Biographiearbeit in der Sozialen Altenarbeit

Bedeutung - Funktionen - Handlungsoptionen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

31 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Einführung in biographieorientierte Konzepte und Methodenbereiche der Bildungswissenschaften
1.1 Das Konzept der Biographizität
1.2 Biographische Arbeit – Theorien und Handlungsfelder

2. Handlungsfelder und -optionen biographiebezogener Sozialer Altenarbeit
2.1 Soziale Altenarbeit
2.2 Biographische Arbeit im Kontext Sozialer Altenarbeit (in Orientierung am Konzept der Biographizität)

3. Zusammenfassung

4. Literatur

Erklärung:

Zur besseren Lesbarkeit wurde in der gesamten Arbeit auf eine geschlechtsspezifische Unterscheidung bei einer verallgemeinernden Erwähnung der Angehörigen von Berufs- und Adressatengruppen verzichtet. Die Verwendung der männlichen Form schließt die weibliche Form grundsätzlich mit ein und beinhaltet keinerlei Wertung!

Einleitung

Im Verlauf des Seminars „Biographische Arbeit als zentrale pädagogische Herausforderung in der Moderne“ wurde uns Teilnehmern anhand von sozialund bildungswissenschaftlichen Texten die zunehmende Bedeutung biographiebezogener Aspekte in unseren (reflexiv modernen) Gesellschaften verdeutlicht – zum einen in Form von Aufgaben die jeder Mensch zu bewältigen hat, um in einer Welt zunehmender Enttraditionalisierung und Individualisierung das eigene Leben mit (subjektivem) Sinn ausfüllen und gestalten zu können, zum anderen als Notwendigkeit zur Auseinandersetzung, die sich für professionelle Pädagogen ergibt, um aus den dabei gewonnen Erkenntnissen Aktivitäten für ihre jeweiligen Handlungsfelder abzuleiten.

Die den Seminarveranstaltungen zugrundeliegenden Artikel und Aufsätze unterschiedlicher Autoren vermittelten dabei ein Verständnis für das erziehungswissenschaftliche Konstrukt der Biographie und setzten dieses im Folgenden in ein Verhältnis zu pädagogisch relevanten Kategorien wie Bildung, pädagogische Professionalität und Geschlecht, um anschließend die Bedeutung biographischer Fallrekonstruktionen für Forschung und Praxis zu erörtern. Nach einer allgemeinen Betrachtung biographieorientierter Erziehungshilfen wurden die bis hierher gesammelten Einsichten zu (sozial-)pädagogischen Tätigkeitsbereichen wie Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Gesundheitsförderung und Geschichtswerkstätten in Beziehung gesetzt.

In einer abschließenden Seminarsitzung wurde uns, bezugnehmend auf die Arbeit der vorangegangen Wochen, in einem Resümee durch die Seminarleiterin ein Verständnis für die Bedeutung Biographischer Arbeit als „Professionalitätsbasis pädagogischer AktuerInnen“ (Marotzki/Tiefel 2005: 136) vermittelt und die „Biographische (Selbst-)Reflexion“ wurde als wesentliche dafür notwendige „pädagogische Handlungskompetenz“ (ebd.: 137) bezeichnet.

Während der Lehrveranstaltungen, vor allem jedoch im Zuge der Vorbereitung einer Hausarbeit für das ebenfalls am Lehrstuhl für „Allgemeine Pädagogik“ durchgeführte Seminar „Theorien der Sozialen Arbeit“ entwickelte sich bei mir ein zunehmendes Interesse für die Anwendung der oben erwähnten biographiebezogenen Aspekte und Erkenntnisse auf ein weiteres Feld pädagogischer Aktivitäten – der Sozialen Altenar- beit . Es stellte sich mir die Frage, inwieweit das in Pädagogik, Politik und Arbeitswelt allgegenwärtige und in einer Welt permanenter Veränderungen offenkundig gerechtfertigte Postulat des lebenslangen Lernens Anwendung in einem Bereich finden kann, der sich mit Menschen weit fortgeschritten Lebensalters auseinander zu setzen hat. Hierfür erschien mir die Einbeziehung Biographischer Arbeit als wichtige und nahezu unausweichliche Grundlage. In Folge dieser Überlegungen entschied ich mich, in der vorliegenden Belegarbeit die pädagogischen Anwendungsund Handlungsoptionen einer Biographischen Arbeit innerhalb der Sozialen Altenarbeit näher zu untersuchen.

