"Das Doppelte Lottchen" von Erich Kästner

Die Darstellung des Rollentausches der Zwillinge in der Buch- und Filmvorlage mit Hilfe der "Theory of Mind"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

25 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Die Buchvorlage

2. Die Verfilmung

3. Die „Theory of Mind“

4. Die Vertauschungsszenen
4.1. Im Kinderheim: der erste Tausch
4.2. Das Treffen mit den Eltern

5. Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

0. Einleitung

„Es ist nicht zu fassen. Zwei wildfremde Mädchen und eine solche Ähnlichkeit!“[1] Dieser Satz stammt aus der Feder von Erich Kästner, der besonders für seine Kinderbücher bekannt geworden ist und das noch bis in die heutige Zeit andauert. „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“, „Das fliegenden Klassenzimmer“ sind aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken und die zahlreichen Neuauflagen der Bücher und die dazugehörigen Verfilmungen sprechen für den andauernden Erfolg.

Doch das „Doppelte Lottchen“ von 1949 hat einen besonderen Stellenwert in dieser außergewöhnlichen Kinderbuchreihe Kästners. Neben dem delikaten Thema der Scheidung, was eine heftige Diskussion im Deutschland der Nachkriegszeit auslöste, brachte die Verfilmung 1950 den durchschlagenden Erfolg. Allein bis zum Jahre 2007 wurde das Buch neun Mal verfilmt, mehr oder minder eng an die textliche Vorlage angelehnt. Aber was macht diesen ungebrochenen Bann aus, ein Thema zu verfilmen, in dem sich zwei Menschen, die sich bis dahin unbekannt waren, begegnen und bemerken, dass ihrer beider Leben eng miteinander verknüpft sind und die dieses nicht weiter hinnehmen wollen? Ist es die Möglichkeit aus dem eigenen Alltag auszubrechen und in einen anderen zu schauen, ohne durch äußerliche Unterschiede aufzufallen, die gewohnte Rolle und Umgebung zu verlassen und das Abenteuer zu wagen oder die Tatsache, eine „Ungerechtigkeit“ wie die Trennung der Eltern ungeschehen zu machen? Doch wie schafft es dann das Buch als auch der Film dem Leser/Zuschauer deutlich zu machen, dass er es entweder mit Lotte oder Luise zu tun hat, aber den Eltern dieser Unterschied nicht bewusst ist und erst durch eine Fotografie der beiden Mädchen aufgedeckt wird?

Neben einer emanzipierten Mutter und einem Vater, der durchaus erzieherische als auch menschliche Schwächen aufweist, zeigt der Roman zwei Kinder mit Ängsten und Wünschen, genauso wie Tugenden der deutschen Nachkriegszeit. Kästner zeigt moderne Menschen mit ihren Problemen und trotz Happy End wird veranschaulicht, dass auch Eltern Fehler haben sowie Frauen allein ihr Leben erfolgreich führen können.

Erich Kästner persönlich schrieb das Drehbuch für die erste Verfilmung des „Doppelten Lottchens“, was ihm eine Auszeichnung einbrachte[2] und er übernimmt auch den Part des Erzählers, zuerst visuell und später aus dem Off.

Ziel dieser Arbeit ist es anhand der Vertauschungsszenen der beiden Mädchen in der Romanvorlage sowie auch in der Verfilmung von 1950 mit Hilfe der „Theory of Mind“, die „von Premack und Woodruff (1978) wie folgt definiert (wird): „An individual has a theory of mind if he imputes mental states to himself and others.“[3], zu veranschaulichen wie sowohl Leser als auch der Zuschauer in der Lage sind, den Tausch der Mädchen bewusst zu erleben und wahrzunehmen, während die Eltern ohne jegliche Ahnung sind und dies bis zu einem bestimmten Zeitpunkt bleiben. Mit Hilfe filmtechnischer und literaturwissenschaftlicher Analysetechniken sollen die jeweiligen Textstellen bzw. Filmszenen analysiert und verglichen werden.

Schafft es der Film den Tausch besser darzustellen als das Buch oder ist es umgekehrt? Oft ist das Mittel mit dem unbewussten Spiel des Zuschauerwissens ein beliebtes um Komik oder Trauer darzustellen. Die Frage ist: In welchen Zusammenhang wird es in diesem Fall benutzt?

