Benötigen wir eine europäische Identität?


Bachelorarbeit, 2008

46 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Problemstellung
2.1 Die EU nach gescheiterter Verfassung und Lissaboner Vertrag
2.2 Quo vadis Europa?

3. Identitätstheorie
3.1 Identitätskonstruktion in einer pluralisierten Welt
3.2 Kulturelle und politische Identität
3.3 Europäische Identität als Projekt

4. Europäische Identität
4.1 Wozu europäische Identität?
4.2 Mögliche Bezugspunkte europäischer Identität
4.2.1 Funktionskriterien von Bezugspunkten
4.2.2 Klassische Bezugspunkte kollektiver Identität
4.2.3 Bezugspunkte politischer Identität
4.3 Medien, Zivilgesellschaft und Legitimität
4.3.1 Bedeutung der Medien
4.3.2 Funktion und Bedeutung der Zivilgesellschaft
4.3.3 Die Legitimationskrise und ihre Lösung
4.4 Mission Europa

5. Ausblick
5.1 Problemorientierte Entwicklung
5.2 tillstand & Krise

6. Konklusion

7. Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Europas Geschichte ist sowohl von Konflikten und Kriegen als auch Interdependenzen und gemeinsamen Erfahrungen geprägt. Nach den traumatischen Erlebnissen der zwei Weltkriege führte die Einbindung Deutschlands in eine Westeuropäische Gemeinschaft zu einem Zeitalter des Friedens, der Verständigung und Prosperität in Europa, welches nach und nach fast den gesamten Kontinent erfasst. Ausgrenzungseffekte, die in dem neu geschaffenen Wirtschaftsraum entstehen, wirken sich auf die Nachbarstaaten anziehend aus, was so zu einer fortlaufenden Vergrößerung des vereinten Europa führt. Die erfolgten Erweiterungsrunden der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007 haben die Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den nun 27 Mitgliedsstaaten erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und besitzen nicht nur für Kommissionspräsident José Manuel Barroso eine hohe Aktualität.

In der vorliegenden Arbeit soll die Frage nach der Notwendigkeit einer Europäischen Identität gestellt werden. Das Phänomen der kollektiven Identität wird hierbei in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gestellt, während das Konzept personaler Identität aus Platzgründen außen vor bleiben muss. Zunächst werden aktuelle Problemfelder der europäischen Politik, wie die gescheiterte Verfassung oder der Lissaboner Vertrag, näher betrachtet und kurz analysiert, da sie für diese Arbeit, als auch allgemein für die Problematik in der sich die Europäische Union befindet, ausschlaggebend sind. In Kapitel Nummer drei werden die für die Fragestellung relevanten Identitätstheorien vorgestellt. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob eine europäische Identität überhaupt möglich ist. In der aktuellen Forschung gilt politische Identität als der Motor einer pluralistischen Gesellschaft, während kulturelle Identität als ein zu generalistisches und umfassendes Konzept erfasst wird, das in einer heterogenen Gemeinschaft, wie sie die EU darstellt, keinen verbindenden Charakter entfalten kann. Dementsprechend liegt der Fokus dieser Arbeit auf möglichen Bezugspunkten einer gemeinsamen europäischen Identität, die sich aus dem Politischen gründet. Das Begreifen von Identität als Projekt, in dem unterschiedliche Prozesse und Bezugspunkte gebündelt werden, welches sich in einer fortlaufenden Entwicklung befindet, in der nur das Ziel klar definiert ist – „ein Passungsverhältnis zwischen Innen- und Außenwelt herzustellen[1] – erweist sich ebenfalls als wichtig. Im Hauptteil wird eine mögliche Europäische Identität in all ihren Facetten geschildert und untersucht, sowie ihre Bedeutung herausgearbeitet, um somit die Fragestellung dieser Arbeit beantworten zu können. Abschließend erfolgt ein kurzes Fazit, gefolgt von einem Ausblick.

2. Problemstellung

„Europa hat nie vorher existiert, man muss es erst erschaffen.“[2]

Der lange Weg nach Europa war geprägt von Kriegen und Konflikten. Pläne, ein geeintes Europa zu erschaffen, gab es seit dem 14. Jahrhundert. Es waren vor allem Philosophen, Geistliche und Staatsrechtler, die sich für diese Idee begeisterten, angefangen mit Dante über Pierre Dubois, dem Herzog von Sully, hin zu Abbé de Saint Pierre und Immanuel Kant.[3] Doch erst die leidvollen Erfahrungen von zwei Weltkriegen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren millionenfachen Opfern, führte zur Einsicht der Regierenden, dass nur ein gemeinsames europäisches Projekt zukunftsfähig sein kann.