Zu Beginn wird das von Peter Alheit entwickelte Konzept der „Biographizität“ in einer kurzen Zusammenfassung vorgestellt, da dieses eine wesentliche Grundlage unseres Seminars darstellte und in seiner Allgemeingültigkeit entscheidende Impulse für das biographische (Selbst-)Verständnis sowohl der pädagogisch Agierenden als auch der von ihnen zu betreuenden Adressaten liefern kann.

Ebenfalls einführenden Charakter besitzt das folgende Teilkapitel über allgemeine Aspekte der Biographischen Arbeit. Die separate Vorstellung dieses Bereichs erscheint mir notwendig, um im nachfolgenden Hauptteil dessen Verknüpfung mit dem Tätigkeitsfeld der Sozialen Altenarbeit und die sich daraus ableitbaren Handlungsoptionen nachvollziehbar darstellen zu können. Das zweite, zentrale Kapitel soll dazu dienen, nach einer kurzen inhaltlichen Einführung in theoretische Grundlagen und Aufgabenbereiche Sozialer Altenarbeit, die dieser Arbeit zugrundeliegende zentrale Fragestellung weitgehend zu klären; die Frage, ob und (wenn ja) wie sich aus dem von Peter Alheit entwickelten Verständnis von „Biographizität“ konkrete Handlungsoptionen für eine Verbindung von Biographiearbeit und Sozialer Altenarbeit herleiten lassen.

Im dritten und letzten Kapitel werden die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse resümierend zusammengefasst.

1. Einführung in biographieorientierte Konzepte und Methodenbereiche der Bildungswissenschaften

1.1 Das Konzept der Biographizität

Im Seminar wurde der 1990 von dem an der Universität Göttingen tätigen Sozialwissenschaftler und Pädagogen Peter Alheit ausgearbeitete Entwurf (vgl. Alheit 1990) vorgestellt, um uns Studierenden das erziehungsbzw. bildungswissenschaftliche Konstrukt „Biographie“ anhand einer richtungweisenden theoretischen Abhandlung einführend nahe zu bringen. Aus diesem Grund, aber auch, weil Alheits Konzept – wie im weiteren Verlauf nachzuweisen ist – geeignet erscheint, für die methodisch ausgerichtete Biographiearbeit, den sozialpädagogischen Tätigkeitsbereich Altenarbeit sowie für deren Kombination wichtige Orientierungshilfen zu bieten, soll es an dieser Stelle in seinen wesentlichen Elementen vorgestellt werden.

Ausgehend von der empirisch fundierten Behauptung, dass in Gesellschaften unseres Typs die „erwartbaren Phasen des Lebens, die traditionellen Lebensentwürfe“ (ebd.: 201) durcheinandergeraten seien, entwirft Alheit die folgenden zentralen Thesen (vgl. ebd.: 201-205):

1. In den vergangenen Jahrzehnten sei es zu dramatischen Verschiebungen des Lebenszeitbudgets gekommen, was sich in einer Zunahme von Jugendund Altersphase und einer daraus resultierenden Verschiebung des Erwachsenenstatus bemerkbar mache.
2. Parallel dazu käme es zu einer Auflösung des (gesellschaftlich und institutionell determinierten) Bauplans der „ Normalbiographie “, der von einer geordneten chronologischen Abfolge von „Lernund Vorbereitungsphase“, „Aktivitätsphase“ und „Ruhephase“ ausgeht. Da diese klare Dreiteilung der Erwerbslebenszeit in marktwirtschaftlich orientierten Industriegesellschaften in erster Linie den männlichen Bürgern vorbehalten war, mittlerweile aber selbst deren berufliche Laufbahn von Weiterbildungsprozessen ergänzt und überlagert sei, spricht Alheit deshalb in diesem Zusammenhang von einer „‚ Feminisierung ’ des Lebenslaufregimes“ (ebd.: 203 – im Original nicht kursiv).
3. Weil dieser Sichtweise zufolge ehemals vorhandene „kollektive biographische Muster“ tendenziell durch „individuelle Problemlagen“ verdrängt würden, sei nach Alheits Auffassung die Biographie selbst zum Lernfeld geworden, weil persönliche Identität zunehmend das Resultat schwieriger Lernprozesse würde.
4. Aus der Erkenntnis, dass Menschen einerseits das chronologisierte „Sequenzraster“ der „Normalbiographie“ benötigten, um daran ihr „tatsächliches Leben mehr oder weniger erfolgreich synchronisieren“ (ebd.: 205) zu können, andererseits derartige „Normalschemata“ nicht sämtliche individuelle Handlungsalternativen antizipieren könnten, schlussfolgert Alheit, dass Biographien stets Emergenz und Struktur enthielten.

Basierend auf der letzten These gelangt Alheit zu der Einsicht, dass die Subjekt- und die Objektperspektive bereits in der Ebene des aktiven individuellen Handelns eine Rolle spielten und nicht erst in dessen wissenschaftlicher Reflexion. Individuelle Erfahrungen seien, so Alheit, von bereits vorhandenen Wissensstrukturen (explizit und implizit) sowie der Gegenwartsperspektive abhängig. Der Begriff Handlung stehe in diesem Kontext für relative Offenheit biographischer Zukunft und enthalte stets einen Sinnüberschuss, da tatsächliche Ergebnisse der Handlung von ursprünglichen Intentionen abweichen könnten, wofür Alheit in Bezugnahme auf Schütze und Kohli gesellschaftliche „Zwänge“ verantwortlich macht, die indirekten Einfluss ausüben (Bsp.: das Modell der „Verlaufskurve“ nach Schütze ). Demzufolge sei auch biographisches Handeln durch Emergenzund Strukturdimensionen geprägt. Die dialektische Spannung dieser Doppelperspektive könne jedoch nicht als harmonische Wechselwirkung der beiden Ebenen aufgefasst werden, da es „qualitative Sprünge, Brüche, überraschende Neuansätze, Momente von Emergenz und Autonomie“ (ebd.: 208) gäbe. Alheit konstatiert, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des hier zusammengefassten Artikels (also 1990 – d.V.) aus den oben dargestellten Erkenntnissen noch kein konsistentes Konzept „biographischer Pädagogik“ entwickelt worden sei. Jedoch konnte er nach Recherchen eigenständige Ansätze identifizieren, von denen er im weiteren Verlauf sechs relativ ausführlich untersucht (vgl. ebd.: 211-228)1 :

(1) Der „anthropologische“ Ansatz ; (2) der „kompensatorische“ Ansatz ; (3) der „autobiographische“ Ansatz ; (4) der „historische“ Ansatz ; (5) der „interkulturelle“ Ansatz ;(6) der „emanzipatorische“ Ansatz

Die konzeptionelle Bandbreite dieser Bildungskonzepte veranlasst Alheit dazu, der erziehungswissenschaftlichen Biographieorientierung die Bedeutung eines „verborgenen Paradigmas“ (ebd.: 228) zuzuschreiben.

Die bereits beschriebene Doppelperspektive aus Strukturund Emergenzdimension bzw. Objektund Subjektwahrnehmung führe, so Alheit, zu einer Erkenntnis der „‚Sozialität’ des Biographischen“ (ebd.: 230), die jedoch nicht überbetont werden dürfe, da sie die „ latente Biographizität des Sozialen“ (ebd.) ignoriere. Das wesentliche Merkmal dieser „Biographizität“ sei der jeder Biographie zugrunde liegende Eigen- sinn, der sich ergebe, weil jeder Mensch in neuen Lebensabschnitten bisheriges biographisches Wissen heranziehen müsse, um zur Bewahrung der „persönlichen Identität“ (s.o.) gegenwärtige Umstände „sinnvoll“ mit früheren Erfahrungen verknüpfen zu können. Um dies trotz des modernisierungsbedingten Verlustes von Sicherheiten und Konventionen gewährleisten zu können, sind nach Alheits Auffassung drei Voraussetzungen zu erfüllen, die als abschließende Erkenntnis aller vorhergehenden Überlegungen hier im Original zitiert werden (vgl. ebd.: 232-234):

a) Die Folgen aktueller Modernisierungsprozesse müssen biographisch integriert werden.
b) Die lebensweltliche Ressource „Biographie“ ist ihrerseits auf Modernisierung angewiesen.
c) Notwendig ist deshalb eine Kompetenz, die als „Biographizität“ bezeichnet werden soll: die Fähigkeit, moderne Wissensbestände an biographische Sinnressourcen anzuschließen und sich mit diesem Wissen neu zu assoziieren.

Bevor ich mich dem weiten Themenfeld der Biographiearbeit zuwende, möchte ich am Ende dieses Kapitels einen der sechs von Peter Alheit beschriebenen biographieorientierten Bildungsansätze ein wenig eingehender erläutern, da dieser meiner Ansicht nach für die Erläuterungen der nachfolgenden Kapitel besondere Relevanz besitzt.

Der „autobiographische“ Ansatz:

Alheit stellt in diesem Zusammenhang zwei Konzepte vor, die von „autobiographischen Erinnerungen“ ausgehen.

Zu Beginn wird die von James E. Birren entwickelte Technik der Guided Autobi- ography näher betrachtet. Im Zentrum steht hierbei eine thematisch angeleitete Rekonstruktion der Biographie ( topical approach ), durch die mittels einiger „generativer Themen“ (z.B.: „Familie“, „Tod“, „Körper“, „Geld“, „Zeit“ u.ä.) über einen längeren Zeitraum autobiographische Erinnerungen in festen Kleingruppen und in Plenardiskussionen erinnert, ausgetauscht und aufgearbeitet werden. Die Bildungsperspektive wird hierbei betont; das methodische Vorgehen und die didaktischen Prinzipien sollen für die Adressaten nachvollziehbar sein. Die Methode beinhaltet fünf Elemente, die in folgender Reihenfolge sukzessiv erarbeitet werden (vgl. ebd.: 218):

(1) „thematisches Element“ ; (2) „schriftliches Element“ ; (3) „singulär-reflexives Element“ ; (4) „sozial-kommunikatives Element“ ; (5) „metaphorisches Element“

Trotz der methodischen Plausibilität des Ansatzes kritisiert Alheit die speziell im „metaphorischen Element“ enthaltenen Tendenzen zur Verallgemeinerung, weil hierdurch der in „narrativen Rekapitulationen“ enthaltene Handlungsbezug verloren gehe (vgl. ebd.: 219).

Das zweite von Alheit vorgestellte Konzept widmet sich dieser vernachlässigten Handlungsebene . Die vor allem von einer interdisziplinär arbeitenden Gruppe Bielefelder Pädagogen um Dieter Baacke und Theodor Schulze initiierte pädagogische Biographieforschung untersucht autobiographische „Geschichten“, weil aus deren Ereignisnähe „praktisch-pädagogische Prozesse“ entwickelt werden könnten (vgl. hierzu Baacke/Schulze 1979/1993). Biographie wird in diesem Zusammenhang als vielschichtiger Prozess und nicht als Resultat aufgefasst. Ziel ist nicht primär die Deutung, sondern die Rekonstruktion der Lebensgeschichte.

Nach Alheits Einschätzung wäre eine Kombination dieses Konzepts einer autobiographischen Narrativität mit den Methoden der Guided Autobiography ein reizvoller Ansatz biographieorientierter Pädagogik (vgl. Alheit 1990.: 219-221).

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird untersucht werden, ob in der sozialpädagogischen Praxis der Altenarbeit methodische Vorgehensweisen existieren, die den von Alheit vorgeschlagenen Prinzipien entsprechen.

1.2 Biographische Arbeit – Theorien und Handlungsfelder

Es erscheint mir zu Beginn dieses Kapitels notwendig, zu klären, welches Interesse die Bildungswissenschaften an biographiebezogenen Aspekten haben und worin die Ursachen dafür liegen.

In diesem Zusammenhang wird in Fachliteratur zu diesem Themenkomplex regelmäßig der Begriff „Biographisierung“ verwendet (vgl. Alheit 2002; Roer/Maurer-Hein 2004; Baacke/Schulze 1993; u.a.). Gemeint ist damit eine seit den 1980er und -90er Jahren zunehmende Hinwendung zum Konstrukt der „Biographie“ bei der wissenschaftlich-theoretischen Reflexion pädagogischer Praxis sowie in den Sozialwissenschaften. Dabei wird „Biographisierung“ oft im Verhältnis zum Terminus „Individualisierung“ (vgl. Baacke/Schulze 1993: 7), oder zu dessen Präzisierung bzw. Erweiterung herangezogen (Alheit 2002: 222).

Die von Alheit konstatierte Erosion der „erwartbaren Phasen des Lebens“ sowie der „traditionellen Lebensentwürfe“ (siehe 1.1) bezieht sich auf das von Beck (1986) entworfene gesellschaftsanalytische Modell der Reflexiven Modernisierung in dem wachsende Pluralisierung und Enttraditionalisierung von Lebensläufen in (post-)modernen Gesellschaften als wesentliche Ursachen für den als „Individualisierung“ bezeichneten Vergesellschaftungsmodus dargestellt werden. Alheit selbst empfiehlt, in bildungsbezogenen Kontexten den seiner Ansicht nach zutreffenderen Begriff der

„Biographisierung“ zu verwenden, da dieser „den Akzent deutlicher auf die Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess“ (Alheit 2002: 222) setze.

In seinem 1990 entworfenen Konzept der „Biographizität“ betont Alheit, wie bereits dargestellt, mehrfach das Spannungsverhältnis zwischen Subjektund Objektperspektive auf der individuellen Handlungsebene. In später erschienenen Abhandlungen (vgl. Alheit 1997, 2002) erweitert er dieses Verständnis, indem er einen Bezug seiner Theorie zu dem auf Maturana und Varela zurückgehenden Modell der Auto- poiesis herstellt. Er sieht Parallelen zu der darin zentralen Kategorie der Selbstrefe- rentialität, weil jeder Mensch als „Biographieträger“ durch Interpretation seiner biographischen Erfahrungen – vereinfacht ausgedrückt – für sich selbst entscheiden muss, welche Impulse und Einflüsse seiner Umwelt für seine aktive Lebenslaufgestaltung relevant sind oder nicht.

Ohne Alheit explizit zu erwähnen, kritisieren Dorothee Roer und Renate Maurer-Hein diese Auffassung als zu ungenau, um „Biographie als Vermittlung zwischen Subjektivem und Objektivem zu beschreiben“ (Roer/Maurer-Hein 2004: 50). In Rückbezug auf Leontjew legen sie Wert darauf, dass erst durch Interaktion und Kommunikation – also durch soziale Wechselwirkungeninterpsychische Verfahren in intrapsychische Strukturen umgewandelt werden können (vgl. ebd.: 51)2. Als signifikante Erweiterung ist hier die Betonung der wichtigen Rolle von Kommunikation und Interaktion für die Ausbildung eines (auto-)biographischen Bewusstseins anzusehen.

Die grundlegende Form biographiekonstituierender Kommunikation sind Erzählungen über vergangene Erlebnisse, Ereignisse und Handlungen, die vom jeweiligen „Biographieträger“ als bedeutsam und damit sinnstiftend für die eigene Lebensgeschichte wahrgenommen wurden und die durch subjektive Interpretation und Reflexion im Gedächtnis als Erfahrungen präsent geblieben sind. Die Elementare Vorraussetzung für derartige biographische bzw. autobiographische Erzählungen (vgl. Bittner 1979, Glinka 2001, Roer/Maurer-Hein 2004 u.a.) ist die anthropologisch determinierte Fä- higkeit des sich Erinnerns . Zur Reaktivierung der Erinnerungen ist wiederum das Erzählen ein wichtiger Impulsgeber, denn dadurch wird „der Erzähler noch einmal in den Strom des Nacherlebens seiner Erfahrungen hineingezogen, der über die Vorstellung rekonstruiert werden kann“ (Glinka 2001: 207).

