Nikolaj Jakovlevic Danilevskij (1822-1885), russischer Naturwissenschaftler und Philosoph gilt als Vorläufer von Oswald Spengler (1880-1936) in seiner Darstellung der Theorie der kulturhistorischen Typen.
In seinem Hauptwerk "Russland und Europa" (die erste Buchausgabe erfolgte im Jahre 1871. Im Jahre 1920 publizierte Karl Nötzel die Teilübersetzungin deutscher Sprache) erarbeitet der russische Autor eine "pluribiozyklische Geschichtsdeutung", d.h. nach Hendrik Jacob Van der Pot: "diejenige Geschichtsdeutung, in der das eigentliche Subjekt der Geschichte nicht die Menschheit als Ganzes ist, sondern die einzelnen Kulturen (bzw. die einzelnen Völker oder Staaten) und dies alle denselben Lebenskreislauf von Entstehung, Wachstum, Blüte, Verfall und Untergang durchlaufen, ähnlich dem Lebenskreislauf der Organismen". Dazu wird auch in dieser Ausarbeitung skizzenhaft die Staats- und Kulturkreislauftheorie aus dem Orient (Ibn Khaldun) und Okzident (Vico) dargestellt.
Danilevskij unternimmt Versuch die Theorie mit der Praxis zu verbinden. Seine Theorie ist aber auf keinen Fall ein Allheilmittel und hat als seine fehlende Folgerichtigkeiten und Widersprüche als auch Idealisierungen und "Prophezeiungen".
In seinem Buch "Russland und Europa", die Edward C. Thaden als "one of the most interesting attempts of the nineteenth century to examine the forces and guiding principles determening of the course of universal history" beschreibt, findet man die Ideen der "kulturpluralistischen Auffassung mit der zusätzlichen Kritik am europazentristischen Geschichtsbild. Der Autor beschäftigt sich vor allem nach dem Krimkrieg (1853-1856) mit den Fragen, "ob Russland "glücklicher oder unglücklicherweise zur Europa gehörte" und "; "Warum Europa gegenüber Russland Fremd ist", oder ob der Westen "fault" und ob ein Krieg in Europa unvermeidlich ist?
Danilevskij versucht normativ-ontologischen Ansatz mit dem empirisch-analytischen zu verbinden. Sein "Konzept" kann man als eine Möglichkeit zum "Nachdenken über die Gegenwart und Zukunft Europa" auch sehen.
And last but not least, Nikolaj Jakovlevic Danilevskij ist bis heute im Westen auch kaum bekannt als Kritiker der Evolutionstheorie von Darwin. Kann sein, dass sein zwei bändiges Werk ist bis heute nur in der russischen Sprache vorhanden.
Diese Ausarbeitung widmet sich vor allem der Theorie von Danilevskij. Dazu gehört auch ein historischer Rückblick auf die russische Geschichte und Philosophie.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I.) Die Entstehung des Themas „Russland und Europa“
II.) Danilevskij und die „pluribiozyklische Geschichtsdeutung“
III.) Zielsetzung und Fragestellungen
IV.) Der Aufbau der Arbeit
V.) Begriffsklärungen und Schreibweise
Teil A: Die russische Geschichte und der russische Denker Nikolaj Danilevskij Das Hauptwerk „Russland und Europa“
I.) Ein historischer Rückblick auf die russische Geschichte und Philosophie
1) Drei wesentliche Bausteine der russischen Geschichte bis Ende
des 19. Jahrhunderts
a) Die russische Orthodoxie
b) Die territoriale Größe
c) Vom „Gendarm Europas“ zum „Befreier“?
2) Die Spaltung in der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts
a) Westler
b) Slawophile
3) Panslawismus und Eurasismus
II.) Wer war Nikolaj Jakovlevič Danilevskij?
1) Kurze Biographie (1822–1885)
2) Vergessenheit und Wiederentdeckung
3) Die Werke
III.) Das Hauptwerk „Russland und Europa“
1) Hauptideen
2) Schicksal des Buches
a) Die deutsche Teilübersetzung von Karl Nötzel (1920)
b) Polemik
Tei. B: Die Theorie der kulturhistorischen Typen von Danilevskij
I.) Das Prinzip der Periodisierung der Weltgeschichte und die Fortschritts- definition
II.) Die kulturhistorischen Typen (Zivilisationen) in der organischen Darstellung und der Kreislauf der Geschichte
III.) Die Tätigkeit des Volkes in der Geschichte
1) „Selbständiger Kulturtypus“
2) „Gottesgeiseln“
3) „Ethnografisches Material“
IV.) „Gesetze der kulturhistorischen Entwicklung“
1) „Verwandtschaft der Sprache“
2) „Politische Unabhängigkeit“
3) Grundlagen sind nicht übermittelbar/„Einwirkung ist nicht Übermittlung“
a) „Verpflanzung/Kolonisation“
b) „Einimpfung/Vermittlung“
c) „Bodenverbesserung/Vervollkommnung"
4) Mannigfaltigkeit
5) Periode des „Entwicklungsganges“
a) „Ethnografische Periode“
b) „Staatliche Periode“
c) „Zivilisationsperiode“
d) „Apathie der Selbstzufriedenheit oder Verzweiflung“
V.) Zivilisationsunterschiede
1) „Seelische Veranlagung“
2) „Unterschiede in den Glaubensbekenntnissen“
3) „Unterschiede in der historischen Erziehung“
VI.) Der „slawische kulturhistorische Typus“ und die „allgemeinen Zweige der Kulturtätigkeit“
1) „Die religiöse Tätigkeit“
2) „Die Kulturtätigkeit im engeren Sinne“ (Wissenschaft und Kunst)
3) „Die politische Tätigkeit“
4) „Die gesellschaftlich-ökonomische Tätigkeit“
VII.) Inkonsequenzen, Widersprüche und Idealisierungen in der Theorie der kulturhistorischen Typen
1) Fehlende Folgerichtigkeit und Widersprüche
2) Idealisierungen und “Prophezeiungen“
3) Kommentare und einige kritische Bemerkungen
Teil C: Der Kampf bei Danilevskij
I.) „Zusammenstöße der Völker“ in den Übergangsphasen
II.) „Kampf Europa gegen Europa“
III.) „Kampf mit Europa“ 86 1) „Orientalische Frage“
a) „Mohammedanertum“ und die Türkei
b) Die Idee über „die Befreiung unterjochter Christen“
2) Der Kampf als „das einzige Rettungsmittel“
IV.) „Sein oder Nichtsein des allslawischen Bundes“
V.) Zerstörerische Kraft des Krieges als Friedensgarant?
Teil D: „Pluribiozyklische Geschichtsdeutung“ vor und nach Danilevskij (Orient und Okzident). „Kampf zwischen den Kulturen“?
I.) Staatskreislauftheorie und Kulturkreislauftheorie
1) Ibn Khaldūn und sein Lebenskreislauf des Staates
2) Vico und die „storia ideale eterna“
II.) Oswald Spengler und seine „Kreislauftheorie“
1) Kurze Biographie des Autors – sein Buch „Der Untergang des Abendlandes“
2) Der Kreislauf der Geschichte bei Spengler
3) Wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei Spengler und Danilevskij
III.) Gegenwartsthesen zum Thema „Kampf“. Russland und Europa
Zusammenfassung
Anhang
1. Danilevskij-Porträt („von Anfang bis Ende“)
2. Titelseite des Buches „Russland und Europa“ von
3. Inhaltsverzeichnis des Buches „Russland und Europa“ in Vergleichsform zwischen dem russischen Text und der deutschen Teilübersetzung von
4. „Hauptströme der Weltgeschichte“ nach Danilevskij (bildliche Darstellung)
5. A: Ausschnitt aus dem Brief Nikolaus I. an Franz Joseph I. von B: „Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Geschichtstheoretikern seit Danilevskij“ (in tabellarischer Form)
Literaturverzeichnis
Einleitung
I.) Die Entstehung des Themas „Russland und Europa“
Die russische Philosophie entwickelte sich auf den Grundlagen der griechisch-römischen An- tike, des Hellenismus und des Christentums. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts be- ginnt sie als „Ereignis und Gestalt sui generis“ hervorzutreten und man spricht über ihre „er- ste Blüte“1 zum Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass vieles davon nach der Oktoberrevolution (1917) durch die Emigra- tion auf außerrussischem Boden entstanden ist.2
Die Beziehung Russlands zum Westen (Europa) beschäftigt fast alle russischen Denker (Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler) schon deswegen, weil Russland zwischen Ost und West liegt, was nicht geografisch, sondern im Sinne einer „ganz besondere[n] kulturel- le[n] Individualität“3 zu verstehen ist. Darunter subsumiert man die historische, religiöse, so- ziale, politische, ökonomische, psychologische und kulturelle Entwicklung im engeren Sinne, wie z.B. literarische Einzigartigkeiten. Es ist aber nicht nur ein ausschließlich spezifisch russi- sches Interesse gewesen, so z.B. hat Johann Gottfried Herder (1744–1803), deutscher Ge- schichts- und Kulturphilosoph, in seiner Schrift „Über das schnelle Kunstbild der Völker. Unterredungen auf einem Spaziergang“ von 1797 in einem Dialog die folgende Frage gestellt:
„A: […] wohin gehört Rußland? Zu Europa oder zu Asien? B: […] Zu beiden. Dem größten Erdstrich nach zwar zu Asien; sein Herz liegt aber in Europa […].“4
Die nachhaltige Wirkung der Frage des 19. Jahrhunderts: „Ist Russland leider oder erfreuli- cherweise, zum Glück oder zum Unglück Europa?“5, bekommt man bis heute sowohl in der Politik als auch im alltäglichen Leben und in den öffentlichen Medien zu spüren. Allerdings beschäftigte sich damals damit vor allem die russische „Intelligenzija“. Darunter wird eine geistige soziale Vereinigung verstanden, die „tragisch zwischen Imperium und Volk stand“ und keine soziale Klasse war, eher eine idealistische Klasse. Sie widmete sich vollkommenen Ideen und war bereit, sich dafür zu opfern. In diesem Sinne ist nicht jeder Wissenschaftler in Russland ein Angehöriger der Intelligenz.6 Diese Intelligenzija7 spaltet sich in der russischen Geistesgeschichte im Wesentlichen in ihren Ansichten zum Schicksal Russlands8.