Zur Freude über das Ende des Zweiten Weltkrieges mischte sich sehr schnell auch Sorge: Die Befürchtung vor einer Marginalisierung der europäischen Staaten in der Welt zwischen den beiden Großmächten aus Ost und West. Die, durch das Vetorecht im Sicherheitsrat festgeschriebene, Ohnmacht der Vereinten Nationen, sowie die rücksichtslose, teils brutale Neuordnung der politischen Landkarte in Osteuropa seitens der Sowjetunion[4], trugen zu einem Gefühl der Verzweiflung und Lähmung in Europa bei. Dies führte dann jedoch zu einem Streben der westeuropäischen Staaten nach einer europäischen Föderation. Bereits im Jahr 1951 wurde ein erster Grundstein für eine gemeinsame europäische Zukunft gelegt. In dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatten die sechs Gründungsstaaten bereits hohe Ziele formuliert. Nach dem ausscheren der Briten und dem Scheitern der EGV konnte sich ein föderatives Konzept zwar nicht durchsetzen, aber immerhin kam es 1957 in Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Sie schuf einen gemeinsamen europäischen Markt zwischen Frankreich, Italien, Deutschland und den Benelux-Staaten. Jenen Staaten, die sich bereits vorher in der zitierten Montanunion zusammengeschlossen hatten. Zu den Gründungsimpulsen zählte neben der Lösung der sog.

„deutschen Frage“, den Bestrebungen zur Schaffung neuer ökonomischer Anreize und größerer Märkte auch das Selbstbehauptungsstreben der Europäer in der neuen bipolaren Weltordnung.[5]

Seitdem sind über 50 Jahre vergangen. Statt in einem Europa der Sechs leben wir heute in einem Europa der 27. Aus der EWG ist die Europäische Union geworden. Das fragile Projekt der europäischen Integration scheint erfolgreich zu verlaufen, zeichnet sich dabei besonders durch zwei Merkmale aus: schrittweise Erweiterungsrunden und einen vertieften Integrationsprozess. Über die Jahrzehnte und trotz mancher Krise konnte die EU bisher jede Erweiterungsrunde meistern und sowohl die Aufnahme der ehemals totalitären Staaten Spanien, Portugal und Griechenland, als auch die damaligen „Patienten“ Irland und Großbritannien erfolgreich integrieren. Neben der ökonomischen Komponente hat die EU ihren institutionellen Rahmen sukzessive ausgeweitet. Der europäische Integrationsprozess, hervorgegangen aus der gemeinsamen Verwaltung für die Kohle- und Stahlindustrie, der Montanunion, wurde nach und nach eine immer weiter greifende Gemeinschaft. Es folgten Zollunion, ein gemeinsamer Binnenmarkt und letztlich gar die Währungsunion. Doch der Einigungs- und Integrationsprozess ging weit über rein wirtschaftliche Maßnahmen hinaus. Den Anfang machte die Einheitliche Europäische Akte im Jahr 1986. Sie brachte den Bürgern und Unternehmen der Union die vier Freiheiten im Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ein. In den 1990er Jahren wurden auch Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik Bestandteile europäischer Politik. Mit den Verträgen von Maastricht 1992 und Amsterdam 1997 konnte die Institutionalisierung ebenfalls vorangetrieben werden[6]. Aus der Wirtschaftsgemeinschaft hat sich eine politische Union entwickelt. Seit ihrer Unterzeichnung gilt europäisches vor nationalem Recht, Bürger eines Mitgliedslandes sind automatisch auch Bürger der Europäischen Union und genießen damit in anderen Mitgliedsstaaten in vielen Punkten gleiche Rechte und Freiheiten wie in ihrem Heimatland.[7]