Die Bedeutung dieses Zusammenhangs zwischen Erzählungen und der Reaktivierung gesammelter Erfahrungen für die pädagogische Theorie und Praxis erscheint evident. Die Fähigkeit des Individuums zu einer subjektiv sinnvollen Verknüpfung bisher gesammelter Erfahrungen mit den sich in der Gegenwart stellenden Lebensaufgaben, bestimmt über den Grad der Ausbildung einer persönlichen Identität und hat damit direkten Einfluss das jeweilige Selbstbild und die Persönlichkeitsentwicklung. Mit anderen Worten: „Erzählungen und Geschichten waren und bleiben die einzigartige menschliche Form, das eigene Erleben zu ordnen, zu bearbeiten und zu begreifen“ (Roer/Maurer-Hein 2004: 52 bezugnehmend auf Ernst 1996: 202 – Im Original nicht kursiv.). In einem primär ressourcenorientierten Pädagogikverständnis ist demzufolge die Aktivierung des Bewusstseins beim Adressaten über die ordnende, begreifende und bearbeitende Funktion des Erzählens die beste Möglichkeit, dessen diesbezüglich vorhandene Fähigkeiten zur subjektiven Identitätsstiftung zu stärken. Zum Anderen können die in mündlicher und/oder (in Erweiterung des Verständnisses von „Erzählung“) schriftlicher Form formulierten autobiographischen „Selbstdarstellungen“ für Pädagogen hilfreiche Ansatzpunkte zur gezielten adressatenorientierten Intervention oder Unterstützung liefern3.

Die gesellschaftliche Relevanz derartiger erziehungswissenschaftlicher Ansätze lässt sich unter Zusammenfassung des bis hierher Zusammengetragenen anhand eines Ausschnitts der von Hans-Jürgen Glinka formulierten Biographiedefinition verdeutlichen: „Biographie konstituiert sich im Kontext sozialer und (kollektiv-)historischer Prozesse und beinhaltet darüber hinaus die Veränderung des Identitätszustandes des Biographieträgers“ (Glinka 2001: 210).

Dass eine „Arbeit“ an und mit der Biographie von Adressaten pädagogischer Angebote möglich und sinnvoll erscheint, wurde – in Verbindung mit einem Bewusstsein über die modernisierungsbedingte Diversifizierung individueller sozialer Problemlagen – somit weitgehend nachgewiesen. Bei der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen während der Vorbereitung dieser Belegarbeit fiel mir jedoch auf, dass die Formulierungen „Biographiearbeit“ als auch „Biographische Arbeit“ (die relativ paritätisch zur Anwendung kommen) in unterschiedlichen und nicht immer klar voneinander abgegrenzten semantischen Zusammenhängen verwendet werden. Um eine Begriffsverwirrung während meiner nachfolgenden Erläuterungen zu verhindern, möchte ich die von mir in den Texten vorgefundenen drei Bedeutungsgehalte biographischer Arbeit hier voneinander abgrenzen:

Bedeutungsgehalt 1: Eine sich aus dem Verständnis von „Biographizität“ ergebende Leistung, die jedes Individuum zu erbringen hat, um sich im stetigen modernisierungsbedingten Wandel regelmäßig seiner persönlichen (und somit biographischen) Identität versichern zu können.

Bedeutungsgehalt 2: Eine Aufgabe der erziehungsbzw. bildungswissenschaftlichen Biographieforschung, bei der mit Hilfe narrationsanalytischer (rekonstruktiv-hermeneutischer) Verfahren der Versuch unternommen wird, nachzuvollziehen, auf welche Art und Weise Menschen durch ihre Handlungen versuchen, die gesellschaftlich determinierte Objektperspektive mit ihrer individuellen Subjektperspektive so in ein Gleichgewicht zu bringen, dass sie eine weitgehend kohärente Wahrnehmung ihrer eigenen Biographie und damit I- dentität herstellen können. Ziel dieser Biographieforschung ist die Generierung didaktisch-methodischer Orientierungsangebote für die (sozial-)pädagogische Praxis.

Bedeutungsgehalt 3 : Ein pädagogischer Methodenkomplex, bei der die Pädagogen unter Hinzuziehung der Erkenntnisse bildungswissenschaftlicher Biographieforschung und mit Hilfe vielfältiger interdisziplinär ausgerichteter Settings den Adressaten Impulse vermitteln wollen, in der Absicht, diese dazu anzuregen, ihre jeweils individuell abgestimmte „biographische Arbeit“ (im Sinne von Bedeutungsgehalt 1 ) zu leisten. Zum Professionalitätsverständnis der Pä- dagogen gehört es hierbei, sich stets den „Einfluss der eigenen Biographien (...) auf ihr professionelles Handeln als Ressource oder auch ‚Barriere’ und zum anderen die Bedeutsamkeit der biographischen (Selbst-)Reflexion“ (Marotzki/Tiefel 2005: 138) zu vergegenwärtigen.