II.) Danilevskij und die „pluribiozyklische Geschichtsdeutung“
Durch die Fragestellung: „Ist Russland Europa?“ erarbeitete der russische Naturwissenschaft- ler und Denker Nikolaj Danilevskij (1822–1885) die Theorie der kulturhistorischen Typen (weiter als „Theorie“ oder Theorie von Danilevskij) im Buch „Russland und Europa“ (weiter als „Russland und Europa“). „Russland und Europa“ war laut Thaden „one of the most inter- esting attempts of the nineteenth century to examine the forces and guiding principles deter- mening the course of universal history“ (Thaden 1964: 102). Zum ersten Mal wurde „Russ- land und Europa” im Jahr 1869 publiziert. In den 60er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand durch die Außenpolitik eine Antipathie zwischen Europa und Russland9. Zusätzlich zu diesem politischen Hintergrund war das „Ziel“ des Autors, die theoretischen Grundlagen für die Entstehung einer möglichen neuen slawischen Kultur vorzulegen und ihre „Selbstän- digkeit und Notwendigkeit“ zu beweisen.10 Seine Geschichtsphilosophie unterscheidet sich von den damals verbreiteten Vorstellungen von einer „Schatzkammer der Kultur“, wo eine ununterbrochene Entwicklung einer ausschließlich europäischen Kultur vorhanden ist und wo alle anderen Kulturen nur als „deren Entwicklungsstufen“ gesehen wurden.11
Laut Danilevskijs „pluribiozyklischer Geschichtsdeutung“ verläuft jede einzelne Kultur nach einem eigenem Lebenszyklus: Geburt, Entwicklung, Höhepunkt oder Blüte und Untergang, d.h. die verschiedenen Kulturen befinden sich gleichzeitig in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung. Unter der „pluribiozyklischen Geschichtsdeutung“ wird die Definition von Jo- han Hendrik Jacob Van der Pot verstanden, d.h. „diejenige Geschichtsdeutung, in der das ei- gentliche Subjekt der Geschichte nicht die Menschheit als Ganzes ist, sondern die einzelnen Kulturen (bzw. die einzelnen Völker oder Staaten), und diese alle denselben Lebenskreislauf von Entstehung, Wachstum, Blüte, Verfall und Untergang durchlaufen, ähnlich dem Lebens- kreislauf der Organismen“ (Van der Pot 1991: 612).
Man spricht über die natürlichen Zyklen, so wie sie in der Natur vorhanden sind. Die biologi- schen (Darwin) und zyklischen (Vico) Elemente sind nicht Danilevskijs spezifische Beson- derheiten. Wichtig ist bei dem russischen Denker, dass er „die universalistischen Züge“ der geradlinigen Entwicklung der Weltgeschichte systematisch und konsequent kritisiert hat (vgl. Afanasjev 2002: 7). An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass in der Geschichts- philosophie zwischen „Universalgeschichte“ und „Kulturpluralismus“ unterschieden wird. Erstere beschäftigt sich mit den einheitlichen Prozessen der Weltgeschichte für die ganze Menschheit. Die zweite vertritt die These, dass es keine einheitliche Geschichte der Mensch- heit gibt, sondern nur die Geschichte einer Vielheit von einzelnen, selbstständig sich entwic- kelnden Kulturen. Dieser „kulturpluralistischen Auffassung“ mit der zusätzlichen Kritik am europazentristischen Geschichtsbild folgte Danilevskij (vgl. Van der Pot 1991: 15). Die Vor- aussetzung der „politischen Unabhängigkeit“ bei den Subjekten der Weltgeschichte war für ihn primär das, was entweder erkämpft oder verteidigt werden soll. Seine Darstellung der kul- turhistorischen Typen ist spezifisch, da sie einen Versuch unternimmt, die Theorie mit der Praxis zu verbinden. Sie ist aber auf keinen Fall ein Allheilmittel. Seine Ideen beanspruchen nicht den Status der „absoluten Wahrheit“, deren Bedeutung Nikolaj Danilevskij auch zu wi- derlegen versucht hat.12 Die optimistischen Hoffnungen und der Glaube an die Entstehung einer „möglichen selbständigen slawischen Kultur“ ist auch eine Art der „positive[n] emotio- nale[n] Stimmung“, welche der Autor den slawischen und vor allem russischen Völkern wäh- rend der Krisenzeiten des fortschreitenden Kapitalismus im 19. Jahrhundert zu vermitteln versuchte13. All das macht es interessant, die Zusammensetzung und die Mechanismen seiner Theorie näher kennen zu lernen.
III.) Zielsetzung und Fragestellungen
Ziel dieser Diplomarbeit ist die Darstellung der Theorie von Danilevskij, in welcher die kul- turhistorischen Typen die Objekte sind. Sie sind gleichzeitig die Subjekte der Weltgeschichte, deren weitere Entwicklung laut Autor aus dem Zusammenstoß oder Kampf innerhalb eines kulturhistorischen Typus oder zwischen verschiedenen kulturhistorischen Typen entsteht.
Bei der Darstellung der Theorie werden insbesondere folgende Fragen behandelt:
- Nach welchen Phasen verläuft der Kreislauf der kulturhistorischen Typen?
- Wie wirkt die „schöpferische Tätigkeit“ von Völkern auf die Vollkommenheit der Entwicklung der kulturhistorischen Typen, und kann man dabei von einer „möglichen selbstständigen und einzigartigen slawischen Zivilisation“ sprechen?
- Sind die Zusammenstöße innerhalb und außerhalb der kulturhistorischen Typen für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte notwendig und „unvermeidlich“?
- Kann die Idee von Danilevskij über den „unvermeidlichen Kampf“ ohne die geschichtlichen Hintergründe zur Beziehung zwischen Europa und Russland richtig und objektiv verstanden werden?
- Welche Beispiele der „pluribiozyklischen Geschichtsdeutung“ im Orient und Okzident waren vor und nach Danilevskij vorhanden?
Es wird sich herausstellen, ob man über einen Kampf zwischen den Kulturen sprechen kann.
IV.) Der Aufbau der Arbeit
Um das Ziel dieser Diplomarbeit zu erreichen und die Fragen objektiv und wissenschaftlich zu behandeln, wird als Erstes (Teil A) ein kurzer Rückblick auf die Geschichte Russlands unternommen, welcher im Text „Russland und Europa“ an einigen Stellen vollständig vor- handen ist. Dies erscheint sinnvoll für das Verständnis der Beziehung zu Europa und für die Erklärung der geistigen Spaltung der russischen Intelligenzija im 19. Jahrhundert. Nikolaj Danilevskij hat mit seinem Buch in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts am meisten öffentli- ches Aufsehen erregt. Die marxistisch-leninistische Ideologie schenkte dem russischen Den- ker keine Aufmerksamkeit mehr, was bis zu den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts dauerte. Seine Biografie und die Hauptideen im Werk „Russland und Europa“ werden kurz erläutert. In diesem Teil werden in den Fußnoten die russischen Redewendungen erklärt. Die Herrscher und Philosophen werden kurz vorgestellt, was bei der späteren Nennung dieser Namen das Verständnis des Inhaltes erleichtern soll. Als Zweites (Teil B) werden die wesentlichen Ele- mente und „Gesetze“ der Theorie von Danilevskij ausgearbeitet. Die Aufgabe besteht darin, möglichst dem Original14 zu folgen und nur im Nachgang auf einige Inkonsequenzen, Wider- sprüche, Idealisierungen oder die späteren Kommentare des Autors hinzuweisen. Zusätzliche Grafiken zeigen den Kreislauf der kulturhistorischen Typen und ein Modell des „möglichen slawischen“ kulturhistorischen Typus im Vergleich zu den europäischen. Als Nächstes (Teil C) wird man sich mit dem Begriff „Kampf“ in der Theorie von Danilevskij beschäftigen. Zu- sätzlich zum Hauptwerk „Russland und Europa“ werden andere politische Aufsätze verwen- det und – falls notwendig – im Text direkt übersetzt. Die Teile B und C weisen eine Vielfalt von Danilevskij–Zitaten auf, um dem Original möglichst treu zu bleiben. Da Theorien ihre Vor- und Nachläufer haben, wird anschließend (Teil D) skizzenhaft die Staats- und Kultur- kreislauftheorie dargestellt. Dies erfolgt an Beispielen aus dem Orient (Ibn Khaldūn) und dem Okzident (Vico). Aus folgenden Gründen fiel die Auswahl auf Ibn Khaldūn (1332–1406) und Giambattista Vico (1668–1744):
- Die Geschichtsdeutung beider Denkern ist „pluribiozyklisch“.
- Außer der Darstellung des Staatskreislaufes ist die Idee von Ibn Khaldūn über die „fortschrittliche“ Rolle des Kampfes am Anfang der Entwicklung einer Dynastie für das gestellte Ziel dieser Diplomarbeit von Interesse.
