Die Angst vor der Wahrheit

Eine Analyse des Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Mensch in der Großstadt

3. Der Erzähler in Berlin Alexanderplatz

4. Zum Prinzip der Collage

5. Was für ein Mensch ist dieser Franz Biberkopf?
5.1. Von den idyllischen Jahren im Gefängnis
5.2. Die Furcht vor den rutschenden Dächern
5.3. Ein vermeintlich starkes Ego
5.4. Auf Biberkopfs Irrwegen, die Welt und sich selbst zu verstehen

6. Abschließende Bemerkungen

7. Literatur

1. Einleitung

Der Roman Berlin Alexanderplatz gilt als Höhepunkt in Alfred Döblins literarischem Schaffen. Das 1929 erschienene Werk wurde schnell zu einem Erfolg - sowohl beim Lesepublikum als auch bei den Kritikern. „Der Schauplatz des Geschehens und sein Personal waren Döblin seit vierzig Jahren vertraut, und so wurde es möglich, dass seine Fähigkeit zur genauen Detailbeobachtung und seine immense Phantasie eine glückliche Symbiose eingingen, die er weder vorher noch nachher zu erreichen vermochte“,[1] urteilt z.B. Klaus Müller-Salget in seinem Buch zum Gesamtwerk Döblins.

Der Titel Berlin Alexanderplatz lässt vermuten, dass es sich hierbei um einen Roman handelt, der die Großstadt zum Thema hat. Auch wenn das Buch gemeinhin als erster deutschsprachiger Großstadtroman gilt, trifft diese Klassifizierung jedoch nur unzureichend die ursprüngliche Intention des Autors und verfehlt auch das letztlich erreichte Ergebnis. Im Vordergrund steht nämlich die Entwicklungsgeschichte eines Einzelnen (Die Geschichte vom Franz Biberkopf, wie es im Untertitel heißt) und nicht ein Tableau des Berlins der 20er Jahre. Dass Döblin trotz allem eine weitschweifige Milieuskizze des Berliner „Lumpenproletariats“ jener Zeit zeichnet, wie es Ronald Links in seinem marxistischen Deutungsansatz formuliert,[2] soll nicht über die zentrale Stellung Biberkopfs und die ihm vom Autor zugedachte Aufgabe als überzeitliche, exemplarische Figur[3] hinwegtäuschen.

Auf der Frage nach der Bedeutung des großstädtischen Handlungsraumes für den Roman und damit für die Entwicklung Biberkopfs wird in dieser Arbeit der Schwerpunkt liegen. Uns wird dabei das geistig-emotionale Wechselspiel zwischen dem Protagonisten und seinem unmittelbaren Umfeld interessieren. Ausgehend von einem soziologischen Ansatz des zwanzig Jahre vor Döblin geborenen Georg Simmel werden wir uns dem Lebensraum Großstadt nähern. Anschließend wird die romantheoretische Konzeption Döblins erörtert, um Beweggründe seines literarisches Schaffens zu erkunden und die von ihm daraus abgeleiteten Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung zu verstehen. Die theoretisch gewonnenen Erkenntnisse sollen schließlich Grundlage für eine Analyse der Figur des Franz Biberkopf sein, wovon wir uns weitgehenden Aufschluss über den Aussagegehalt des Romans erhoffen.

2. Der Mensch in der Großstadt

Als Denkanregung für die weitere Arbeit dient uns Georg Simmels Essay Die Großstädte und das Geistesleben, in dem die Frage, wie sich die Großstadt und der einzelne Mensch wechselseitig bedingen, behandelt wird.

Simmel setzt als Ausgangspunkt seiner Überlegungen den „Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren“[4]. Ziel des Einzelnen ist demnach, individuell zu sein. Eine Lebensauffassung wird angesprochen, die nach einer Freiheit strebt, welche sich nicht durch historische oder soziale Zwänge beschneiden lässt. Simmel sieht im „Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden“,[5] das „Grundmotiv“ gesellschaftlicher Konflikte, welche dann zum Motor für eine allgemeine Höherentwicklung werden.[6]

