Die Enkel auf dem Weg zum Erbe - Zur Gegenwart und Zukunft der SPD


Hausarbeit, 2001

33 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Hauptteil 1. Die SPD nach der Wiedervereinigung
1.1. Vorgeschichte
1.2. Oskar Lafontaine
1.3. Björn Engholm und Rudolf Scharping
1.4. Die Doppelspitze Lafontaine und Schröder

2. Die SPD im Bundestagswahlkampf 1990
2.1. Die Landtagswahlen als Vorwahlen
2.2. Die Wahlkampfzentrale (KAMPA)
2.3. Die „Neue Mitte“
2.4. Kurzanalyse
2.5. Die SPD in der Regierungsverantwortung

3. Die Mitgliederentwicklung der SPD

4. Parteifinanzen

5. Koalitionsfähigkeit und Machtbasis

6. Parteireform

7. Parteiprogrammatik

Schlußbetrachtung und Ausblick

Abkürzungsverzeichnis

Quellenverzeichnis

Einleitung

Mit ihrem Bundestagswahlsieg am 27.September 1998 befreite sich die SPD nicht nur aus mehr als 16 Jahren Opposition, sondern auch aus dem „35-Prozent-Turm“ schlechter Wahlergebnisse, aus dem die Partei nicht herauszukommen schien. Die „Enkelgeneration“, wie die Politiker um Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Rudolf Scharping oder Rudolf Dreßler genannt werden, weil sie zu Glanzzeiten Willy Brandts als seine „Enkel“ in die Partei eintraten, hatte ihre letzte Chance genutzt, von den glanzlosen Oppositionsbänken doch noch in die Regierungsverantwortung aufzurücken, die sie allenfalls landespolitisch innegehabt hatten.

Der Wahlsieg 1998 ersparte aber auch der Sozialdemokratischen Partei eine Rosskur, wie sie bei einer Wahlniederlage in jedem Fall nötig geworden wäre. Eine neue Politkergeneration hat so Zeit gewonnen, sich öffentlich zu profilieren und auch dringend notwendige Korrekturen in der Organisation der Partei können nun ruhiger durchgeführt werden.

Diese Arbeit will den Weg nachzeichnen, den die SPD nach der Wiedervereinigung bis zur Übernahme der Bundesregierung und darüber hinaus gehen musste. Welche Gründe führten zu den Wahlniederlagen 1990 und 1994 und warum kam es 1998 zu einem überzeugenden Wahlerfolg ? Besonders wichtig ist mir aber auch der Blick in die Zukunft der Partei. Wie wird sich der enorme Verlust an Mitgliedern auswirken, wie stellt sich die Partei auf die neuen technischen Möglichkeiten (Stichwort Internet) ein ? Kann die propagierte „Netzwerkpartei“ ähnlich funktionieren wie die „Mitgliederpartei“ oder muss die SPD der fortlaufenden Individualisierung anders begegnen, damit sie in der Gesellschaft weiter verankert bleibt ?

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Beleuchtung der organisatorischen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Partei und auf einem Blick auf die unterschiedlichen Wahlkämpfe. Nur dort, wo es mir bedeutsam erscheint, möchte ich einen Blick auf die Oppositions- bzw. Regierungspolitik der SPD werfen. Etwa die Hälfte dieser Hausarbeit soll einen kurzen chronologischen Abriss über die SPD in den neunziger Jahren auch anhand des Vergleichs der Personen Lafontaine, Scharping und Schröder geben. Die andere Hälfte wird sich mit der Organisation der Partei (Mitgliederentwicklung, Finanzierung) sowie den notwendigen Reformen beschäftigen. Das grundlegende Wissen, z.B. den Aufbau der Partei vom Ortsverein bis zur Bundeszentrale, habe ich dabei vorausgesetzt.

Bei der Literaturauswahl habe ich mich vornehmlich auf aktuellere Aufsätze aus den politischen Zeitschriften und einigen Zeitungen gestützt, zumal eine Gesamtübersicht zur SPD-Geschichte in den neunziger Jahren bislang nicht auf dem Markt ist. Ein Dank geht an den SPD-Parteivorstand, der mich mit aktuellen Mitgliederdaten unterstützt hat.