- Vico wird zu den Ersten gezählt, die „pluribiozyklische Geschichtsbetrachtung und Konsensusgedanken zu einer groß angelegten Geschichtsdeutung vereinigt“ haben.15 Für das gestellte Ziel in dieser Diplomarbeit ist sein Sittenverständnis für die Erhal- tung einer „Nation“ auch deswegen interessant, weil Danilevskij die wichtige Rolle der nationalen Einzelartigkeit hervorhebt und die blinde Nachahmung kritisiert.16
Danilevskij wird oft als Vorläufer von Oswald Spengler (1880–1936) genannt17, was im Rahmen dieser Diplomarbeit Aufmerksamkeit verdient. Der Vergleich der „pluribiozykli- schen Geschichtsdeutung“ von Spengler im 20. Jahrhundert mit der Theorie von Danilevskij aus dem 19. Jahrhundert ist nicht nur aus der Perspektive des Kreislaufes interessant, sondern auch aus dem Verständnis des „Kampfes“ oder „Krieges“ in der weiteren Entwicklung der Geschichtsdeutung bei beiden Denkern.
Zusammengefasst besteht diese Diplomarbeit aus den vier oben erläuterten Teilen sowie der Einleitung, der Zusammenfassung und dem Anhang. Der Anhang № 1 symbolisiert den Kreislauf von Danilevskijs Leben am Beispiel von vorhandenen persönlichen Fotos. Die An- hänge № 2, 3, 4, beziehen sich auf das Buch „Russland und Europa“. № 2: ist die Titelseite der Auflage von 1871, die in dieser Diplomarbeit hauptsächlich verwendet wurde. № 3: ist das verkürzte Inhaltsverzeichnis im Vergleich zu der deutschen Teilübersetzung von 1920. № 4: ist eine „Visualisierung“ der abschließenden Gedanken über „die Strömen der Weltge- schichte“ von Danilevskij, welche auf einen Widerspruch mit der Theorie von Danilevskij verweist (siehe Teil B.VII). Der Anhang № 5 besteht aus dem Teil A (oben): „Ein Auszug aus dem Brief des russischen Zaren Nikolaus I. an den österreichischer Kaiser Joseph I. von 1854“ und Teil B (unten): eine Zusammenfassung von „Unterschieden und Gemeinsamkei- ten“ zwischen Geschichtstheoretikern seit Danilevskij, die im Teil D kommentiert werden.
V.) Begriffsklärungen und Schreibweise
Gleich am Anfangs sollen einige Begriffe erklärt werden, wie: „kulturhistorische Typen“, „Zivilisation“, „Kultur“ und „Geschichtsphilosophie“, vor allem in Danilevskijs Verständnis. Der Begriff „kulturhistorischer Typ“ bedeutet für Danilevskij „eine große linguistisch-ethno- grafische menschliche Familie oder Stämme der menschlichen Art, welche durch gemeinsame kulturelle Besonderheiten [von anderen -V.B.] sich unterscheiden […]“18. Die Völker spielen dabei eine zentrale Rolle. Für die Bezeichnung der kulturhistorischen Typen verwendet Dani- levskij auch die Begriffe „Typus“, „Kulturtypus“, „Kultur“, „lebendige Organismen“ und „Zivilisation“ oder „selbstständige Zivilisationen“. So sind alle diese Begriffe in dieser Di- plomarbeit zu verstehen. Der Begriff „Zivilisation“ wurde bei Danilevskij im weiteren Sinne als Synonym für die Bezeichnung von kulturhistorischen Typen verstanden. Im engeren Sinne (siehe Teil B.II.) bedeutet er „Blütezeit“ oder „Höhepunkt“ in der Entwicklung der kulturhi- storischen Typen, wobei der Begriff nicht negativ belegt ist, obwohl er auch auf das kom- mende Ende verweist. Hier liegt der Unterschied zum Verständnis und Gebrauch dieses Be- griffes bei Danilevskij und vor allem im deutschsprachigen Raum um das Ende des19. Jahr- hunderts. Laut Michael Pflaum entwickelt sich das Wortpaar ’Kultur und Zivilisation’ (lat.: „colere“, „cultura“ und „civis“, „civilis“ „civilisation“19) vor allem in der Philosophie und übrigen Wissenschaften von der synonymen Bedeutung zur Abgrenzung und mit dem Werk Oswald Spenglers zu seinem Höhepunkt, der „endgültigen Einbürgerung der Antithese“:
„ Kultur ist lebendig , Zivilisation ist unschöpferisch“20 (vgl. Pflaum 1967).
Unter dem Begriff „Fortschritt“ sind für Danilevskij vor allem die technischen, wissenschaft- lichen und kulturellen Entwicklungen versammelt. Die fortschrittliche Bewegung ist für Dani- levskij nicht die Bewegung in „eine Richtung“, sondern in mehrere, was sich in der Formel:
„a + b > a“, „the motto at the head of chapter VI“, gut ablesen lässt.21 Ferner ist bei ihm die entstehende Gefährdung der menschlichen natürlichen Existenz zu erkennen. Dazu gehören z.B. „europäischer Luxus“ oder die falsche und verschwenderische Nutzung von den Natur- ressourcen. (Vgl. Danilevskij 2002: 270 und Danilevskij 1895: 410, *Fußnote)
Die Theorie der kulturhistorischen Typen stellte eine Geschichtsphilosophie von Danilevskij dar. Der Begriff „Geschichtsphilosophie“ wird nach Ernst Nolte als „ […] Philosophieren über die Geschichte [verstanden – V.B.]. Denken über ’das Ganze’, […] die Welt […] nicht in Bildern, sondern in Begriffen denken […]. Sie hat die ganze Weltgeschichte im Blick und sucht ’deren innere Logik’ zu enthüllen. Zu dieser Logik gehört eine Gliederung nach Epo- chen, die einen Anfang nimmt und auf ein Ende gerichtet wird […]“ (Nolte 1991: 12 f., 15). Es ist für Danilevskij auch die konkrete Geschichte vor allem von Russland und Europa, die durch die aktuellen politischen Ereignisse geprägt ist und eine Zusammenfassung des geisti- gen Umfelds vor allem im Russland des 19. Jahrhunderts darstellt. Man kann es sich als eine Zeitdiagnose aus der Sichtweise des russischen Denkers und als einen dialektischen Ansatz des ineinanderfließenden Übergangs als Ablösung der kulturhistorischen Typen vorstellen.22 Die Literatur wurde sowohl in den westeuropäischen Sprachen (Deutsch, Englisch, Franzö- sisch) als auch in der russischen Sprache verwendet; deswegen soll die einheitliche Schreib- weise russischer Begriffe in dieser Diplomarbeit kurz erläutert werden.
Für die einheitliche Schreibweise werden die slawischen Namen, Orte und Begriffe im Text nach der Dudentransliteration (Duden: 2006, 86) geschrieben, was auch der bibliotheka- rischen Transliteration entspricht. Es wird z.B. Solov’ёv statt Solowjew und Čaadaev statt Tschaadaev geschrieben, mit Ausnahme von auch im Deutschen gebräuchlichen Begriffen, wie Peter statt Pjoter oder Pёter, Herzen statt Gerzen, Moskau statt Moskva, Slawen statt Sla- ven, und die wörtlichen Zitate in deren Schreibweise übernommen: z.B. bei MacMaster:
„ […] The autor of the articles, Nicholas Danilevsky […]“ statt Nikolaj Danilevskij. Die Zita- te aus den russischen Quellen werden im Text von der Verfasserin dieser Diplomarbeit selb- ständig in die deutsche Sprache übersetzt. Dabei wird jeweils ein Vermerk im Text oder in den Fußnoten vorgenommen (von V.B.), welcher nur bei der jeweils ersten Erwähnung der Quelle angefügt wird. Das Original wird nur dann wiedergegeben, wenn der besondere Stil der Quelle und die Darstellung der russischen Realia betont werden sollen. Dabei handelt es sich nur um die Worterklärungen, biographische Kurzinformationen und Zitatnachweise. Die sinngemäßen Zitate werden im Text durch die Anführungszeichen („….“) abgesondert. Damit der Text nicht unnötig durch die russische Schreibweise belastet wird, werden die russischen Namen, Ortsbezeichnungen und russischen Ausdrücke nur in den Fußnoten sowie z.T. als kyrillisches Original als auch in der bibliothekarischen Transliterationsform mit der Überset- zung ins Deutsche wiedergegeben. Englische und französische Quellen werden im Original zitiert und nicht ins Deutsche übersetzt.
Verwendete Literatur. Das Literaturverzeichnis ist nach alphabetischem Prinzip aufgelistet, wobei die Internetquellen unabhängig davon zum Schluss erwähnt werden. Die Angaben von den Quellen in der russischen Sprache wurden in 3-facher Variante gemacht. An erster Stelle steht die wissenschaftliche Bibliothekstranskription. Diese ist notwendig und hilfreich für das Auffindung der Quellen in den deutschen Bibliotheken. Danach folgt die Übersetzung des Titels in die deutsche Sprache, welche in Klammen gesetzt wird (auch in Fußnoten). Zuletzt wird in der Originalsprache Russisch (kyrillisch) geschrieben. Das Manuskript „Russland und Europa“ (1869), noch nicht veröffentlichte und handschriftliche Briefe und Notizen von und an Danilevskij sowie die Erinnerungen über Danilevskij, die zum Archiv-Material gehören, werden aus der Publikation von Kiselёv, S.N.(1999)23 und der Dissertation von Pticyn, A. N.(2003)24, übernommen. Der selbständige Zugriff auf die Archiv-Materialien war aus ter- minlichen und örtlichen Gründen sehr erschwert.