Schon hier wird deutlich, was auch im Titel des Essays angekündigt worden war: Simmel geht es vor allem um das „Geistesleben“ bzw. den „intellektualistische[n] Charakter des großstädtischen Seelenlebens“,[7] wie er im Anschluss schreibt. Damit ergibt sich gleich zu Beginn die Frage, auf welche Weise Simmels Essay in diesem Punkt für die Betrachtung der Figur des Franz Biberkopf irgendwie von Wert sein könnte, ist doch der Protagonist in Döblins Roman alles andere als ein Intellektueller. Trotzdem hat Franz Biberkopf eines mit einem Intellektuellen gemein: Auch er will sein Ich, seine vermeintliche Individualität, gegen alles, was da komme, behaupten. Die extreme Ich- Bezogenheit wird später zu analysieren sein.

Simmel argumentiert im Anschluss, dass die Menschen in der Großstadt dem „raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke“[8] ausgesetzt sind. Diese Reizüberflutung führt zu einer „Steigerung des Nervenlebens“[9]. Da die menschlichen Sinne ständig aufnahmebereit sind, muss der Organismus einen Weg finden, um auf die Überfülle der Reize zu reagieren. Als „Schutzorgan“ gegen die Reizüberflutung benennt Simmel den Verstand des Großstädters. Mit dem Verstand gelingt es dem Menschen zu selektieren, welche der Reize relevant sind und welche er einfach ignorieren kann. Damit erreicht er eine geistige Distanz zu seiner Umwelt und entgeht der „Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen“.[10] Menschen aus der Kleinstadt oder vom Lande hingegen reagieren aus ihrem Gefühl heraus. Sie sind nicht in der Lage, Eindrücke selektiv zu verarbeiten, da sie nur mit „dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes“[11] vertraut sind.

Die Menschen der Großstadt entwickeln in der Folge eine Gleichgültigkeit sowohl gegenüber Dingen als auch anderen Menschen. Sie verlieren dabei ihre Fähigkeit, auf neue Reize mit der notwendigen Energie zu reagieren. Das spiegelt sich im sozialen Verhalten wider. „Reserviertheit“ unter den Menschen dominiert das Leben in der Großstadt. Diese Reserviertheit bedeutet nicht nur, dass sich die Menschen misstrauen, sondern noch viel mehr: Sie hegen leichte Antipathie füreinander. Antipathie, so Simmel, entsteht hier aus der Tatsache, dass Menschen letztlich doch nie ganz gleichgültig gegenüber anderen Menschen sein können.[12] Wer nicht mit Zurückhaltung und Abneigung auf die sich ständig bietenden Interaktionsangebote reagiere, würde „sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten“[13]. Simmel bringt an dieser Stelle wieder den Vergleich mit der Kleinstadt an, „in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat“[14].

Die Menschen und Dinge in einer Großstadt verschwimmen also zu einer puren Masse, die sich nur noch quantitativ in Zahlen beschreiben lässt. Die Qualitäten aber, die sich dahinter verbergen, sind durch ein Individuum nicht mehr fassbar. Es ist Teil dieser Masse und steht nun vor der Schwierigkeit, sich in seinem Umfeld zur Geltung zu bringen.[15] Um seine Individualität anderen und vor allem sich selbst bewusst zu machen, muss es deshalb „ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung aufbieten“ und diese sogar „übertreiben“.[16] Daraus gewinnt es seine „Selbstschätzung“[17].

Drei Thesen aus Simmels Essay werden im Folgenden von Interesse sein.

a) Die Reize der Großstadt stellen für den Menschen eine Überbelastung dar, die nur durch eine bewusst herbeigeführte sinnliche Abstumpfung erträglich wird.

b) In der Kleinstadt oder auf dem Lande kommt es nicht zu diesem Problem. Die geordnete, ruhige Lebensweise dort erleichtert den Umgang mit Reizen aus der Umwelt.

c) Die Erhaltung der Individualität ist für das Selbstwertgefühl nötig und erfordert in der Großstadt ein besonders hohes Maß an persönlicher Kreativität und Anstrengung.