1. Die SPD nach der Wiedervereinigung

1.1. Vorgeschichte

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, die die Bundesrepublik und die DDR trennte, war die SPD genauso überrascht wie die Regierungsparteien. Zwar hatte man die Protestwelle in der DDR interessiert verfolgt und die Gründung einer sozialdemokratischen Partei unterstützt, wurde aber von der Entwicklung völlig überrollt. So fehlten der SPD-Spitze zunächst die Worte und es war der Altbundeskanzler Willy Brandt, der mit seinem Ausspruch „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ eine breite Öffentlichkeit erreichte. Brandt konnte an diesem Tag noch einen Höhepunkt der Ostpolitik erleben, die er rund zwanzig Jahre zuvor selbst eingeleitet hatte. Nun aber war es Sache der christlich-liberalen Koalition um Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den Wiedervereinigungsprozess voranzutreiben, die außenpolitischen Entscheidungen zu treffen und die Verhandlungen zu führen. Während Kohl und Genscher die außenpolitische Sonderlage mit einem reformierendem Sowjetpräsidenten Gorbatschow, dem diplomatisch sehr erfahrenen US-Präsidenten Bush und dem deutschlandfreundlichen französischem Staatschef Mitterrand zur Wiedervereinigung nutzten1, sprach die SPD mit unterschiedlichen Stimmen. Die Älteren in der Partei wie Brandt, Schmidt oder Dohnanyi befürworteten eine schnelle Wiedervereinigung, während Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine vor den Folgen einer zu schnellen Wiedervereinigung, insbesondere einer zu schnellen Währungsreform, warnte.

Im Wendeherbst 1989 hatte sich in Schwante eine sozialdemokratische Partei gegründet, die zunächst unter dem Namen Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) firmierte. Der Theologe Richard Schröder wurde erster Vorsitzender der Partei, die zunächst demokratische Reformen in der DDR forderte, bereits bei ihrer ersten Delegiertenversammlung im Januar 1990 in Ost-Berlin aber auch das Ziel der Wiedervereinigung formulierte. Auch der Parteiname wurde dem westdeutschen Pendant fortan angeglichen. Beim Parteitag im Februar in Leipzig wurde schließlich das Grundsatzprogramm beschlossen, Ibrahim Böhme wurde neuer Parteivorsitzender, Willy Brandt Ehrenvorsitzender. Bei den ersten freien Wahlen zur Volkskammer erhielt die SPD 21,9 % der Stimmen und war in einer großen Koalition mit CDU und DSU in die Ausarbeitung der Verträge zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit einbezogen.

1.2. Oskar Lafontaine

In der Bundesrepublik hatte sich die SPD unterdessen für Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidaten entschieden. Lafontaine, 1943 in Saarlouis geboren, hatte bereits bei seiner ersten Kandidatur als saarländischer Ministerpräsident 1980 die SPD zur stärksten Fraktion machen können. Weil CDU und FDP aber mit knapper Mehrheit weiterregieren konnten, entschied sich Lafontaine erfolgreich für eine Kandidatur als Saarbrücker Oberbürgermeister. Er amtierte von 1980 bis 1985 und es gelang dem jungen Bürgermeister, sich auch bundesweit einen Namen zu machen. Bei seinem zweiten Anlauf gelang 1985 der Gewinn der absoluten Mehrheit im Saarland und Lafontaine wurde Ministerpräsident. Er leitete damit eine Serie von Landtagswahlsiegen der SPD ein. Als Willy Brandt 1987 auf den Parteivorsitz verzichtete, wollte Lafontaine das Amt übernehmen, wurde aber schließlich nur Stellvertreter Hans-Jochen Vogels, der sich als Übergangsvorsitzender verstand. Lafontaine sollte zum neuen Hoffnungsträger aufgebaut werden. Spätestens nach der Niederlage Johannes Raus bei der Bundestagswahl 1987 war klar, dass Lafontaine Favorit auf die Kanzlerkandidatur 1991 sein musste.