Im Rahmen dieser Diplomarbeit wurden zusätzlich folgende persönliche Kontakte (telefoni- sche und via E-Mail) sowohl in Russland als auch in Europa aufgenommen: mit der Ururen- kelin von Danilevskij (Olga V. Strueva-Danilevskaja/Russland); Professoren und Autoren einiger genannten Quellen im Literaturverzeichnis (Staatsuniversität in Samara: Prof. Dr. Pe- ter S. Kabytov, Dr. Vera Dubina/Russland und Dr. Sergej Kiselёv/Ukraine; Prof. Dr. Patrick Sériot, F./Universitè de Lausanne; Herausgeber, Buchautor und Hon.-Prof. an der U- NISG/KWA, Felix Ingold, sowie Prof. Dr. Walter Hoeflechner an der Universität Graz). Für den Austausch über die Kulturkreislauftheorie bei Vico fand im April 2008 das Treffen mit Kriszina Adorjan (zurzeit Promotion in München an der HfP bei Prof. Dr. Ulrich Weiß) statt.
Teil A: Die russische Geschichte und der russische Denker Nikolaj Danilevskij Das Hauptwerk „Russland und Europa“
Nikolaj Jakovlevič Danilevskij25 wurden unterschiedlichen Epithetons sowohl in Russland als auch in Europa verliehen. Er wurde das „Salz der russische Erde“26 und der „einzigartige Kopf“27 genannt; in Österreich wurde als er „Apostel des Slawentums“ (Bestušev-Rjumin 1888: 559) und in der Zeit des „Kalten Krieges“ als „a russian totalitarian philosopher“ (MacMaster: 1967) tituliert. Er war Naturwissenschaftler von Beruf, aber eben ein russischer Kulturphilosoph, Soziologe und „der russische Geschichtsphilosoph“ (Van der Pot 1999: 31) und russischer Denker, dabei „kein religiöser Denker, aber ein gläubiger Mensch“ (Baluev 2001a: 100).
Zu Danilevskijs Lebzeiten war das russische Reich innenpolitisch durch die unvollendeten, aber dringend notwendigen Reformen, wirtschaftlichen und militärischen Rückstand gekenn- zeichnet. Die intellektuellen Spaltungen beunruhigten die Gesellschaft durch terroristische Attentate nicht nur auf Zaren.28 Außenpolitisch wurde das Land weder von Europa noch von Asien vollständig aufgenommen, was durch die militärische (Krimkrieg, 1853–1856) und diplomatische (Berliner Kongress, 1878) Niederlage deutlich zu spüren war. Russland hat seinen früheren Status der Zugehörigkeit zu den großen europäischen Mächten verloren. In dieser Situation versuchte sich Russland nicht von den anderen Slawen abzugrenzen. Zwar wurde die Idee von der Vereinigung aller Slawen durch die Entstehung von Nationalstaaten in Europa (1870: „Risorgimento“/Wiederentstehung Italiens und 1871: Deutsche Einigung) ge- stärkt. Den Kern dieser Ansichten sollte man in der über 1.000 Jahre alte Geschichte von Süd, Ost- und Westslawen, in der Entstehung von Altrussland sowie der Selbstbildung anderer slawischer Völker suchen.29
In solchen „Krisenzeiten“ oder „Wendepunkten“ entsteht nach dem Soziologen Pitirim Soro- kin30 „[…] eine Belebung der Denk- und Forschungsarbeit über das Warum und Wieso, das Woher und Wohin des Menschen, der Kultur und der Menschheit im Allgemeinen […]“ (So- rokin: 1953: 7 f.). Die russische Intelligenzija stellte ähnliche Fragen an die Gesellschaft:
„Wer ist schuld, wohin sollen wir gehen, was sollen wir tun?“31 Die Beantwortung dieser Fra- gen kann man sowohl in den „Erkenntnissen der Vergangenheit mit seiner Differenzierung, Genauigkeit und Sachlichkeit durch die vergleichende und evolutionistische Betrachtung“ (vgl. Troeltsch 1924: 3) aufsuchen, als auch in den Analysen der gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaftlichen Lage des „Mütterchen – Rus’“32.
Der Rückblick auf die Geschichte stellt normalerweise das Bild der Entstehung eines einzig- artigen Landes dar. Durch den kurzen Rückblick auf die russische Geschichte, in diesem Teil, wird verständlich, warum die historischen Tatsachen in „Russland und Europa“ eine wichtige Rolle spielen.
I. ) Ein historischer Rückblick auf die russische Geschichte und Philosophie
Die Geschichtsschreibung seit Homers Zeiten war mit den Taten von berühmten Persönlich- keiten verbunden, die für ihr Volk und das Land eine schicksalsträchtige Rolle gespielt hatten. In Russland waren durch ihre historische Entwicklung die Staatsmacht und der Ort des Zen- trums dieser Herrschaft von großer Bedeutung. Sie haben sich zu so „einer Art Polis“ auf der Basis des Verhältnisses von zwei Autoritäten entwickelt: des Fürsten und der Versamm- lung/Veče33 (vgl. Utechin 1966: 9). Dementsprechend kann die Darstellung der russischen Geschichte in die folgenden fünf Perioden unterteilt werden, die jeweils eigene Geschichts- bilder mit sich bringen: „ […] the Russia of Kiev; Russia in the days of the Tartar yoke; the Russia of Moscow; the Russia of Peter the Great and Soviet Russia. And it is quite possible that there will be yet another new Russia“ (Berdyaev 1947: 3). Der russische Historiker und Politiker Pavel Miljukov (1859–1943) kennzeichnete „die russischen Prozesse“ mit zwei Worten, in welchen „die Wahrheit mit einem Fehler verknüpft ist“ und deswegen die beiden „extrem“ auffallen. Das sind: die „äußerste Einheit“ und die „völlige Eigenständigkeit“.34
Diese Charakteristika sind treffend seit der Entstehung des russischen Reiches.
Die schriftlichen Überlieferungen der Geschichte sind die Hauptquelle, um die Vergangenheit zu rekonstruieren, da solche Texte ausdrücklich die Existenz der Urvölker nachweisen kön- nen. In diesem Fall sollte die Analyse der vollständigen Geschichte von Russland ab der „Ne- storchronik“35 angefangen werden. Es würde den Rahmen dieser Diplomarbeit überschreiten, weswegen diese Überlieferungen zwar berücksichtigt werden, aber der Rückblick36 auf die Geschichte Russlands und ihre Beziehungen zu Europa wird auf der Basis wesentlicher Bau- steine der Geschichte des „land of extremes“ (Hecker 1916: 19) aufgebaut.
1) Drei wesentliche Bausteine der russischen Geschichte bis Ende des 19. Jahrhunderts
In den russischen wissenschaftlichen Analysen von Flier vergleicht der Autor das „Russ- landbild“ in den überlieferten schriftlichen Chroniken mit den byzantinischen, arabischen und europäischen Texten. Diese Studie führte ihn zum Ergebnis, dass Altrussland nicht nur aus- schließlich aus den slawischen Völkern bestand. Nur die gemeinsame Sprache verweiste da- mals auf die „slawische Dominanz“. Über die Gesandtschaft der „Rohs“3738 in Konstantinopel wurde bereits im Jahre 838 berichtet. Aber erst das Christentum und die „Taufe“ (988) führen zur Entstehung „der russischen Erde“ (vgl. Flier 1994: 94 ff.)39. Ab jetzt hat der Führst Vla- dimir40 den Weg für Russland (damals noch das ostslawische, warägisch-russische Reich der Kiever Rus’) in das christliche Reich Europas in seiner byzantinischen Form, mit dem ersten Russen, Mitrapolit Ilarion41, auf dem „Kiever Stuhl“, geöffnet. Seit diesem Zeitpunkt wird über „die Geschichte des russischen Volkes als über sein eigenes Leben“42 gesprochen, da die Rechtgläubigkeit/Orthodoxie untrennbar von Rus’ war. Zu den Bausteinen können: a) die Orthodoxie, b) das Territorium und c) die Regierungsform gezählt werden.
a) Die russische Orthodoxie
Die russische Orthodoxie bestimmt den weiteren Verlauf der russischen Geschichte. Trotz vieler Gemeinsamkeiten mit dem römisch-katholischen Christentum fehlte die Orientierung an der Antik. Der Primat Roms wurde nicht anerkannt. Diese Distanz „der russischen Ortho- doxie gegenüber dem Westen“ bestimmte auch das Schisma von 1054. Diese Spaltung führte zu einem „selbstständigen Weg“ der Slawen sowohl in der Religion als auch später in der Philosophie und generell in der Staatenentwicklung durch das byzantinische Erbe mit allen seinen Stärken und Schwächen (vgl. Nolte 2005: 29 ff.).
Die Schwäche Russlands in der Mongolen- oder Tatarenzeiten43, wo die „tiefgreifenden Brü- che, jene asynchronen und asymmetrischen Beziehungen zwischen Russland und Europa“ grundzugelegt wurden, gelingt erst Ivan III.44 im 15. Jahrhundert zu beseitigen; er führt das ganze Rus’ in die osteuropäischen Großmächten ein und beginnt parallel das russische Ethos zu formieren. Durch die Heirat mit der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, Prinzessin Zoe Palaiologou (1455–1503), proklamierte sich Rus’ offiziell zum berechtigten Nachfolger des byzantinischen Erbes mit dem russisch-orthodoxen Glaube und allen dazugehörenden Symbolen, wie z.B. den Titel Autokrator („Selbstherrscher“), später auch Zar’45. Die Verbin- dung mit Europa wurde dabei nicht unterbrochen, so engagierte der Zar’ z. B. für den Umbau des Kremls in Moskau einen italienischen Architekten.
