutter, mich auszuziehen’ - Thornhills Beziehung zu seiner Mutter und zu Eve Kendall

4. Das Doppelgänger-Motiv in ‚North By Northwest’ im Vergleich zum Roman ‚Die Elixiere des Teufels’ und dem TV-Film ‚The Case Of Mr. Pelham’

5. Fazit

1. Einleitung

Would it not be strange, in a city of seven million people, if one man were never mistaken for another… if, with seven million pair of feet wandering through the canyons and corridors of the city, one pair of feet never by chance strayed into the wrong footsteps? (a pause) Strange, indeed.[1]

Und so geschieht es dann eines Tages doch: Die Füße von Roger Thornhill verirren sich in den fal-schen Fußstapfen und zwingen ihren Besitzer zur Annahme einer neuen Identität. Thornhill wird George Kaplan. Dieser aber ist lediglich eine vom Geheimdienst erfundene Existenz, die nun eine Verkörperung erfährt. Doch was bedeutet dieser Rollentausch für Thornhill?

Alfred Hitchcocks ‚North By Northwest’[2] ist ein Verwirrspiel rund um das Thema Identität. Identität, die nicht vorhanden ist, die fälschlicherweise aufgezwungen, die gesucht, die schließlich gefunden wird. In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, wie der Film darlegt, dass Thornhills Odyssee quer durch die USA gleichzeitig auch eine Suche nach seiner eigenen Persönlichkeit ist.

Zunächst erläutere ich kurz, wie sich der Begriff ‚Identität’ definieren lässt, um dann die theo-retische Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit nach Erikson zu beschreiben. Danach werde ich anhand ausgewählter Szenen des Films darlegen, wie sich diese Erkenntnisse auf Thornhill und sei-ne Entwicklung im Laufe der Handlung anwenden lassen. Schließlich werde ich unter Verwendung von Theorien Sigmund Freuds untersuchen, wie das Doppelgänger-Motiv in E.T.A. Hoffmanns Ro-man ‚Die Elixiere des Teufels’[3] und Alfred Hitchcocks TV-Film ‚The Case Of Mr. Pelham’[4] zum Ausdruck gebracht wird, sowie Parallelen und Unterschiede zu ‚North by Northwest’ aufzeigen.

2. Zum Begriff der Identität und zur Bildung von Persönlichkeit

Das Lexikon definiert Identität als „völlige Übereinstimmung einer Person oder Sache mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird“.[5] Im psychoanalytischen Sinne jedoch geht der Identitäts-begriff weit über diese im Alltag gebräuchliche Definition, die ich im Weiteren als ‚äußere Iden-tität’ bezeichnen möchte, hinaus.[6] Um einen für die Thematik dieser Arbeit brauchbaren Identitäts-begriff zu fassen, beziehe ich mich im Folgenden auf Erikson, der den Terminus der „Ich-Identität“ verwendet. Damit ist eine subjektive Erfahrung der eigenen Entwicklung gemeint: Das Ich lernt von Kindesbeinen an, wesentliche Schritte in Richtung einer greifbaren kollektiven Zukunft zu machen, und entwickelt sich so zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität:[7]

Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen. Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität dieser Existenz.[8]

Die ‚Ich-Identität’ steht also für einen Zuwachs an Persönlichkeitsreife, den das Individuum nach der Adoleszens vorweisen können muss, um den Herausforderungen des Erwachsenenlebens ge-wachsen zu sein.[9]

Zur Frage, was man unter einer gesunden Persönlichkeit beim Erwachsenen überhaupt verste-hen muss, zieht Erikson eine Definition von Marie Jahoda heran, wonach „die gesunde Persönlich-keit ihre Umwelt aktiv meistert, eine gewisse Einheitlichkeit zeigt und imstande ist, die Welt und sich selbst richtig zu erkennen.“[10] Um zu beschreiben, wie dem Menschen die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen, zuwächst, unterteilt Erikson die Genese der Persönlichkeit vom ersten Lebensjahr bis ins Alter in acht Phasen, die jeweils von einem speziellen psychologischen Konflikt eines mitein-ander konkurrierenden Kräftepaars geprägt sind.[11] Um – im psychologischen Sinn – am Leben zu bleiben, muss der Mensch die aus dem Widerspruch der Kräfte entstehenden Konflikte unaufhörlich lösen.[12]

Aufgrund des begrenzten Umfangs meiner Arbeit möchte ich an dieser Stelle nur die für Thornhills Entwicklung besonders bedeutsamen Phasen VI und VII kurz beschreiben, um sie im nächsten Kapitel stärker in Beziehung zur Person Thornhills zu setzen. Phase VI (im frühen Er-wachsenenalter) wird bestimmt durch den Widerspruch von ‚Intimität’ und ‚Isoliertheit’. Wurde in der Adoleszenz eine Ich-Identität erreicht, so ist die Person fähig, eine stabile Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen und Ermutigung und Belastung dieser Beziehung zu tragen (Intimität). Dagegen scheuen Menschen, die sich ihrer Identität (noch) nicht sicher sind, vor solch intimen Be-ziehungen zurück und lassen sich auf nur oberflächliche Begegnungen, z.B. in Gestalt von Promis-kuität, ein. Dieses Verhalten führt zu Distanzierung und Isolation.[13]