Jedoch ist die Vertiefung der politischen Union nach dem Vertrag von Maastricht etwas ins Stocken geraten. Zwar folgten mit den unterzeichneten Verträgen von Amsterdam 1997 und Nizza 2001 noch Teilerfolge, allerdings ist der politische Gestaltungswille insgesamt schwächer geworden. Der italienische Identitätsforscher Furio Cerutti spricht gar von einer Krise der Union, die es nach dem vorläufigen Höhepunkt von Maastricht verpasst habe weitere wichtige Schritte zu unternehmen. Zwar gab es in der Geschichte der EU immer wieder Stagnation, welche überwunden werden konnten[8], dennoch bleibt zu konstatieren, dass eine Konsensbildung zunehmend schwerer wird, so dass zahlreiche institutionelle Probleme weiterhin ungelöst bleiben. Dabei ist die Funktionsfähigkeit der EU mit 27 Mitgliedsstaaten bereits weit überlastet. Selbst mit den zuvor nur 15 Mitgliedern war die Union lediglich eingeschränkt handlungsfähig. Ein gutes Beispiel dafür, so Cerutti, lieferte die Frage nach der Unterstützung des Irak-Krieges, bei der es die USA verstanden, einen Keil durch Europa zu treiben. „Entweder, die EU ist ein vollwertiger Akteur oder sie bewirkt nichts.[9] Mit den Worten von Jan Ross entscheidet allein der politische Wille darüber, „ob es Europa als weltpolitische Größe gibt, nicht die institutionellen Arrangements.[10]

Und in diesem Fall hat sich Europa blamiert. Erstaunlich ist dabei vor allem, dass die Konfliktlinien nicht, wie man eventuell erwarten würde, zwischen den neuen und alten Mitgliedsstaaten verliefen, sondern sich eine bunt gemischte Willensgemeinschaft herausbildete mit der Achse Großbritannien, Spanien, Italien und Polen auf der einen Seite und den USA-kritischen Mitgliedsländern um die Führungsfiguren Frankreich und Deutschland auf der Anderen. Nach Cerutti wäre eine solche Willensgemeinschaft eine der Grundvoraussetzungen für die Herausbildung einer europäischen Identität und das erfolgreiche Fortschreiten des Integrationsprozesses.

2.1 Die EU nach gescheiterter Verfassung und Lissaboner Vertrag

Nach dem Scheitern der Referenden zur Verfassung der Europäischen Union in den Niederlanden und Frankreich stand die EU im Jahr 2005 vor einem Reformstau. Dringend benötigte institutionelle Änderungen konnten nicht durchgeführt werden. Trotz des Schock über die Ablehnung handelten die Regierungen der Mitgliedsstaaten relativ entschlossen und so konnte über den Vertrag von Lissabon bereits ein Jahr später ein Konsens erzielt werden.

Über den Antrieb zur europäischen Einigung, konstatierte der Philosoph Jürgen Habermas entsprechend im Jahr 2006, dass ein Erschöpfungszustand erreicht sei und dies aus gutem Grunde. Die ursprünglichen Ziele von Frieden und Prosperität in Europa konnten erreicht werden.[11] Deutschland beispielsweise, hat sich zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelt, der vollständig in den Westen und seine Wertegemeinschaft integriert ist, dessen Wirtschaft und Politik lange Zeit als Lokomotive für den gesamten Kontinent wirkten und wohl auch in Zukunft wirken werden. Dennoch zeigt der Fortbestand „nationalstaatlicher Rivalitäten die Unmöglichkeit einer politischen Vergemeinschaftung, die über nationale Grenzen hinausgreift.[12]

Die einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäische Union haben über den nun bereits Jahrzehnte andauernden Prozess der europäischen Einigung mehr und mehr an demokratischer Substanz und Entscheidungsfreiheit eingebüßt. Politische Entscheidungen werden in Brüssel gefällt und müssen von den Mitgliedsländern lediglich noch in nationales Recht umgesetzt werden.[13] Fast zwei Drittel aller neuen Gesetze – wenn auch in Form von Richtlinien und Verordnungen erlassen – haben ihren Ursprung in Brüssel. Mitgliedsstaaten behalten zwar die Kontrolle über ihr Staatsgebiet, aber ihre staatliche Souveränität wird seitens des Gesetzgebungsprozesses aus Brüssel peu à peu erodiert.[14] Gleichzeitig besitzt der europäische dêmos keinen direkten Zugang zu den Institutionen und wirft damit das Problem der Legitimation auf. Die EU wiederum nimmt dies komplett konträr wahr. Nach ihrem Selbstverständnis hat sie den Charakter einer repräsentativen Demokratie, in der die Bürger das Europäische Parlament direkt wählen, während im Europäischen Rat und den Ministerräten die nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind.[15] Der Verfassungsentwurf sollte zudem weitere partizipatorische Elemente enthalten und so die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft stärken, sowie eine größere Mitwirkung aller Bürger ermöglichen.[16]

