Die Pathologie der Moderne - Hannah Arendt und der Verlust der politischen Freiheit


Magisterarbeit, 1999

127 Seiten, Note: 1,55


Leseprobe


Inhalt

Siglenverzeichnis

Zugang
Vorüberlegung zur politischen Teilhabe:
Eine Frage des Systems?
Aufbau der Arbeit
Die Krise der Moderne
oder: Die Umkehr von oikos und polis
1. Folge: Legitimitätsverlust des Staates
2. Folge: Unmündigkeit des Bürgers
oder: Die Entstehung der Gesellschaft
3. Folge: Die Ohnmacht des Staates und seiner Bürger in der Bürokratie
Fazit

Die Arbeit
Die ungebrochene Bedeutung der Arbeit?
Alles arbeitet
Konstitutivkriterium Arbeit
Der Mensch als tätiges Wesen: Arendts anthropologische Grundlage
Die menschliche Bedingtheit – The Human Condition
Anmerkung
Bedingtheit statt Natur
Die niedrigste Tätigkeit: Arbeit
Natur und Politik
oder: Das Streben nach Unsterblichkeit
Die Pathologie der Arbeit
Das Wesen der Arbeit:
Das Leben und animal laborans
Die Wirkung der Arbeit
Freiheit und Öffentlichkeit
oder: Der Mensch als natales Wesen
Fazit
Die Pathologie der Arbeit
Anmerkung
Arbeiten vs. Herstellen – Eine sinnige Unterscheidung?
Die Welt als Zweck
Der Zweck der Unterscheidung

Die Gesellschaft
Die Frage des Jahrhunderts
Der Rückzug des Politischen
Die neue Öffentlichkeit
Der Verlust der Freiheit
Der Triumph des Konsums
Der Markt
Das Reich des Niemands:
Niemandsherrschaft – Niemandsökonomie – Niemandswelt
Niemandsherrschaft
Niemandsökonomie
Niemandswelt
Der Salon
Weltverlust
Fazit
Alles ist Konsum
Waste-economy
Eine Gesellschaft von Jobholdern
Arbeitsteilung und Emanzipation der Arbeit

Die soziale Frage
Die doppelte Umkehr:
Von der vita contemplativa zum animal laborans
Der Zwang des Zwingens
Die soziale Frage
oder: Die Armut als antipolitische Bedingtheit
Die Pathologie der Armut
Die Notwendigkeit der Notwendigkeit
oder: Das Problem jeden Staates
Plato
Der Mensch ist sich selbst nicht genug
Aristoteles
zen – das elementare Ziel des Menschen
Fazit
Anmerkung
The pursuit of happiness oder: Das Dilemma der amerikanischen Revolution

Die Gegenwart der Gesellschaft
Die Kritik der Moderne
– gegen Arendts Analyse der Gesellschaft
Die Macht des Geldes
Die Wirtschaftswelt
oder: Willy Lomans Erben
Mega-Maschinen
Der Mensch als Firma
Das Bündnis von Unternehmen und Staat
Weltverlust
Conclusio
Die Pathologie der Moderne
oder: Das Paradox des 20. Jahrhunderts
Der Totalitarismus der Arbeit?
Freiwillige Unfreiheit
– Arendts Therapie der Pathologie der Moderne
Das Räte-Modell
Die moderne polis
Freiheit – eine Oase in der Wüste
Die offene Elite?
Fazit
Die Preisgabe der politischen Freiheit
Das Ende der politischen Freiheit im 21. Jahrhundert?
Bibliographie

Siglenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zugang

„Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem.“[1] – Mit diesen Worten seiner Regierungserklärung hat Bundeskanzler Gerhard Schröder das Wesen des Problems der Moderne auf den Punkt gebracht: Politik, d.i. die res publica, die öffentliche Sache, ist heute primär mit Fragen der Wirtschaft und damit der privaten Wohlfahrt befaßt.[2] Was daran aber problematisch oder gar pathologisch sein soll, wie der Titel dieser Arbeit behauptet, liegt nicht auf der Hand: Was soll schlecht daran sein, wenn sich der Staat um das Wohl seiner Bürger kümmert und dazu „neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte“[3] fördert?

Wer Wohl sagt, meint heute Arbeit, oder um es mit den Worten Schröders zu sagen: „Unser drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit.“[4] Und das ist beileibe kein deutsches Problem: Europaweit sind derzeit 16 Millionen Menschen ohne Arbeit[5]. Diese Ausrichtung der Gesellschaft, der Gesellschaften auf die Arbeit ist für Hannah Arendt der Kern des Problems, da sich die Bürger nunmehr „für nichts anders interessieren als für die drohende Knappheit oder möglichen Überfluss dessen, was das Leben für sein Lebendigsein braucht“[6]. Der Staat verkommt damit zu einer überdimensionalen Versorgungseinheit, die sich „ökonomisch als eine gigantische Über-Familie“[7] versteht, während die politische Freiheit der Bürger der Sorge um das eigene Wohl weicht[8]. Denn die Politik als „das Reich der Freiheit“[9] beginnt erst da, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“[10]. Und wenn die politische Freiheit – ganz allgemein gesprochen – die Möglichkeit und das Recht der Partizipation an der res publica, der öffentlichen Sache des Gemeinwesens, also des Staates, meint, stellt sich mit dieser Bedeutungsverlagerung die Gretchenfrage für Staat und Bürger: Sag’ mir, wie hältst Du’s mit der politischen Teilhabe?

Vorüberlegung zur politischen Teilhabe:

Eine Frage des Systems?

Noch vor der Frage nach der politischen Teilhabe liegt eine – zumindest auf den ersten Blick – banale, gar redundante Aussage: Der Verlust der politischen Freiheit setzt notwendig voraus, dass man diese Freiheit überhaupt hatte. Bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich indes ihre alles andere als banale Bedeutung: Diktaturen, die sich den Luxus von Wahlen gönnen – wie über Jahrzehnte die DDR oder kürzlich Syrien[11] – (und dabei Wahlbeteiligungen präsentieren, von denen freiheitliche Demokratien nur träumen können), offenbaren das Wesentliche der politischen Freiheit. Hier nämlich geht es gerade nicht um eine offene, kritische und pluralistische Auseinandersetzung mit dem Staat, d.i. der res publica als der Summe der öffentlichen Angelegenheiten. Worum es hier stattdessen geht, ist die bloße Annahme resp. Abnahme staatlichen Handelns per Akklamation. Als Kern der politischen Freiheit erscheint somit Arendts Begriff des Politischen, der wesentlich auf die freie Handlung der Staatsbürger gründet[12]. Nur wenn ein solcher (politischer) Handlungsbegriff vorausgesetzt ist, macht es überhaupt Sinn, einen Verlust der politischen Freiheit zu beklagen – vom Standpunkt Syriens aus müsste man diesen Verlust vielmehr begrüßen. Anders formuliert: Die politische Freiheit ist nicht primär ein Problem des Systems, der Staatsform. Denn auch wenn der Staat die Rahmenbedingung für die Partizipation seiner Bürger schaffen muss, so hängt die Wahrnehmung dieser Freiheit einzig und allein vom Bürger ab: Die politische Freiheit ist ihrem Wesen nach eine Sache des Staatsbürgers[13].

Die Frage nach der politischen Freiheit darf sich also nicht im Systemischen verlieren, in der Frage, ob die jeweilige Staatsform seinen Mitgliedern die Möglichkeit der Partizipation gewährt oder nicht. Das Ziel dieser Arbeit kann darum auch keine Untersuchung möglicher Formen politischer Freiheit sein. Gegenstand muss vielmehr sein, warum diese Freiheit, obwohl gewährt, zunehmend weniger verwirklicht wird. Denn wenn sich die Moderne tatsächlich dadurch auszuzeichnen anschickt, dass sich der Bürger mehr um sein privates und immer weniger um das öffentliche Wohl kehrt, spielt die Form der politischen Freiheit keine primäre Rolle mehr. Die verschiedenen Modelle der Umsetzung politischer Freiheit in einem Gemeinwesen, von der repräsentativen Demokratie bundesrepublikanischer Spielart[14] bis hin zur Diskurstheorie von Habermas[15], setzen notwendig die (freiwillige) Beteiligung des Bürgers voraus – aber genau diese scheint nicht mehr voraussetzbar zu sein[16].

Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Schritte. Am Anfang steht ein Abriss des Problems (Die Krise der Moderne oder: Die Umkehr von oikos und polis), so wie es sich mit Bezug auf Arendts politisch-philosophische Konzeption darstellen lässt. Erst vor diesem Hintergrund erfolgt die vierstufige Untersuchung des Hauptteils: Das erste Kapitel (Die Arbeit) bemüht sich um eine kritische Entwicklung der in diesem Zusammenhang wesentlichen Begriffe der Arbeit (labour) und des arbeitenden Menschen (animal laborans) – die auch Arendts Qualifikation der Arbeit als niedrigste Tätigkeit der vita activa erhellt. Die Folgen für das Gemeinwesen Staat, wenn die Arbeit zur beherrschenden Tätigkeitsform geworden ist, beschreibt das zweite Kapitel (Die Gesellschaft). Die Antwort auf die Frage, warum es zu dieser Entwicklung aber überhaupt kommen konnte, gibt dann das dritte Kapitel (Die soziale Frage). Der Nachweis, dass es zu der beschriebenen Dominanz der Arbeit und des animal laborans auch tatsächlich gekommen ist, wird parallel zu den einzelnen Schritten der Untersuchung und – abschließend – im vierten Kapitel (Die Gegenwart der Gesellschaft) zu führen versucht.

Der Schluss bietet eine komprimierte Problematisierung des Sachverhalts (Die Pathologie der Moderne oder: Das Paradox des 20. Jahrhunderts), die auch der Frage nachgeht, ob der Siegeszug der Arbeit und des animal laborans möglicherweise totalitäre Tendenzen aufweist (Der Totalitarismus der Arbeit?). Denn zwischen der Genese des Totalitarismus’, die Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vorlegt, und der pathologischen Veränderung der Öffentlichkeit, die sich in der Vita activa findet, lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten feststellen. Besonders augenfällig sind der Zusammenbruch des Nationalstaates[17] und die hemmungslose Expansion[18], die in der Ökonomisierung der Öffentlichkeit als die globale Ausweitung der Wirtschaft (Expansion[19] ) wiederkehrt, die auf Kosten nationalstaatlicher Regelungskompetenzen geht, d.i. den Abschied vom Nationalstaat einläutet[20]. Damit aber wird kein Automatismus der Moderne behauptet, der notwendig zum Totalitarismus führt.[21] Das letzte Kapitel mündet schließlich in einer kritischen Bewertung der von Arendt angedachten Reaktion auf die Pathologie der Moderne (Freiwillige Unfreiheit) und einer Überlegung zur Zukunft des Politischen (Das Ende der politischen Freiheit im 21. Jahrhundert?).