Zu den oben erwähnten Stichworten „völlige Eigenständigkeit“ und „äußerste Einheit“ kann einerseits seit der Eroberung von Konstantinopel (1453) die Rede über die Erhebung Moskaus zum „Dritten Rom“ und somit des Messias46 der Russen für alle Orthodoxen gezählt werden. Andererseits kann man hier den Anfang der russischen Autokratie sehen. Dabei sollte die Bemerkung von Hecker berücksichtigt werden, dass diese Situation nicht nur „a direct pro- duct of the Russian people “ war, sondern auch „established itself under peculiar historical conditions: ,Teuton militancy’ [1242 – von V.B.], ,Tartar despotism’ [until 1480 – von V.B.] and ,Byzantine sanctimoniousness’“ den Schritt zur Autokratie begünstigt haben. Er ist über- zeugt, dass das russische Volk auch mit den Formen der direkten Demokratie vertraut war:
„ […] that the Slavs once lived in the same environment under democratic organization […]“, was die Selbstverwaltungsform Veče gezeigt hat (vgl. Hecker 1916: 19 ff.).
b) Die territoriale Größe Russlands
Zum zweiten wichtigen Element der russischen Geschichte kann die Ausdehnung des Terri- toriums gezählt werden. Im 16. Jahrhundert wurde Expansionspolitik in Europa betrieben. Während Spanien und Portugal Amerika eroberten, führte Ivan IV.4748 eine Ostexpansion nach Vorderasien und Sibirien durch. Trotz grausamer Taten, die mit seinem Namen in Verbindung kamen, war die Assimilation für den russischen Zar’ eine wichtige und entscheidende Rolle und nicht nur die Gewalt über seine Untertanen. Allerdings war es nicht nur das Zeichen des guten Willens, sondern auch die praktische Einschätzung der Situation, wie z.B. die zusätz- lichen Steuerannahmen. Ivan IV. gelang es, das von seinem Vater übernommene Staatsgebiet um etwa das Doppelte zu vergrößern (vgl. Geier 1996: 63). Diese Expansion war keine Kolo- nisation im Sinne der Eroberung von Amerika und kein Krieg, sondern ein „natürliches terri- toriales Erbe“, das nicht durch „die staatliche Eroberung“ erschaffen wurde, sondern „als die freie Besiedlung des Territoriums durch Völker“ (Danilevskij 2002: 40 ff.):
„ Werfen wir einen Blick auf den Charakter von den Kriegen, die Russland bereits geführt hat. […]. Alle Kriege bis Peter [Peter der Große49 ] hat Russland für die eigene Selbsterhaltung geführt, für das, was in den unglücklichen Zeiten der russischen Geschichte ihre Nachbarn von ihr abbekommen hatten. Der ersten Krieg, die Russland nicht mit diesem Ziel geführt hatte, die auch zum Anfang der russischen Einmischung in den europäischen Sachverhalten zählte, wurde gegen Preußen geführt. […] Russland trägt die Schuld (wenn man über Schuld sprechen kann) in diesem Fall zusammen mit den ganzen Europa. […] Diese Ereignis war ein Zufall, der nicht den Richtlinien der russischen Politik entsprach […]. “ (Danilevskij 2002: 56 f. – von V.B.)
Ab dem 17. Jahrhundert zeigte Russland nicht nur seine Annäherung an Europa, sondern be- stätigte sich auch als neue Seemacht im Norden (1700–1721) und später auch im Süden im Kaspischen Meer (1721–1724/Feldzug gegen die Türken). Peter dem Großen gelingt es, das russische Territorium erneut zu vergrößern und durch die Gründung des „Venedigs des Nor- dens“ (St. Petersburg 1703) den Zugang zur Ostsee im Norden zu sichern. Er „öffnete das Fenster nach Europa“50 und versuchte das „heilige Russland“ durch die Europäisierung und Säkularisierung zu modernisieren, was in die „babylonische Gefangenschaft“ führte (vgl. Kohn 1956: 117). Allerdings ist hier der weitere und engere Sinn von Reformen zu beachten. Für die Zukunft der Nation und den wirtschaftlichen und ökonomischen Fortschritt des Lan- des waren diese Reformen im weiteren Sinne sowohl für den Handel als auch für den wissen- schaftlichen Austausch lebensnotwendig. Dem Zar’ gelingt es, zu einem gewissen Teil den Fremdenhass und „bestimmte Phobien zu Europa“ zu beseitigen. Im engeren Sinne „ […] Peter did not permit any liberal and philosophic current. The schools which he established had no use for philosophy not for theology“ (Hecker 1916: 23). Einige Elemente der Reformen waren fraglich:
„ […] Warum müssten die Bärte abgeschnitten werden, warum soll man gezwungen werden, die deutschen Kaftanen anzuziehen, […] den Tabak zu rauchen und die Besäufnisse zu veran- stalten, […] warum sollte die Sprache verfälscht werden und die fremde Etikette in das Hofs – und Adelsleben eingeführt werden […] und die Freiheit den Klerus verengen? […] Aufklä- rung sollte man lieber nicht mit Gewalt von Außen, sondern durch die innere Entwicklung erbringen. Sein Gang wäre langsamer, aber richtiger und fruchtbarer. “
(Danilevskij 2002: 275 – von V.B.)
Dabei entstand in Russland durch das Schisma in der Orthodoxie (1667) ein „Altgläubi- gentum“51, welches nicht nur als Gegner der offiziellen Orthodoxie zu sehen war, sondern sich als die wahre und echte Orthodoxie ausgegeben hat. Diese Vorstellung über die Wurzel des Glaubens wurde später von einigen russischen Denkern übernommen (siehe Teil A 2b).
Die Prinzessin von Anhalt - Zerbst, später die russische Zarin Katharina II.52, wurde im Jahre 1762 in Moskau zur nächsten Imperatorin Russlands gekrönt. Sie hatte die Absicht gehabt, den Namen Russlands in Europa zu verstärken.53 Die nächsten 34 Jahre ihrer Herrschaft ha- ben folgende positive Akte in ihrer Bilanz:
- Eroberung und Sicherung des Zuganges zum Schwarzen Meer und die Einbindung des am rechten Ufer gelegenen Territoriums von Ukraine und Weißrussland54;
- Übernahme der entscheidenden Rolle von Russland in Fragen der Bestimmung der eu- ropäischen Politik, wie z.B. Auftritt Russlands zwischen Österreich und Preußen wäh- rend des Krieges (1778–1779), Friedensvertrag mit Dänemark von 1782 und die Un- terzeichnung des Friedensvertrages von 1790 über die unveränderten Grenzen zwi- schen Schweden und Russland.
- Die Wahrnehmung von Russland und Europa in diesem Zeitraum bestand für einige Gelehrte, Kaufleute, Diplomaten, Reisende und Dichter durch die „aufgeklärte“ Zarin nicht „in einer Antithese: Russland oder Europa, sondern in der Konstellation Russ- land und/in Europa“ (vgl. Geier 1996: 101).
Im 19. Jahrhundert sah das Territorium Russlands im Vergleich zu den einzelnen nationalen Staaten in Europa gewaltig aus. Wenn aber die Territorien der eroberten Kolonien dazuge- rechnet würden, dann würde der Vorreiter der Ausdehnung mit großem Abstand „Britannien“ sein.55
c) Vom „ Gendarm Europas “ zum „Befreier“?
Der dritte Baustein der russischen Geschichte besteht in der zaristischen Regierungsform. So wie die Französische Revolution (1789) Europas Leben im 19. Jahrhundert beeinflusst hatte, war für Russland der Sieg gegen Napoleon durch den „Vaterländischen Krieg“ sowohl außen- als auch innpolitisch entscheidend. Russland hat für einige Zeit die „königliche Rolle in Eu- ropa angenommen“ und das Selbstbewusstsein der Nation erweckt.565758 Aber bereits der Wiener Kongress (1815) und die „Politik von Metternich (1773–1859)“ führten Russland, nach der Überzeugung von Danilevskij, vom Verteidiger der Unabhängigkeit für die tatsächlich unter- drückten Völker zu den „Rittern der Legitimation des Konservatismus und der Verwahrer der europäischen Ideale, was sogar dem eigenem russischen Interesse nicht entsprach“ (vgl. Dani- levskij 2002: 304 f.). Vom „Friedensbringer“ durch die Zerschlagung der napoleonischen „Grande Armee“ und Initiator der „Heiligen Allianz- Politik“59 unter den beteiligten europäi- schen Mächten übernahm Russland langsam die Rolle des „Gandarms von Europa“60, um die europäischen Länder und sich selbst vor den Revolutionen zu schützen. Zwischen den 1833 und 1840 entstand in Russland von dem Minister der Volksaufklärung, Uwarow (1786–1855), eine Doktrin: „Orthodoxie – Autokratie – Volkstum“61. Diese wurde von der russischen Intel- ligenzija unterschiedlich aufgenommen. Einige „wissenschaftliche und moralische Autoritä- ten“ hatten es unterstützt (vgl. Geier 1996: 26, 28, 120). Von anderen wurde sie zur „Theorie des offizielles Nationalismus“ ernannt, obwohl z.B. Utechin betont, dass es dem Minister nicht um die „kulturelle Isolierung“ Russlands ging, sondern um „eine aufgeklärte Selbstherr- schaft“ (vgl. Utechin 1966: 72 ff.). Das Vielvölkerreich sollte eine nationale Identität ganz nach dem Prinzip erhalten: „Über Russland steht Moskau, über Moskau der Kreml und der Zar’, über beiden steht Gott“ (vgl. Geier 1996: 59).62
In der Außenpolitik der nächsten Jahre war der Krimkrieg (1853–1856)63 der erste Krieg eu- ropäischer Mächte gegen Russland. Schicksalsträchtig war die Situation nicht nur für Russ- land, sondern verlangte auch eine Umordnung des europäischen Staatensystems, da die Unter- stützung der Gegner durch England, Frankreich und später Sardinien 1856 zum Misstrauen gegenüber den europäischen Partnern der Heiligen Allianz führte. Das Verhältnis mit Öster- reich, das in einer bewaffneten Neutralität stand, wurde zerstört. Als Beweis kann dazu der Brief des russischen Zar’ an den Kaiser von Österreich-Ungarn. vom 16. Januar 1854 dienen (siehe Anhang 5A.).