Dennoch sieht Ulrich Beck diese Transnationalisierungsstrategien als den einzig richtigen Weg in einer postmodernen, globalisierten Welt wie der Unseren für die europäischen Staaten bzw. Staaten im Allgemeinen an.[17] Eine Aufgabe oder zumindest Einschränkung nationaler Autonomie muss dabei nicht als Niederlage verstanden werden, sondern als eine Erweiterung der eigenen Souveränität mittels aktiver Selbstdenationalisierung. Es erfolgt eine Auflösung des nationalen Paradigma, bestehend aus staatlicher Unabhängigkeit, nationaler Selbstbestimmung und Lösung zentraler Aufgaben der Politik (Wohlfahrt, Recht, Sicherheit) durch die Preisgabe nationaler Souveränität und kooperative internationale Vereinbarungen zu regionaler Zusammenarbeit und ermöglicht so die Bewältigung von sowohl inner- als auch intrastaatlichen Problemen und Aufgaben.[18] Dieses Konzept erweiterter Territorialität beschreibt Beck als das Durchbrechen der ' nationalen Schallmauer '. „Die [...] Wiederbelebung der Politik im nationalen Raum ist nur durch ein Abstreifen der nationalen Bornierung möglich. Transnationalstaaten sind 'Sowohl-als-auch-Staaten', transnational belebte, geläuterte nicht mehr Nur-, aber Auch-Nationalstaaten. Sie befinden sich auf dem Weg zu einer 'kosmopolitischen Nationalität', in der die nationalen Traditionen weltbürgerlich gebrochen, erweitert und verlebendigt werden.“[19]

Nichts desto trotz bleibt die Perspektive der Bevölkerungen, oftmals geprägt von der 'nationalen Brille'[20], ein Problem, da sie die Sicht auf internationale Kooperationsabkommen bestimmt. Ein kosmopolitischer Ansatz bzw. Blick muss dementsprechend entwickelt werden, kann jedoch nicht aufoktroyiert werden. In diesem Sinne ist die transnationale Erweiterung staatsbürgerlicher Solidarität quer durch Europa ein unerlässlicher Schritt für die zukünftige Entwicklung der EU.[21]

Die sowohl in der Verfassung, als auch im Lissaboner Vertrag verankerte, vertiefte gemeinsame Außenpolitik hätte ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines solchen Verhältnisses der Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten dargestellt. Durch sie, sowie weitere Maßnahmen, wie beispielsweise die Einführung eines gemeinsamen EU-Außenministers (Art. I-28 der Verfassung)[22], würde das Profil der EU in ihrer Innen- wie Außenwahrnehmung geschärft werden. Da jedoch sowohl die Verfassung, als auch der Lissaboner Vertrag gescheitert sind, – Erstere endgültig, Letzterer zumindest vorläufig – ist in naher Zukunft nicht mit einer Verbesserung der aktuellen Situation zu rechnen.

Dies ist umso bedauerlicher, da die europäische Verfassung einen Beitrag zur Stiftung einer europäischen Identität hätte leisten können. In dem Verfassungsentwurf waren gemeinsame Ziele formuliert, eine Grundrechtecharta verankert, sowie die gemeinsame Wertegrundlage auf der Basis gemeinsamer europäischer Verfassungstraditionen kodifiziert.[23]

2.2 Quo vadis Europa?

"[Das] Europa ein Traum ist, der sich langsam in Luft auflöst. [...] Offenkundig hat Europas Begeisterungsfähigkeit ihren Tiefpunkt erreicht. Gleiches gilt für Europas Fähigkeit, auf wirtschaftliche und politische Dinge Einfluss zu nehmen.[24]

Auch wenn diese Arbeit europäische Identität behandelt und die Frage nach Funktion und ihrem Nutzen aufwirft, so soll sie keinesfalls das Ende der Nationalstaaten, sowie nationaler und regionaler Identitäten als eine Bedingung für das Gelingen des europäischen Projekts suggerieren.