Die Wiedervereinigung und die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl zwang die SPD zu einer Beschleunigung der Kür Lafontaines, der am 19. März 1990 vom Parteivorstand einstimmig nominiert, am 28. September 1990 mit fast 99 % vom Parteitag als Kanzlerkandidat gewählt wurde. Lafontaines Wahlkampf aber stand unter einem schlechten Stern. Helmut Kohl hatte sich von einer Belastung auch für die eigene Partei zum „Kanzler der Wiedervereinigung“ gewandelt, der vor allem im Ostteil gut ankam. Zudem kam dem Amtsbonus des Bundeskanzlers eine besondere Bedeutung zu, da der Wähler in der Phase der Wiedervereinigung eine hohe Bereitschaft zur Aufnahme politischer Informationen zeigte. „Helmut Kohl gewann in dieser Zeit das Ansehen eines Staatsmannes, der über den Parteien stand, im Gegensatz zu seiner früheren Beurteilung als Parteiführer, der die Lager deutlich trennte.“2 Oskar Lafontaine wurden seine Warnungen vor den wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung aber als Miesmacherei ausgelegt. So kritisierte Lafontaine den Umstellungskurs, der statt bei 1:1 „realistisch wohl bei 1:3 gelegen“3 hätte, warnte vor Massenarbeitslosigkeit4 und wies darauf hin, dass die Vereinigung nur über Steuererhöhungen zu finanzieren sei. Selbst Kritiker müssen heute zwar anerkennen, dass viele seiner Prognosen eintrafen, doch Wahlen waren in dem Gefühl allgemeiner Hochstimmung damit nicht zu gewinnen.

Am 25. April 1990 machte das Messerattentat einer psychisch kranken Frau zudem die Wahlkampfplanung der SPD zunichte. In Köln-Mülheim wurde Lafontaine schwer am Hals verletzt und war erst am nächsten Morgen außer Lebensgefahr. In einem Wahlkampf, der insbesondere im Osten längst begonnen hatte, mussten sich die Kandidaten doch hier bekannt machen, fiel Lafontaine fast zwei Monate aus. Nicht nur das Messerattentat sondern auch die deutschlandpolitischen Vorstellungen Oskar Lafontaines führten zu einem kurzes Wiederaufflammen der Kandidatendiskussion, doch obwohl Namen wie Willy Brandt, Björn Engholm oder Walter Momper ins Spiel gebracht wurden war die SPD letztlich ohne Alternative zu

Lafontaine.5 Nach seiner Rückkehr auf die politische Bühne hatte Lafontaine weiter mit der eigenen Partei zu kämpfen. Nach außen hin gelang zwar ein relativ geschlossener Wahlkampf, doch intern bekam Lafontaine Gegenwind von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Mit seiner Aussage, wenn es einen Stolperstein gäbe, so wäre es die eigene Partei6, behielt Lafontaine letztlich recht.

Die SPD verlor die Bundestagswahlen im Dezember 1990 deutlich. Das schlechte Ergebnis wurde aber nicht Lafontaine angelastet, der in der eigenen Partei weiter höchst anerkannt blieb. Wichtigster Grund für die Wahlniederlage war vor allem die Wiedervereinigungspolitik Lafontaines, für die die Zustimmung der Bevölkerung während des Jahres 1990 durchgängig abnahm, was von der Partei nicht erkannt wurde. So hatte die Partei die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen am 13.Mai 1990 noch mit guten Ergebnissen gewonnen. Dies sah Lafontaine – ohne Belege – als Beweis für die Richtigkeit seiner Wiedervereinigungs- politik an. Auch die Sympathiewerte Lafontaines nahmen bis zum Herbst 1990 ab, nachdem sie, sicher auch im Zuge einer Mitleidswelle nach dem Mordanschlag im April, zwischenzeitlich deutlich über den Werten Kohls gelegen hatten. Ein weiterer Grund für die deutliche Wahlniederlage der SPD, die nur in den Bundesländern Saarland, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Bremen gewinnen konnte, war die Wahlenthaltung von Stammwählern in Erwartung einer sicheren Wahlniederlage und die daraus resultierende niedrige Wahlbeteiligung.7

Obwohl Lafontaine nicht zum Schuldigen für das Wahldebakel gemacht wurde, schlug er nur Tage nach der Wahl, wohl auf Grund der prominenten innerparteilichen Gegner wie Willy Brandt, Erhard Eppler und Klaus von Dohnanyi, die versucht haben sollen „ihn fertigzumachen“8, den ihm angetragenen Parteivorsitz aus und zog sich in die saarländische Landespolitik zurück. Als stellvertretendender Parteichef blieb er jedoch auch bundespolitisch einer der führenden Köpfe der SPD. Zwischen 1990 und 1993 entwickelte er gemeinsam mit Björn Engholm auch die programmatischen Leitlinien der SPD.