3. Der Erzähler in Berlin Alexanderplatz

In seinem romantheoretischen Aufsatz Der Bau des epischen Werks[18] spricht sich Döblin eindeutig für eine auktoriale, kommentierende Erzählhaltung aus: „Darf der Autor im epischen Werk mitsprechen, darf er in diese Welt hineinspringen? Antwort: ja, er darf und er soll und muss.“[19] Warum die Präsenz der Erzählerfigur im Werk so wichtig ist, ergibt sich aus dem Stellenwert, den Döblin der Kunst (eingeschlossen dem Roman) zuweist. Die Kunst hat für ihn nämlich die Funktion, dass sie „erkennen (jawohl erkennen, allen ‘Philosophen’ zum Trotz) und erzeugen“[20] soll. Viel eher als „die offiziellen Zeitgenossen“ könnte ein Künstler in ihr „die Situation durchschauen“.[21] Dabei wird nicht das illusorische Ziel anvisiert, in einem künstlerischen Bericht das detailgetreue Abbild der „Wirklichkeit“ festzuhalten,[22] sondern es soll der Erkenntnisprozess zur Findung von „Wahrheit“ dargestellt werden - und zwar mit Hilfe exemplarischer Vorgänge und Figuren.[23] Das tiefer reichende didaktische Anliegen, das Döblin der Literatur gibt, ist hier unverkennbar.

Für die Darstellung von Wahrheit, wie sie in „menschlichen Ursituationen“[24] konzentriert aufgespürt werden kann, darf dem Autor nun jedes Mittel recht sein. Er soll mit festgefahrenen Traditionen brechen. Fatal wäre es, sich irgendeiner Form zu unterwerfen, vielmehr müsste der Autor alle nur möglichen formalen Aspekte für seinen Zweck nutzbar machen: „Ich fordere auf, die epische Form zu einer ganz freien zu machen, damit der Autor allen Darstellungsmöglichkeiten, nach denen sein Stoff verlangt, folgen kann.“[25] Es gelte bei der epischen Arbeit „entschlossen lyrisch, dramatisch, ja reflexiv zu sein.“[26]

Das reflexive Moment gewinnt in Berlin Alexanderplatz Ausdruck in der Figur des Erzählers. Im Bericht schwingt ständig ein ironischer Unterton mit, der andeutet, dass die Handlungen Biberkopfs nicht einfach neutral gesichtet und notiert werden, sondern sofort auch einer kritischen Reflexion durch den Erzähler standhalten müssen. Die Ironie ergibt sich aus der saloppen Erzählweise, die auf den Leser zunächst verharmlosend wirkt und damit eine allgemeine Einstellung Biberkopfs reproduziert. Betrachtet man jedoch die Themen, die damit behandelt werden (z.B. Totschlag, Vergewaltigung, Zuhälterei), so weckt das bald Zweifel. Der Leser fragt sich immer stärker: Kann das auf Dauer gut gehen, das Leben so auf die leichte Schulter zu nehmen? Weiter angeregt wird diese forschende Sichtweise des Lesers, wenn er vom Erzähler direkt angesprochen wird: „Ich weiß schon einiges, vielleicht sehen manche, die dies lesen, schon einiges. Eine langsame Enthüllung geht hier vor, man wird sie erleben, wie Franz sie erlebt, und dann wird alles deutlich sein.“[27] Emde weist hierbei auf Parallelen zur Stimme des Todes hin: „Wie der Tod den Biberkopf, so nimmt der Erzähler den Leser an die Hand und führt ihn zeigend und erzählend einen Weg.“[28] Zu beachten ist jedoch, dass nicht eindeutig geklärt werden kann, welche der Figurenanreden im Roman[29] vom Tod stammen und welche von der Erzählerfigur.[30]

Die Kapitelüberschriften - sie sind eindeutig dem Erzähler zuzuordnen - fassen schon im Voraus die kommenden Geschehnisse zusammen oder liefern zumindest einen kurzen Kommentar dazu. Das nimmt dem Roman einen Teil seiner Spannung. Dem Leser soll damit bewusst bleiben, „dass nicht die Geschichte selbst wichtig ist, sondern das, was sie bedeutet“[31]. Müller-Salget charakterisiert den Erzähler deshalb treffend als „Moritatensänger mit dem Zeigestock“[32], der das Wesentliche der Geschichte benennt und so eine Deutung des Gelesenen erleichtert. Der Erzähler geht schließlich so weit, dass er in selbstkritischer, ironischer Weise die eigene Erzählung[33] und den Sinn des Bücherschreibens überhaupt[34] in seine Betrachtungen einbezieht.