Die „orientalische Frage“ entstand nicht erst im 19. Jahrhundert, da wurde dies ein Diskussi- onsthema in den Kreisen der Intelligenzija64. Für diese Diplomarbeit ist das Verständnis über diese Auseinandersetzungen von großer Bedeutung, da es einiges aus der Theorie von Dani- levskij erklären kann (siehe Teil C.III.1.). An dieser Stelle sollte kurz erläutert werden, dass außer einem rein praktischen Interesse (Verschaffung von Einfluss im Schwarzen Meer und über die Meerengen in der Ägäis sowie im östlichen Mittelmeer) diese „Frage“ bereits bei Katharina II. ein Thema war. Sie hatte eine Idee über den Staat „Dazien“ mit dem orthodoxen Monarchen von Russland gehabt („Griechisches Projekt“ von 1781). Nikolaus I. wollte die Aufteilung des Osmanischen Reiches zwischen den Großmächten: England, Frankreich, Ös- terreich und Russland, und sich unter anderem einen Einfluss auf die Südslawen verschaffen, was wiederum die westeuropäischen Mächte nicht akzeptierten, da sie eine „ambivalente Poli- tik“ betreiben wollten, um die eigene Kontrolle in der Balkanregion behalten zu können (vgl. Geier 1996: 119 f.). Nach der Eroberung von Sevastopol’ (1855) und nach dem anschließen- den Frieden von Paris (1856) wurde der russische Zar’ gezwungen, die Flotte im Schwarzen Meer aufzulösen, die Kontrolle über die Donaumündungen und die „wichtige Schutzherr- schaft über die Christen im Osmanischen Imperium“ abzugeben, was als weiter bestehende Unterdrückung der slawischen Völker auf dem Balkan verstanden wurde (vgl. Nolte 2005: 138). Danilevskij schrieb über den „politischen Patriotismus“, welcher in „Krisenzeiten“ zur nationalen Selbständigkeit führen soll und anschließend zu Friede und „harmonischem“ Leben, Folgendes:
„ […] Wo aber soll man Ausgleich (Friede)65 finden zwischen dem russischen Volksgefühl und den vom Verstande anzuerkennenden Forderungen des menschlichen Gedeihens oder Fortschritts? […] in der sogenannten Lehre von einer besonderen russischen oder allslawi- schen Zivilisation, über welche sich alle so lange lustig machten […]? “
(Danilewsky 1920: 32)
Parallel verlaufen andere historische Ereignisse, die Einfluss auf die russische Intelligenzija und auf den Autor des Buches „Russland und Europa“ ausgeübt haben. Dies sind einige davon:
- Proklamation „des Weltkrieges des Kontinents gegen Russland und England“ von Karl Marx in der „Neuen Reihnischen Zeitung“ von 1849 (zur Verwirklichung kommt, wie oben bereits erwähnt wurde, nur der Krimkrieg);
- Ebnung des Weges zur nationalen Einigung Deutschlands und Italiens (von 1859 bis 1871), amerikanischer Bürgerkrieg (1861–1865), polnische Aufstände (1863–1864);
- Gründung der 1. Internationale (1864);
- Slawische Kongresse in Prag (1848) mit „antirussischen Stimmungen“ und in Moskau (1867), auf die Initiative der Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaften der Moskauer Universität hin, im Zusammenhang mit einer ethnografischen Ausstellung mit der „immer noch offiziellen Zurückhaltung gegenüber den pan-slawischen Idea- len“ (vgl. Golzewski/Pickhan 1998: 22 f., 36);
- Durchführung von Reformen in Russland in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, z.B. die Bauerbefreiung (1861), Justizreform (1864);
- Attentat auf Zar’ Alexander II.66 (1866) und darauf folgende Verschärfung der Auto- kratie, Angriff auf die Freiheit der Presse (vgl. Geier 1996).
Das geöffnete „Fenster nach Europa“ ermöglichte es – nach Danilevskijs Einschätzungen –
„den westlichen Mächten […], Russland als einen ,politischen Ahriman’67 oder, eine grausa- me Kraft’ zu beschuldigen, die gegen den Fortschritt und Ideen der Freiheit [aufgetreten ist – V.B .].“ (Danilevskij 2002: 41)68. Diese Ansichten wurden von anderen Denkern in Russland vertreten, z.B. findet sich bei Dostojevskij die Äußerung, dass „die Russen in Europa“ unbe- liebt sind69. Die zaristische Politik hatte dazu selbst beigetragen. Das sind nur einige der bekannten Fakten:
- Hinrichtung der Dekabristen im Jahr 182570;
- Niederschlagung des polnischen Aufstandes im Jahre 1831;
- Russifizierung in der Ukraine (vgl. Geier 1996: 117) und
- Einfuhr der III. Abteilung, eine Art Geheimstaatspolizei, deren einzige Aufgabe es war, den gesamten Staat zu kontrollieren. Diese Wirklichkeit konnte nur mit „dem Winter-bedeckten Russland wie ein Leichentuch“ verglichen werden (Kohn 1956: 120).
Den Drang nach Veränderungen spürten vor allem die „schreibenden Intellektuellen“ und dabei spalteten sie sich in ihren Diskursen. Laut Klaus von Beyme haben die europäischen Denker oft versucht, einen direkten Einfluss auf das politische Leben auszuüben, wie z.B.
„Machiavelli, Bodin oder Althusius [, die – V.B.] auch direkte politische Akteure [waren]. Hobbes, Locke oder Pufendorf dienten im Dunstkreis von Königsthronen als Politikberater und gelegentlich sogar als Propagandisten […]“ (Beyme 2002: 18). Russland war auch keine Ausnahme, aber auch nicht alle nahmen eine aktive Rolle in der Politik ein. Dazu gehörte z.B. Danilevskij. Man hat versucht, Danilevskij in die Hauptstadt zu locken, damit er dort „ […] die Gesetze auszuarbeiten [hilft]“. Seine Entscheidung war kurz und entschlossen: „ […] Die Einwirkung durch die Gesetze entstehet durch die Worte, aber die Bekämpfung der Reblaus im Krim durch die konkrete Taten […]“ (Strachov 1888a: III, von V.B.).
2) Die Spaltung in der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts
Aus der europäischen Sicht kann man sich diese Spaltung in einem fingierten „Dialog“ zwi- schen Joseph Rudyard Kipling und Johann Wolfgang von Goethe wie folgt vorstellen:
– Kipling: „ East and West – the twain shall never meet “
– Goethe: „ Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen71 “72
Bereits im Jahre 1836 wurde „ein Schuss in dunkler Nacht“ durch die Veröffentlichung des „Ersten philosophischen Briefes“ (ursprünglich verfasst in französischer Sprache) von Peter Čaadaev73 abgegeben, der aber sehr kritisch war und deswegen noch allein stand:
„ […] einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben […], damit man uns über- haupt bemerkt, musste sich unser Land von der Beringstraße bis zur Oder erstrecken […]. “ (Čaadaev 2003: 16 f.)
Im alten Russland gab es vereinzelt philosophische Denker74. Erst seit dem 19. Jahrhundert entstand eine Abgrenzung, „eine beginnende Lösung der russische Philosophie von der Reli- gion“ (Maslin/Andreev 1990: 10 f). Dazu waren die folgenden Ideen von Bedeutung gewesen:
- Der Sinn und das Verständnis von Orthodoxie
- Die Entwicklung des nationalen Selbstbewusstseins des russischen Volkes
- Die Charakteristik/die Haupteigenschaften der russischen Nation
- Eine Analyse der russischen philosophischen Kultur
Nach dem russischen Historiker Zen’kovskij75 verlief der „philosophische Gedanke in Russ- land [wie auch der abendländische] zwischen drei Hauptthemen: Persönlichkeit, Freiheit und Sozialthema“ (Zen’kovskij 1948: 13 ff., von V.B.). „Die Wege des Denkens“ wurden mit den „Wegen Russlands“ verbunden (vgl. Ingold 2007: 286), was auch zu den kontroversen Aus- führungen der russischen Denker geführt hat. Es ist verständlich, da verschiedene Meinungen und Gedanken vorhanden waren. Kann hier dann die Rede von „den Liberalen“ und „den Konservativen“ sein? Hierzu gibt es unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen.