1.3. Björn Engholm und Rudolf Scharping

Bereits ab 1991 veränderte sich die politische Stimmungslage gerade in Westdeutschland wieder zu Gunsten der SPD und sie setzt ihre Serie von Landtagswahlsiegen fort, die sie 1988 in Schleswig-Holstein (Björn Engholm), 1990 in Niedersachsen (Gerhard Schröder) und 1991 in Rheinland-Pfalz (Rudolf Scharping) in strukturell konservativen Bundesländern an die Macht geführt hatte. In Hessen gelang Hans Eichel 1991 nach einem CDU-Zwischenspiel die Regierungsübernahme und selbst in Baden-Württemberg musste die SPD als Juniorpartner in einer Großen Koalition an der Regierung beteiligt werden.

Parteivorsitzender wurde 1991 der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm. Dieser hatte sich nicht etwa um das Amt beworben, doch nach dem endgültigen Ausscheiden von Hans-Jochen Vogel fand sich in der SPD sonst kein Kandidat. Der Ausspruch Engholms „Watt mutt, dat mutt“ wurde bundesweit bekannt und so wählten ihn die Delegierten mit überwältigender Mehrheit zum neuen Parteivorsitzenden. Bereits mit seiner Wahl in dieses Amt hatte die SPD de facto auch die Kanzlerkandidatur 1994 zugunsten Engholms entschieden. Dieser brachte ideale Voraussetzungen mit: Hohe Sympathie- und Kompetenzwerte in der Bevölkerung, Regierungserfahrung im Land und noch unter Kanzler Schmidt im Bund sowie die Unterstützung der gesamten Partei. Trotz umstrittener Entscheidungen gelang es Engholm auch, die SPD auf Linie zu halten, obwohl er sicher nicht als starker Vorsitzender bezeichnet werden kann. Dennoch schaffte er es, die SPD gegen große Widerstände und unter der Androhung seines Rücktritts zur Zustimmung zum umstrittenen Asylkompromiss zu bewegen. Sein überraschender Rücktritt im Mai 1993 aufgrund einer falschen Aussage im Zuge der Barschel-Affäre stürzte die SPD in eine erneute schwere Krise, aus der sich die Partei mit einer Urwahl des neuen Parteivorsitzenden, wie sie erst kurz zuvor vom Parteivorstand zur Stärkung der innerparteilichen Demokratie beschlossen worden war9, befreien konnte. Angewandt wurde die Urwahl aber auch, weil sie vielen aus dem Parteivorstand der SPD als einzige Möglichkeit erschien, Gerhard Schröder als Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten zu verhindern. Die Kandidaten für die Urwahl mussten sich daher mit bestimmten Bedingungen eiverstanden erklären. Sie hatten das Ergebnis zu akzeptieren und es wurde nur ein Wahlgang durchgeführt, was schließlich zum Schaden Schröders war.10

Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul traten zur Urabstimmung an, bei der die rund 800 000 Parteimitglieder aufgerufen waren, ihren Parteivorsitzenden zu wählen. An einem „Tag der Ortsvereine“ und bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung11, gelang Rudolf Scharping aufgrund der erwähnten Besonderheiten des Wahlsystems ein Sieg. Die SPD hatte keine Stichwahl vorgesehen und so konnte der dem rechten Parteilager zugerechnete Scharping mit etwa 40 % die Oberhand gegenüber den „linken“ Kandidaten Schröder und Wieczorek-Zeul behalten. Die Wahl Scharpings aber drückte „nicht die mehrheitliche Grundtendenz der SPD aus. Intelligente Regisseure haben Verfahren durchgesetzt, die schlecht für Schröder und gut für Scharping waren (...). Der große Verlierer war die innerparteiliche Linke.“12