Die aktuellen Probleme der Europäischen Union sind vielmehr in ihrer Struktur begründet. Es gab niemals zuvor eine Institution wie die EU: sie ist kein Staat, auch wenn sie sich so gibt, ihre Gesetze sind denen ihrer Mitgliedsländer übergeordnet, es gibt eine gemeinsame Währung die in vielen Mitgliedsstaaten genutzt wird, sie reguliert die ökonomischen Aktivitäten und den Handel, koordiniert Energie, Transport, Kommunikation und auch einen wachsenden Teil des Bildungswesens, alle Bürger der Mitgliedsländer sind automatisch Bürger Europas und besitzen einen Europäischen Pass, sie hat ein europäisches Parlament eingesetzt, dessen Beschlüsse für alle Mitgliedsstaaten und deren Bürger bindend sind und besitzt einen (Kommissions-) Präsidenten.[25] Der dabei wohl wichtigste Faktor ist die nicht vorhandene territoriale Einheit der EU. Dies bedeutet, dass die EU keine Befugnis in den Territorien ihrer Mitgliedsstaaten besitzt und somit eine extra territoriale Regierung darstellt. In der Geschichte ist dies einmalig, der Einzig denkbare geschichtliche Vergleich wäre das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zwischen dem 8. und 18. Jahrhundert.[26] All das macht die EU schwer zu greifen, da sie eine sich ständig im Wandel befindliche Institution ist. Sie ist dabei die erste postmoderne politische Institution der Welt.[27] Ob ihrer Einzigartigkeit gibt es weltweit kein Analogon zu ihrem supranationalem Regime, dass sich als ein abstraktes, überlokales Kollektiv beschreiben lässt.[28] Dabei vermittelt sie den Eindruck, Nationalismus nicht zu transzendieren, sondern ihre einmalige Supranationalität zu kaschieren und dadurch als gemeiner Nationalstaat aufzutreten. Dieses Verhalten äußert sich in der Reproduktion von Merkmalen des Nationalstaats, besonders im Bereich der Symbole[29] und Institutionen.[30] [31]

Ein weiteres Problem, das bereits im vorhergehenden Kapitel angesprochen wurde, ist die Legitimationskrise. Als ein Signal hierfür kann man die gescheiterten Referenden heranziehen.

„Nach dem Scheitern einer europäischen Verfassung stellte der Lissaboner Vertrag die

bürokratisch verabredete Notlösung dar, die verhohlen an den Bevölkerungen vorbei durchgepaukt werden sollte.[32] Mit dem Nein der Iren ist nun auch dieser Vertrag zunächst gescheitert. Dabei sollte der Vertrag von Lissabon die dringend benötigte Organisationsreform bringen, die bereits auf dem Europa-Gipfel von Nizza beschlossen worden war. Jedoch war sie bereits in Form des Verfassungsentwurfes gescheitert und nachdem durch die Osterweiterung mittlerweile 27 statt 15 Mitgliedsstaaten ein Teil der EU sind, wird sie dringender denn je benötigt. Das erneute Scheitern sollte bei den politischen Eliten zu der Einsicht führen, „dass die europäische Einigung, wenn sie weitergehen soll, auf einen anderen, einen bürgernahen Politikmodus umgestellt werden muss.“[33] Auch wenn Habermas einräumt, dass das Scheitern nicht allein ein Fehler der Regierenden darstellt, sondern vielmehr in der Art der Referenden gefunden werden kann. Die Meinungsbildung blieb in ihrem jeweiligen nationalem Kontext gefangen oder schlimmer, hatte mit der eigentlichen Sachfrage nichts zu tun. Dementsprechend wenig verwundert das Ergebnis.[34][35] Auch Alfred Grosser sieht in der ungenügenden Parlamentarisierung der europäischen Institutionen eines der Hauptprobleme. Den Versprechungen der Regierenden folgten keine Taten. Sollte es zunächst nach Maastricht keine erneuten Erweiterungsrunden ohne eine vorherige Vertiefung des institutionellen Systems der EU geben, wurde diese Aussage durch das Motto „Es wird zugleich erweitert und vertieft[36] ersetzt, um letztlich komplett revidiert zu werden. Nun besteht die Union aus 27 Mitgliedsstaaten und es ist noch immer nichts geschehen. Dabei ist die Union „sui generis, etwa in der gemeinsamen Außenpolitik und der gemeinsamen Verteidigung, noch nicht einmal konföderal, und auf manchen Gebieten schon mehr als föderal.“[37]