In Russland sagt man, dass seit dem Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts bis zur Okto- berrevolution (1917) versucht wurde, alle Veränderungen in Russland theoretisch zu überden- ken. Die sozial-politische Interessen hatten sich in drei Richtungen aufgeteilt: „liberale, revo- lutionäre und konservative“. Die „liberal“ orientierten Vertreter hatten sich mit der Kritik der vorkapitalistischen Gesellschaft abgegrenzt und dabei die progressive Rolle des Kapitalismus in den Vordergrund gestellt. Die „revolutionär-demokratischen“ Vertreter kritisierten auch die kapitalistischen Widersprüche in der Wirtschaft und die sozial ungleichen Veränderungen. Und der letzteren waren nur der nationalen staatlichen Ordnung im alten Sinn der Selbstherr- schung treu geblieben (vgl. Pticyn 2003: 25 f., von V.B.).
Klaus von Beyme ist der Meinung, dass „in Russland [wie auch in Spanien] sehr schwierig die Abgrenzung zu definieren ist, da die Intelligenzija sich nicht entscheiden [kann – V.B.], ob Russland sich dem Westen öffnen soll oder nicht“ (Beyme 2002: 298). Diese Meinung teilte auch Vera Dubina: „Hinsichtlich Konservatismus und Liberalismus in Russland sollte man nicht vom europäischen Verständnis dieser Begriffe ausgehen, wenn man keine falschen Aussagen treffen möchte. Die Konzentration sollte nicht auf ,Progressive’, ,Revolutionäre’, ,Regressive’ oder ,unser’ und ,fremd’ liegen, sondern auf der ,Analyse dieser Termini’ durch die Beantwortung der Frage: „,Wer, wann und warum so in Russland genannt wurde’ […]“ (Dubina 2002: 115 ff., von V.B.).
Die russische Geistesgeschichte zeigt sich in der Abgrenzung, die nicht immer ganz genau deutlich verläuft, der Ansichten von „Westlern“ und „Slawophilen“ (im Weiteren ohne An- führungszeichen). Diese „verdammte Spaltung“76 schöpfte die Energie für „ihre Liebe zur Wahrheit“ aus den verschiedensten Quellen, was zur Polarisierung führte. Bei den „westleri- schen Konservativen“ hatte seine offizielle Volkstumsideologie „Berührungspunkte“ mit den späteren Slawophilen gehabt (vgl. Utechin 1966: 90). Golzewski/Pickhan kommen in ihrer Untersuchung des „Russischen Nationalismus“ ebenfalls zum Ergebnis, dass „die Annahme eines fundamentalen Gegensatzes nicht immer unproblematisch“ ist (vgl. Golzewski/Pickhan 1998: 28). Dennoch wird in dieser Diplomarbeit versucht, die folgende Frage zu beantworten:
„Worin unterscheiden sich denn diese beiden Strömungen?“
a) Westler
Unter Westlern verstand man in Russland einen gebildeten und liberalen (für das west- europäische Verständnis) Teil der Intelligenzija, der zwischen 1830–1840 hervortrat. Die Hauptidee bestand in der geistlichen und historischen Vereinigung zwischen Russland und Europa. Zu den bekanntesten Vertretern wurden Peter Čaadajev, Alexander Gradovskij7778, Ivan Turgenev, Alexander Herzen gezählt79. Sie waren überzeugt, dass Russland vom „We- sten lernen muss“ und auch dieselben „Etappen der Entwicklung“ wie Europa schrittweise erleben sollte. Aus sozialer Sicht hatten einige Vertreter die Vorliebe für die politischen Frei- heiten, die anderen für unterschiedliche Formen des Sozialismus gehabt (Losskij 1991: 50).
Die Einstellungen zur Modernisierung Russlands am Beispiel des Westens sind verständlich, wenn man dabei den wirtschaftlichen, rechtlichen, militärischen und sozialen Rückstand Russlands im 19. Jahrhundert bedenkt.80 Die russische Intelligenzija kannte das Leben im Westen nicht nur durch den Krieg gegen Napoleon, sondern auch durch die westliche Ausbil- dung, sowohl privat in Russland durch die ausländischen Hauslehrer als auch durch das Stu- dium im Ausland (wie auch der größte Teil der Intelligenzija im damaligen Russland81). Sie kannten die französischen Aufklärer sehr gut, aber noch besser die deutschen Philosophen: Herder, Schelling, Kant, Hegel, Nietzsche. Sie haben oft besser Französisch, Deutsch oder Englisch als Russisch gesprochen82. Aufgrund persönlicher Erfahrungen, wissenschaftlicher Erkenntnisse und des Lebens in der tagtäglichen russischen Realität fordern sie, die Moderni- sierung nach dem europäischen Muster zu wählen. Viele bewunderten den gesellschaftlichen Fortschritt im Westen, aber man kann bei einigen parallel eine „Rückwendung zur Russland“ beobachten sowie den Glauben an das russische Volk erkennen. „In Russland“, schreibt Her- zen im Jahr 1849, „ist es abscheulich zu leben, in Europa ebenso abscheulich.“ In dem russi- schen Bauer, betont er, „findet man keinen wilden Fanatismus, dem [man – V.B.] in Belgien oder Luxemburg begegnet“. Untypisch für einen Westler sind seine Überlegungen, dass „ […] [m]an […] die Freiheit der Ordnung opfern [muss], das Individuum der Gesellschaft, je mehr deshalb regiert wird, um desto besser“.83
b) Slawophile
Eine andere Gruppe Intelligenzija waren die Slawophilen84. Sie entstanden als Gegensatz zu den Westlern zwischen 1840–1880 in den literarischen Kreisen Moskaus. Tomáš Masaryk unterscheidet Westler und Slawophilen nach dem Einfluss von deutschen Philosophen: „ […] Die slawophile Philosophie […] in direkter Anlehnung an das System Schellings, während das System Hegels ihren Gegnern, den Westlern als Grundlage diente […]“ (Masaryk 1913: 209 ff.). Für Julius Hecker waren die ersten Slawophilen „close students of German idealism, especially of Schelling and of the Hegelian philosophy of history. […] they accept Hegel’s dialectic method, and his a priori concept of an Absolute Reason, which it was believed incar- nated itself in the life of nations. They naturally could not follow Hegel in his conclusion that the, Weltgeist’ by way of Greece and Rome had made its final appearance in the Germanic race […]” (Hecker 1916: 29 f.). Nikolaj Berdjaev85 ergänzt sozusagen diese Bemerkung von Hecker wie folgt: „ […] Das, was Hegel für das deutsche Volk dachte, übernahmen die Sla- wophilen für das russische Volk” (Berdjaev 1946: 76, von V.B.). Im weiteren Sinne unter- scheidet man drei Richtungen: 1) das „ursprüngliche klassische Slawophilentum“, 2) die so genannte „bodenständige“ Schule und 3) den „Panslawismus“ (vgl. Utechin 1966: 78 ff).
Die Vertreter waren vor allem die Brüder Kireevskijs, Aleksej Chomjakov86, die Brüder Ak- sakov’s (Konstantin, 1817–1860 und Ivan, 1823–1886)87, Fjoder Tjutčev und andere. Die Slawophilen hatten sich am Anfang im damaligen Russland einfach „Slawen“ genannt. Eini- ge, z.B. Ivan Kireevskij88, wie auch Westler, Čaadaev, wurden der Zensur und Verfolgung ausgesetzt. Andere, wie Chomjakov, haben sich offen gegen die Korruption in Russland so- wie für die geistige Entwicklung und Befreiung der Leibeigenen eingesetzt. Hans Kohn hat sehr treffend charakterisiert, dass „die Regierung in St. Petersburg den Slawophilen“ wie „nicht russisch und nicht national genug erschien“ (vgl. Kohn 1954: 133).
Diese geistige Bewegung war nicht nur auf die Sphäre der Politik und des politischen Den- kens beschränkt, sondern „ […] umfasste auch die Theologie, Philosophie, Historiographie, Literaturkritik und die Naturwissenschaften“ (Utechin 1966: 78). Sie waren alle hauptsächlich der Meinung, dass Russland seinen eigenen „russischen Weg“ gehen soll. Die Weltanschau- ung war vor allem mit der christlichen Orthodoxie und dem „Nationalgeist“ verbunden. Hier ist nicht das hegelianische Verständnis über die „große Rolle der Deutschen Nation/Preußen“ in den Vordergrund gestellt worden, sondern die Rolle der Russen und allgemein der Slawen. Der östliche Kirchenvater, Metropolit Ilarion, hat mit seinen Ideen einen Einfluss bei Slawo- philen hinterlassen. Dies sind die „Ansichten auf das christliche Land“, „die dualistische Tra- dition der vorpetrianischen politischen Praxis“ und „deren Theorien“ (vgl. Utechin 1966: 83). Golczewski/Pickhan verdeutlichen, dass die Orthodoxie „nicht als eine Staatskirche verstan- den [wurde], sondern als die Bewahrerin des wahren, von Liebe und innerer Freiheit getrage- nen Christentums, das sich gegen die autoritäre Haltung des Katholizismus und die Spaltun- gen des Protestantismus trotz der staatlichen Eingriffe seit Nikon erhalten hatte. Die Altgläu- bigen standen den Slavophilen folglich näher als die offizielle Kirche“89.