Gerhard Schröder musste sich auch in einem weiteren Punkt betrogen sehen. So hatte die Partei ausdrücklich beschlossen, dass mit der Urwahl keine automatische Entscheidung über die Kanzlerkandidatur verbunden sei. Dennoch erklärte Rudolf Scharping schon kurze Zeit nach seiner Wahl, er wolle auch Kanzlerkandidat werden.13 Damit zerschlugen sich auch die Hoffnungen Oskar Lafontaines, erneut als Kanzlerkandidat antreten zu können. Lafontaine hatte die Kandidatur Scharpings zum Parteichef in der Annahme unterstützt, dann mit Scharping eine Verabredung zur Kanzlerkandidatur treffen zu können.14 Den Verabredungen der Kandidaten entsprechend wurde Rudolf Scharping auf dem Bundesparteitag in Essen zum SPD- Vorsitzenden gewählt. Sein Ergebnis von nur 79,4 % der Stimmen (bis dato das schlechteste Ergebnis bei der Wahl eines Vorsitzenden der Partei ohne Gegenkandidatur) zeigte aber bereits eine ganze Anzahl innerparteilicher Kritiker.

Als großer Nachteil für die SPD erwies sich der sehr lange Wahlkampf, der praktisch bereits mit der Wahl Scharpings zum Parteivorsitzenden begann. Die Bundesregierung Helmut Kohls war bereits 1991 wieder in tiefe Umfragekrisen geraten, die unter Björn Engholm und Rudolf Scharping anhielten. „Noch zum Anfang des Jahres schienen die Regierungsparteien kaum in der Lage ihre Mehrheit zu verteidigen. (...) Der Regierungswechsel schien programmiert.“15 Erst mit Beginn des Jahres 1994 konnte Kohl gegenüber Scharping langsam wieder aufholen, ab dem Frühjahr überholte Kohl Scharping wieder. Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete (1987-1994) und Publizist Albrecht Müller bilanzierte in einem Essay, die SPD habe die Wahlen schon kurz nach den Europawahlen und den Wahlen in Sachsen-Anhalt verloren gehabt und sich dann auf niedrigem Niveau stabilisiert. Erst ein Strategiewechsel im Sommer habe dann eine deutlichere Niederlage verhindert.16 Im Sommer hatte Scharping mit einer „Troika“-Lösung auch die Ministerpräsidenten Lafontaine und Schröder in sein Team berufen, die wichtige Ministerposten erhalten sollten. Mit der Nominierung Schröders und Lafontaines am 29. August 1994 erholten sich die Umfrageergebnisse der SPD zwar, die Wahlniederlage aber konnten sie nicht mehr verhindern. Für die Niederlage Scharpings, die bei aller Kritik an dem Kandidaten nicht übermäßig deutlich ausfiel17, waren im Wesentlichen vier Gründe ausschlaggebend. Es gelang dem amtierenden Bundeskanzler, den leichten wirtschaftlichen Aufschwung für sich zu nutzen und darüber hinaus auch „andere Menschen von einem Aufwärtstrend zu überzeugen, wenn auch objektiv nur wenige Anzeichen“18 dafür vorlagen. Hinzu kamen die zumindest im Westteil erfolgreiche „Rote-Socken-Kampagne“ der Union, die vor einer Beteiligung der PDS warnte und eine Anzahl von Fehlern Scharpings, die dazu führten, dass er bald als langweilig und schlafmützig galt.19 Vielleicht wichtigster Grund war das Zögern der SPD bei der Beantwortung der Koalitionsfrage: „Da die SPD zur Koalition nicht sagt, können auch ihre Wähler nichts dazu sagen.“20 Statt erfolgreich eine Reformkoalition zu propagieren, versuchte Scharping sehr weit in das Potential der CDU vorzudringen, während die CDU um ehemalige SPD-Wähler warb. Joachim Raschke sprach von einer „Sozialdemokratisierung der CDU und Christdemokratisierung der SPD.“21 Dies führte auch dazu, dass die SPD deutlich weniger erfolgreich um die Erststimmen von Grünen-Wählern werben konnte als umgekehrt die Union bei liberalen Wählern. Nur 33,2 % der Grünen-Wähler stimmten mit ihrer Erststimme für die SPD, 54,6 % der FDP-Wähler aber wählten den CDU- Kandidaten.22 Zudem zeigten sich „Defizite in den großen Städten, in Süddeutschland und in Ostdeutschland“23 sowie „bei Jung- und Erstwählern sowie bei Wählern im Alter von über 60 Jahren“24 gegeben.