Wenn in den nachfolgenden Kapiteln von Biographiearbeit bzw. Biographischer Arbeit die Rede ist, so wird dabei prinzipiell auf den dritten Bedeutungsgehalt Bezug genommen, da dieser die ersten beiden implizit mit einbezieht, seinen Fokus jedoch vor allem auf die pädagogisch-praktische Anwendung biographieorientierter Methoden richtet.

Das folgende von Hans Georg Ruhe stammende Zitat fasst, wie ich finde, sehr treffend die allen drei Bedeutungen innewohnenden Merkmale zusammen: „Biographisches Arbeiten ist immer Erinnerungsarbeit mit dem Blick in die Zukunft. Sie kann qualvoll sein, weil sie auch die Mühen der Vergangenheit anspricht. Sie ist freundlich, weil sie das Schwere mit dem Gelungenen in Verbindung setzt.“ (Ruhe 2003: 8)

[...]


1 Auf eingehendere Darstellungen der Ansätze kann und muss an dieser Stelle verzichtet werden. Jedoch werden die meisten Aspekte (anthropologisch, kompensatorisch, historisch, emanzipatorisch, interkulturell) in den folgenden Kapiteln ohnehin eine Rolle spielen. Lediglich der „autobiographische“ Ansatz soll im weiteren Verlauf zumindest in seinen grundlegenden Merkmalen aus noch näher zu erläuternden Beweggründen vorgestellt werden.

2 Dieser Diskurs wirkt auf mich ein wenig irritierend. Die Autorinnen beziehen ihre Kritik wenn ich richtig verstehe darauf, dass das Autopoiesis-Modell aus der Biologie entlehnt ist und dass Alheit sich auf das 1987 in Deutschland veröffentlichte Buch „Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens“ bezieht, in welchem Maturana und Varela ihre Theorie der Selbstreferentialität auf damals aktuelle neurobiologische Erkenntnisse übertragen. Es ist doch aber, wie uns im Studienkontext vermittelt wurde, seit Luhmanns systemtheoretischer Ausdeutung der Autopoiesis weitgehend anerkannt, dass soziale Systeme – also im weitesten Sinne auch Individuen – selbstreferentiell über die subjektive Bedeutung von Informationen aus der Umwelt für ihren Selbsterhalt entscheiden. Außerdem spricht Alheit in der entsprechenden Passage von einer „nach außen offenen Selbstreferentialität“ (Alheit 2002: 215-216), die sich gegenüber Impulsen aus der Sozialwelt nicht verschließt. Die Kritik scheint hier auf der zu Beginn ihres Artikels betonten konstruktivismuskritischen Haltung zu beruhen (vgl. Roer/Maurer-Hein 2004: 49).

3 In diesem Zusammenhang muss hinzugefügt werden, dass die Narration natürlich nicht nur zur Festigung, Entwicklung und/oder Veränderung des Selbstbildes beim Erzählenden, sondern auch zur Beeinflussung der I- dentitätswahrnehmung beiträgt, welche die „zuhörende“ soziale Umwelt in zeitlicher, (sozial-)räumlicher und handlungsgebundener Hinsicht vom „Biographieträger“ („objektivierend“) entwickelt.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Biographiearbeit in der Sozialen Altenarbeit
Untertitel
Bedeutung - Funktionen - Handlungsoptionen
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Erziehungswissenschaften - Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik)
Veranstaltung
Hauptseminar „Biographische Arbeit als zentrale pädagogische Herausforderung der Moderne“
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
31
Katalognummer
V120893
ISBN (eBook)
9783640251216
ISBN (Buch)
9783640251322
Dateigröße
485 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Biografiearbeit, Altenhilfe, Biographizität, Altersbegriff, Biographie, Biografie, Normalbiographie, Normalbiografie, Lebenszeitbudget, Guided Autobiography, Biographisierung, biographisch, biografisch, Biografizität, Defizitmodell, kognitive Alternstheorie, Kompetenzmodell, erfolgreichen Alterns, rekonstruktiv-hermeneutisch
Arbeit zitieren
Stefan Huth (Autor:in), 2007, Biographiearbeit in der Sozialen Altenarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120893

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