Als Problemfelder kristallisieren sich folglich die unzureichende Parlamentarisierung der Institutionen, der damit einhergehende Mangel an demokratischer Legitimation und europäischer Zivilgesellschaft, sowie der fortlaufende Erweiterungsprozess heraus. Kompetenzen sind zu ungenau verteilt, politische Texte der EU sind – wenn auch in jeder Mitgliedssprache erhältlich – für den normalen Bürger zu unverständlich formuliert. Es bleibt unklar wo Europas Grenzen liegen, wer ein Teil Europas sein darf und soll und wer draußen bleiben muss. Eine Änderung der äußeren Grenzziehung wirkt sich grundsätzlich auch immer auf die innere Identität aus. Mit jedem Erweiterungsschritt der EU vergrößert sie ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Heterogenität.[38]

Es ist nun die Aufgabe der Regierenden Antworten auf diese Fragen zu finden bzw. zunächst einmal sich selbst darüber klar zu werden. Die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit und damit auch einer europäischen Identität scheint unumgänglich, wenn das Projekt der europäischen Einigung weiter voranschreiten soll.

3. Identitätstheorie

Die Identität ist die Quelle von Sinn und Erfahrung für die Menschen.[39] Identität ist ein vielseitiger Begriff, der sowohl positive als auch negative Konnotationen hervorruft. Sie ist ein

äußerst komplexes und elusives Konzept, dessen Entstehungsprozess und Bestand zu beschreiben allein schon problematisch ist[40], kann gleichzeitig ausgrenzend und integrierend wirken. In ihr sind soziale, kulturelle und politische Ressourcen vereint. Grundsätzlich bestimmt der Begriff Identität das Wesen einer Sache, Person oder Gruppe. Er beinhaltet aber auch immer Leistung: eine aktive Leistung von Subjekten die etwas Verbindendes suchen um ihren Platz in einer soziokulturellen Lebenswelt zu definieren.

In der Vergangenheit wurde Identität oftmals in Abgrenzung vom feindlichen Anderen bestimmt.[41] Für den Philosoph Régis Debray ist dieses negative Identitätskonzept noch immer gültig: „All diese Postulate ignorieren die historische Tatsache, dass sich Identität immer 'gegen' etwas bildet. Man setzt sich, indem man sich widersetzt. Was für Individuen gilt, gilt ebenso für Nationen und sogar für Staatenbünde."[42] Dennoch erweisen sich moderne Gesellschaften, entgegen Debrays Auffassung, als fähig rational zu handeln und gemeinsame Interessen vor partikulare, rein nationale Bedürfnisse zu stellen. In der vorliegenden Arbeit sollen, auch auf Grund des Umfangs dieser Arbeit, negative Konzepte der Identitätskonstruktion nicht weiter behandelt werden, da nicht zuletzt der bisherige europäische Einigungsprozess selbst die Ansichten Debrays widerlegt. Nichts desto trotz bleibt die Thematik der Grenzziehung ein wichtiger Bestandteil des Identitätsprozesses, jedoch handelt es sich im Gegensatz zur Vergangenheit hierbei nicht länger um feste Grenzen, sondern um bewegliche und durchlässige Grenzen, sowohl personaler als auch kollektiver Identität.

3.1 Identitätskonstruktion in einer pluralisierten Welt

Nach der Definition von Erikson muss jede Identität zunächst im Individuellen ansetzen. „Das bewusste Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere, diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.[43] Betont Erikson zunächst also die Konstanz der Außen- und Innenwirkung einer Person für sich selbst, hebt Meyer eher die Offenheit[44] in sich stetig wechselnden Zusammenhängen hervor. Im Kontakt zu sich ständig neu formierenden Gruppen entsteht eine so genannte 'Patchwork-Identität', die in der modernen pluralistischen Gesellschaft einer ständigen Veränderung unterliegt. Unter dem Mantel allgemeiner Übereinstimmung in einer Gesellschaft gibt es dennoch viele Unterschiede.[45] Das Verhältnis zwischen den Menschen ist durch Teilrollen geprägt.[46] Eine einzelne Person kann beispielsweise gleichzeitig Mutter, Ehefrau, Angestellte, Basketballspielerin und Demokratin sein, diese unterschiedlichen Teilrollen definieren folglich die personale Identität. Das gleiche gilt auch für kollektive Akteure.[47]

Darauf aufbauend formiert sich eine größere kollektive Identität nach Rainer Lepsius dann, „wenn eine Gruppe von Individuen sich mit den gleichen Objekten identifiziert und sie sich dieser Gemeinsamkeit außerdem bewusst ist .“[48] Grundsätzlich spielen sich Identitätsbildungsprozesse in allen Bereichen des sozialen Miteinanders einer Gemeinschaft ab, sowohl auf politisch-konstitutioneller, ökonomischer als auch soziokultureller Ebene.[49] Beispiele aus dem alltäglichen Leben wären Parteien, Sport- und Musikvereine oder auch eine NRO. Diese sind in ihren Mechanismen und inhärenten Wirklogiken jedoch verschieden.

Identitätskonstruktion zieht ihre Bestandteile aus „Geschichte, Geografie, Biologie, von produktiven und reproduktiven Institutionen, aus dem kollektiven Gedächtnis und aus persönlichen Phantasien, von Machtapparaten und aus religiösen Offenbarungen.“[50]

[...]


[1] Keupp 1999, S. 86.

[2] Jean Monnet, in: Rifkin , S. 204. (Übersetzung d. Autors)

[3] Vgl. Loth 1996, S. 9.

[4] Vgl. ebd., S. 28.

[5] Vgl. ebd., S. 134 f.

[6] Vgl. Gerhards 2006, S. 205.

[7] Vgl. Gerhards 2006, S. 9.

[8] Vgl. Cerutti 2005.

[9] Cerutti 2005. 10 Ross, 2008.

[10] Ross, 2008.

[11] Vgl. Habermas 2006.

[12] ebd.

[13] Vgl. Habermas 2006.

[14] Rifkin 2004, S. 202. (Übersetzung d. Autors)

[15] Vgl. Gerhards 2006, S. 227.

[16] Titel 4, Artikel 47 des EU-Verfassungsentwurfs, 2004.

[17] Vgl. Beck 2002, S. 301 f.

[18] Vgl. ebd., S. 302.

[19] Vgl. Beck 2002, S. 303.

[20] Vgl. ebd., S. 304.

[21] Vgl. Habermas 2006.

[22] Im Lissaboner Vertrag ersetzt durch die Bezeichnung „Hoher Vertreter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (§18 EUV).

[23] Vgl. Schild 2003, S. 38.

[24] Debray 2007.

[25] Vgl. Rifkin 2004, S. 201. (Übersetzung d. Autors)

[26] Vgl. ebd., S. 201 f. (Übersetzung d. Autors)

[27] Vgl. ebd., S. 203. (Übersetzung d. Autors)

[28] Vgl. Wagner 2006, S. 14.

[29] Etwa Flagge, Hymne, Führerschein und Ausweise.

[30] Etwa Europäischer Gerichtshof und Europäisches Parlament.

[31] Vgl. Wagner 2006, S. 14.

[32] Habermas 2008.

[33] Ebd.

[34] Vgl. ebd.

[35] Vgl. Grosser 2008.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Vgl. Schild 2003, S. 38 f.

[39] Castells 2002, S. 8.

[40] Morisse-Schilbach 2006, S. 2.

[41] Vgl. Kocka 2003, S. 2.

[42] Debray 2007.

[43] Erikson 1973, S. 18.

[44] Vgl. Meyer 2004, S. 24.

[45] Vgl. Taylor 1996, S. 857.

[46] Vgl. ebd., S. 866.

[47] Vgl. Castells 2002, S. 8.

[48] Lepsius 2002, S. 994.

[49] Vgl. Morisse-Schilbach 2006, S. 9.

[50] Castells 2002, S. 9.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Benötigen wir eine europäische Identität?
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Politikwissenschaft)
Note
3,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
46
Katalognummer
V119825
ISBN (eBook)
9783640233076
ISBN (Buch)
9783640233267
Dateigröße
567 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Identität, Europäische Union, Europa, Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, politische Identität
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Patrick Krippendorf (Autor:in), 2008, Benötigen wir eine europäische Identität?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119825

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