[...]


[1] Müller-Salget: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung, S. 293.

[2] Vgl. Links: Alfred Döblin. Leben und Werk, S. 134 f.

[3] Vgl. dazu Punkt 3 dieser Arbeit.

[4] Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116.

[5] Ebd., S. 116.

[6] Vgl. ebd., S. 126 ff.

[7] Ebd., S. 117.

[8] Ebd., S. 116.

[9] Ebd., S. 116.

[10] Ebd., S. 117.

[11] Ebd., S. 117.

[12] Vgl. ebd., S. 123.

[13] Ebd., S. 122.

[14] Ebd., S. 122.

[15] Vgl. ebd., S. 128.

[16] Ebd. S. 130.

[17] Ebd., S. 128.

[18] Zuerst erschienen 1929 im Jahrbuch der Preußischen Akademie der Künste. Sektion für Dichtkunst, S. 228 -262.

[19] Döblin: Bau des epischen Werks, S. 617 ff.

[20] Ebd., S. 612.

[21] Ebd., S. 612.

[22] Vgl. dazu Döblins kritische Bemerkungen zur naturalistischen Literatur (Ebd., S. 614).

[23] Döblin benennt z.B. Don Quijote und Odysseus als exemplarische Figuren, in denen „Elementarsituationen des menschlichen Daseins“ herausgearbeitet worden sind (Vgl. ebd., S. 609 ff).

[24] Ebd., S. 610.

[25] Ebd., S. 618.

[26] Vgl. ebd., S. 616.

[27] Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 229.

[28] Emde: Alfred Döblin: sein Weg zum Christentum, S. 217.

[29] Z.B. „Wenn du jetzt nichts tust, Franz, nichts Wirkliches, Endgültiges, Durchgreifendes, wenn du nicht einen Knüppel in die Hand nimmst, einen Säbel, und um dich schlägst, wenn du nicht, kann sein womit, losrennst, Franz, Franzeken, Biberköpfchen, altes Möbel, dann ist es aus mit dir, restlos!“ (Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 251).

[30] Vgl. Müller-Salget: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung, S. 310 sowie Emde: Alfred Döblin: sein Weg zum Christentum, S. 216 f.

[31] Müller-Salget: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung, S. 301.

[32] Ebd., S. 300.

[33] Der Erzähler über sich und sein Tun: „Es ist anzunehmen, dass auch für diese Mitteilungen nur ein kleiner Interessentenkreis vorhanden ist. Wir wollen die Ursachen davon nicht erörtern. Aber das soll mich meinerseits nicht abhalten, ruhig den Spuren meines kleinen Menschen in Berlin, Zentrum und Osten, zu folgen, es tut eben jeder, was er für nötig hält.“ (Döblin: Berlin Alexanderplatz, S. 202)

[34] Der Erzähler über die anonymen Menschen am Alexanderplatz und die schier endlosen Geschichten, die sich von diesen erzählen ließen: „Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapitel. Und wenn man es täte, wem diente es? Neue Bücher? Schon die alten gehen nicht, und im Jahre 27 ist der Buchabsatz gegen 26 um soundso viel Prozent zurückgegangen.“ (Döblin: Berlin Alxanderplatz, S. 177)

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Angst vor der Wahrheit
Untertitel
Eine Analyse des Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz
Hochschule
Universität Leipzig  (Germanistik (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft))
Veranstaltung
Stimmen der Städte
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
25
Katalognummer
V120435
ISBN (eBook)
9783640241910
ISBN (Buch)
9783640245468
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine sehr gelungene, gut aufgebaute und klug argumentierende Untersuchung auf solider Textbasis, das Thema gewinnt, nicht zuletzt durch die Einbeziehung Simmels, deutliche Konturen und führt zu sehr schlüssigen Ergebnissen.
Schlagworte
Angst, Wahrheit, Stimmen, Städte, Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, Franz Biberkopf, Georg Simmel, exemplarische Figur, Romantheorie, Berlin, Großstadt, Reizüberflutung, Individuum
Arbeit zitieren
Volkmar Abel (Autor:in), 2001, Die Angst vor der Wahrheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120435

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