Der Wahlabend hatte zwar eine erneute Enttäuschung für die SPD gebracht, da Rudolf Scharping aber seinen Wechsel in die Bundespolitik vollzogen hatte und somit im Gegensatz zu seinen Vorgängern Rau und Lafontaine als Oppositionsführer zur Verfügung stand, machte in den Tagen nach der Wahl das Wort von der „zweiten Chance“ die Runde durch die Partei. Scharping, so meinten viele, habe nun eine weitere Kanzlerkandidatur verdient. Entsprechend gut fiel sein Wahlergebnis bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden aus.25 Die Strategie der Partei war ganz darauf ausgerichtet, hohen Druck auf die knappe Regierungsmehrheit auszuüben und so einen Bruch der Koalition und die Beteiligung an einer Großen Koalition zu erreichen. Tatsächlich aber folgte für Scharping ein schwaches Jahr. Es gelang ihm nicht, wirkungsvolle Oppositionspolitik zu betreiben, so dass von den Medien vielfach Joschka Fischer von den Grünen als wahrer Oppositionsführer bezeichnet wurde.

Dies führte im Sommer 1995 zum offenen Bruch zwischen Scharping und zahlreichen Spitzengenossen der SPD, darunter Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder oder Heide Simonis, die Scharping zum Verzicht auf den Partei- oder den Fraktionsvorsitz aufforderten. Dies lehnte Scharping ab.26 Dieser versuchte nun, Stärke zu demonstrieren. Ein Interview Schröders, in dem er erklärte es „gehe nicht mehr um sozialdemokratische oder konservative Wirtschaftspolitik, sondern um moderne und unmoderne“27 nahm Scharping zum Anlass für die Entlassung Schröders als wirtschaftspolitischer Parteisprecher. Diese Entscheidung wurde in der Partei ablehnend aufgenommen.28 Auch aus der Wirtschaft wurde Scharping kritisiert. In diesem „Sommertheater“ fiel die Partei zeitweise auf 28 Prozent Zustimmung zurück und verlor auch die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus mit nur noch 23,6 Prozent. In dieser Lage kam es dann zum Parteitag von Mannheim.

1.4. Die Doppelspitze Lafontaine und Schröder

Auf dem Mannheimer Parteitag vom 14. bis 17. November 1995 gelang Rudolf Scharping keine Rechtfertigung für die schwache Oppositionspolitik. Zwar nahm Scharping die Schuld für den schlechten Zustand der SPD auf sich; er lieferte den Delegierten aber keine befriedigenden Lösungsmöglichkeiten. Dagegen begeisterte Oskar Lafontaine am zweiten Tag in mit seinem „Bericht der Antragskommission“, der letztlich nichts anderes als eine Bewerbungsrede um die Parteiführung darstellte. Lafontaine versuchte aufzuzeigen, wie die SPD aus ihrer Krise herauskommen könnte. Er brachte keine neuen Politikentwürfe, begeisterte aber durch seine Rhetorik und seinen Appell an die alten Stärken der Sozialdemokratie.29 Zahlreiche Delegierte forderten Lafontaine zur Kandidatur auf und so wurde er am dritten Tag des Parteitages mit klarer Mehrheit zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt.30

[...]


1 Vgl. hierzu Zelikow, Philip und Rice, Condoleezza: Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1999

2 Jung, Matthias und Roth, Dieter: Kohls knappster Sieg. Eine Analyse der Bundestagswahl 1994, in: APuZ 51- 52/1994, S. 3-15, hier: S. 7-8.