Das Ziel von Phase VII (‚zeugende Fähigkeit’ gegen ‚Stagnation’) ist Generativität, die Fähig-keit, schöpferisch tätig zu sein, die dem Erwachsenen das Gefühl vermittelt, für Andere brauchbar zu sein und von Anderen gebraucht zu werden. Eine Form der Generativität ist z.B. das produktive und kreative Tätigwerden auf anderen Gebieten (als dem angestammten) im Interesse der Gesell-schaft. Schafft es die Person nicht, für die Interessen anderer offen zu sein, kann sie durch das Em-pfinden, nicht gebraucht zu werden, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen verarmt sehen, was nach Erikson zum Gefühl der Stagnation führt.[14]

3. Das Motiv der Identität in ‚North By Northwest’

‚Was hat eigentlich das O zu bedeuten?’ – Thornhills Suche nach Identität

Verschafft man sich einen Überblick über das filmische Schaffen Alfred Hitchcocks, so stellt man fest, dass sich das Thema der ‚Identität’ und des Verlusts derselben als ein Leitmotiv wie ein roter Faden durch das gesamte Werk des Regisseurs zieht. In Bezug auf die von diesem Identitätsverlust betroffenen Figuren spricht Sterneborg – in Anspielung auf einen Filmtitel Hitchcocks[15] - von den „ ,wrong men’, die aus ihrem Leben geworfen werden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind“.[16]

In dem 1959 gedrehten Thriller ‚North By Northwest’ ist es Werbefachmann Roger Thornhill (gespielt von Cary Grant)[17], der von einer Minute zur anderen aus seinem Routineleben gerissen wird, da ihn ein Agentenring fälschlicherweise für den feindlichen Spion George Kaplan hält. Auf der Suche nach dem wahren Kaplan wird Thornhill in einen Mordfall verstrickt, so dass er auf der Odyssee, die ihm seine Identität zurückbringen soll, sowohl von den Spionen als auch von der Poli-zei gejagt wird. Žižek beschreibt den Vorgang der Identitätsvertauschung folgendermaßen:

Wie bereits hervorgehoben, spielen zufällige Begegnungen im Hitchcockschen Universum eine wesentliche Rolle. In diesem Universum […] genügt ein zufälliger Vorfall, um einen ganz gewöhnlichen Menschen in einen Alptraum zu stürzen. Dieses zufällige Ereignis legt die Struktur offen, in die das Subjekt verwickelt ist. Im Grun-de weist die zufällige Begegnung folgende Form auf: Sie ist die Verbindung zwischen einem Element und einem leeren Platz (einer Leere, die wie eine Falle auf das Subjekt wartet). NORTH BY NORTHWEST ist dafür das beste Beispiel. Der Name George Kaplan – ein leerer Signifikant, denn es ist der Name eines nicht-existierenden Agenten – ist hier die Falle, die sich über Roger O. Thornhill schließt: Thornhill wird nun diesen leeren Raum ausfüllen.[18]

Doch auch wenn es sich bei der Verwechslung Thornhills mit Kaplan durch die Spione vordergrün-dig um einen Zufall handeln mag (und von einem solchen spricht Žižek), so hat sie doch einen tiefe-ren Sinn: Thornhill passt in die Rolle Kaplans, da es für ihn bei den Ereignissen der nächsten Tage nicht nur darum geht, im physischen Sinne zu überleben und seinen guten Ruf wiederherzustellen. Zugleich erhält er auch die Chance, seine nur schwach entwickelte Persönlichkeit zu definieren und eine wahre Identität im Sinne von Erikson zu erreichen. Dass er dies nötig hat, wird bereits durch die Initialen von Roger O. Thornhill angedeutet: ROT bedeutet im Englischen soviel wie ‚Unsinn’ oder ‚Fäulnis’ und impliziert somit das Gegenteil von einem gesundem Wachstum. Darüber hinaus steht das ‚O’ in der Mitte seines Namens nach eigenen Angaben für „gar nichts“ und wird so zu ei-ner Null: Ein starkes Indiz für das Fehlen einer echten entwickelten Persönlichkeit. Weitere Anzei-chen hierfür zeigen sich bereits – und vor allem – in der Eröffnungssequenz des Films, die ein be-stimmendes Motiv des Films bereits andeutet: Das hektische Treiben in der New Yorker Geschäfts-welt vermittelt ein Gefühl von Ziellosigkeit, Chaos und ständiger Bewegung, und als typischen Ver-treter dieser Stadt und ein Produkt derselben lernt der Zuschauer Roger Thornhill kennen und er-fährt in nur zwei Minuten alle wesentlichen Dinge über ihn: Der Werbefachmann ist frech und un-verschämt, übertrieben selbstsicher (zumindest oberflächlich betrachtet), vollkommen rücksichtslos und unverantwortlich anderen gegenüber, ein Gewohnheitstrinker[19] (bei einem Geschäftsmeeting, zu dem er zu spät kommt, begrüßen ihn die anderen mit dem Hinweis, sie hätten beim Trinken be-reits einen Vorsprung, worauf Thornhill entgegnet, dieser würde nicht lange bestehen bleiben)[20], zweimal geschieden und steht unter der Fuchtel seiner Mutter, die sogar seinen Atem auf Alkohol hin kontrolliert. Alles in allem ist er ein Mensch, der ausschließlich an der Oberfläche lebt und jede Verbindlichkeit oder Verantwortung zurückweist (dazu passt, dass er in der Werbung tätig ist). Unreif und von sich selbst vollkommen eingenommen, bemerkt er nicht, dass sein Leben kein wirkliches Leben, sondern vielmehr ein heilloses Durcheinander ist.[21]