Um die bestimmten Szenen zu veranschaulichen, werde ich zuerst einen kurzen Abriss über das Buch sowie den Film im Allgemeinen geben. Anschließend wird die „Theory of Mind“ erläutert werden, da hiermit das Täuschen der Mädchen erklärbar gemacht werden soll. Danach folgt der Szenenvergleich zwischen Buch und Film, wobei zu Beginn der erste Tausch der Mädchen und anschließend das Leben mit den Eltern bis zum Aufdecken des Geheimnisses vorgestellt wird. Abschließend folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und die Analyse welches Medium den Tausch besser darstellt.

1. Die Buchvorlage

„Das gute Kinderbuch in Kästners Sinn soll dem Kind den Weg zum Erwachsenen zeigen und der Pflege und Entwicklung einer Kraft gelten, die er mit Phantasie und musischem Bedürfnis am besten meint umschreiben zu können […].“[4]

„Das doppelte Lottchen“ aus dem Jahre 1948, ist für die damalige Zeit ein sehr radikales Kinderbuch, da es sich mit Themen wie Scheidung, einer allein erziehender und arbeitender Mutter, der Trennung von Kindern sowie Mädchen statt Jungen als Hauptfiguren beschäftigt. Dennoch beschreibt es die innige Beziehung zwischen Kindern und ihren Elternteilen und stellt die Familie in den Vordergrund. Doch genau beim Thema Scheidung erweist sich Kästner als verständnisvoller und kluger Autor[5], wie er im folgenden Textausschnitt beweist.

“Jetzt wird es, allmählich Zeit, dass ich […] berichte, […] wie es seinerzeit zu der Scheidung

zwischen (den Eltern) kam. Sollte euch an dieser Stelle des Buchs ein Erwachsener über die

Schulter blicken und rufen: […]] Wie kann er nur, […], solche Sachen den Kindern erzählen!, dann

lest ihm, bitte, das Folgende vor: Als Shirley Temple ein kleines Mädchen von sieben, […] war,

[…] Wenn Shirley aber […] einen Shirley Temple Film anzuschauen, ließ man sie nicht hinein.

Sie war noch zu jung. […] Sie durfte nur Filme drehen.“ (BDDL, S. 64)

Kästner verteidigt seine Entscheidung über die Scheidung zu sprechen und veranschaulicht es verständlich für Kinder und die erwachsenen Leser. So wird die Geschichte von Shirley Temple benutzt, um den Eltern zu zeigen, dass Kinder verstehen müssen, was mit ihrem Umfeld, besonders wenn es um eine Scheidung geht, passiert. Immerhin sind sie genauso davon betroffen wie ihre Eltern. Ihnen die Gründe vorzuenthalten führt, wie im Fall des „Doppelten Lottchens“ zu phantasiebeladenen Ideen, die meist wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. „Und warum hat Vater dir nichts davon erzählt, dass Mutti lebt?“ „Und Mutti hat dir verschwiegen, dass Vati lebt!“ … „Schöne Eltern haben wir, was? Na warte, wenn wir den beiden einmal die Meinung geigen! Die werden staunen!“ (BDDL, S. 45)

Die Geschichte ist überwiegend im Präsens geschrieben, natürlich wird aber nicht der historische Kontext berücksichtigt.

“Handelt es sich nämlich um die Gegenwart, so müsste es ja Besatzungstruppen geben. […] Handelt es sich indes um einen historischen Roman, also um eine Geschichte, die in den dreißiger Jahren spielt, dann liegen Krieg und Besatzung noch vor dieser Familie, und das Happyend wird hinfällig.“[6]

„Neu und einmalig in diesem Kinderbuch ist die fast durchgehende Verwendung des Erzählpräsens als Erzähltempus.“[7]

„Das doppelte Lottchen“ ist in einem auktorialen Präsens auf der Erzählerebene geschrieben, das sich mit dem Erzählpräsens abwechselt, später fallen Tempuswechsel ins Perfekt oder Präteritum auf. „Besass der Waffenstillstand zwischen den Zweien Wert und Dauer?“ (BDDL, S. 24) Dabei handelt es sich allerdings um „Rückwendungen des Erzählers auf der Erzählerebene.“[8] Die Zeit in der die Geschichte erzählt wird, beinhaltet sowohl Analepsen (wird in 4.2. beschrieben), zeitdeckendes Erzählen als auch zeitraffendes/summarisches Erzählen[9]