Der Fortgang der Arbeit ist problemgenetisch aufgebaut: die einzelnen Begrifflichkeiten werden nicht der Systematik entsprechend eingeführt und erklärt, wie sie sich aus der Gliederung der herangezogenen Werke Arendts ergeben würde. Vielmehr folgt die Darstellung der sich aus der Problemstellung und ihrer Entwicklung resultierenden Logik. Und da die vorliegende Arbeit keine Einführung zu Hannah Arendt ist, sowenig als eine Grundlegung ihres Denkens, richtet sich der Umfang der Begriffsbestimmung jeweils nach seiner Bedeutung für den Untersuchungsgegenstand.

Die Krise der Moderne

oder: Die Umkehr von oikos und polis

Auf der Bühne des Politischen hat sich etwas vollzogen, was auf dem antiken Marktplatz (agora) so nicht möglich gewesen wäre: die Zuständigkeit des Haushalts (oikos), die Sorge um menschliche Bedürfnisse und die Lebensnotwendigkeiten ist zu einer öffentlichen Sache geworden. Für Hannah Arendt das Symptom der malaise modernise:

In diesem Zwischenbereich des Gesellschaftlichen leben wir heute überall, und die modernen politischen Theorien, ob sie nun liberal oder konservativ sind, handeln eigentlich alle im wesentlichen von der Gesellschaft […], zu deren Wesen es aber gehört, das Öffentliche zu privatisieren und das Private zum Gegenstand der öffentlichen Sorge zu machen.[22]

Die Umkehr von oikos und polis lässt sich als der nucleus von Arendts Modernitätskritik fassen.[23] Getreu der aristotelischen Vorstellung reklamiert Arendt einen Politikbegriff, der seinem Wortsinn nach nur dort möglich ist, wo der Zwang der Notwendigkeit überwunden ist[24]:

Im Gegensatz hierzu war der Raum der Polis das Reich der Freiheit, und sofern es überhaupt einen Bezug zwischen diesen beiden Bereichen [der polis und dem oikos, A.B.] gab, so galt für ihn natürlicherweise, dass die Beherrschung der Lebensnotwendigkeiten innerhalb eines Haushalts die Bedingungen für die Freiheit in der Polis bereitstellte. Auf keinen Fall konnte man daher unter Politik etwas verstehen, was für das Wohlergehen der Gesellschaft notwendig war.[25]

– Wie etwa ein Bündnis für Arbeit[26].

Antikem Denken zufolge [wäre] ein Begriff wie politische Ökonomie in sich selbst widerspruchsvoll gewesen […]: was immer „ökonomisch“ war, nämlich zugehörig zum schieren Leben des Einzelnen und zum Überleben der Gattung, war dadurch bereits als nicht-politisch identifiziert und definiert.[27]

Politik meinte in seiner ursprünglichen (antiken) Bedeutung nicht nur die Abwesenheit von Zwang und Gewalt[28], also negative Freiheit, sondern die tatsächliche Möglichkeit, öffentlich zu handeln, d.i. die positive Freiheit der (politischen) Mitbestimmung[29] – zumindest für den männlichen Vollbürger des attischen Stadtstaates. An diese Bestimmung des Politischen knüpft Arendt an: Die Freiheit, genauer die Möglichkeit der freien Handlung, ist für sie das Wesen alles Politischen[30].

Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten.[31]

Der Ort dieser Freiheit, der politische Ort, ist die Öffentlichkeit, der Versammlungsplatz, die agora [32] – ergänzt durch eine (ganz und gar unattische) Erweiterung: Politik geht „schlechterdings alle Einwohner eines Territoriums“ an[33]. Freiheit ist für Arendt also ein politisches, d.i. öffentliches Phänomen und nicht, wie in der abendländischen Tradition, eine „mehr oder minder ungehinderte Ausübung nicht-politischer Betätigungen, die jeweils von einem Staat erlaubt und garantiert ist“[34].

Genau diese Art von (privater) Freiheit aber hat sich heute durchgesetzt. Was Arendt die europäische Dichtung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war, mit ihrer Verklärung des Privaten[35], das zeigt sich heute in der offensichtlichen Ausrichtung auf das materielle Wohlergehen und der damit verbundenen Neudefinition des worst-case-scenario für Bürger und Staat. In Macht und Gewalt lässt Arendt die Angehörigen der Nachkriegsgeneration zu Wort kommen. Die Antwort auf die Frage nach ihrer Zukunft versehen diese unisono mit einer Einschränkung: „Vorausgesetzt, dass es dann noch eine Welt gibt“ und „Vorausgesetzt, dass ich dann noch lebe“[36]. Ähnlich pessimistisch fällt zwar auch heute noch die Antwort auf diese Frage aus: „Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie ich nächste Woche leben werde.“[37] Und doch hat sich in den Jahrzehnten, die zwischen beiden Antworten liegen, etwas Substantielles verändert: An die Stelle der Angst um die Existenz der Erde und allen Lebens auf ihr, die für Arendt direkt aus der Erfahrung des „Dritten Reiches“ und dem Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima folgte[38], ist die primär idiosynkrone Angst um das eigene Wohlergehen getreten, die unmittelbar an den Besitz eines Arbeitsplatzes gebunden ist[39]. Die Angst, die die Menschen heute umtreibt, ist die vor der Arbeitslosigkeit[40], aber nicht mehr primär die vor dem Untergang der Welt. Wenn die Angestellten der Atomwirtschaft heute für den Erhalt der Kernenergie und damit auch ihrer Arbeitsplätze demonstrieren, zeigt dies eine paradoxe Situation: Für den Erhalt der eigenen Wohlfahrt, d.i. des Arbeitsplatzes, ist man bereit, eine Gefährdung der Welt in Kauf zu nehmen[41].

Offensichtlich besteht also zwischen der Akzentverschiebung vom Politischen hin zur Wirtschaft und dem Verlust der politischen Freiheit, d.i. der Verwirklichung der Mitwirkungsrechte, ein direkter Zusammenhang. Seine Selbstverwirklichung erfährt der Mensch heute im Rückzug von der Öffentlichkeit, d.i. im unpolitischen Leben. Faktisch befindet sich der Bürger heute in der Situation, in der sich

die uralte Unterscheidung von Herrschern und Beherrschten […] in neuer Form wieder durchgesetzt [hat]; wieder sind die öffentlichen Angelegenheiten zum Privileg der wenigen geworden.[42]

Die politische Freiheit ist letztlich auf das Wahlrecht, mehr noch: das bloße Recht Parteien zu wählen[43], reduziert. Das Repräsentativsystem, urteilt Arendt in aller Schärfe, hat sich „in Wahrheit in eine Art Oligarchie verwandelt, [die] vorgibt, eine Oligarchie im Interesse der Massen zu sein“[44]. Die „Volkswohlfahrt“ ist heute Ziel und Zweck des Staates – eine Aufgabe aber, die „in den Händen einer oligarchisch konstituierten und von den Parteien selektierten Gruppe [liegt]“[45].

1. Folge: Legitimitätsverlust des Staates [46]

Für ein politisches Gemeinwesen kann eine solche Entwicklung fatale Folgen zeitigen: die Autorität des Staates, die Achtung, die er bei seinem Volk genießen sollte, schwindet, und damit die Macht des Staates:

It is the people’s support that lends power to the institutions of a country, and this support is but the continuation of the consent that brought the laws into existence to begin with. Under conditions of representative government the people are supposed to rule those who govern them.[47]

Und sobald die Unterstützung der Bürger fraglich wird, wird dies sukzessive auch der Staat und alle seine Maßnahmen. Mit anderen Worten: Der Legitimitätsglaube der Bürger schwindet und öffentliches Desinteresse, Gehorsamsverweigerung und Widerstand werden möglich, wenn nicht wahrscheinlich[48] – das kann mit „Politikverdrossenheit“[49] oder Steuerhinterziehung[50] beginnen und mit „civil disobedience“, Revolte oder Revolution enden[51].

2. Folge: Unmündigkeit des Bürgers

oder: Die Entstehung der Gesellschaft

Die negativen Folgen eines Verlusts der politischen Freiheit sind damit aber noch nicht erschöpft – auch wenn sie in einer Betonung der privaten Freiheit untergehen: Das Private hat für heutige Ohren nichts mehr mit Beraubung oder Entbehrung zu tun[52]. Es steht nicht mehr für den Mangel an politischer Freiheit. Es drückt statt dessen die Freiheit aus, sich seine Zeit – jenseits des wirtschaftlichen Lebens, des Broterwerbs – zu vertreiben, in klarer Abgrenzung zum Staat. Das moderne[53] Verständnis der Bürgerrechte gewährt dem einzelnen darum primär einen Freiraum gegenüber den staatlichen Gewalten; es sind subjektive Abwehrrechte, die die Privatheit schützen sollen. Umgekehrt aber bedeutet diese Art von Freiheit eben auch, dass einen der Staat nichts mehr angeht; die Privatsphäre ist etwas, das den Staat vor seinem Bürger schützt. Faktisch also hat sich an dem Privat-Sein nichts geändert. Es bedeutet damals wie heute die Nicht-Teilhabe an den Sachen der Öffentlichkeit, der res publica, dem Staat – die politische Kastration des Bürgers. Dass man dies dem Privaten nicht mehr anmerkt ist einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Privatsphäre zu schulden:

Entscheidend für die Züge, die das Private in der Neuzeit angenommen hat […] ist, dass es historisch im Gegensatz nicht zum Politischen, sondern zum Gesellschaftlichen entdeckt wurde […][54]

Das Gesellschaftliche resp. die Gesellschaft, das Arendt als Entgegensetzung zum Politischen einführt, stellt nun die neue, d.i. moderne Form der Öffentlichkeit dar, die den jetzt veröffentlichten, ehemals privaten ökonomischen Interessen Raum bietet.[55]. Die Gesellschaft nämlich entstand,

als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlichen politischen Bereichs trat.[56]

Und das heißt nichts anderes, als dass nunmehr „der private Haushalt und das in ihm erforderliche Wirtschaften eine Sache der Öffentlichkeit geworden ist“[57]. Damit war nicht nur die für Arendt so wichtige

Scheidelinie zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten verwischt, sondern der Sinn dieser Begriffe wie die Bedeutung, die eine jede der beiden Sphären für das Leben des Einzelnen als Privatmensch und als Bürger eines Gemeinwesens hatte, veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit.[58]

Der ursprüngliche Raum des Politischen war von einem Gegensatz gekennzeichnet: der Gleichheit der Freiheit (von der Erwerbstätigkeit) kontrastierte der Wettbewerb der Freien, der Beste in der polis zu sein: „Der öffentliche Raum war gerade dem Nicht-Durchschnittlichen vorbehalten.“[59]

In der Gesellschaft hat sich diese Gleichheit gewandelt. Ein auf Funktionalität ausgerichtetes Wirtschafts-Gemeinwesen verlangt von seinen Bürgern eine gewisse Verlässlichkeit im Verhalten – eine gewisse Funktionalität: dass sich die Mitglieder „wie Glieder einer großen Familie verhalten, in der es nur eine Ansicht und nur ein Interesse geben kann“[60]. Wer anders ist, stört den Gleichlauf! Und: Wer nichts tut, gilt nichts! Entsprechend gewachsen ist damit auch der soziale (gesellschaftliche) Druck, sich anzupassen, sich richtig zu verhalten und gerade eben nicht aus der (gesellschaftlichen) Norm zu fallen. Konsequente Folge war, dass das „In-Freiheit-Handeln“[61] (das nach Arendt für das menschliche Zusammenleben eigentlich wesentlich ist[62] ) durch das „Behavior“[63] ersetzt wurde:

An seine Stelle ist das Sich-Verhalten getreten, das in jeweils verschiedenen Formen die Gesellschaft von allen ihren Gliedern erwartet und für welches sie zahllose Regeln vorschreibt, die alle darauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen, und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.[64]

Oder aber diese „hervorragenden Leistungen“ dienen nicht mehr dem Wohl des Gemeinwesens, denn „die Wirtschaft denkt vorweg an die Bilanzen und die Aktionäre […] und erst in zweiter Linie an die Notwendigkeiten des Ganzen“[65].

Das Problem daran ist nun, dass in der Gesellschaft (wie in der Familie) dieser Konsens über Ansicht und Interesse selbst fraglos ist: Das Wort des Vaters (patriarchal gedacht) gilt, eben weil es das Wort des Vaters ist. Punkt! Möglich wurde diese Vereinheitlichung durch die Ökonomisierung der Öffentlichkeit[66], die nicht nur allen Mitgliedern das nämliche Interesse ist (materielle Wohlfahrt), sondern ihnen auch – schon aus rein pragmatischen Gründen – das Gleichverhalten nahelegt und letztlich auch aufzwingt.

Mit der Befreiung der Tätigkeit aus dem Bereich des Privaten ist die Erwerbstätigkeit buchstäblich zu einem öffentlichen Anliegen geworden. Und da Erwerbstätigkeit nur ein anderes Wort für Arbeit ist, die primär dem Erhalt des Lebens dient – so sagt man im Englischen „to earn one’s living“, oder im Deutschen „seinen Lebensunterhalt verdienen“ –, hat sich in der Gesellschaft offenbar der Marxsche Grundsatz vom animal laborans verwirklicht: „Der Arbeiter (gemeint ist: der Mensch, sofern er arbeitet) schafft den Menschen.“[67] Zum einen bedeutet dies nun, dass der spezifische Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht länger die Vernunft ist, sondern die Tatsache, dass der Mensch selbst die benötigten Lebensmittel produziert – erarbeitet[68]. Zum anderen aber heißt es, dass der Mensch als animal laborans zum Sklaven der Notwendigkeit geworden ist. Denn die Arbeit ist, da sie sich selbst immer wieder als Bedürfnis schafft, per se unendlich: man arbeitet, um am Leben zu bleiben, und um weiter am Leben zu bleiben, muss man weiter arbeiten[69].

Entscheidend aber ist, dass die staatliche Gemeinschaft, jetzt, da das animal laborans triumphiert hat, nicht länger diejenige ist, „die von allen Gemeinschaften die bedeutendste ist und alle übrigen in sich umschließt“[70]. Denn das Ideal von animal laborans, „das, wenn es träumt, sich den Überfluss eines Schlaraffenlands erträumt“[71], ist mit der Vorstellung von einer polis, die sich selbst genug ist, schlechterdings unvereinbar[72]:

Das Ideal einer Arbeitsgesellschaft kann nur der Überfluss sei, die Steigerung der Fruchtbarkeit, die in der Arbeit gegeben ist.[73]

3. Folge: Die Ohnmacht des Staates und seiner Bürger in der Bürokratie

Die Vergesellschaftung erreicht „nach einer jahrhundertelangen Entwicklung“ ihren Höhepunkt in der Massengesellschaft. Hier werden

alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfasst und mit gleicher Macht kontrolliert. Die Massengesellschaft zeigt den Sieg der Gesellschaft überhaupt an; sie ist das Stadium, in dem es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht mehr gibt.[74]

Liegt damit das nämliche Problem politischer Herrschaft auf dem Tableau, das schon Rousseau beschäftigt hat – das Verhältnis zwischen der Größe eines Gemeinwesen und der Freiheit der Bürger[75] ? Die Ökonomisierung der Öffentlichkeit hat jedoch zu etwas geführt, was für Rousseau[76] (wie auch für die antike polis) undenkbar gewesen wäre: die politische Abstinenz des Bürgers – Bürger war man doch gerade durch seine politische Betätigung. Darum ist Arendts Kritik auch fundamentaler: die Ökonomisierung hat nicht bei der Konstitution einer neue Öffentlichkeit Halt gemacht, sondern zu einer neuen und grundsätzlich veränderten Herrschaft geführt:

Today we ought to add the latest and perhaps most formidable form of such dominion: bureaucracy or the rule of an intricate system of bureaus in which no men, neither one nor the best, neither the few nor the many, can be held responsible, and which could be properly called rule by Nobody.[77]

Diese Herrschaft „des Niemands“[78] aber wäre allein durch die bloße politische Abstinenz der Bürger schwerlich zu erklären; es läge immer noch die Herrschaft einer oder mehrerer Personen vor[79], zwar losgelöst (verabsolutiert) von der Bevölkerung, aber immerhin noch personal verortet. Die Bürokratie[80] ist vielmehr Folge des Zusammenwirkens zweier Phänomene: des Konformismus und der Macht der großen Zahl, sprich: Masse. Und diese Masse an Menschen hat den Gesetzen der Statistik Gültigkeit für das Gemeinwesen verschafft.

Politisch gesprochen heißt das: je größer die Bevölkerung der jeweiligen politisch konstituierten Gemeinschaft anwächst, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Gesellschaftliche und nicht das politische Element den Vorrang innerhalb des öffentlichen Bereichs erhält.[81]

Was nichts anderes bedeutet, als dass erstens die Standards des auf wirtschaftliche Prosperität ausgerichteten Gemeinwesens nunmehr allgemeine, da statistisch errechnete und definierte, d.i. wissenschaftliche Gültigkeit erlangt haben[82]. Und dass zweitens der Konformitätsdruck auf die Mitglieder der Massengesellschaft enorm angestiegen ist. Abweichungen von gesellschaftlichen Normen sind daher weder leicht noch erwünscht[83]:

Was immer man daher gegen den Behaviorismus und seine Lehren vorbringen mag, man wird schwerlich seine Relevanz für die Wirklichkeit, in der wir leben, leugnen können. Je mehr Menschen es gibt, desto richtiger werden seine „Gesetze“ des Sich-Verhaltens, des „Behaviors“, d.h. desto wahrscheinlicher wird es, dass Menschen sich wirklich nur noch verhalten und desto unwahrscheinlicher, dass sie solche, die sich anders benehmen, auch nur tolerieren.[84]

Wie aber kommt es zur „Herrschaft des Niemands“? Die Massengesellschaft macht die Umkehr von oikos und polis, die Ökonomisierung der Öffentlichkeit, zum allgemeinen Phänomen: ein hoher sozialer Konformitätsdruck korrespondiert mit einem hohen Maß an politischer Ohnmacht. Politik wird von einem fernen Parlament gemacht, von dessen Arbeit man dennoch durch Gesetze und Verwaltungsvorschriften unmittelbar betroffen ist. Der Unmittelbarkeit der Betroffenheit durch die Gebote steht aber die völlige Ferne der Entstehung entgegen. Die Gültigkeit einer Norm ist nicht mehr per se unmittelbar einsichtig, vielmehr scheint sie Gültigkeit zu verlangen, eben weil sie gültig ist. Ein circulus vitiosus, den man auf jeder Behörde praktisch erfahren kann: bestimmten Formalien muss man sich unterwerfen, eben weil es Vorschrift ist. Für den betroffenen Bürger muss es so erscheinen, als ob hier der Herrscher tatsächlich ein Niemand ist[85]

Wo immer die Gesellschaft sich voll entfaltet und den Sieg über alle anderen nicht-gesellschaftlichen Elemente davonträgt, zeitigt sie notwendigerweise, wenn auch in verschiedenen Formen, eine solche „kommunistische Fiktion“ [hier: eines ökonomischen Kollektivinteresses der Gesellschaft, A.B.], deren Merkmal ist, dass in ihr wirklich mit „unsichtbarer Hand“ regiert wird, dass ihr Herrscher ein Niemand ist. Dann tritt das bloße Verwalten an die Stelle von Staat und Regierung, was Marx ganz richtig als ein „Absterben des Staates“ vorausgesagt hat […][86]

Mit Arendt lässt sich die Bürokratie darum als Manifestation des Legitimationsverlustes eines Staates identifizieren. Denn von politischer Herrschaft[87], die sich auf die Zustimmung und Unterstützung der Bürger gründet, kann keine Rede mehr sein.

Fazit

Die Ökonomisierung der Öffentlichkeit hat nicht nur den Konformismus, das Sich-Verhalten, zur bürgerlichen Tugend par excellence gemacht und zu einer Umkehrung von oikos und polis geführt: die Wirtschaft ist zu einer öffentlichen Sache geworden, der die Politik dient, die die Politik ermöglichen soll, und die Privatheit ist jetzt Freiheit von der Arbeit, die jeden Bezug zur öffentlichen Teilhabe verloren hat. Darüber hinaus hat die Kluft zwischen Politik und Bürgern auch zu einer neuen Herrschaft resp. zu einer neuen Art, Herrschaft wahrzunehmen, geführt, zur Bürokratie. Anders gesagt: Die ehemals private Leidenschaft, die notwendigen Bedürfnisse des Lebens zu stillen, ist jetzt eine öffentliche geworden; umgekehrt ist die ursprünglich öffentliche, d.i. politische Leidenschaft, gemeinsam zum Wohle des Gemeinwesens zu handeln, gleichsam privatisiert worden.

For Arendt modernity is characterized by the „loss of the world“, by which she means the restriction or elimination of the public sphere of action and speech in favor of the private world of introspection and the private pursuit of economic interests. Modernity is the age of mass society, of the rise of the „social“ out of a previous distinction between the public and the private, and of the victory of animal laborans over both contemplation and action. It is the age of bureaucratic administration and anonymous labor, rather than politics and action. of elite domination and the manipulation of public opinion.[88]

Die Arbeit

Es geschah das so, dass Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wurden, welche eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern Länge aufzuführen hatten, eine Nachbargruppe baute ihnen dann eine Mauer von gleicher Länge entgegen. Nachdem dann aber die Vereinigung vollzogen war, wurde nicht etwa der Bau am Ende dieser tausend Meter wieder fortgesetzt, vielmehr wurden die Arbeitergruppen wieder in ganz andere Gegenden zum Mauerbau verschickt. Natürlich entstanden auf diese Weise viele große Lücken […] Ja, es soll Lücken geben, die überhaupt nicht verbaut worden sind […]

(Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer)

Die ungebrochene Bedeutung der Arbeit?

Die Modernitätskritik von Hannah Arendt zentriert sich um die Begriffe von Arbeit und animal laborans, resp. deren Bedeutungszuwachs in der Gesellschaft. Doch in der jüngeren Modernitätsdiskussion tauchen jetzt vermehrt Begriffe wie Risiko-, Wissens-, Informations-, Dienstleistungs- oder auch Zivilgesellschaft auf[89]. Damit stellt sich zunächst die Frage, ob sich die Kritik Arendts überhaupt noch angemessener (zeitgemäßer) Begriffe bedient.

Alles arbeitet

Trotz der neuen Begriffe: Wer möchte bezweifeln, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der alles arbeitet?

Auch außerhalb der Gefilde professioneller Leistungserbringung feiert die Arbeit ihren terminologischen Siegeszug in Nominalkombinationen wie Glaubens- und Gefühlsarbeit, Traum- und Trauerarbeit, Forschungs- und Friedensarbeit, Stadtteil- und Sozialarbeit. Selbst Sport und Spiel, Kunst und Konsum und vermeintlich so arbeitsferne Tätigkeiten wie Urlaub und Essen sind vor ihr nicht sicher.[90]

Hier erwarten uns Probenarbeit, „Konsumarbeit: ,consumo ergo sum’“, das Arbeitsessen und Arbeitsferien[91]. In diesem Sinne erklärt sogar Ulrich Beck[92]:

Die Arbeit ist so allmächtig geworden, dass es eigentlich gar keinen Gegenbegriff zur Arbeit mehr gibt – mit der Folge, dass alle Versuche, aus diesem totalitären Wert-Zirkel der Arbeit auszubrechen, sich dem Vorwurf des Zynismus aussetzen.[93]

Denn, um mit Viviane Forrester zu ergänzen, die Masse der Menschheit

muss sich der Gesellschaft gegenüber als „nützlich“ erweisen, [ihr] Leben zu „verdienen“, muss sich zumindest dem gegenüber als „nützlich“ erweisen, was die Gesellschaft leitet und beherrscht: der Wirtschaft, die stärker als je zuvor mit dem Geschäftemachen gleichgesetzt wird, also der Marktwirtschaft.[94]

Konstitutivkriterium Arbeit

Arbeit ist also nach wie vor das Konstitutivkriterium der modernen Gesellschaft: Nur wer Arbeit hat, gilt etwas[95]. Das aber stellt ein Millionenheer von Arbeitslosen[96] vor ein existentielles Problem, denn sie sind überflüssig und damit praktisch wertlos geworden[97]. Eine Entwicklung, die Arendt bereits in der Vita activa beschrieben hat:

Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?[98]

Arendt legt den Schwerpunkt ihrer Kritik allerdings nicht auf den Mangel an Arbeit, sondern auf die gesellschaftliche Ausrichtung auf die Arbeit; diese erst macht den Mangel zu einem Problem[99]. Und das muss dem Menschen auf der Straße – der entweder um seine Anstellung bangt oder bereits ohne Arbeit ist – wie Hohn oder wenigstens Realitätsferne vorkommen. Eher scheint da Becks Terminus von der „Risikogesellschaft“ die Grundbefindlichkeit der Moderne zu treffen – das Leben ist weder für den einzelnen noch für Staat oder Politik „kalkulierbar“:

Endemische Unsicherheit ist das Merkmal, das die Lebenswelt und Lebensgrundlage der Menschen – auch in der scheinbar wohlhabenden Mitte! – in Zukunft kennzeichnet.[100]

Nur dass Beck, wie auch der Mann auf der Straße, Arendts Verdikt über die Arbeit mit anderen Worten wiederholt. Arbeit und animal laborans sind hier wie dort Gefangene der Lebensnotwendigkeit[101]. Denn was bedeutet die Angst vor der Arbeitslosigkeit anderes, als die Angst, sein Leben nicht mehr fristen zu können[102] ? Im Folgenden also ein Blick auf die Systematik der Begriffe von Arbeit (labour) und animal laborans – die offenbar nichts von ihrer Relevanz für die moderne (Arbeits-)Gesellschaft eingebüßt haben – und die damit verbunden öffentlichen, d.i. politischen Konsequenzen. Die Darstellung erfolgt vor den anthropologischen Grundlagen der vita activa und Arendts Konzeption von Freiheit, Öffentlichkeit und Natur.

Der Mensch als tätiges Wesen: Arendts anthropologische Grundlage

Mit dem Wort Vita activa sollen im folgenden drei menschliche Grundtätigkeiten zusammengefasst werden: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Sie sind Grundtätigkeiten, weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist.[103]

Jeder dieser Tätigkeiten ordnet Arendt nicht nur einen bestimmten Ort, sondern auch eine konstitutive Aufgabe zu:

Das Arbeiten ist der Natur zugeordnet, das Herstellen der Welt als dem Bereich des Artifiziellen und das Handeln dem Raum des Politischen.[104]

Die Arbeit dient dem Erhalt des Lebens, das Herstellen der Erschaffung einer auf Dauer gestellten Welt und das Handeln dem Faktum menschlicher Pluralität, also der Tatsache, „dass nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“[105]. Verklammert werden die drei Tätigkeiten durch die allgemeinste Bestimmung menschlichen Lebens, dass es geboren wird und sterben muss:

Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.[106]

Die Tätigkeiten stehen einander also nicht grundsätzlich entgegen[107] ; vielmehr bedingen sie sich und bauen aufeinander auf. Diese innere Harmonie der vita activa aber geht verloren oder gerät zumindest in Gefahr, wenn sich das Spektrum, d.i. die Aufgabe und der Ort, dieser Tätigkeiten ändert. Das bedeutet, dass sich damit auch die „Natur der Sache“ selbst ändert; dass öffentlich zur Schau gestellt wird, was eigentlich der Verborgenheit bedürfte, und dass verborgen wird, was eigentlich in den Raum der Öffentlichkeit gehörte[108]. Und genau dies geschah nach Ansicht Arendts mit dem „plötzliche[n] glänzende[n] Aufstieg der Arbeit von der untersten und verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten“[109]. An die Stelle der polis ist die Gesellschaft getreten, der Ort der veröffentlichen (privaten) Ökonomie[110].

Warum aber kam der Arbeit die „verachtetste Stufe“ zu, und warum dann ihr „plötzlicher glänzender Aufstieg“? Und warum änderte sich damit die Natur der Sache, d.i. die polis, und vor allem hin zum schlechteren? Und – last but not least – warum ist es dem Menschen möglich, mit einer solchen Veränderung zu leben, als Mensch zu leben? Wir wollen mit der letzten Frage beginnen und damit auch Arendts anthropologische Grundlagen abschließen.

Die menschliche Bedingtheit – The Human Condition

Jede der Grundtätigkeiten des Menschen steht auch unter einer Bedingung – des Lebens, der Dauer der Welt oder der Pluralität. Alle zusammen werden sie von der Natalität und Mortalität des Menschen bedingt:

Menschen sind bedingte Wesen, weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz verwandelt.[111]

Der Mensch wird ständig beeinflusst und beeinflusst selbst ständig – seine Umwelt, seine Mitmenschen und auch sich selbst (durch den Prozess der Arbeit).

Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur. Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen.[112]

Zugleich verneint Arendt kategorisch, dass sie mit diesen Aussagen über Grundtätigkeiten und Grundbedingungen des Menschen seine Natur bestimmt hätte: „Die Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die ,Natur’ des Menschen sind nicht dasselbe.“[113] Vielmehr sei es „höchst unwahrscheinlich“, dass wir Menschen, die wir

erkennen, bestimmen und definieren können, auch das Gleiche für uns selbst zu leisten imstande sind – als könnten wir wirklich über unseren eigenen Schatten springen.[114]

Keine der Bedingungen vermag den Menschen zu erklären, einfach aus dem Grund, dass „keine von ihnen absolut bedingt“[115]. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Für Arendt gibt es keine Natur des Menschen[116], also kein bestimmtes (bestimmbares) und unabänderliches Wesen[117] ; und der Mensch leibt, selbst unter radikal geänderten Bedingungen, wie etwa „die Abwanderung auf einen anderen Planeten“, immer noch ein Mensch:

Dies würde heißen, dass die Menschen ihr Leben den irdisch–gegebenen Bedingungen ganz und gar entziehen und es gänzlich unter Bedingungen stellen, die sie selbst geschaffen haben. Der Erfahrungshorizont eines solchen Lebens wäre vermutlich so radikal geändert, dass das, was wir unter Arbeiten, Herstellen, Handeln, Denken verstehen, in ihm kaum noch einen Sinn ergäbe. Und doch kann man kaum leugnen, dass selbst diese hypothetischen Auswanderer noch Menschen blieben; aber die einzige Aussage, die wir über ihre Menschennatur machen könnten, wäre, dass sie immer noch bedingte Wesen sind, wiewohl unter solchen Verhältnissen die menschliche Bedingtheit nahezu ausschließlich das Produkt von Menschen selbst wäre.[118]

Das bedeutet, dass es dem Menschen qua Mensch einerlei ist, ob er unter den Bedingungen der Arbeit, des Herstellens oder des Handelns lebt. Im Wechselspiel von Bedingtheit und Bedingung ist es stets seine Welt, eine Welt, in der er Mensch ist.[119]

Anmerkung 1

Bedingtheit statt Natur

In der Vita activa nennt Arendt die (hypothetische) Abwanderung auf einen anderen Planeten die radikalste Veränderung der menschlichen Bedingtheit. Der nationalsozialistische Terror aber erbrachte den Beweis einer solchen radikalen Veränderung – im Konzentrationslager, wie Arendt sie auch in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschreibt:

Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen dem totalen Herrschaftsapparat als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, dass Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist. Hier handelt es sich darum, festzustellen, was überhaupt möglich ist, und den Beweis dafür zu erbringen, dass schlechthin alles möglich ist.[120]

Das Ziel totaler Herrschaft ist es,

to reduce human beings to „bundles of reactions“ with no spontaneity, and while this was achieved only in the camps, these „experiments“ served to train the elite troops in techniques of total domination and to terrify the rest of the population into apathy. The ultimate aim of totalitarism, in other word, is to convert human beings into subhuman creatures, all identical, all incapable of spontaneity, and all equally superfluous.[121]

Und dieses Produkt des Totalitarismus ist dann der Muselmann,

der zerstörte Mensch zwischen Leben und Tod. […] Im Endstadium der Auszehrung war das Knochengerippe von welker, pergamentartiger Haut überzogen, an Füßen und Schenkeln hatten sich Ödeme gebildet, die letzten Muskeln am Gesäß waren eingefallen. Der Schädel schien in die Länge gezogen. Nasenfluß lief über das Kinn herunter. Die Augäpfel waren tief in die Höhlen eingesunken, der Blick war stumpf. Die Glieder bewegten sich langsam, stockend, fast mechanisch. Ein penetranter Gestank ging von der Gestalt aus, Schweiß, Urin, flüssiger Kot, der die Beine herunterrann. Die Lumpen, in die sie sich frierend einhüllte, waren voller Läuse, die Haut war von Krätze befallen. Die meisten litten an Durchfall. Sie aßen alles, wessen sie habhaft werden konnten, verschimmeltes Brot, Käse mit Würmern, rohe Rübenreste, Abfälle aus Kübeln.[122]

Mit Primo Levi möchte man fragen: „Ist das ein Mensch?“[123] Auch wenn der Muselmann, in Arendts Worten, „a speciman of the animal-species man“[124] ist, er bleibt doch Mensch; er lebt in einer von Menschen geschaffenen Welt, die ihn bedingt.[125]

Arendts Ablehnung einer „Natur des Menschen“ rührt von der Erfahrung des Nationalsozialismus und ihrer Analyse der totalen Herrschaft her, wie es Shiraz Dossa ausführt:

What she says explicitly is that a general human nature, or one identical to the nature of inanimate things, does not characterize man. In this spezific sense only can we say that man has no nature unique to him. […] Totalitarian domination is completely inexplicable in those terms [of the traditional view of human nature, A.B.], yet it was the world of men. Her unargued claim is that human nature is not a static, stable property.[126]

Die niedrigste Tätigkeit: Arbeit

Um Arendts Disqualifikation der Arbeit zu verstehen, muss man zuerst die Qualifikationen verstehen, die dem Erscheinungsraum der Arbeit zukommen, der Natur. Die Natur ist der „logical point of departure“ aller Lebewesen und somit auch des Menschen:

Men are initially confronted by the domain of Nature, the „realm of being-forever“, which exists in its unadorned majesty independent of human will and aim.[127]

Natur und Politik

oder: Das Streben nach Unsterblichkeit

Since the things of nature are everpresent, they are not likely to be overlooked or forgotten; and since they are forever, they do not need human remembrance for their further existence. All living creatures, man not excepted, are contained in this realm of being-forever, and Aristotle explicitly assures us that man, insofar as he is a natural being and belongs to the species of mankind, possesses immortality; through the recurrent cycle of life, nature assures the same kind of being-forever to things that are born and die as to things that are and do not change.[128]

Im Wesentlichen ist die Natur damit durch Unsterblichkeit gekennzeichnet, dem todlosen Leben, das durch die Wiederkehr der Gattungsexemplare garantiert und gewährleistet wird: die Gattung Hund ist solange unsterblich, solange es reproduktionsfähige Exemplare Hund gibt. Nämliches würde für den Menschen gelten, wenn er nur als Gattungswesen existierte. Das Prinzip der Natur ist darum das Leben selbst, die kreisförmige Wiederkehr des bloß biologischen Lebens[129].

Solange der Mensch im Einklang mit der Natur lebt, zwingt und fügt ihn

deren überwältigende Elementargewalt […] vermöge des biologischen Lebensprozesses und seines Kreislaufs, in die umgreifende kreisende Bewegung […], in der alles Natürliche schwingt[130].

Diesem Menschen ermangelte es darum an Einzigartigkeit und Geschichte[131]:

From the viewpoint of Nature, man is simply the embodiment of life. He has no history and no deeds. As part of nature man is, like animals, at one with Nature. In this realm there is only life. Death has no meaning since Nature does not and cannot be said to die. Whatever loss it sustains is rapidly replenished in the domain of Nature. Hence the terms growth and decay are inappropriate in the realm of Nature.[132]

Nun unterscheidet sich der Mensch für Arendt aber eben dadurch von Göttern und allen Lebewesen, dass er sterblich ist. Der Mensch ist mehr als ein Gattungswesen; jedem einzelnen eignet „ein individuelles Leben mit einer erkennbaren Lebensgeschichte“[133]. Und diese Individualität des Menschen ist es, die im Konzert mit seinesgleichen das Politische konstituiert: Dinge zu vollbringen, die zwar einzigartig sind, aber dennoch dauern, also nicht unsterblich sind[134]. Doch Sterblichkeit und Unsterblichkeit schließen sich (eigentlich) per se wechselseitig aus: Was sterblich ist, kann nicht dauern, und was währt, kann nicht sterblich sein. Dass es den Menschen als sterblichen Wesen dennoch möglich ist, Unsterblichkeit zu schaffen, ist der Fähigkeit geschuldet, sich erinnern zu können[135]. Die Erinnerung aber bliebe sinnlos ohne einen Gegenstand, dem es zu gedenken gilt – „nämlich die Taten und Worte der Menschen“[136], die die totlose Wiederkehr des natürlichen Lebens unterbrechen[137], d.i. politische Taten. Das menschliche (politische) Leben, im Unterschied zum bloßen (biologischen) Leben, steht demnach im Gegensatz zur Natur – es bedarf eines eigenen, künstlichen Ortes: der Öffentlichkeit der polis [138].

Einem Leben mit der Natur ermangelt darum für Arendt der Möglichkeit, die spezifisch menschliche Fähigkeit, eine individuelle und einzigartige Lebensgeschichte zu verwirklichen[139]. Und dieses defizitäre (natürliche) Leben ist das Leben der Arbeit. Der natürliche Mensch ist folglich der Arbeiter schlechthin, das animal laborans. Der Arbeit ist somit das selbe Prinzip eigen wie der Natur, das schiere (Über-)Leben.[140]

Mutatis mutandis gilt dies auch für das Ewige, das Arendt in Entgegensetzung zur Unsterblichkeit einführt[141]. Als eine rein philosophische Erfahrung wird sie dem einzelnen nur außerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten in völliger Isolation und Selbstverwiesenheit als wesentlich passives Schauen zu Teil. Es steht damit in totaler Abgrenzung und Entgegensetzung zu jeder Tätigkeit wie auch zur Erfahrung der (menschlichen) Unsterblichkeit. Folglich ist die kontemplative Lebensweise, die vita contemplativa, vom Standpunkt des Politischen aus betrachtet nicht weniger defizitär als das Arbeiten: beiden mangelt eine öffentliche, gemeinsame Welt.[142]

Die Pathologie der Arbeit

„Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du dein Kind gebären. […] Und zum Manne sprach er: […]Verflucht sei dein Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. […] Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bist du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.“

(1. Mose 3.16–17)

„The least durable of tangible things are those needed for the life process itself.“[143]

Das Wesen der Arbeit:

Das Leben und animal laborans

„Die Grundbedingung, unter der das Arbeiten steht, ist das Leben selbst.“[144] – In dieser Bedingtheit durch das Leben ist bereits die gesamte Problematik der Arbeit angelegt. Die Notdurft des Körpers, die Bedürfnisse des biologischen Lebens, erzwingen die Tätigkeit der Arbeit. Mit anderen Worten: sie machen den Menschen, insofern er arbeiten muss, animal laborans ist, zum Sklaven der Notwendigkeit, des schieren Am-Leben-Bleiben.[145] Das bedeutet, wie Arendt mit Marx erklärt, dass die Arbeit ein „Prozess zwischen Mensch und Natur [ist], worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“[146].

Auch wenn der Mensch dadurch, im Unterschied zum gemeinen Lebewesen, die Güter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst herstellen kann[147], ändert dies nichts an der Bedingtheit, „that labour ist dictated by man’s biological condition, like the parturition with which it shares a name“[148]. Und da die Arbeit nur die Antwort auf die Bedürfnisse des Lebens ist, ist sie dem Kreislauf des Lebens von Werden und Vergehen eingeschrieben[149] und damit per definitionem unendlich. Solange das Leben währt, muss die Notdurft befriedigt werden, d.i. muss gearbeitet werden[150]. Damit zwingt das Leben die Arbeit in einen Kreislauf:

Its [labour’s, A.B.] products, such as food, are produced only to be consumed in a cycle of endless repetition, leaving behind no durable residue.[151]

Die Arbeit erhält das Leben also lediglich. Anders als das Herstellen, dessen Grundbedingung die Weltlichkeit ist[152], fügt das Arbeiten der Welt der Menschen (eigentlich[153] ) keine auf Dauer gestellten Dinge hinzu:

In der vom Menschen verliehenen Gestalt jedenfalls, durch die sie [die Produkte der Arbeit, A.B.] in der vom Menschen hergestellten Dingwelt für einen kurzen Augenblick erscheinen, als gehörten auch sie dazu, verschwinden sie schneller als irgendeinen anderes Ding. Weltlich gesehen sind sie die unweltlichsten der Weltdinge, und gerade darum auch die natürlichsten Dinge, die der Mensch hervorbringt.[154]

Arbeit aber ist nicht nur unendlich und ohne Bestand, sie ist dem Menschen auch „Mühe und Plage“, den Schmerzen des Gebärens analog[155]. Es ist ein beständiger Kampf gegen den natürlichen Verfallsprozess ums Weiterleben, der sich (positiv) in der Fruchtbarkeit des Menschen zeigt: seinen Nachkommen oder dem Überschuss an Arbeitskraft[156]. Aus dieser Fruchtbarkeit, dem Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, erwächst aber zugleich auch „der Segen der Arbeit“, d.i. „die menschliche Art und Weise, der Seligkeit des schier Lebendigen teilhaftig zu werden, die wir mit allen Kreaturen teilen.“[157] Und schließlich ist die Arbeit, da sie unter dem Diktat der Notdurft des biologischen Lebens steht, zugleich auch die privateste, d.i. weltloseste aller menschlichen Tätigkeiten[158]:

Nichts ist weniger gemeinsam und entzieht sich mit solcher Bestimmtheit der Mitteilbarkeit als körperliche Freuden und Leiden, die Lust und Unlust des Leiblichen, die sich der Sichtbarkeit und Hörbarkeit und damit der Öffentlichkeit entziehen.[159]

Mit dieser Analogie zwischen der Privatheit körperlicher Erfahrungen und der (körperlichen) Tätigkeit der Arbeit schlägt Arendt auch den Bogen zurück zum Sklavischen der Arbeit. Die radikalste Form des Privatseins, d.i. des Für-Sich-Seins (das das Leben in seiner spezifisch menschlichen Ausprägung des inter homines esse [160] geradezu verneint), erfährt der Mensch durch unerträglichen Schmerz oder Sklaverei. Beide Zustände sind durch die Abwesenheit einer freien, freizugänglichen und öffentlichen, d.i. pluralistischen Welt gekennzeichnet.

[...]


[1] Schröder, Gerhard: Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers, S. 5.

[2] Ein „Denkvirus“, bestätigt Ulrich Beck, habe „inzwischen alle Parteien, alle Redaktionen, alle Institutionen befallen […] Nicht dass man wirtschaftlich handeln muß, ist sein Glaubenssatz, sondern dass alle und alles – Politik, Wissenschaft, Kultur – dem Primat des Ökonomischen zu unterwerfen sind.“ (Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung?, S. 203 – Cf. WP, S. 74)

[3] Schröder: Regierungserklärung, S. 5.

[4] Weiter erklärt der Bundeskanzler, dass die Arbeitslosigkeit „zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen [führt]. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie angst [sic!]. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden Mark.“ (ibid., S. 9) – Implizit bestätigt Schröder damit auch den Zusammenhang von Arbeit und Wohlstand.

[5] Cf. Süddeutsche Zeitung, 26.05.1999, S.4.

[6] VA, S. 135. – Diese Zeiten, „in denen der Raum des Öffentlichen sich verdunkelt und der Bestand der Welt so fragwürdig wird, dass die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als dass sie auf ihre Lebensinteressen und Privatfreiheit die gehörige Rücksicht nehme“, nennt Arendt mit einem Wort von Brecht „finstere Zeiten“. (MF, S. 26)

[7] VA, S. 39.

[8] Cf. WP, S. 10f.

[9] VA, S. 40.

[10] Marx, Karl: Das Kapital, zit. nach: VA, S. 123. – Die Einschätzung, dass Arbeit und (politische) Freiheit unvereinbar sind, teilt Arendt mit Marx. Allerdings bestimmt sie, im Unterschied zu Marx, den Menschen gerade nicht als animal laborans. (cf. ZVZ, S. 28f.)

[11] Mit einer Traumquote von 99,987 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von ebenfalls über 99 Prozent, wurde Syriens Präsident Hafis el Assad im Amt bestätigt. Assad regiert seit seiner gewaltsamen Machtübernahme im Jahr 1970. Und doch haben – erstmals – 219 Syrer gewagt, gegen ihren Präsidenten zu stimmen (obwohl doch alle kritischen Geister rechtzeitig eingesperrt oder kaltgestellt wurden). (cf. Süddeutsche Zeitung, 12.02.1999, S. 4 und 7)

[12] Cf. ÜR, S. 40 und ZVZ, S. 205ff. – „Der politisch-öffentliche Bereich ist dann der weltlich sichtbare Ort, an dem Freiheit sich manifestieren, in Worten, Taten, Ereignissen wirklich werden kann, die ihrerseits in das Gedächtnis der Menschen eingehen und geschichtlich werden.“ (ZVZ, S. 207)

[13] Darin ist die Möglichkeit eines Dilemmas begründet: Im Unterschied zur Unfreiheit, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie dem Betroffenen keine Alternative lässt, gewährt die Freiheit immer auch die Freiheit zur – überspitzt gesagt – Unfreiheit: Die Presse- oder Religionsfreiheit umfasst – neben dem Recht sich zu äußern oder an etwas zu glauben und dies auch praktisch, d.i. öffentlich umzusetzen – ganz selbstverständlich auch die Freiheit, nichts zu äußern, keine Zeitung zu lesen oder nichts zu glauben.

[14] „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt.“ (Artikel 20, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland)

[15] Für Habermas ist der Diskurs das oberste Legitimitätskriterium: „Legitime Geltung dürfen nur die juridischen Gesetze beanspruchen, die in einem ihrerseits rechtlich verfassten diskursiven Rechsetzungsprozess die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können.“ (Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, S. 141.) – Und so wenig wie eine Wahl ist auch ein Diskurs nicht ohne die grundsätzlich freiwillige Teilnahme der Bürger, der Rechtsgenossen, zu denken, ohne dadurch sein eigentliches Wesen zu verlieren.

[16] Seit 25 Jahren wächst hierzulande die „Partei der Nichtwähler“ – bei den Landtagswahlen ist sie sogar die zumeist stärkste Gruppierung. Demoskopen und Wahlforscher prognostizieren darum eine finstere Zukunft: es sei nicht ausgeschlossen, dass bald nur noch jeder zweite wahlberechtigte Bundesbürger seine Stimme abgeben wird. (cf. Süddeutsche Zeitung, 14.09.1999, S. 2)

[17] Cf. TH, S. 422ff.

[18] Cf. ibid., S. 218ff.

[19] Cf. Gruppe von Lissabon: Die Grenzen des Wettbewerbs, S. 44f.

[20] Cf. ibid., S. 51ff., sowie: Albrow, Martin: Abschied vom Nationalstaat, S. 189ff.

[21] Cf. Canovan Margaret: Hannah Arendt. A reinterpretation of her political thought, S. 20.

[22] ZVZ, S. 209.

[23] „In society, human beings are bound together, but the concerns that bind them are essentially private, to do with production and consumption in a common economy and a common mass culture. They are united because their needs and desires are the same and are catered for collectively, but the are not gathered around a common world that would allow them to be plural individuals.“ (Canovan: Arendt, S. 117) – Cf. Passerin D’Entrèves, Maurizio: The political philosophy of Hannah Arendt, S. 25.

[24] Politik ist gerade keine „unabweisbare Notwendigkeit“, vielmehr gründet es sich notwendig auf die Abwesenheit der Notwendigkeit. (cf. WP, S. 41)

[25] VA, S. 40f.

[26] „Erst im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen. […] Die deutschen Unternehmen stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle lade ich zu einem Bündnis für Arbeit und Ausbildung ein. […] Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet.“ (Schröder: Regierungserklärung, S. 22)

[27] VA, S. 39.

[28] Zwang und Gewalt stellen die einzigen Mittel dar, „um der Notwendigkeit Herr zu werden – z.B. durch die Herrschaft über Sklaven – und frei zu sein. Die Notwendigkeit, deren Zwang alle Sterblichen unterworfen sind, rechtfertigt die Gewalt; gewaltsam befreien sich die Menschen von der Notwendigkeit, die das Leben auf sie legt, für die Freiheit der Welt.“ (VA, S. 41)

[29] „Die Staatsverwaltung ist dagegen eine Herrschaft über Freie und Gleichgestellte.“ (Aristoteles: Politik I 7, 1255 b18)

[30] Cf. ÜR, S. 9 und 40.

[31] VA, S. 219

[32] Cf. ÜR, S. 37. – „Handeln – ,práxis’ – ist, wie schon Aristoteles definiert, im Unterschied zu den ,poietischen’ Tätigkeiten wesentlich Selbstzweck. Politisches Handeln ist daher die höchste Tätigkeitsweise innerhalb der Vita activa. […] Der Sinn des Handelns liegt nicht in einem äußeren Ergebnis, sondern allein darin, dass Menschen im freien Miteinander ihre Persönlichkeit entfalten.“ (Bielefeldt, Heiner: Wiedergewinnung des Politischen, S. 44)

[33] ÜR, S. 355. – Ein Kriterium, das in Jürgen Habermas’ Faktizität und Geltung als grundlegendes Legitimationskriterium wiederkehrt: Im Diskursprinzip (D) ist die Gleichheit der möglicherweise Betroffenen als Grundbedingung immer schon vorausgesetzt. „D: Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (Habermas: Faktizität, S. 138) Dementsprechend ist die Legitimität positiven Rechts notwendig an die Beteiligung aller dem Rechtszwang Unterworfenen gebunden: „In der Positivität des Rechts gelangt nicht die Faktizität eines beliebigen, schlechthin kontingenten Willens zum Ausdruck, sondern der legitime Wille, der sich einer präsumptiv vernünftigen Selbstgesetzgebung politisch autonomer Staatsbürger verdankt.“ (Ibid., S. 51)

[34] ÜR, S. 35.

[35] „Dabei kann sogar das, was die Öffentlichkeit für irrelevant ansieht, so faszinierend und bezaubernd reizvoll werden, dass ein ganzes Volk sich ihm zuwendet, in ihm eine Lebensform findet, ohne dass es doch deshalb seinen wesentlichen privaten Charakter verlöre.“ (VA, S. 64)

[36] MG, S. 21.

[37] Forrester, Viviane: Der Terror der Ökonomie, S. 85.

[38] „Die Frage, die hier entspringt, macht alle Politik fragwürdig; sie lässt es als fraglich erscheinen, ob unter modernen Bedingungen Politik und die Erhaltung des Lebens miteinander vereinbar sind […]“ (WP, S. 29)

[39] Cf. Forrester: Ökonomie, S. 15.

[40] Cf. Süddeutsche Zeitung, 20./21.08.1999, S. 8.

[41] An einem so existentiellen Thema wie der Kernenergie wird diese Dominanz des Ökonomischen besonders augenfällig: der Protestbewegung der Atomenergie-Gegner, die um den Bestand der Welt fürchten, steht die Gemeinschaft der Kraftwerksbetreiber und ihre Angestellten gegenüber, die um den Bestand von Gewinn und Arbeitsplätzen fürchten. In kleinen Anzeigen weisen die Kraftwerksbetreiber darum regelmäßig in den Tageszeitungen daraufhin, dass der Atomausstieg Arbeitsplätze vernichten würde. 150.000 Arbeitsplätze seien laut Informationskreis Kernenergie „direkt und indirekt mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie verbunden“. Am 9. März diesen Jahres protestieren darum 35.000 Mitarbeiter der Energiewirtschaft für den Erhalt von Atomenergie und Arbeitsplätzen. Unterstützt wurden die Demonstranten von Kollegen aus Frankreich, Holland, Belgien und der Schweiz. (cf. www.kernenergie.de)

[42] ÜR, S. 305.

[43] Die Parteien sind für Arendt „mit ihrem Monopol der Nominierung derer, die überhaupt zur Wahl gestellt werden, nicht mehr als Organe der Volksmacht anzusehen […], sondern vielmehr als die sehr wirksamen Hilfsmittel, durch welche eben diese Macht des Volkes eingeschränkt und kontrolliert wird“. (ibid., S. 347)

[44] Ibid., S. 347.

[45] ÜR, S. 347.

[46] Siehe unten: Das Ende der politischen Freiheit im 21. Jahrhundert?

[47] CR, S. 140.

[48] „If history teaches anything about the causes of revolution […] it is that a disintegration of political system precedes revolutions, that the telling symptom of disintegration is a progressive erosion of governmental authority, and that this erosion is caused by the government’s inability to function properly, from which spring the citizens’ doubts about its legitimacy.“ (CR, S. 69)

[49] Bei den US-amerikanischen Kongresswahlen vom November 1998 lag die Wahlbeteiligung bei nur 38 Prozent, was in etwa dem Wert von vor fünf Jahren entspricht. Mit Sicherheit verrät dieser Prozentsatz, dass die überwältigende Mehrheit der US-Bürger der Wahl wohl anderen Beschäftigungen vorzieht. Entsprechend gering wird man die Bedeutung des Parlaments oder die seiner Stimme (oder auch beider) für das öffentliche Leben einschätzen. (cf. SZ, Nr. 255 (5.11.1998))

[50] Nach einer repräsentativen Untersuchung der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomie in Köln von 1998 ist es mit der Steuermoral in Deutschland nicht weit her: 85 Prozent der Deutschen zweifeln an der Gerechtigkeit des Steuersystems. Eine Unzufriedenheit, die ihren Ausdruck in der „prinzipiellen Bereitschaft“ von 50 Prozent der Bundesbürger findet, Steuern zu hinterziehen. Ein schlechtes Gewissen empfand bei dieser Vorstellung kaum einer: 74 Prozent sind der Meinung, dass die Steuerhinterziehung von Otto Normalverbraucher angesichts der Verschwendung öffentlicher Gelder kaum ins Gewicht fällt. Schließlich glauben 59 Prozent, dass Steuerhinterziehung nicht „unmoralisch“ sei. (Süddeutsche Zeitung/Fürstenfeldbrucker Neueste Nachrichten, 18./19.07.1998, S. 12)

[51] „Where power has disintegrated, [this all is] possible but not necessary.“ (CR, S. 148)

[52] Cf. VA, S. 48.

[53] Im eigentlichen Sprachgebrauch „klassisches Verständnis“; in Abgrenzung zur Antike wird hier jedoch von modernem, d.i. post-antikem Verständnis gesprochen. Das moderne, d.i. zeitgenössische Verständnis von Bürgerrechten konkretisiert sich in Abwehr- und Teilhaberechten. (cf. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 287)

[54] VA, S. 48f.

[55] „In her [Arendt’s, A.B.] view the rise of the social has enabled activities connected to the necessities of life to predominate to the point where the central task of government has become that of steering the economy for the purpose of greater productivity and expanded consumption. Moreover, the exclusive preoccupation with economic matters has resulted in the destruction of the public sphere, where freedom and action could appear, and in the enforcement of predictable patterns of behavior, for every individual is now expected to conform to the dictates of economic necessity.“ (Passerin D’Entrèves: Philosophy, S. 25)

[56] VA, S. 47f.

[57] Ibid., S. 57.

[58] VA, S. 48.

[59] Ibid., S. 53.

[60] Ibid., S. 50.

[61] ÜR, S. 40.

[62] „Alle menschliche Tätigkeiten sind bedingt durch die Tatsache, dass Menschen zusammen leben, aber nur das Handeln ist nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft.“ (VA, S. 33) „What makes Man a political being is his faculty of action; it enables him to get together with his peers, to act in concert, and to reach out for goals and enterprises that would never enter his mind, let alone the desires of his heart, had he not been given this gift – to embark on something new. Philosophically speaking, to act is the human answer to the condition of natality.“ (CR, S. 179)

[63] VA, S. 55.

[64] Ibid., S. 51f.

[65] Joffe, Josef: Blutgeld und Bringschuld, in: Süddeutsche Zeitung, 10.11.1998, S. 4

[66] Cf. Schindler, Roland: Geglückte Zeit – gestundete Zeit, S. 197ff.

[67] Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die Heilige Familie, zit. nach. ZVZ, S. 28.

[68] Cf. ZVZ, S. 29.

[69] „Menschliche Tätigkeiten, die der Notwendigkeit entspringen […] sind daher selbst in den Kreislauf der Natur gebunden; sie können weder Anfang noch Ende haben.“ (VA, S. 117)

[70] Aristoteles: Politik, I 1, 1252a 5f.

[71] VA, S. 150.

[72] Glück ist für Aristoteles bekanntlich das schlechthin vollkommenste Gut, da es „stets rein für sich gewählt wird und niemals zu einem anderen Zweck“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, I 5, 1097a 35f). Diesem Anspruch wird auch die Autarkie gerecht: „Unter dem Begriff ,für sich allein genügend’ [Autarkie, AB] verstehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert macht und nirgends einen Mangel offen lässt.“ (Ibid., I 5, 1097b 14ff.) Und dieses Verständnis von Glück findet Aristoteles in der polis verwirklicht, die „gewissermaßen die Grenze der vollendeten Autarkie erreicht“ hat (Aristoteles: Politik I 2, 1252b 27f).

[73] VA, S. 150.

[74] VA, S. 52.

[75] „Nehmen wir an, der Staat bestehe aus zehntausend Bürgern. Der Souverän kann nur als Ganzes und als Körperschaft betrachtet werden. Aber jeder Einzelne in seiner Eigenschaft als Untertan wird als Individuum betrachtet. So verhält sich der Souverän zum Untertan wie zehntausend zu eins. Das heißt, dass jedes Glied des Staates als seinen Anteil nur den zehntausendsten Teil der souveränen Macht hat, obwohl er ihr ganz und ungeteilt unterworfen ist. Wenn das Volk aus hunderttausend Menschen besteht, so ändert sich die Lage der Untertanen nicht, und jeder steht gleicherweise unter der Herrschaft der Gesetze, während seine Stimme, auf ein Hunderttausendstel verringert, zehnmal weniger Einfluss auf deren Abfassung hat. Während also der Untertan immer einer bleibt, wächst die Verhältniszahl des Souveräns proportional zur Zahl der Bürger. Woraus folgt, dass die Freiheit in dem Maß abnimmt, wie der Staat sicher vergrößert.“ (Rousseau, Jean-Jaques: Vom Gesellschaftsvertrag III, 1, S. 63f.)

[76] „Dieser Akt des Zusammenschlusses [der Gesellschaftsvertrag, A.B.] schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluss aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis, heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit Ihresgleichen.“ (Ibid., I 6, S. 18f. – Hervorhebungen im Original)

[77] CR, S. 137. Wortwörtlich bestätigte dies jüngst der Untersuchungsbericht, der zum Rücktritt der EU-Kommissare geführt hat: „Das Verantwortungsbewusstsein versickert in der hierarchischen Kette. [Es ist niemand zu finden, A.B.] der sich auch nur im geringsten verantwortlich fühlt.“ (zit. nach: Wernicke, Christian: Als wäre nichts gewesen, in: Die Zeit, 25.03.1998, S. 9)

[78] Cf. VA, S. 51.

[79] Cf. CR, S. 137.

[80] Arendt verbindet mit diesem Begriff eine, nach moderner Diktion, Politik- und Gesellschaftskritik: dort bemängelt sie den Mangel an politischer Teilhabe des Bürgers, hier die „Gleichschaltung“ der Öffentlichkeit im Sich-Verhalten. – Cf. Passerin D’Entrèves: Philosophy, S. 46ff.

[81] VA, S. 54.

[82] Cf. ibid., S. 54f. – Ein bestimmtes Sich-Verhalten wird zum gesellschaftlichen Maßstab für das Leben des Einzelnen (cf. ibid., S. 58f.). Dieses Sich-Verhalten aber bedurfte (und bedarf) der Folie, nach der es sich richten kann – und die es als solches überhaupt erst ermöglicht, eine in der Gesellschaft geltende Norm zu etablieren. Eine Folie, die die Ökonomisierung der Öffentlichkeit liefert: Die Wohlfahrt des Gemeinwesens lässt sich als allgemeines Interesse der Gesellschaft formulieren. Schon die liberalen Wirtschaftstheoretiker mussten zu dieser Fiktion greifen, die „mit ,unsichtbarer Hand’ (Adam Smith) das gesellschaftliche Verhalten aller Menschen leitet und so die Harmonie der widerstreitenden Interessen immer wieder herstellt“ (ibid., S.56).

[83]Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an.“ (Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 30 – Hervorhebung im Original)

[84] VA, S. 55.

[85] „If, in accord with traditional political thought, we identify tyranny as government that is not held to give account of itself, rule by Nobody is clearly the most tyrannical of all, since there is no one left who could even be asked to answer for what is being done. It is this state of affairs, making it impossible to localize responsibility and to identify the enemy, that is among the most potent causes of the current worldwide rebellious unrest, its chaotic nature, and its dangerous tendency to get out of control and to run amuck.“ (CR, S. 137f.)

[86] VA, S. 56f.

[87] „A concept of power and law whose essence did not rely on the command-obedience relationship and which did not identify power and rule or land and command. […] what they [the Athenians and Romans, A.B.] actually meant was support of the laws to which the citizenry had given its consent. Such support is never unquestioning […]“ (CR, S. 139f.)

[88] Passerin D’Entrèves: Philosophy, S. 3 (Hervorhebung im Original).

[89] Cf. Beck, Ulrich: Schöne neue Arbeitswelt, S. 7f.; Gruppe von Lissabon: Wettbewerb, S. 70ff.; Süddeutsche Zeitung, 7.08.1999, S. 3; Gaschke, Susanne: Irgendjemand wird schon helfen, in: Die Zeit, 22.07.1999, S. 8.

[90] Guggenberger, Bernd: Das Ende der Abeitsgesellschaft, in: Kemper, Peter (Hrsg.): Die Zukunft des Politischen, S. 100.

[91] Cf. ibid., S. 100.

[92] Sogar Beck, denn der Autor der Risikogesellschaft und Herausgeber der Edition Zweite Moderne, ist beständig auf der Suche nach einem neue Gesellschaftsmodell: „Die Antithese zur Arbeitsgesellschaft ist die Stärkung der politischen Gesellschaft der Individuen, der aktiven Bürgergesellschaften vor Ort, einer zugleich lokalen und transnationalen Bürgerdemokratie in Europa.“ (Beck: Arbeitswelt, S. 12)

[93] Ibid., S. 16.

[94] Forrester: Ökonomie, S. 15.

[95] Cf. Beck: Arbeitswelt, S. 17.

[96] In den westlichen (kapitalistischen) Industriestaaten hat sich die Zahl der Arbeitslosen in den letzten 20 Jahren fast verdreifacht: sie stieg von 11,3 auf mehr als 30 Millionen. (cf. Gruppe von Lissabon: Wettbewerb, S. 70f.)

[97] „Als Echo auf die Frage ,Welchen Nutzen kann ein Leben haben, das nutzlos für den Profit ist?’, […] entsteht eine heimtückische Furcht: das diffuse, aber begründete Erschrecken davor, wie eine große Zahl menschlicher Wesen, vielleicht sogar die meisten von ihnen, als überflüssig angesehen wird. Nicht untergeordnet und auch nicht ausgestoßen, sondern überflüssig.“ (Forrester: Ökonomie, S. 20f.)

[98] VA, S. 13.

[99] Ibid., S. 12f.

[100] Beck: Arbeitswelt, S. 10.

[101] Cf. VA, S. 101f. und ÜR, S. 136.

[102] Dies ist alles andere als eine unbegründete Angst. So weist Viviane Forrester nach, dass der soziale Status, also die Gratifikation einer Arbeit, unmittelbare Auswirkungen auf die Lebenserwartung hat. Platt formuliert: Wer mehr verdient, lebt länger. (cf. Forrester: Ökonomie, S. 46)

[103] VA, S. 16.

[104] Schindler: Zeit, S. 132.

[105] VA, S. 16f.

[106] Ibid., S. 18.

[107] Cf. Passerin D’Entrèves: Philosophy, S. 48.

[108] Cf. VA, S. 96: „Es zeigt sich mit anderen Worten, dass die uns historisch überlieferten Übereinkommen politischer Gemeinschaften über den Ort bestimmter Tätigkeiten und darüber, welche es verdienen, öffentlich zur Schau gestellt zu werden, und welche der Verborgenheit in einem privaten Bereich bedürfen, weder willkürlich noch lediglich historischen Umständen geschuldet sind, sondern in der Natur der Sache selbst liegen.“

[109] VA, S. 119.

[110] Cf. de Weck, Roger: Neuer Aberglaube, in: Die Zeit, 2.09.1999, S. 10.

[111] VA, S. 18.

[112] Ibid., S. 19.

[113] VA, S. 19.

[114] Ibid., S. 20.

[115] Ibid., S. 21.

[116] In The Human Condition erklärt Arendt – prägnanter als in der Vita activa: „Human nature […] does not exist […]“ (HC, S. 193)

[117] Eine solche Bestimmung wären Aristoteles’ Grundaussagen über den Menschen: zoon politikon und zoon logon echon (cf. Aristoteles: Politik I 2, 1253a 9f.) – Cf. Höffe, Otfried: Ethik und Politik, S. 13ff.

[118] VA, S. 20.

[119] Cf. Dossa, Shiraz: The Public Realm and the Public Self, S. 46ff. und Passerin D’Entrèves: Philosophy, S. 34f. – In diesem Sinne antwortet Arendt darum auf die Frage, ob der Mensch sich der Maschine anpassen solle, oder ob umgekehrt die Maschine dem Menschen anzupassen sei, dass diese Diskussion „unfruchtbar bleiben muß […]: da der Mensch ein bedingtes Wesen in dem Sinne ist, dass jegliches, ob er es vorfindet oder selbst macht, für ihn sofort eine Bedingung seiner Existenz wird, hat er sich natürlich der Umgebung der Maschinen in dem Augenblick auch angepaßt, sich von ihnen bedingen lassen, in dem er sie erfand.“ (VA, S. 173)

[120] TH, S. 676.

[121] Canovan: Arendt, S. 60.

[122] Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, S. 229.

[123] Levi, Primo: Ist das ein Mensch?, München 1988.

[124] OT, S. 428.

[125] Cf. WP, S. 25. – Es ist die Welt, die den Menschen, egal wie sie ausgeformt ist, als bedingtes Wesen per se bedingt.

[126] Dossa: Pulic Realm, S. 48.

[127] Dossa: Pulic Realm, S. 51.

[128] BPF, S. 42. (Hervorhebungen von A.B.)

[129] Cf. ZVZ, S. 60 und Dossa: Public Realm, S. 49.

[130] VA, S. 162.

[131] Cf. ibid., S. 214 und ZVZ, S. 61.

[132] Dossa: Public Realm, S. 52.

[133] VA, S. 29.

[134] „Nun liegt die Aufgabe und mögliche Größe der Sterblichen darin, dass sie es vermögen, Dinge hervorzubringen – Werke, Taten, Wort – die es verdienen, in dem Kosmos des Immerwährenden angesiedelt zu werden, und durch welche die Sterblichen selbst den ihnen gebührenden Platz finden können in einer Ordnung, in der alles unvergänglich ist außer ihnen selbst.“ (ibid., S. 29)

[135] Cf. ZVZ, S. 60f.

[136] Ibid., S. 61.

[137] „Das sterbliche Leben der Menschen greift in die Natur ein, tut ihr Gewalt an, stört auf jeden Fall eine Ordnung, die ohne sie in sich selbst ruhen oder schwingen würde in ewigen Kreisen des Immerseins.“ (ibid., S. 59)

[138] Cf. ÜR, S. 36.

[139] „Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allem Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, dass jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist. Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt.“ (VA, S. 214)

[140] Cf. Dossa: Public Realm, S. 52.

[141] Cf. ibid., S. 28.

[142] Cf. Dossa: Pulic Realm, S. 30f. – Siehe unten: Die doppelte Umkehr: Von der vita activa zum animal laborans.

[143] HC, S. 96.

[144] VA, S. 16.

[145] „Arbeiten hieß Sklave der Notwendigkeit sein, und dies Versklavtsein lag im Wesen des menschlichen Leben.“ (ibid., S. 101)

[146] Ibid., S. 117.

[147] Dies impliziert, dass mit dem Bedürfnis des Menschen alles zum Gut, d.i. zur Ware werden kann.

[148] Canovan: Arendt, S. 123.

[149] Cf. VA, S. 117.

[150] Cf. WP, S. 56.

[151] Canovan: Arendt, S. 123.

[152] Cf. VA, S. 16.

[153] Siehe unten: Waste-economy.

[154] VA, S. 115.

[155] Cf. ibid., S. 125.

[156] Cf. ibid., S. 126.

[157] Ibid., S. 126.

[158] Was für heutige Ohren mehr als befremdlich klingen mag, gilt heute die Privatisierung doch gerade als einer der Motoren der (Wirtschafts-)Welt: „Ein wichtiger Sektor nach dem anderen ist vollständig oder teilweise privatisiert worden und zwar aufgrund der Annahme, dass die privaten Marktkräfte die beste Allokation der vorhandenen Ressourcen im besten beiderseitigen Interesse von Produzenten und Verbrauchern ermöglichen würden. Private Finanzierung und private Investitionen werden als der beste Weg angesehen, die Fähigkeiten und die Initiative der Menschen zu mobilisieren. Denn die Markterfordernisse werden als der demokratische Ausdruck gesellschaftlicher Bedürfnisse und als bestes Mittel zur Prioritätensetzung gewertet.“ (Gruppe von Lissabon: Wettbewerb, S. 64f.)

[159] VA, S. 132.

[160] Cf. VA, S. 17.

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
Die Pathologie der Moderne - Hannah Arendt und der Verlust der politischen Freiheit
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für politische Wissenschaft München)
Note
1,55
Autor
Jahr
1999
Seiten
127
Katalognummer
V120436
ISBN (eBook)
9783640241927
ISBN (Buch)
9783640245475
Dateigröße
1101 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pathologie, Moderne
Arbeit zitieren
Dr. Andreas Bock (Autor:in), 1999, Die Pathologie der Moderne - Hannah Arendt und der Verlust der politischen Freiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120436

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