[...]


[1] Ernest Lehman: North By Northwest. O.O, o.J. (vor den Haupttitel gesetzte Einführung, die im Film nicht verwendet wurde).

[2] North By Northwest (Regie: Alfred Hitchcock, USA 1959; dt. Verleihtitel: Der unsichtbare Dritte)

[3] E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruder Medardus eines Kapuziners [1815/16]. München 1961.

[4] Alfred Hitchcock Presents: The Case of Mr. Pelham (CBS) (Alfred Hitchcock, USA 1955)

[5] Identität. In: Der Brockhaus in 15 Bänden. Sechster Band. Leipzig; Mannheim 1998, S. 361.

[6] Es würde den Rahmen der Arbeit spngen, alle Ansätze zur Erforschung des Begriffs ‚Identität’ zu beleuchten. Ich beschränke mich hier auf die Ausführungen von Erik H. Erikson (1902 – 1994) zu dieser Thematik, da sich an ihnen die Problematik der Fragestellung besonders deutlich festmachen lässt.

[7] Vgl. Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus [1963]. Frankfurt am Main 1993, S. 17f.

[8] Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 18.

[9] Vgl. ebd., S. 123.

[10] Ebd., S. 57.

[11] Vgl. Hermann-Josef Fisseni: Persönlichkeitspsychologie. Ein Theorienüberblick [1984]. Göttingen 1998, S. 90.

[12] Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 56.

[13] Vgl. Fisseni: Persönlichkeitspsychologie. Ein Theorienüberblick, S. 92f.

[14] Vgl. Fisseni: Persönlichkeitspsychologie. Ein Theorienüberblick, S. 93.

[15] The Wrong Man (Alfred Hitchcock, USA 1956; dt. Verleihtitel: Der falsche Mann)

[16] Anke Sterneborg: North by Northwest (1958). In: Alfred Hitchcock. Hrsg. v. Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen. Berlin 1999, S. 396-402, S. 396.

[17] Patalas beschreibt Grant als ‚Mann ohne Eigenschaften’, und aufgrund dessen prädestiniert, in viele Rollen zu schlüpfen [Vgl. Enno Patalas: Alfred Hitchcock. München 1999, S. 128.]. Tatsächlich schrieb Ernest Lehman das Drehbuch bereits im Hinblick auf Grant [Vgl. Donald Spoto: Alfred Hitchcock. Die dunkle Seite des Genies [1983]. München 1986, S. 480.], der für die Verkörperung des oberflächlichen Durchschnittsmenschen, der ebenfalls eine Vielzahl von verschiedenen Rollen annehmen muss, offensichtlich bestens geeignet war.

[18] Slavoj Žižek u.a.: Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten [1988]. Frankfurt am Main 2002, S. 41.

[19] Vgl. Robin Wood: Hitchcock’s Films. Cranbury, New Jersey, USA 1966, S. 98.

[20] In der deutschen Synchronfassung wurde diese Dialogszene sinnentstellt.

[21] Vgl. Wood: Hitchcock’s Films, S. 98.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Was hat eigentlich das ‚O’ zu bedeuten? - Das Motiv der Identität in Alfred Hitchcocks ,North By Northwest’
Hochschule
Universität zu Köln  (Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft)
Veranstaltung
Alfred Hitchcock
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
16
Katalognummer
V117494
ISBN (eBook)
9783640197699
ISBN (Buch)
9783640198115
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Motiv, Identität, Alfred, Hitchcocks, North, Northwest’, Alfred, Hitchcock
Arbeit zitieren
Florian Steinacker (Autor:in), 2004, Was hat eigentlich das ‚O’ zu bedeuten? - Das Motiv der Identität in Alfred Hitchcocks ,North By Northwest’ , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117494

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