3 Lafontaine, Oskar: Deutsche Wahrheiten. Die nationale und die soziale Frage, Hamburg 1990, S.192

4 ebenda, S.198

5 Filmer, Werner und Schwan, Heribert: Oskar Lafontaine, Düsseldorf 1996, S. 307.

6 Lübecker Nachrichten, 20. März 1990, S.2.

7 vgl. Gibowski, Wolfgang und Kaase, Max: Auf dem Weg zum politischen Alltag. Eine Analyse der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2.Dezember 1990, in: APuZ 11/12-1991, S. 3-20

8 Kölner Stadtanzeiger, 5.12.1990.

9 vgl. Blessing, Karlheinz, Die Modernisierungsdebatte der SPD, in: derselbe (Hrg.): SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993

10 vgl. Leif, Thomas und Rasche, Joachim: Rudolf Scharping, die SPD und die Macht, Reinbek 1994, S. 14-24

11 57 Prozent der Mitglieder beteiligten sich an der Befragung, die SPD wollte bereits 15 Prozent Beteiligung als Erfolg ausgeben, nach: Fuhr, Eckard: Zurück zur Mitte: Die SPD zu Beginn des Superwahljahres 1994, in: APuZ 1/994, S.8-11, hier: S. 9

12 Raschke, Joachim: Auf dem Weg zur Minimalpartei. Scharpings SPD oder der Verfall der Opposition, in: Blätter 7 (1994), S.800-811

13 Nur einen Tag nach der Mitgliederbefragung, am 14. Juni 1993, erklärte Scharping, dass die Frage nach der Kanzlerkandidatur zuerst vom Perteivorsitzenden beantwortet werde und machte damit die eigenen Ambitionen deutlich

14 Leif und Rasche: Scharping, S.18

15 Jung und Roth, Kohls knappster Sieg, hier: S.5

16 vgl. Müller, Albrecht: Die SPD nach der Wahl, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Heft 4/1994

17 erst durch Überhangmandate vergrößerte sich die Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP von zwei auf zwölf Sitze

18 Jung und Roth: Kohls knappster Sieg, hier: S.8

19 Bis heute nicht vergessen ist sein Kommentar nach der Europawahl, es habe in der ersten Runde eine Niederlage gegeben, weitere würden folgen. Außerdem verwechselte er in einer wirtschaftspolitischen Debatte die Begriffe „Brutto“ und „Netto“,

20 Raschke, Minimalpartei

21 ebenda, hier: S.803

22 Jung und Roth, Kohls knappster Sieg, hier: S.12

23 SPD analysiert selbstkritisch das Ergebnis der Bundestagswahl, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. November 1994

24 ebenda

25 239 von 243 anwesenden Fraktionsmitgliedern wählten Scharping am 18.Oktober 1994 zum Nachfolger von Hans-Ulrich Klose als SPD-Fraktionsvorsitzenden.

26 Vgl. Der Spiegel, Ausgabe 47/1995, S.22

27 Die Woche, 31. August 1995

28 Der Spiegel, Ausgabe 37/1995, S.41 – Nach der veröffentlichten Umfrage unter Parteimitgliedern lehnten 56 % die Entlassung Schröders ab, Scharping schade damit der Gesamtpartei.

29 Vgl. Focus, Ausgabe 47/1995 und Der Spiegel, Ausgabe 47/1995 und Süddeutsche Zeitung, Ausgabe vom 17. November 1995 und Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 17. November 1995

30 Lafontaine erhielt 321 Stimmen (62,6 %), Scharping nur 190 Stimmen.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Die Enkel auf dem Weg zum Erbe - Zur Gegenwart und Zukunft der SPD
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Seminar für politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Das Parteiensystem der BRD
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
33
Katalognummer
V12175
ISBN (eBook)
9783638181211
ISBN (Buch)
9783638642279
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine ausführliche Hausarbeit über die neuere Geschichte der SPD, ihre Entwicklung seit Beginn der neunziger Jahre bis hinein in die Regierungsverantwortung. Darüber hinaus wertvolle Informationen zu Parteifinanzen, Mitgliederentwicklung, Reformdiskussion u.v.m. Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand. 274 KB
Schlagworte
SPD, Parteiensystem, Neue Mitte, Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping, Björn Engholm, Parteienfinanzierung
Arbeit zitieren
Diplom-Politikwissenschaftler Dennis Buchner (Autor:in), 2001, Die Enkel auf dem Weg zum Erbe - Zur Gegenwart und Zukunft der SPD, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12175

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Enkel auf dem Weg zum Erbe - Zur Gegenwart und Zukunft der SPD



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden