Messianismus und Apokalyptik im Judentum nach dem Anbruch der Neuzeit im religions- und sozialgeschichtlichen Kontext


Magisterarbeit, 2004

140 Seiten, Note: 1,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Entwicklung und Charakterisierung des jüdischen Messianismus
1. Biblische Grundlagen und rabbinische Auslegungen der Vorstellung
vom Messias
2. Messiasgestalten von der Antike bis zum Hochmittelalter

III. Die geistes- und sozialgeschichtliche Situation zum Beginn der Neuzeit
1. Die „Katastrophen“ – Historische Ereignisse als auslösende Faktoren
1.1 1492 – Die Vertreibung der Juden aus Spanien
1.2 1648 – Die Chmielnicki-Massaker in Polen
2. Der Beitrag der Kabbala bei der Ausdifferenzierung des Messiasbildes
2.1 Vorgeschichte und Anfänge der jüdischen Mystik
2.2 Der Sohar
2.3 Die lurianische Kabbala und ihr Messianismus
3. Jüdisch-christliche Beeinflussungen und Wechselwirkungen
4. Christlicher Millenarismus und Messianismus
5. Der jüdische Messianismus am Beginn der Neuzeit

IV. Die einzelnen Messiasgestalten
1. David Reubeni und Schlomo Molcho – Verknüpfung von Politik und Messianismus
1.1 Biographien
1.2 Voraussetzungen, politische Verstrickungen und Nachwirkung
2. Sabbatai Zwi und Nathan von Gaza – messianischer Aufruhr und
folgenreiche Enttäuschung
2.1 Biographien
2.2 Auswirkungen der sabbatianischen Bewegung
3. Jakob Frank – Nihilismus und Antinomismus
3.1 Biographie
3.2 Vorläufiges Ende der messianischen Wogen?

V. Vergleiche und Schlussfolgerungen

VI. Nachwort

Literaturverzeichnis

Anhang

Literarische Verarbeitungen

Lebensdaten von David Reubeni und Schlomo Molcho

Lebensdaten von Sabbatai Zwi und Nathan von Gaza

Lebensdaten von Jakob und Eva Frank

Bildanhang

I. Einleitung

Die vorliegende Darstellung widmet sich einem religionshistorisch hochinteressanten Phänomen aus der Geschichte des nachbiblischen Judentums und konzentriert sich dabei auf eine Zeitspanne von etwa drei Jahrhunderten sowie einige exemplarische Individuen, deren Wirken enorme Erschütterungen, Spannungen, Umbrüche unter den europäischen und orientalischen Juden mit sich brachte und die weitere geistige Entwicklung des Judentums entscheidend beeinflusste. Dabei soll es nicht um judaistische Spezialfragen und Analyse hebräischer Quellen gehen, sondern das Hauptanliegen besteht in einer religionswissenschaftlich fundierten und vergleichend orientierten Untersuchung der kultur-, sozial- und religionshistorischen Umstände, der Biographien und Nachwirkungen dieser ausgewählten Gestalten, die versucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und Erklärungsansätze für das Phänomen zu bieten.

Personen, die sich selbst oder anderen als Messias galten und eine messianische Bewegung begründeten, hat es in der langen jüdischen Geschichte immer wieder gegeben. Die theologische Grundlage dafür bildet der der jüdischen Religion immanente Messiasgedanke, der seit dem babylonischen Exil kontinuierlich von der Verknüpfung mit der Funktion des Königs gelöst wurde und seitdem immer präsent, epochenabhängig aber verschieden intensiv und akut war. Im Rahmen der antiken Widerstandsbewegungen der Juden gegen fremde Herrscher im Land tauchten mehrere messianische Gestalten auf, und auch im Mittelalter entfalteten diverse Messiasse ihre Aktivität. Mit dem Anbruch der Neuzeit jedoch kommt es innerhalb der jüdischen Welt zu einem gehäuften Auftreten von Messiasgestalten mit überraschender Breitenwirkung, das zum Teil aus historischen und geistigen Gegebenheiten und Ursachen heraus verstanden werden kann, sicherlich aber auch eine letzten Endes frappierende Eigendynamik entwickelte, die in der Bewegung des Sabbatai Zwi ihren Höhepunkt erreichte.

Die Gründe und Ursachen können einesteils in den historischen Ereignissen, die der Epoche der Frühen Neuzeit vorausgingen bzw. diese einleiteten, gesucht werden (Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal, Massenzwangstaufen, Institutionalisierung der Inquisition, Reformation und Protestantismus etc.); es muss jedoch auch die innerjüdische geistesgeschichtliche Entwicklung betrachtet werden, die vor allem in Gestalt der Kabbala, der jüdischen Mystik, eine nicht unerhebliche Rolle bei der Ausbildung des Messiasbildes, auf das sich dann besonders Sabbatai Zwi und Jakob Frank berufen sollten, spielte. Ebenso muss eine Untersuchung der gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und der religions- und sozialgeschichtlichen Umstände des jüdischen Messianismus zu Beginn der Neuzeit auch einen Vergleich zum zeitgenössischen christlichen Millenarismus und Messianismus, zu christlicher Apokalyptik und Eschatologie beinhalten.

In einem zweigeteilten theoretisch-historischen ersten Hauptschwerpunkt werden das Konzept und die Geschichte des Messias und des Messianismus im Judentum kurz analysiert sowie die historischen und geistigen Voraussetzungen dargestellt.

Danach werden im zweiten Hauptschwerpunkt der Arbeit die drei wichtigsten, bekanntesten und breitenwirksamsten jüdischen Messiasgestalten der Neuzeit vorgestellt: David Reubeni, Sabbatai Zwi und Jakob Frank, im Falle der beiden ersteren unweigerlich in engster Verbindung mit ihren jeweiligen „Propheten“, ohne die wohl keine der Gestalten auf ein derartiges Echo gestoßen wäre. Neben biographischen und wirkungsgeschichtlichen Aspekten dieser Personen werden Verbreitung, Rezeption, Charakteristika und Weiterentwicklungen ihrer Lehren, innerjüdische Auswirkungen wie auch Verbindungen zur (nichtjüdischen) Politik dargestellt. Möglicherweise lassen sich bei aller erkennbaren Verschiedenheit der Protagonisten, der Voraus- und Zielsetzungen doch ähnliche und vergleichbare Ausgangspunkte und Verarbeitungen innerhalb der jüdischen Geschichte und im Vergleich zur christlichen Geistesgeschichte dieser Epoche herausarbeiten, so dass ein größerer Zusammenhang als bei der Einzelbetrachtung eines Messias hergestellt würde.

Bewusst wird das Anfangskapitel über die Entstehung und Entwicklung der Messiasidee im Judentum knapp gehalten, existiert doch dazu eine umfangreiche Forschungsliteratur und verbreitete Kenntnis. Aus den gleichen Gründen fällt der Teil über Sabbatai Zwi – den im Vergleich zu David Reubeni und Jakob Frank einflussreichsten und breitenwirksamsten Messias – weniger umfangreich aus. Auch hier ist der Forschungsstand aufgrund der guten Quellenlage seit Gershom Scholem schon weit fortgeschritten, und an die Stelle der ursprünglichen Dämonisierung des „falschen Messias“ Sabbatai Zwi ist Faszination und Interesse für seine Person getreten. Dagegen ist die Rezeption David Reubenis und Jakob Franks in diesem Stadium noch nicht angelangt: hier herrschen meist Unkenntnis und Ignoranz, gepaart mit Misstrauen und Vorwürfen, vor, was sicherlich u.a. auf die noch ungenügende neuere Forschungsliteratur zurückzuführen ist. Während zu Jakob Frank wenigstens die umfang- und quellenreiche Dissertation von Klaus Davidowicz aus dem Jahre 1998 vorliegt, existiert zu David Reubeni überhaupt keine neuere Monographie. Hier ist man auf die Arbeit von Julius Voos aus dem Jahre 1933 angewiesen, will man eine Gesamtdarstellung der Aktivitäten David Reubenis und Schlomo Molchos erhalten. Aufgrund der Tatsache, dass nur recht verstreute und teilweise widersprüchliche Informationen über David Reubeni auffindbar sind, wird in seinem Abschnitt eine Fusion der existenten Literatur und eine ausführliche Einbettung seines Wirkens in die zeitgeschichtlichen Umstände versucht. Als erster der hier behandelten Repräsentanten des neuzeitlichen Messianismus, dessem Auftreten die vielleicht umwälzendsten welthistorischen Ereignisse vorausgingen, erfährt er in seinem Kapitel eine eingehende Würdigung.

Die bereitwillige, um nicht zu sagen frenetische Aufnahme zweier Messiasse (David Reubenis und Sabbatai Zwis) wurde getragen und begünstigt durch die Verzweiflung und den Schock nach den beiden – neben der Beendigung der deutsch-jüdischen Epoche durch den Holocaust – einschneidendsten Ereignissen in der Geschichte und im kollektiven Gedächtnis der Juden: die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 und die Chmielnicki-Massaker in Polen im Jahre 1648, die als Geburtswehen des Messias interpretiert und kabbalistisch gedeutet wurden und die Erlösungssehnsucht steigerten.

Die drei messianischen Gestalten sind – neben persönlichem Interesse – ausgesucht worden, da sie jeweils ein Jahrhundert repräsentieren, das sie mit ihrem Auftreten prägten: David Reubeni das 16. Jahrhundert (er wirkte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts), Sabbatai Zwi das 17. Jahrhundert, in dessen zweiter Hälfte er auftrat, und Jakob Frank das 18. Jahrhundert. Und obgleich die drei Messiasse in unterschiedlichen Regionen (David Reubeni in Italien und auf der Iberischen Halbinsel, Sabbatai Zwi im östlichen Mittelmeerraum, Jakob Frank in Mitteleuropa) auftraten, erstreckte sich ihr Einfluss zeitweise auf ganz Europa inklusive dem weiteren Mittelmeerraum. Eine weitere interessante und näher zu bearbeitende Parallele besteht in der Konversion zweier Messiasse, die die Entwicklung einer rechtfertigenden Theologie erforderlich machte.

Die moderne hebräische Forschungsliteratur konnte leider wegen zu rudimentärer Kenntnisse des Hebräischen nicht berücksichtigt werden; wahrscheinlich wäre dies in meiner Magisterarbeit, die nicht in die Tiefe eines ganz speziellen und begrenzten Gegenstandes dringen will, sondern mit einer eher übergreifenden und vergleichenden Zielsetzung religionswissenschaftlich verwertbare Ergebnisse hervorbringen will, auch nicht zu leisten gewesen. Erwähnt werden sollen innerhalb der hebräischen Literatur in jedem Fall die Arbeiten von Aaron Zeev Aeshcoly, der den Reisebericht David Reubenis ausführlich ediert hat und eine quellenorientierte Geschichte der messianischen Bewegungen im Judentum verfasst hat. Doch waren mir diese Quellen auch andernorts zugänglich, liegen doch umfangreiche Auszüge aus dem Reisebericht in deutscher Übersetzung bei Reinhold Mayer vor, ebenso wie in englischer Übersetzung im Buch von Harris Lenowitz, wo sich in jedem Kapitel zu den einzelnen Messiasfiguren ausführliche Quellen finden.

Neben der wissenschaftlichen Literatur sei besonders auf einige literarische Verarbeitungen des Messiasstoffes von meist jüdischer Seite hingewiesen, die im Anhang aufgelistet sind – auch hier steht, ähnlich wie in der wissenschaftlichen Forschung, oft die Geschichte Sabbatai Zwis im Zentrum der Aufmerksamkeit.

II. Entwicklung und Charakterisierung des jüdischen Messianismus

1. Biblische Grundlagen und rabbinische Auslegungen der Vorstellung vom Messias

Sigmund Freud hat in seinem “Moses“-Buch die Ansicht geäußert, dass die wichtigste Grundlage des jüdischen Messianismus in der bei Hosea und anderen Propheten angedeuteten Erhebung der Israeliten gegen den Ägypter Moses, der ihnen den Monotheismus des Pharaos Echnaton übermittelt hatte, seinem gewaltsamen Tod und der Abwendung von seiner Religion zu suchen ist: „Es ist eine ansprechende Vermutung, dass die Reue um den Mord an Moses den Antrieb zur Wunschphantasie vom Messias gab, der wiederkommen und seinem Volk die Erlösung und die versprochene Weltherrschaft bringen sollte.“[1] Der Moses-Mord wiederholte den Mord am Urvater und wurde so zu einer traumatischen Erfahrung. Der messianische Gedanke im Judentum wird also bei Freud als psychisches Produkt gedeutet, der ebenso tief wie lange in der jüdischen Geistesgeschichte verankert und untrennbar mit der Entstehung des jüdischen Monotheismus verbunden ist. Aus historisch-textkritischer Sicht stellt sich jedoch die Frage, warum die Messiaserwartung erst in den Texten einer relativ späten Phase der jüdischen Geschichte ausgedrückt wird und es noch später zu messianischen Bewegungen kommt, die sich an der Selbst- bzw. Fremddefinition einer konkreten Person als Messias und in speziellen historischen Situationen entzündeten. Der jüdische Messianismus ist also nicht unverändert seit den Uranfängen der jüdischen Geschichte geblieben, sondern hat seit seiner Entstehung eine eminente Entwicklung durchgemacht und Verdichtung erfahren und ist ohne Betrachtung der entsprechenden historischen Ereignisse und Erfahrungen, die möglicherweise Schwerpunktverschiebungen in der Idee vom, im Glauben an und in der Aufnahme eines Messias verursachten, nicht zu verstehen.

Laut ‚Neuem Lexikon des Judentums’ ist der Messias „der gesalbte König Israels, der in der letzten Phase der Geschichte auftreten wird, um den Umbruch der Zeiten, d.h. Heil und Verdammnis, anzukündigen. Gewöhnlich wird der Messias als ein Nachkomme König Davids verstanden. Mit dem Erscheinen des Erlösers verband das Volk u.a. die Vorstellung von der Wiederherstellung des jüdischen Königreichs (Haus David) und der Wiedererrichtung des Tempels, verbunden mit Frieden für die Juden und die Welt.“[2] Welche auf den Messias bezogenen Texte und Aussagen in der Hebräischen Bibel liegen diesem Befund zugrunde?

Der Ursprung des Messias-Begriffs ist in Leviticus 4, Vers 3, 5 und 16 zu finden, wo das hebräische Wort Maschiach (‚gesalbt’, von der Wurzel Maschach = salben, ölen) in Bezug auf den Hohepriester erscheint. Neben ihrer Verbindung mit priesterlichen Funktionen fand diese Bezeichnung auch auf andere Personen, die eine göttliche Aufgabe zu erfüllen hatten wie Könige und Propheten, Anwendung. Waren die Propheten eher im geistigen Sinne Gottes Gesalbte, so ist das Verständnis des Königs als Gesalbten eng mit der historischen Entstehung des Königtums in Israel verknüpft, werden doch seine ersten Repräsentanten, Saul und David, durch den Propheten Samuel zu Königen gesalbt, wodurch sie eine gegenüber dem vorherigen Richteramt herausgehobene Stellung im Volke Israel erhielten und die Grundlage für die staatliche Einigung der Israeliten gelegt wurde. In den frühen Texten zeigt sich demnach eine Bindung des Messias-Begriffs an eine bestimmte Funktion und Rolle, nicht primär an eine Person: „The Term was applied to three sorts of human social functions and […] had to do with anointing those who performed them in their functions“[3]. Charakteristisch für jede der drei Rollen (König, Priester, Prophet) ist die besondere Beziehung zum Göttlichen wie auch das Herausgehobensein vom Rest der Menschen. Der in den verschiedenen Funktionen, die mit dem Begriff Messias bezeichnet werden, angelegte Konflikt zwischen einer politisch-militärischen (König) und einer geistig-religiösen Figur (Priester, Prophet) ist deutlich erkennbar in die spätere Messiasidee eingegangen.

Von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft werden nur zwei vorprophetische Texte des Alten Testaments als explizit messianisch in ihrer Aussage anerkannt: 1.) Der Jakobssegen (1. Mose 49,10): „Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass einer[4] komme, und ihm werden die Völker anhangen.“

2.) Der Bileamssegen (4. Mose 24,17): „Es wird ein Stern[5] aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen…“

In einem äußeren und inneren Prozess, mit dem Wegfall des Rituals der Salbung, dem Verlust der staatlichen Ordnung etc. veränderte sich dieses Messiasbild und wurde persönlicher: „Gradually, these three different roles are transformed and at last combined in a single figure by the postexilic period who would be capable of performing all three functions.“[6] Daher sind Messiaskonzepte in religionswissenschaftlicher Hinsicht „umfunktionierte Herrschaftstitel“[7]. Diese Komprimierung ließ so unterschiedliche Interpretationen und Erklärungen der Rolle des Messias zu, dass die vorhandenen Erwartungen immens variierten und von späteren Messiassen immer, auch im Falle des Versagens, in der einen oder anderen Weise erfüllt werden konnten.

Die Idee eines persönlichen Messias festigte sich aber erst, nachdem Israel im

6. Jahrhundert v. Chr. unter Fremdherrschaft geraten war und sich die Davidische Königslinie verlor. Die Sehnsucht nach Erlösung aus dem Exil verdichtete sich zur Erwartung der Person eines Erlösers. Nun wurde der Messias zu einer zukünftigen, von König David abstammenden Gestalt, der das Volk befreien, die

staatliche Souveränität wiederherstellen und den zerstörten Jerusalemer Tempel wiederaufbauen würde. Individuelle Charakteristika und Qualitäten des zukünftigen Königs werden besonders bei dem Propheten Jesaja ausgearbeitet. Damit verbunden war die Wandlung in der Interpretation der an verschiedenen biblischen Stellen erwähnten „zukünftigen Zeit“ (Acharit hajamim), die nun entweder als eschatologische Endzeit oder als ein – in einer visionären Schau geoffenbartes – völlig neues Zeitalter nach katastrophaler Zerstörung der vorangegangenen Ordnung verstanden wurde.

Wie schon ansatzweise im Pentateuch, so wird bei den Propheten die jüdische Messiaserwartung nun ganz deutlich eng mit der Endzeit verbunden. In den meisten der prophetischen Bücher schwingen eschatologische Gedanken und Vorhersagen mit, doch sie gehen sogar über die Ereignisse der letzten Tage hinaus, indem sie sich ebenfalls mit Tod, Auferstehung und Leben nach dem Tod befassen.

Die Propheten des Nordreichs Amos, Hosea und Jona bringen die zukünftige Erlösung mit dem Königshaus Davids in Verbindung, von dem das Nordreich Israel seit seiner Trennung vom Südreich Juda im frühen 10. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr reagiert wurde.

Die Propheten Judas müssen unterteilt werden in diejenigen, die vor der babylonischen Gefangenschaft auftraten (Obadja, Joel, Zephanja, Habakuk, Micha, Jesaja, Jeremia) und diejenigen, die während des Exils wirkten (Hesekiel, Daniel). Von den vorexilischen Propheten treten bei Micha, Jesaja und Jeremia am deutlichsten messianische Aspekte zutage. Jesaja wendet den Messiastitel sogar auf den persischen König Kyros an, der die Rückkehr der Juden nach Jerusalem gestattete. In den von Erlösungshoffnung durchtränkten Visionen der Exilpropheten Hesekiel und Daniel spiegeln sich die historischen Ereignisse der Eroberung Judas durch die Babylonier, der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Wegführung ins Exil wider.

Die nachexilischen Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi konzentrierten ihre messianischen Hoffnungen auf den neuen Tempel, der kurze Zeit später unter Esra und Nehemia wieder errichtet werden sollte.

Unterschiedliche Auffassungen gab es über die Frage, ob der Messias die Endzeit erst einläuten werde oder ob der Beginn der Endzeit die Bedingung für das Erscheinen des Messias sei, der dann zum Symbol der Erlösung wird (wie in der Eschatologie der Qumrangemeinde). Doch die messianische Ordnung ist auch ohne persönliche Erlöserfigur denkbar, wie Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels, z.B. die apokryphen Bücher Tobit und Ben Sira zeigen, die sich auf eschatologische Rettung beziehen, ohne einen Messias zu erwähnen. In der nachexilischen Epoche existierten also noch konkurrierende Messiaskonzepte mit dem einzigen gemeinsamen Aspekt der Davidischen Abstammung des Messias. Diese wird insbesondere in den Psalmen, die wahrscheinlich im 1. Jahrhundert v. Chr. geschrieben oder kompiliert, aber als von König David verfasst angesehen wurden, betont. Nach Klausner ist das ganze Buch der Psalmen durchdrungen von einem Unterton der Heilserwartung, wobei nicht die messianische Idee, sondern eher das messianische Motiv ein Hauptthema der Psalmen ist.

Die um die Zeitenwende innerhalb des Judentums existierenden religiösen Parteien unterschieden sich stark in ihrer Haltung zu Apokalyptik und Messianismus: „Die Sadduzäer, Partei der Priester und Herrschenden, lehnten jede übernatürliche Eschatologie ab. Die Pharisäer, Partei der Rabbinen und des Volkes, beschritten einen Mittelweg zwischen den Erfordernissen der Realität und der Hoffnung auf eine endzeitliche Erlösung. Eine dritte Gruppe verlor sich in apokalyptischen Spekulationen. Zu ihr gehörten wohl die Essener, die Gruppe um Johannes den Täufer, die frühen Christen und verschiedene weitere religiöse Gruppierungen der damaligen Zeit.“[8] Allgemein bleibt während der römischen Besetzung des Landes die Sehnsucht nach Erlösung stark, äußerte sich jedoch unterschiedlich: die Hoffnung auf eine baldige, eventuell kriegerisch forcierte diesseitige Befreiung wechselte ab mit utopischen endzeitlichen Erwartungen.

Wesentlich neue Züge hat die talmudische Entwicklung nicht zum Messiasbild hinzugefügt, stattdessen bemühten sich die Rabbinen, Fragmentarisches und Unverständliches der biblischen Texte zu ergänzen und ein kohärentes Bild zu entwickeln. In den Jahrhunderten der Entstehung des Talmuds wurde tendenziell vermieden, über heikle messianische Weissagungen zu sprechen, die christlich interpretiert werden könnten. Außerdem waren die Rabbinen nicht an offenen Aufständen gegen Rom interessiert, weshalb sie mit kriegerischen Aktivitäten verbundenen endzeitlichen Erwartungen eher skeptisch gegenüberstanden.

Dennoch finden sich im Talmud messianische Aussagen wie „Alle Propheten weissagten nur von den Tagen des Messias“ und „Die Welt wurde nur für den Messias geschaffen“ (Berachot 34b, Sanh 98b und 99a). Talmudisch ist auch die sogenannte Elia-Überlieferung, die an die Grundzüge der christlichen Lehre von der Endzeit und vom Tausendjährigen Reich erinnert: „Im Lehrhaus Elias wurde gelehrt: 6000 Jahre währt die Welt: 2000 Jahre Wirrung, 2000 Jahre Weisung und 2000 Jahre Messias-Zeit. Aber wegen unserer Verschuldungen, die zahlreich geworden, sind von ihnen dahingegangen, wie sie eben dahingegangen sind.“ (Sanh 97a, b). Hier entwickeln die Rabbinen und Kompilatoren des Talmud einen Heilsplan, der mit der Schaffung der Welt beginnt und den Tagen des Messias endet, zeigen aber gleichzeitig auch eine Erklärung für das Ausbleiben des Messias auf. Ähnlich offen für divergierende Interpretationen lautet eines der berühmtesten Worte über den Messias aus dem Talmud: „Der Sohn Davids kommt nur in einem Zeitalter, das ganz würdig oder ganz schuldig ist.“ (Sanh 98a)

Dem Messias ben David, d.h. dem eschatologischen König, wird in den Targumim ein sekundärer Messias ben Joseph (oder Ephraim) vorangestellt, ein Leidens-Messias, der im Kampf mit den Feinden Israels notwendigerweise den Tod finden muss, um dem Erlöser-Messias den Weg zu bereiten. Diese endzeitlichen Kriege werden visionär im pseudepigraphischen Buch Serubbabel beschrieben (6./7. Jh.), um das sich eine umfangreiche apokalyptische Literatur gruppierte, deren einflussreichstes Erzeugnis das Buch „Otot Maschiach“ (Zeichen des Messias) war, das eine Art „Gebrauchsanweisung“ zum Erkennen des Messias lieferte.

Als in der jüdischen Geschichte oft anwendbare und angewendete Idee erwies sich die rabbinische Überzeugung, dass katastrophale Ereignisse und Heimsuchungen als „Geburtswehen des Messias“ (Cheble maschiach) interpretiert werden müssen; verdammt wurden jedoch jegliche Endzeitberechnungen und Kalkulationen.

Viele Motive, die bei späteren konkreten Messiasgestalten auftauchen, werden erst im Talmud ausgearbeitet, z.B. die Überzeugung, dass der Messias am Tag der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (9. Av) geboren, auf einem Esel reitend kommen und unter den Aussätzigen vor den Toren Roms, dem Zentrum des feindlichen Christentums, sitzen werde. Basierend auf der Entwicklung individueller Charakteristika setzte sich die Vorstellung eines persönlichen Messias von Davidischer Abstammung endgültig durch, was dazu beitrug, dass es seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. zum ersten Auftreten messiasähnlicher Gestalten kam (z.B. Juda der Galiläer, der Gründer der Zeloten, oder Judas Makkabäus), die jedoch noch im Kontext der jüdischen Rebellionen gegen Fremdherrschaft und Okkupation agierten und eher den königlichen, politischen Aspekt der Messiasrolle verkörperten. Hier – und vor allem beim etwas späteren Bar Kochba-Aufstand – können die Anfänge der messianischen Bewegungen im Judentum angesetzt werden, und „the early Jewish rebellions following the exile establish the model of messianic movements for Judaism“[9]. Nach dem missglückten Aufstand um Bar Kochba und der Erfahrung, dass messianischer Aktivismus in den Untergang führte sowie der Akzeptanz der Machtlosigkeit und Unsicherheit des Diasporadaseins wurden die auf nationale Restauration gerichteten Aspekte der Messiasidee in der talmudischen Literatur spiritualisiert – Werblowsky[10] spricht von „theologisch legitimierter Passivität“ der Rabbinen, was aber dennoch in keinster Weise die akute Sehnsucht nach Erlösung und das Hervorbrechen messianischer Aktivität verhindern oder unterbinden konnte. Und so wird nach Scholem bei jedem dieser Ausbrüche sofort die unversöhnliche Spannung zwischen der messianischen und der rabbinischen Autorität spürbar.

2. Messiasgestalten von der Antike zum Hochmittelalter

Viele der im Folgenden beschriebenen Personen werden oft mit dem Begriff ‚Pseudo-Messias’ belegt, einem Ausdruck, den Gershom Scholem für „töricht“[11] hielt, „wenn durch dieses Wort die ungeheure Gespanntheit des Messianismus aufgelöst werden soll, indem das Gewicht auf ‚Pseudo’ gelegt wird“[12]. Es verkennt die innere, existenzielle Widersprüchlichkeit im Wesen des jüdischen Messianismus, die durch das Auftreten von Messiasgestalten sichtbar wird und sich entlädt, aber nicht aufgelöst wird. „Es gibt, genau verstanden, jenes Konkrete gar nicht, das von nichterlösten Wesen vollzogen werden könnte. Das macht die Größe des Messianismus aus, aber auch seine konstitutionelle Schwäche.“[13]

Stattdessen hat Scholem, besonders in Bezug auf Sabbatai Zwi, den neutraleren und angemesseneren Terminus des „mystischen Messias“ geprägt, der als bedeutendstes Ergebnis der von der lurianischen Kabbala vorgenommenen Zusammenführung von Mystik und Messianismus anzusehen ist. Hinsichtlich der Anfänge der messianischen Bewegungen im Judentum muss man jedoch eher von „politischen Messiassen“ sprechen, da die Ziele überwiegend restaurativer Natur waren und mit kämpferischen oder diplomatischen Mitteln erreicht werden sollten.

Abgesehen von Jesus von Nazareth traten während der römischen Besetzung des Landes diverse Messiasgestalten auf, beispielsweise die in der Apostelgeschichte (5, 36f.) erwähnten Theudas und Juda der Galiläer sowie dessen Sohn oder Enkel Menachem, dessen aktive Zeit schon ins Vorfeld des Ersten Jüdischen Krieges fiel, und Simon bar Giora, der wohl bedeutendste messianische Führer dieses Krieges, der mit der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Einnahme der Festung Massada im Jahre 73 endete. Weitere Spannungen und bewaffnete Auseinandersetzungen begleiteten die nächsten Jahrzehnte und gipfelten im Bar Kochba-Aufstand und Zweiten Jüdischen Krieg.

Nach Sabbatai Zwi ist Simon bar Kochba, der in den Jahren 132 bis 135 den großen Aufstand gegen die Römer unter Kaiser Hadrian anführte, der bekannteste jüdische Messias. Nur wenig biographisches ist zu seiner Person überliefert, selbst die Schreibweise seines Namens variiert wegen der fehlenden Vokalisierung im Hebräischen bzw. Aramäischen. Da Simon bar Kochba weder davidischer noch priesterlicher Abstammung war, wählte er für sich selbst den Titel Nasi (Fürst), verstand sich also nicht als Messias, als der er aber von seinem Zeitgenossen Rabbi Akiva, einem der berühmtesten Rabbinen überhaupt, offiziell bestätigt wurde, wie im Talmud überliefert: „Rabbi Akiva sagte nämlich, als er den Bar Koshba sah: Dieser ist der König Messias.“ (tib Taanit 4, 8, 68d) Diese Proklamation Bar Kochbas zum Messias durch Rabbi Akiva muss als Prototyp und Vorbild aller späteren Akte dieser Art angesehen werden, z.B. auch bei Nathan von Gaza, dem Propheten des Sabbatai Zwi.

Ob die überraschenden militärischen Anfangserfolge der Aufständischen eine Eroberung Jerusalems und die erneute Einrichtung des Opferdienstes im zerstörten Tempel einschlossen, ist umstritten. In jedem Fall löste das Geschehen eine ungeheure Begeisterung aus und wurde im messianischen Kontext interpretiert, was sich beispielsweise an den unter der kurzen Herrschaft Simon bar Kochbas geprägten Münzen, die allesamt überprägte römische Münzen waren, zeigte, die die Aufschrift „Jahr eins für die Erlösung Israels“ trugen. Schon bald aber gewann die römische Militärmaschinerie die Oberhand: der Aufstand wurde grausam niedergeschlagen, Bar Kochba getötet, Rabbi Akiva zu Tode gefoltert, auf den Trümmern des jüdischen Heiligtums ein Jupitertempel errichtet, Jerusalem, das Juden nicht mehr betreten durften, in Aelia Capitolina umbenannt und die Ausübung fast aller jüdischen Bräuche verboten. Ernüchterung folgte: „Die größte Enttäuschung seiner Messiaserwartung erlebte das jüdische Volk, als Rabbi Akiba Simon Bar-Kochba zum Messias ausrief. Die auf diesen verhängnisvollen Fehlgriff folgende militärische Katastrophe drängte das messianische Denken völlig zurück und führte zu einem vereinfachten halachischen Judentum, in dem die Gesetzesvorschriften zu unumstößlichen Regeln wurden.“[14]

Aus den Jahrhunderten nach dem Bar Kochba-Aufstand, der die Zurücknahme bzw. Transzendierung des messianischen Gedankens im Talmud nach sich zog, sind so gut wie keine messianischen Gestalten oder Bewegungen überliefert. Die Hoffnung auf Erlösung und Ende des Exils jedoch blieb unverändert bestehen und wurde von Zeit zu Zeit durch gewisse Ereignisse genährt, wie beispielsweise die Erteilung der Erlaubnis zum Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels durch den römischen Kaiser Julian Apostata, die in der jüdischen Diaspora einen ungeheuren Enthusiasmus und eine Renaissance messianischer Hoffnungen hervorrief. Schon wurde Geld zur Finanzierung des Tempelbaus gesammelt und eine allgemeine Aufbruchstimmung griff um sich, als mit dem Tod Julians die gerade begonnenen Arbeiten wieder eingestellt wurden. Kein Messiasprätendent erschien in den 360er Jahren, um die akuten Erwartungen zu bündeln.

Erst in der Mitte des 5. Jahrhunderts, einer aufgrund talmudischer Vorhersagen für das Kommen des Messias prädestinierten Zeit, behauptete Moses von Kreta, ein Prophet zu sein, der die Juden – parallel zu seinem Namensvorgänger – trockenen Fußes durch das Mittelmeer ins Heilige Land bringen wolle, indem er es teile. Viele seiner Anhänger ertranken beim Fehlschlagen dieser Aktion, während die Überlebenden zum Christentum konvertierten. Moses von Kreta aber verschwand zusammen mit dem Besitz und Geld seiner Anhänger.

Nach dem Zerfall des Römischen Reiches wurde der östliche Reichsteil von energischen Angriffen der persischen Sassaniden, mit denen schon langanhaltende Konflikte bestanden, heimgesucht. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts unternahmen sie erneut einen Vorstoß, der von den Juden mit Genugtuung und Jubel begrüßt wurde und fieberhafte Erlösungshoffnungen auslöste. Viele Juden schlossen sich den persischen Heeren im Land an und gingen militant gegen Christen vor.

„Jüdische Aufständische hatten erheblichen Anteil an der Eroberung Galiläas. Der Kern der jüdischen Erhebung scheint Tiberias gewesen zu sein, wo ein reicher Jude namens Benjamin sein Vermögen für den Aufstand einsetzte. […] Einen Höhepunkt bildete die Eroberung Jerusalems im Jahre 614. Die Perser übergaben die Stadt jüdischen Siedlern, an deren Spitze eine messianische Gestalt mit Namen Nechemja ben Huschiel stand […]. Vielleicht hat Nechemja sogar versucht, den bisher unmöglich gemachten Tempeldienst wieder aufzunehmen.“[15] Diese kurze Episode endete mit einem Waffenstillstand zwischen Persien und Byzanz und der kurze Zeit später erfolgten christlichen Rückeroberung Jerusalems.

Mit der Ausbreitung des Islams ab dem 7. Jahrhundert kam es zum Erscheinen diverser Messiasgestalten unter den in der muslimischen Welt lebenden Juden, von denen nur wenige Informationen bekannt sind, wie bei dem Ersten in dieser Reihe, der schlicht als „Der syrische Messias“ bezeichnet wird, sich um 643 als Messias proklamierte, eine militärische Revolte in Syrien anzettelte und daraufhin von den Machthabern gekreuzigt wurde. Um 720 lebte Serenus, ein ursprünglich syrischer Christ, der zum Judentum konvertiert war und versprach, die Juden mittels seiner wundertätigen Fähigkeiten ins Land Israel zu fliegen, was eine messianische Woge auslöste. Sabbatai Zwis Antinomismus vorwegnehmend, schaffte er viele der talmudischen religionsgesetzlichen und rituellen Vorschriften ab, da diese in der messianischen Zeit ihre Gültigkeit verlören. Auf ihn folgte „the Persian Messiah Dynasty“[16], angefangen mit Abu Isa aus Isfahan, der sich um 750, an islamische Ideen anknüpfend, als letzten der großen Propheten ausgab und eine messianische Bewegung mit militärischer Ausrichtung auslöste. Er gründete die strikt asketische und gesetzestreue Gemeinschaft der Isfahaner, die seinen Tod – wiederum parallel zu der islamischen Vorstellung des Mahdi – doketistisch interpretierte und noch 300 Jahre später in Persien existierte. Mehrere seiner Schüler bzw. Nachfolger bezeichneten sich ebenfalls als Messiasse, so Yudghan aus Hamadan, der unter all diesen anderen Messiasgestalten insofern herausragt, als er eines natürlichen Todes starb, und dessen Schüler Mushka aus dem 9. Jahrhundert. Obwohl diese militanten persischen Messiasbewegungen starke Einflüsse islamischer Theologie zeigen, müssten sie auch einmal im Kontext der etwa zeitgleichen Entstehung des Karäertums untersucht werden.

Während unmittelbar zu der Zeit des Ersten Kreuzzugs und den damit einhergehenden Massakern an den mitteleuropäischen jüdischen Gemeinden keine überlieferten Messiasse auftraten, was zeigt, dass zwischen spezifischen katastrophalen Ereignissen und messianischen Bewegungen nicht unbedingt ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, so sah das von den Nachwehen der Kreuzzüge geprägte 12. Jahrhundert in Ost und West ein Übermaß messianischer Offenbarungen und Bewegungen. Um 1121 lebte im Heiligen Land ein karäischer Priester namens Salomo Hakohen, der von sich behauptete, der Messias aus dem Hause Aaron, der von den Karäern erwartet wurde, zu sein. Zur gleichen Zeit kam es in Bagdad zu messianischen Tumulten um eine Prophetin, Tochter von Joseph, die die nahende Erlösung Israels verkündete. Im marokkanischen Fez erschien um 1127 ein Messias mit Namen Mose Al-Dari, der von Maimonides, der konkreten Messiasprätendenten gegenüber eher skeptisch eingestellt war, lobend in einem Brief an die jüdischen Gemeinden im Jemen erwähnt wird.

Die wichtigste messianische Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts aber war David Alroy aus Kurdistan, dessen Wirken ca. zehn Jahre später von dem berühmten mittelalterlichen Reisenden Benjamin von Tudela beschrieben wurde: Dieser fand, als er nach Kurdistan gelangte, „in der von Moslems beherrschten Festungsstadt Amadija 25.000 aramäisch sprechende Juden, die sich auf die verlorenen zehn Stämme zurückführten. In dieser Gegend hatte im ersten christlichen Jahrhundert König Izates von Adiabene geherrscht, der – nach Auskunft des Flavius Josephus – ein Förderer des Judentums gewesen und sogar selber Jude geworden war“[17].

David Alroy gab sich um 1160 als Messias aus und versprach, die unter der muslimischen Herrschaft leidenden persischen Juden ins Land Israel zurück zu führen. Er versammelte eine große Anzahl seiner Anhänger, versorgte sie mit Waffen und schickte sich an, seine Heimatstadt Amadija gewaltsam zu erobern.

Benjamin von Tudela berichtet von David Alroys Wirken „aus erster Hand“: „Er hatte den Entschluss gefasst, seine Hand gegen den König von Persien zu erheben, die Juden, die im Gebirge Chafton wohnen, zu sammeln, sie gegen die Nichtjuden in den Krieg zu führen, nach Jeruschalajim zu marschieren und es zu erobern. […] Die Juden haben ihm geglaubt und ihn ‚Unser Messias’ genannt. Der König von Persien hörte davon, schickte zu ihm, dass er kommen solle, um mit ihm zu reden. Ohne Furcht ging er zu ihm. Als sie zusammentrafen, fragte er [der König] ihn: „Bist du der König der Juden?“ Er antwortete ihm: „Ich bin es.“ Da geriet der König in Zorn und befahl, ihn festzunehmen und ihn in das Gefängnis zu werfen.“[18] Aus diesem befreite er sich der Sage nach durch Magie und entkam seinen Verfolgern, indem er auf einem Schweißtuch über das Wasser schritt. Er schickte messianische Sendschreiben in nahe und entfernte jüdische Gemeinden und bereitete sich auf erneute kriegerische Aktivitäten vor, was die unter massiven Druck seitens des Königs geratenen Juden derart beängstigte, dass sie David Alroys eigenen Schwiegervater bestachen, ihn umzubringen, was dieser auch in die Tat umsetzte. Doch auch nach seiner Ermordung glaubten seine Anhänger, Menachemiten genannt, weiterhin an ihn.

Kurz nach Alroy erschien um 1172 ein Messias im Jemen, von dem wir durch den berühmten Brief des Maimonides „Igeret Teman“ Kenntnis haben, in dem er sich ausführlich mit Messiasprätendenten auseinandersetzt. In der fraglichen Zeit unternahmen die Muslime große Anstrengungen, die Juden zu konvertieren, was von dem jemenitischen Messias als messianisches Vorzeichen, dem gewisse soziale Aktivitäten folgen müssten, interpretiert wurde. Maimonides beurteilte diesen Messias und seine sozialen Ideen ablehnend und warnte die Gemeinden in seinem Brief vor dem „Verrückten“. Doch obwohl er damit den zeitgenössischen konkreten Messiasgestalten eine deutliche Absage erteilt, so hält er doch die Hoffnung auf das einstmalige Kommen eines Messias aufrecht, die klassischen Ausdruck im 12. Glaubensartikel seiner dreizehn Grundprinzipien des Judentums gefunden hat: „Ich glaube mit voller Überzeugung an das Erscheinen des Messias, und wenn er auch noch säumt, so harre ich dennoch täglich seiner Ankunft.“ Maimonides’ Haltung gegenüber allem Messiastum wird beispielhaft für viele

spätere jüdische Gelehrte: „Sie zeichnet sich aus durch eine Skepsis gegenüber Versuchen messianischer Verwirklichung und durch die Ablehnung eines auf Wunder gerichteten Aberglaubens sowie spekulativer Schriftauslegung. Stattdessen wird die Bedeutung des Torastudiums betont und das Zurücknehmen konkreter Messias-Naherwartung zugunsten einer Haltung gefordert, die – offen für eine bessere Zukunft – ganz in der Wirklichkeit der hiesigen Welt lebt.“[19]

„Nach der Wiedereroberung Jerusalems durch die Türken (1187) und dem missglückten 3. Kreuzzug wuchs die messianische Bewegung in Europa an. Besonders wegen der Verfolgung durch den Papst Innozenz III. steigerten sich die messianischen Erwartungen. [...] Eine Wendung in dieser Bewegung und eine stärkere Aktivierung ihres Gedankens trat mit dem Aufkommen und der Erstarkung der jüdischen Mystik ein. [...] Es ist die Periode der Kabbala, die der Bewegung neuen Schwung verleiht.“[20] Zu neuen messianischen Erregungen kam es, als in der Mitte des 13. Jahrhunderts Mongolenheere gegen Europa stürmten.

In dieser Zeit hatte sich die spanische und provencalische Kabbala in ihren beiden klassischen Strömungen, der „spekulativen“ und der „prophetischen“ Kabbala herausgebildet, die sich infolge der Auseinandersetzungen um Abraham Abulafia, dem ersten kabbalistischen Messias, zu unversöhnlich verfeindeten Richtungen entwickelten.

Abraham Abulafia wurde im Jahre 1240 in Saragossa geboren, erhielt eine gründliche traditionelle Ausbildung und begann danach eine jahrelange Wanderschaft mit dem Ziel, den legendären Fluss Sambation und die verlorenen zehn Stämme Israels zu finden, die ihn ins Land Israel, nach Griechenland und Italien führte, wo er weitere philosophische Studien unternahm. Im Jahre 1270 wurde ihm eine Vision zuteil, in der ihm der Auftrag erteilt wurde, mit dem Oberhaupt der Christenheit, dem Papst zusammenzutreffen. Zurückgekehrt nach Spanien, wandte er sich der bis dahin von ihm abgelehnten Kabbala zu und

entwickelte seine eigene Form der „prophetischen“ Kabbala mit dem Ziel, mittels Buchstaben- und Zahlenmeditationen in die Geheimnisse der Schöpfung und das Wesen Gottes einzudringen. Sein Ansatz hatte also nicht viel mit der spanischen theosophischen Kabbala der Sefiroth gemein, die durch Spekulation die Struktur des göttlichen Wesens und die sich darin vollziehenden Prozesse zu erkennen versuchte. In seinen Schriften beschrieb Abulafia, dass er sich auf dem Höhepunkt der mystischen Ekstase wie von herrlichem Öl gesalbt fühle. Von hier war es nur ein kurzer Schritt zur messianischen Selbstproklamation, die ihm zwar Anfeindungen seitens der Rabbiner und Kabbalisten, jedoch auch eine große Schar von Anhängern und Schülern eintrug. Im Jahre 1280 versuchte er, den in seiner Vision enthaltenen Auftrag, und möglicherweise beeinflusst vom Diktum des Nachmanides, dass der Messias zu Beginn seines Wirkens erst einmal vom Papst die Freiheit des Judentums erlangen müsse, zu vollbringen, indem er eine Audienz bei Papst Nikolaus III. verlangte. Seine Reise zum Papst nach Rom, die an Moses Erscheinen vor dem Pharao erinnert, „is a paradigmatic event which we will return to when dealing with Shlomo Molkho and Nathan of Gaza. Abulafia’s journey to Rome in 1280 is the first recorded sojourn of a Messiah with the explicit intention to meet the Pope.“[21] Nikolaus III. wies ihn jedoch ab und gab Anweisungen, den Messiasanwärter bei Erscheinen zu verbrennen. „Da unternahm Abulafia einen verwegenen Versuch – unter Missachtung der päpstlichen Drohung, ihn auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, begab er sich nach Sorino, dem Landsitz des Papstes. Kurz nach Abulafias Eintreffen starb der Papst dort plötzlich, was den Kabbalisten vor dem sicheren Tod bewahrte.“[22] Diese wundersame Rettung verstärkte Abulafias messianisches Selbstbewusstsein noch mehr, das er nun sowohl an Juden wie auch an Christen zu verkünden suchte, ein im Mittelalter absolut außergewöhnliches Vorhaben. 1281 begab er sich nach Sizilien, wo er seine literarischen und messianischen Aktivitäten fortsetzte, jedoch von Anfeindungen des Rabbi Salomo ben Adret, der ihn als Scharlatan anklagte, vertrieben wurde und sein Leben auf der einsamen Insel Comino nahe Malta im Jahre 1291/92 beschloss.

Der messianische Aspekt des Wirkens Abraham Abulafias und sein offensives Verhältnis zum Christentum trugen nicht zuletzt dazu bei, dass nach seinem Tod seine Schule nach und nach ihre Anhänger verlor, während die spekulative, theosophische Kabbala rasch weite Verbreitung fand und bis heute unser Bild der Kabbala bestimmt. Dennoch war Abraham Abulafia eine ungemein wichtige Figur in der messianischen Geschichte des Judentums und beispielhaft für spätere Messiasse. „The first of the Spanish Messiahs of this era was an authentic scholar and major contributor to the development of Kabbalah, the central collection of Jewish mystical writings. His claims to be the Messiah received considerable support in Spain, Italy, Sicily, and Greece. His writings may have significantly influenced future Jewish messianic figures. His most dramatic accomplishment was to be the only Jewish Messiah who killed a pope.”[23]

Weitere spätmittelalterliche Messiasanwärter waren ein Prophet Nissim ben Abraham aus Avila, der das Erscheinen des Messias für das Jahr 1295 verhieß und eine Bußbewegung initiierte, aber von dem schon gegen Abulafia aktiven Rabbi Salomo ben Adret gestoppt wurde, dann um 1350 Schmarjahu ben Elia aus Italien, der in Spanien eine messianische Eruption auslöste, und mit den Anfängen der Zwangsbekehrungen in Spanien (1391) erwuchsen unmittelbar diverse messianische Bewegungen, z.B. um Moses Botarel aus Cisneros, den berühmten Kabbalisten und Philosophen, Prophet von Burgos genannt, und sogar um Frauen wie Ines, „the Maid of Herrera“ [24] und Maria Gomez aus Ciudad Real, die speziell in und für Converso-Milieus verkündigten und deren Wirken möglicherweise von der großen Bedeutung der Madonna im katholischen Spanien beeinflusst wurde. Die Visionen und Verheißungen dieser Frauen führten viele Conversos zur Rückkehr zum Judentum bzw. zumindest zur Beachtung der rituellen Vorschriften, waren aber von sehr begrenzter regionaler Wirkung. Von nun an, mit dem neuzeitlichen Bruch, entfalten messianische Bewegungen eine vorher nicht dagewesene Breitenwirkung und Intensität.

III. Die geistes- und sozialgeschichtliche Situation zum Beginn der Neuzeit

1. Die „Katastrophen“ – Historische Ereignisse als auslösende Faktoren

Der Beginn der Neuzeit bezeichnet in der allgemeinen europäischen Geschichte einen bedeutenden Wendepunkt. Einschneidende politische und geistige Ereignisse waren vorgefallen und hatten Horizonte erweitert, neue Möglichkeiten geschaffen, doch auch Unsicherheiten, Ängste, Zweifel hervorgerufen und zum Teil ungeheures Leid mit sich gebracht. „Eine durch die Tradition vieler Jahrhunderte gefestigte politische und geistige Welt war zusammengebrochen und eine neue, in ihren Zielen noch nicht fest umrissene war im Entstehen begriffen. So ist das 16. Jahrhundert eine Zeit des Überganges.“[25] Die bekannten Faktoren, beginnend mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) und ihrem Vormarsch nach Europa, der Erfindung der Buchdruckerkunst (um 1450), der Entdeckung Amerikas (1492) und fast zeitgleichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch die christlichen Könige (mit den nachfolgenden Ereignissen) bis zu den gewaltigen geistigen Umwälzungen, die durch das Wirken Luthers und Calvins hervorgerufen wurden, verursachten diesen Umbruch.

Die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen besiegelte den Untergang des Byzantinischen Reiches und bildete den Abschluss der seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgten Expansion der Osmanen. Nachdem Kleinasien und weite Gebiete des Balkans erobert waren, gelang ihnen schließlich im Jahre 1453 die Erstürmung Konstantinopels. Die Stadt wurde geplündert, aber nicht zerstört, in Istanbul umbenannt und als solche die neue Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Damit verlor Europa endgültig den letzten unmittelbaren Zugang zu den asiatischen Handelsstraßen, was stark auf die Bemühungen, den Seeweg nach Indien zu finden, eingewirkt hat. Die Bedrohung Europas durch die Osmanen blieb noch lange akut und trug zu apokalyptischen Stimmungen bei.

Eine entscheidende Voraussetzung für die schnelle und weite Ausbreitung neuer geistiger Bewegungen in der frühen Neuzeit wurde die Erfindung des Buchdrucks durch Johann Gutenberg um 1450. Gegen 1475 hatte sich die neue Technik über fast ganz Europa verbreitet. Die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks war, wie für die übrige Gesellschaft, auch für die Juden als „Volk des Buches“ von revolutionärer Bedeutung, und von Anfang an waren sie in diesem Metier entsprechend rege tätig. Italien wurde das früheste und größte Zentrum der Herstellung hebräischer Bücher, doch auch in anderen Bereichen der Diaspora ließ man sich rasch auf das neue Medium ein: 1504 wurde die erste hebräische Druckerei des Orients in Istanbul eröffnet, 1512 in Prag die erste aschkenasische Druckerei gegründet. Der intellektuelle Austausch zwischen den verschiedenen Diasporagemeinden der Juden verstärkte sich, und „ein neues, starkes Band hatte sich seit der Erfindung der Buchdruckerkunst um die Judenheit der ganzen Welt geschlungen, und sie zu einer Einheit zusammengefasst“[26]. Die Massenproduktion und Zugänglichkeit hebräischer Bücher für den täglichen religiösen Gebrauch bedeutete eine gesellschaftliche Veränderung, die derjenigen in der christlichen Gesellschaft mit der Übersetzung der Bibel in die jeweiligen Landessprachen vergleichbar war.

Die Reformation und die durch sie hervorgerufene neue Situation hatte für die Juden sowohl positive als auch negative Auswirkungen: „Der interkonfessionelle Kampf unter den Christen lenkte die Aufmerksamkeit von den Juden ab, und diese standen von nun an als religiöse Minderheit nicht mehr allein; ihre Forderung nach Toleranz teilten sie mit vielen anderen. Außerdem bewirkte die zunehmende Hochschätzung der hebräischen Bibel unter den Reformierten ein positives Interesse für das Judentum. Doch bei all dem bleibt die antijüdische Stimmung der lutherischen Reformation konstant.“[27] Diese speist sich besonders aus den judenfeindlichen Äußerungen in den Spätschriften Luthers, die aus der Enttäuschung seiner Hoffnung auf eine Massenbekehrung der Juden zu seinem

reformierten Christentum entstanden waren und bald Einfluss auf die Politik der protestantischen Länder gewannen, so dass die Lebensbedingungen der Juden in den katholischen Ländern mitunter besser als in den protestantischen waren.

Obwohl sich die Ergebnisse der Reformation aus jüdischer Sicht doch als relativ bescheiden darstellten, hatten die Juden ursprünglich hohe Erwartungen und Hoffnungen in Luther und dessen Absichten gesetzt. Die reformatorische Kritik an der römischen Kirche und am Papsttum und daraus resultierende Kirchenspaltung wurde als Zeichen für den Untergang Edoms (symbolisch für das Christentum) gedeutet. Und „als dann Luther eine, zumindest scheinbar, jüdischen Religionsvorstellungen näher stehende Form des Christentums propagierte und zuerst mit seiner ‚judenfreundlichen’ Schrift [„Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“, Anm. K.P.] an die Öffentlichkeit trat, waren die Juden vollends von der messianischen Bedeutung des Geschehens überzeugt. Luthers Hoffnung auf ihre Massenbekehrung stand die Erwartung der Juden gegenüber, die durch die Reformation sich zunächst andeutende Annäherung führe zu der geweissagten Anerkennung des Judentums in der Welt. Die Juden wurden zwar enttäuscht, als die judenfeindlichen Schriften Luthers erschienen, doch die messianische Erwartung hielt weiterhin an.“[28] Gegen Luthers späte, stark durch seine Endzeiterwartung bestimmte judenfeindliche und militante Haltung konnten sich ausgeglichenere Stimmen wie Osiander oder Melanchthon nicht durchsetzen, doch zumindest verzichteten die Reformatoren auf die mittelalterlichen Ritualmord- und Hostienfrevelvorwürfe gegen die Juden, so dass es in den protestantischen Gebieten kaum noch zu darauf basierenden Pogromen kam. Insgesamt brachte die Reformation für die Juden nur wenige Fortschritte in sozialhistorischer Hinsicht, veränderte aber das religiöse Gefüge Europas nachhaltig, indem sie das Monopol der katholischen Kirche zerstörte, was sich wiederum auf die Einstellung zu den Juden auswirkte. Und ein direkter Einfluss auf jüdischen Messianismus und Apokalyptik ist in den millenarischen Bewegungen zu erkennen, die im Gefolge der Reformation um sich griffen (siehe Kapitel III, 4).offnH

1.1 1492 – Die Vertreibung der Juden aus Spanien

Die Ereignisse des Jahres 1492 auf der iberischen Halbinsel brachten sowohl in soziohistorischer als auch in geistesgeschichtlicher Hinsicht bedeutende und einschneidende Veränderungen in ganz Europa mit sich. Das Jahr begann mit dem Sieg über das letzte maurische Königreich in Spanien nach einer langen und verlustreichen Kampagne, die von den seit 1469 verheirateten katholischen Königen Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien geführt worden war. Die Einnahme Granadas beendete die mehr als 700 Jahre währende Vorherrschaft des Islams auf der iberischen Halbinsel, die in ihrer Blütezeit eine fruchtbare Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen bedeutete, wodurch das sonst wohl verloren gegangene antike Wissen tradiert, geschätzt und weiterentwickelt wurde. Die erfolgreiche „Reconquista“ erfüllte die ausgeprägten und tiefen, explizit mit den Königen von Aragon assoziierten eschatologischen Erwartungen der Christen in ganz Europa und weckte im gleichen Zug neue, weitergehende Hoffnungen auf einen „letzten Kreuzzug“, der zur Wiedereroberung Jerusalems führen würde.

Im Herbst des gleichen Jahres fand Christoph Kolumbus[29], der vom zeittypischen messianischen Geist geprägt war, den Seeweg nach Westen und stieß auf die karibischen Inseln, was der Auslöser für die Entdeckung und Eroberung Amerikas wurde. Dieses Ereignis stellte einen der wichtigsten Faktoren beim Übergang in die Neuzeit dar und schuf politische und geistige Konstellationen, die zu einer Revolutionierung des Welt- und Menschenbildes führten. Die Entdeckung Amerikas war der Ausgangspunkt für die weitere Erschließung der gesamten Welt: 1498 fand Vasco da Gama den Seeweg nach Indien, um 1520 schaffte Magalhaes die Umsegelung der Welt, 1521 eroberte Hernan Cortes das Azteken-Reich in Mexiko, bis 1533 hatte Francisco Pizarro das Inka-Reich in Peru zerstört.

Unbekannte Länder und Menschen waren gefunden worden, das gesamte geo- und ethnographische Wissen befand sich in Umwälzung, und immer noch existierten weite unentdeckte Gebiete. Die Kunde von der Entdeckung Amerikas wirkte auch auf die Juden stark: sie frischte die alten Hoffnungen über die zehn verschollenen Stämme Israels, die zu gegebener Zeit in die Geschichte eingreifen würden, wieder auf und steigerte die Bereitschaft zur Akzeptanz von darauf rekurrierenden Geschichten (z.B. David Reubeni). Noch anderthalb Jahrhunderte später, im Jahre 1650, lokalisierte Manasseh ben Israel in seiner einflussreichen Schrift „The hope of Israel“ aufgrund von Reiseberichten über jüdische Rituale praktizierende Indianer Südamerika als die Heimat der verlorenen Stämme Israels. Seine Theorie, die Juden seien ebenso wie die Indianer von Asien über eine Landbrücke zwischen Russland und Alaska, die nun überschwemmt sei, nach Amerika ausgewandert, war in brillianter Weise seiner Zeit voraus. Manasseh ben Israels Wirken wies auch messianische Implikationen auf. Er verband mit dem nun von ihm erbrachten „Nachweis“ über die tatsächliche Existenz der verlorenen jüdischen Stämme politische Forderungen über die Wiederzulassung der Juden in England, die im Jahre 1290 vertrieben worden waren: „Now that the Ten Tribes had been found, all that remained to prepare for the Messiah was to make certain that there actually were Jews at all the ends of the earth to be gathered. […] The answer was obvious to the rabbi – Cromwell had to be convinced to readmit Jews to England in order to satisfy the last condition to the appearance of the Messiah.“[30] Nach diversen Petitionen und einer ausführlichen Korrespondenz mit Klerikern genehmigte Cromwell schließlich die Wiederansiedlung von Juden in England im Jahre 1656.

Das dritte einschneidende Ereignis des Jahres 1492 war die Vertreibung der Juden aus Spanien. Dem endgültigen Vertreibungsedikt vorangegangen waren schon jahrzehntelange Verfolgungen, Denunziationen, Zwangstaufen, beginnend mit den Massakern und Pogromen des Jahres 1391, die von Sevilla aus auf die gesamte Halbinsel und die Balearen übergriffen und 100 000 Opfer forderten, bis hin zur La Guardia-Affäre 1490-91, dem letzten Faktor, der Ferdinand und Isabella dazu bewog, das Edikt zu unterzeichnen. Seit 1391 stand das Problem der Conversos im Mittelpunkt: die teils freiwillige, meist erzwungene Massenkonversion der spanischen Juden zum Katholizismus brachte einerseits die Möglichkeit individueller Aufstiege der Neuchristen bis in die höchsten Staatspositionen mit sich, andererseits entstand ein Klima des Misstrauens gegenüber den Conversos auf christlicher und jüdischer Seite. Die jüdische Gemeinschaft Spaniens war nun gespalten in drei separate Gruppen: diejenigen, die trotz Repressalien Juden geblieben waren, diejenigen, die mit Überzeugung konvertiert waren und diejenigen, die zwar konvertiert waren, aber im Geheimen noch jüdische Rituale praktizierten (Kryptojuden)[31]. Letztere unterhielten oft weiterhin vielfältige familiäre und ökonomische Beziehungen zur jüdischen Gemeinde, die ihnen zwar mit Akzeptanz, aber doch nicht ohne Misstrauen und Verachtung begegnete, bestand doch jederzeit die Gefahr der Denunziation. Auch die Beziehungen der Neuchristen zu den Altchristen gestalteten sich immer schwieriger: waren die Conversos auch formell durch die Taufe vollwertige Glieder der katholischen Kirche geworden, so setzte sich doch in der Praxis eine Attitüde des Argwohns und der Ablehnung durch, die nicht zuletzt vom Neid und der Beunruhigung des Volkes über den raschen und sichtbaren gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg der Conversos getragen wurde. Die Conversos hatten sich zu einer eigenen soziologischen Schicht, dem aufsteigenden gehobenen Mittelstand, innerhalb der spanischen Gesellschaft entwickelt, sie nahmen hohe Ämter in Staat und Kirche[32] ein, heirateten in den Adel ein und trieben so ihre Assimilierung voran. Doch ihre Zwischenstellung unterschied sie nach wie vor von der „alten“ christlichen Gesellschaft und setzte sie verschiedenen Formen der subtilen wie offenen Diskriminierung aus: „In bestimmter Hinsicht nahm die jüdische Erfahrung im Spanien der frühen Neuzeit das Dilemma der Emanzipation vorweg, mit dem das moderne westliche Judentum Jahrhunderte später konfrontiert war.“[33]

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts, als die Zahl der Neuchristen die derjenigen, die sich weiterhin zum Judentum bekannten, schon überstieg, hatte sich eine Einstellung, die die jüdische Herkunft der Neuchristen für ausschlaggebender hielt als Taufe und christliches Bekenntnis, durchgesetzt, obwohl dies der Doktrin der Kirche diametral widersprach. Forderungen nach Separation und Restriktionen gegen Conversos wurden laut, Diskriminierung und Denunziation wegen „Judaisierens“ griffen um sich und erreichten den Höhepunkt 1449 in Toledo. Nach einem ausschließlich gegen die Conversos gerichteten Pogrom führten die städtischen Behörden die Limpieza de sangre („Reinheit des Blutes“)-Statuten ein, die für höhere staatliche und klerikale Ämter einen Nachweis der altchristlichen Herkunft forderten, damit die Aktivitäten und Möglichkeiten der Conversos strikt beschränkten und sie als eine neue soziale Klasse, weder jüdisch noch christlich, definierten und damit isolierten. Vom König wurden die Reinheitsstatuten gegen den Willen des Papstes Nikolaus V. bestätigt, und „by 1555, limpieza de sangre was an official requirement for entry to public office“[34] in Spanien.

Mit der Hochzeit von Ferdinand und Isabella im Jahre 1469 verbanden die Juden und Conversos große Hoffnungen auf eine Einstellung der Verfolgungen und Stabilisierung nicht nur der politischen Lage, sondern auch ihres Status’, glaubte man doch in jüdischen Kreisen, dass Ferdinand selbst jüdischer Abstammung sei. Anfangs schienen sich die Erwartungen zu erfüllen: Juden wie Isaac Abravanel und Conversos wie Luis de Santangel, der Financier von Kolumbus, wurden sofort mit prominenten Positionen in der königlichen Verwaltung betraut, die Könige intervenierten persönlich bei antijüdischen Ausschreitungen, schützten die Juden vor überhöhten städtischen Steuern und versicherten sie ihrer Patronage. „In short, a wealth of evidence reveals that, until the very eve of the expulsion, the rulers of Aragon and Castile regarded the Jews as lawful subjects deserving protection. In fact, even as plans for the expulsion were being laid, they continued to uphold this royal policy. […] They were concerned to uphold the supremacy of the state by maintaining both the public order and the sound condition of the treasury.”[35]

[...]


[1] Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt am Main 2001 (1975), S. 95f.

[2] Schoeps: Lexikon, S. 564.

[3] Lenowitz: Messiahs, S. 13.

[4] Im Hebräischen steht hier Shilo, dessen Übersetzung und Interpretation variiert. Interessant ist die von der Gematria ermittelte Übereinstimmung des numerischen Wertes der Buchstaben dieses Wortes mit dem Buchstabenwert des Wortes Maschiach (Messias).

[5] Anknüpfungen an diese Sternterminologie findet man bei den Messiasgestalten häufig, z.B. wie bekannt bei Bar Kochba (aram. Sternensohn), aber auch bei Sabbatai Zwi, da der Name Sabbatai im Hebräischen gleichzeitig die Bezeichnung für den „Stern“ (Planeten) Saturn ist, der in einigen kabbalistischen Schriften in Zusammenhang mit der dritten Sefirah Binah erscheint, die wiederum eine Affinität zu Erlösungskonzepten aufweist und später explizit mit dem Messias verbunden wird. Moshe Idel sieht in dieser Assoziation des Messias mit dem Saturn (Sabbatai) nicht nur die entscheidende Motivation für das Hervortreten des messianischen Anspruchs und Bewusstseins Sabbatai Zwis, sondern auch – namentlich in der mit Saturn in Verbindung gebrachten Melancholie – eine Erklärung für seine manisch-depressive Mentalität. Siehe Moshe Idel: „Saturn and Sabbatai Tzevi: A new approach to Sabbateanism“ In: Schäfer/ Cohen: Toward the Millennium, S. 173-202.

[6] Lenowitz: Messiahs, S. 9.

[7] HrwG, Bd. II, S. 10.

[8] Levinson: Messias, S. 27.

[9] Lenowitz: Messiahs, S. 13.

[10] „Messiaserwartungen“, S. 116.

[11] Scholem: „Verständnis“, S. 167.

[12] Voigts: Messianismus, S. 68.

[13] Scholem: „Verständnis“, S. 167.

[14] Santala: Messias, S. 22f.

[15] Mayer: Messias, S. 113.

[16] Rabow: Messiahs, S. 23.

[17] Mayer: Messias, S. 122.

[18] Benjamin von Tudela/ Petachja von Regensburg: Jüdische Reisen im Mittelalter, hg. von Stefan Schreiner, Köln 1998 (1991), S. 86.

[19] Mayer: Messias, S. 122.

[20] Voos: Reubeni, S. 9.

[21] Idel: Mystics, S. 97.

[22] Idel: Abulafia, S. 11.

[23] Rabow: Messiahs, S. 46f.

[24] Ebd., S. 55.

[25] Voos: Reubeni, S. 12.

[26] Ebd., S. 12.

[27] Breuer/ Graetz: Geschichte, S. 74.

[28] Ebd., S. 75.

[29] Bis heute ist umstritten und nicht eindeutig erweisbar, ob Kolumbus jüdischer Abstammung, wenn nicht sogar Kryptojude gewesen ist. Daran schließt sich die Behauptung an, dass Kolumbus von der Suche nach einer neuen Heimat für die verfolgten Juden motiviert gewesen sei. Siehe Heinen: Sephardische Spuren II, S. 115f. In jedem Fall lässt sich eine hohe Beteiligung von Juden und konvertierten Juden bei den Entdeckungsfahrten nachweisen.

[30] Rabow: Messiahs, S. 89.

[31] Für die Neuchristen wurde die Bezeichnung „Marranen“ gebräuchlich, nach span. Marrano = Schwein (eigentlich also ein Schimpfwort).

[32] Der rasche Aufstieg der Conversos in der Kirche äußert sich z.B. darin, dass innerhalb von wenigen Jahrzehnten Dutzende von Bischofssitzen von ihnen und ihren Nachkommen besetzt waren. Von Converso-Herkunft war auch die große Mystikerin und spanische Nationalheilige Teresa von Avila, geboren 1515. Ihre mystischen Visionen verursachten ihr zeitlebends Zweifel bezüglich der Rechtgläubigkeit in dogmatischer Hinsicht, was sicherlich auf eine unbewusste Unsicherheit aufgrund ihrer Abstammung zurückzuführen ist.

[33] Barnavi: Universalgeschichte, S. 120.

[34] Gerber: Spain, S. 128.

[35] Ebd., S. 129.

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Messianismus und Apokalyptik im Judentum nach dem Anbruch der Neuzeit im religions- und sozialgeschichtlichen Kontext
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,4
Autor
Jahr
2004
Seiten
140
Katalognummer
V120505
ISBN (eBook)
9783640242221
Dateigröße
1529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Messianismus, Apokalyptik, Judentum, Neuzeit, Messiasgestalten, Messias, Sabbatai Zwi, Jakob Frank, Konversion
Arbeit zitieren
Katrin Päßler (Autor:in), 2004, Messianismus und Apokalyptik im Judentum nach dem Anbruch der Neuzeit im religions- und sozialgeschichtlichen Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120505

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