„Haben die zwei kleinen Mädchen ihre Fotos […] abgeholt? Längst! Hat sich Fräulein Ulrike neugierig erkundigt, ob sie die Fotos nach Hause geschickt hätten? Längst! Haben Luise und Lotte mit den Köpfchen genickt und ja gesagt? Längst!“ (S. 39)

sowie Zeitsprünge „Die Zeit vergeht. Sie weiß es nicht besser.“ (BDDL, S. 39).

Alles beginnt ohne Einleitungskapitel, „das liegt nicht daran, dass er etwa keines geschrieben hätte – es ist nur so düster ausgefallen, dass es nicht gedruckt wurde.“[10] Der Erzähler, der ungenannt bleibt und allwissend ist, verweist darauf, dass es „in Seebühl am Bühlsee (ist), wo die Geschichte anfängt,“ […] Vorläufig baden sie alle am See.“ (BDDL, S. 10f) Die Sprache bedient sich teilweise der bayerischen Alltagssprache. Durch Formeln wie: „So ist`s auch in Seebühl“ (BDDL, S.10), “Wie können`s einander denn g`sehn ham?“ (BDDL, S.15) und „Steht nicht so fremd beieinand“ (BDDL, S.15), erhöht sich die Authentizität der Figuren ebenso wie der Eindruck, dass der Erzähler aus demselben Umfeld zu sein scheint. Der Erzähler benutzt eine kindgerechte und einfache Sprache, da sein Augenmerk darauf liegt, diesen seine Geschichte zu erzählen. „Kennt ihr […]“ (BDDL, S.9) „Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg Heimweh […]“(BDDL, S.10), „Eine etwas verzwickte Geschichte. Und ihr werdet manchmal höllisch aufpassen müssen, damit ihr alles haargenau und gründlich versteht.“(BDDL, S.10f) und schließlich spricht er die Leser selbst an „Wertgeschätzte kleinere und größere Leserinnen und Leser.“(BDDL, S.63), allerdings zeigt auch das „ihr“ der ersten Seiten, dass er die Leser direkt anspricht und sich somit als Erzähler einer Geschichte preisgibt.

Die beiden Mädchen spiegeln unterschiedliche Charaktere wider. Lotte zeigt Wesenszüge eines Musterknaben: da Kästner sonst Jungen diesen Part hat zukommen lassen, ist anzunehmen,

dass das Buch deshalb „Das doppelte Lottchen“ und nicht Luischen heißt.[11] Kästner selbst war „dieser freiwillige Musterknabe seiner Mutter zuliebe, die, seitdem der Vater tot ist, als Friseuse arbeitet, […]“[12] Die Geschichte ist also zum Teil Kästners realen Erfahrungen nach empfunden. Er hatte ein sehr inniges Verhältnis zur Mutter, die ihn allein aufzog und arbeiten gehen musste, wie Frau Körner, um ihrem Jungen die Schule zu finanzieren. Ebenso erging es vielen anderen Müttern in der harten Nachkriegszeit Deutschlands, die allein ihr Leben meistern mussten, was sich wiederum in dieser und vielen seiner weiteren Geschichten finden lässt[13], hier am Beispiel von Lotte und ihrer Mutter: „Die junge Frau drückt das kleine Wesen an sich. Ich bin so froh, dass du wieder daheim bist, flüstert sie. Ich hab ja nur noch dich.“ (BDDL, S. 80) Luise gehört zu dem Typ Kind, das „die ganze unbeschwerte und liebenswürdige Unbekümmertheit seines Alters, gepaart mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft (vereinbart). (Ihr) ist eine Eigenschaft eigen, von der Kästner außerordentlich viel hält, nämlich die Phantasie.“[14]

Neben der Darstellung von Kindern, die ihre Rollen tauschen spielt der Entwicklungsgedanke eine große Rolle. Schließlich kann der Tausch der Kinder, durch ihre unterschiedlichen Charaktere, für ihre Umwelt nicht ohne Folgen bleiben. „Das Kind hatte sich verändert. Und nun begann sich also auch die junge Frau zu verändern.“ (BDDL, S. 101) Obwohl Renate Benson der Ansicht ist: „Eins ist aber allen Kindern eigen: sie wandeln ihren Charakter nicht, auch nicht unter allen gegeben Einflüssen; sie sind ihnen fast gleichsam blind und taub gegenüber, […]“[15], lässt sich dennoch eine Entwicklung sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern nicht abstreiten, da es wohl nie zu einer Versöhnung der Eltern gekommen wäre, hätten die beiden Mädchen nicht ihre Plätze getauscht als auch die Eltern über ihren Schatten gesprungen sind, um sich am Ende zu versöhnen. Nicht nur die Kinder verändern sich, was unausweichlich in der kindlichen Entwicklung ist, sondern auch die Eltern durch den Einfluss der Kinder. „Er ist wirklich älter geworden. Fast sieht er schon wie ein richtiger Mann aus, ihr ehemaliger Mann!“ (BDDL, S. 146f)

Im nächsten Kapitel möchte ich erläutern, wie die Literaturverfilmung mit den in diesem Kapitel angesprochenen Thematiken umgeht.

[...]


[1] Erich Kästner: Das Doppelte Lottchen, Dressler Verlag; Auflage: 2, 2000, S. 20 (die Buchausgabe wird im folgenden zitiert unter der Verwendung der Sigle BDDL und Seitenangabe)

[2] Vgl. Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht: das Leben Erich Kästners, München [u.a.]: Hansers, 1999, S. 358 „Der (Film) […] gewann 1951 die ersten überhaupt vergebenen Bundesfilmpreise für Drehbuch, Produktion und Regie […]“

[3] Julia Kern: Zur Entwicklung des Verstehens von Wünschen und Überzeugungen: Elemente der kindlichen Theory of Mind. http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=975996940, (25.08.07).S. 4

[4] Renate Benson: Erich Kästner : Studien zu seinem Werk, Bonn : Bouvier, 1973, S. 68

[5] Vgl. Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht, S. 357 „wird hier doch versucht, die Bedeutung einer Scheidung für Kinder nachzuempfinden und kindgemäß zu erzählen“

[6] Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht, S. 356

[7] Esther Steck-Meier: Erich Kästner als Kinderbuchautor : eine erzähltheoretische Analyse, Bern [u.a.] : Lang, 1999.S. 319

[8] Esther Steck-Meier: Erich Kästner als Kinderbuchautor : eine erzähltheoretische Analyse , S. 319

[9] Vgl. Martinez, Matias ; Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 3. Auflage, München : Beck, 2002, S. 41„Gleichwohl prägt der durchgängige,[…], Wechsel von summarischen und szenischem Erzählen einen narrativen Grundrhythmus, der sich in nahezu jeder Erzählung findet.“

[10] Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht, S. 356

[11] Vgl. Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht, S. 358 Wie Walter Trier sagte, der Titel klinge „phonetisch so lustig […] Die kleine Luise kommt dabei etwas zu kurz – aber geschieht ihr scho recht- warum ist sie nicht so phonetisch.“

[12] Renate Benson: Erich Kästner : Studien zu seinem Werk, S. 74

[13] Vgl. Renate Benson: Erich Kästner: Studien zu seinem Werk, S. 74 „Diese innige Beziehung zwischen Kind und einem Elternteil, die auf Liebe und gegenseitigem Verhältnis beruht, hat Kästner immer wieder dargestellt.“

[14] Renate Benson: Erich Kästner : Studien zu seinem Werk, S. 76 f.

[15] Renate Benson: Erich Kästner : Studien zu seinem Werk, S. 79

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Das Doppelte Lottchen" von Erich Kästner
Untertitel
Die Darstellung des Rollentausches der Zwillinge in der Buch- und Filmvorlage mit Hilfe der "Theory of Mind"
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
2,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
25
Katalognummer
V119270
ISBN (eBook)
9783640226092
ISBN (Buch)
9783640231294
Dateigröße
477 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Doppelte, Lottchen, Erich, Kästner
Arbeit zitieren
Mandy Stein (Autor:in), 2007, "Das Doppelte Lottchen" von Erich Kästner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119270

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