Die politischen Ereignisse des 19. Jahrhunderts beeinflussten die russische Intelligenzija. Klaus von Beyme sieht eine eindeutige Erweckung des Interesses an den West- und Süd- slawen in Russland seit dem Krimkrieg (vgl. Beyme 2002: 586). Aus der russischen Perspek- tive hatten sich die westlichen Mächte auf die Seite „der ungläubigen Türken“ gestellt und dieser Krieg „ein Vorgefühl des Kampfes mit Europa bekommen“.90 Der russische Dichter und Diplomat Fjodor Tjutčev91, vertritt nicht nur die „Uwarow-Doktrin“, die wieder aktuell geworden war, bei seiner Aufgabe, die ausländischen Bücher zu zensieren, sondern schrieb über die „antichristlichen Revolutionen“ im Westen, die „das Europa des Karls des Großen“ zum Niedergang führten und sah das Potenzial im rechtgläubigen russischen Volk.92 Aller- dings gab es die Gedanken vom Erwachen aus dem „langen trägen Schlaf“ der slawischen Völker bereits im 18. Jahrhundert in Europa93, welche die Slawophilen weiter ausgearbeitet haben. Die russische Geschichte lehrte sie an das Land und die Leute zu glauben. So schrieb im Jahr 1866 Tjutčev die oft zitierten und bei allen Russen seit der Schulbank bekannten Strophen: „Mit dem einfachen Verstand kann man Russland nicht begreifen, mit dem üblichen Maß ist sie nicht zu messen; es hat eine besondere Gestalt – an Russland kann man nur glauben.“94
Dieser „Glaube an Russland“ darf bei Tjutčev nicht rein nationalistisch im negativen Sinne verstanden werden. Bei dem russischen Autor bedeutet dieser „Glaube“ nichts anderes, als dass jedes Land (z.B. Russland) einzigartig und nicht immer „leicht zu verstehen“ ist.
Der „Hauptzwist“95 zwischen Westlern und Slawophilen ist aus der historischen Entwicklung Russlands hervorgegangen. Es war die Berührung der Tradition mit etwas Neuem und am Anfang Fremden (westeuropäischen), was zur Suche nach einer Antwort auf die folgende Frage führte: „Sollte es nach Westen in, ein gemeinsames europäisches Haus’, in den asiati- schen Osten, in die ,eurasische’ oder in einen ,allslawischen Bund oder Föderation’ ausge- hen?“ Im letzten Drittel des 18. und des 19. Jahrhunderts entstanden „neben dem russo- /slawophilen Autostereotyp auch erste Selbstbilder in anderen slawischen Völkern“ (vgl. Gei- er 1996: 120 ff.). Auch diese Ideen über die europäische Integration waren bereits bei Ch. Montesquieu, J.-J. Rousseau und I. Kant vorhanden. Sie erweiterten sich zu dem Streben der Slawen nach einer slawischen Einheit (vgl. Franz 2002: 340), welche sich mit der Zeit verän- dert hatte, was Nikolaj Berdjaev in seinem Buch „The Russian Idea“ für die russischen Gei- stesgeschichte konstatiert: „ […] The liberal and humanitarian elements in Slavophilism begin to disapper. […] This arose out of active contact with reality“96.
3) Panslawismus und Eurasismus
Die Vorsilbe „pan“ (lat.) bedeutet „all“, somit führen alle „Pan-Bewegungen“ zu einer Verei- nigung unter einer bestimmten Idee Das Lexikon der russischen Kultur hat folgende Definiti- on von „Panslawismus“:97
„ […] Eine zu Beginn des XIX. Jahrhunderts in den slavischen Staaten entstandene Strömung […] verfügte über keine klar definierte einheitliche Konzeption und über keine politische Or- ganisation. Seine Vertreter sahen die Zukunft einer Union der Slaven auf unterschiedliche Weise. [Das Wort Panslavismus] tauchte zum ersten Mal als die innere Bewegung der slavi- schen Welt die Aufmerksamkeit der europäischen Politiker und Publizisten auf sich zu lenken […] für die Wiedergeburt der Nationalgeschichte, Nationalkultur, Nationalsprache und Na- tionalterritorium […]. Als politisches Ziel stand der P. in einem Spannungsverhältnis zu den nationalen Befreiungsbewegungen […]. “ (Franz 2002: 340)
Am Anfang traten bereits im 18. Jahrhundert durch die ersten historiografischen Arbeiten die Auffassungen von einer selbstständigen Geschichte Russlands (Nikolaj Karamsin, 1766– 1826, „Geschichte des russischen Staates“), und Bulgariens (Païssi Chilandarski, 1722–1773, „Slawobulgarische Geschichte“) hervor. Im Jahr 1794 entwarf der Pole Stazyc die Idee eines „allslawischen Bundes“, später entstanden auch die Gedanken über den „polnischen Messia- nismus“98 („Polska chrytusem narodow“, zugeschrieben Miskiewicz). Die Dekabristen hatten auch die Idee einer Befreiung der West- und Südslawen und Schaffung einer demokratischen slawischen Föderation im Jahr 1825 gehabt. Der Slowake Herkel entwickelt um 1826 die Vorstellungen über den Panslawismus . Sein Landsmann Kollár schrieb im Jahr 1837 („ Slávy dcera“) die Sammlung über die slowakische Geschichte99. Somit war die unter den Süd- und Westslawen entstandene Idee zwar nicht-russischer Herkunft, „fand aber allmählich in Russ- land seine Anhänger“ (vgl. Utechin 1966: 84).
Die geführten Kriege im 19. Jahrhundert waren nicht mehr die Kriege zwischen den Königs- häusern, sondern zwischen den Völkern. Der Krimkrieg begünstigte die Entstehung „jener panrussischen-panslawischen“ Ideen100, die aber in den 60er und 70er Jahren ihre allgemeine Bedeutung verloren haben. Nach der Junirevolution im Jahr 1830 wurden einige Gesellschaf- ten gegründet („Kyrill-Methodianische Bruderschaft“, 1846) und es entstanden europaweit geistige Bewegungen, wie z.B. „Junges Europa“, „Vormärz“, „Nationale Wiedergeburten“, „Jungen Italien“ (unter Mazzini), „Jungrussland“101 (unter Herzen). 1848 fand in Prag der erste Slawenkongress statt. Zu den Hauptideen des Kongresses gehörte der Bestand der öster- reichischen Monarchie als Bundesstaat und die Ausarbeitung der slawischen Identität inner- halb und außerhalb dieser Monarchie. Polen versuchte den Kongress zum Kampf gegen den Zar’ zu nutzen, war aber nicht bereit, auf seinen „polnischen Messianismus“ zu verzichten. Das „Manifest an die Völker Europas“ beendete den Kongress und beinhaltet demzufolge „sowohl radikale, nationalistische als auch moderate internationalistische Passagen“.102
Der zweite Kongress fand 1867 in Moskau statt103. Die geistigen Früchte von den Aufständen auf dem Balkan (1875–1878) mit dem anschließenden russisch-türkischen Krieg (1877–1878) hatten erneut das öffentliche Interesse für das Volkstum und die Slawenvereinigung entfacht, was aber nicht mehr als „klassischer Panslawismus zu bezeichnen war.“104 Klaus von Beyme sieht eine Gefahr in solchen Bewegungen, auch wenn der Panslawismus „wie alle Pan-Ideen letztlich blutleer bleibt, kann die Idealisierung der Tugenden eines Volkes oder Volkesgruppe zum Nationalismus mit seinen politischen Folgen führen“ (vgl. Beyme 2002: 599).
Zur Tradition der russischen Geschichtsphilosophie gehören auch die Eurasier. Das „Eurasier- tum“ ist nach Franz Definition:
„ […] eine in den 20er Jahren des XX. Jahrhundert entstehende ideologische Strömung, die von der These ausging, dass Russland etwas vom Westen wie vom Osten, von Europa wie von Asien spezifisch Unterschiedenes, eben Eurasien, sei […] . “ (Franz 2002: 129)
Die Eurasier-Bewegung bestand seit 1917 fast nur in der Emigration. Die Vertreter105 akzep- tierten traditionelle Ansichten von Slawophilen über die „Mängel der europäischen Zivilisati- on, ungleich den Panslawisten verwarfen sie die Idee eines slawischen Kulturtyps und postu- lierten die Existenz einer eurasischen Zivilisation“ (vgl. Utechin 1966: 241). Solche Spaltun- gen beschäftigten sich mit den Problemen der Geschichtsphilosophie und dabei verlangte die „Historie“, laut Ernst Troeltsch, „eine Auseinandersetzung mit der Idee eines bleibenden und maßgebenden Systems der Werte“ (Troeltsch 1924: 3).
Und erneut lässt sich wie bei Slawophilen und Westlern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht immer sicherstellen. Robert MacMaster z.B. kommt in seinen analytischen Studien über Danilevskij zum gleichen Ergebnis: „It is not easy to classify him [Danilevskij] in relaction to the main intellectual currents of his time“ (MacMaster 1967: 18). Dazu war Danilevskij ein hervorragendes Beispiel.
So ein Person wie Danilevskij ist nur schwer in den engeren Rahmen einer Gruppe, Spaltung, Richtung ein- bzw. zuzuordnen. Er wurde „späterer Slawophil“ (Afansjev 2002: 47), „typi- scher Panslawist“ (Losskij 1991: 79) und „Geist des Eurasismus“ (Wiederker 2000: 119 ff.) genannt, da er nicht nur eine systematische Darstellung vieler slawophiler Ideen und „sein politisches Programm“ in seinem Hauptwerk „Russland und Europa“ darstellt, sondern auch wie Sorokin es bezeichnete, eine Theorie „von der Struktur und der Dynamik geschichtlich- kultureller Typen“ (Sorokin 1953: 60). Eine solche „Idee“ soll nach dem bedeutenden russi- schen religiösen Philosophen, Vladimir Solov’ёv106 „alle Achtung und Sympathie verdienen“, wenn der „nationale Egoismus oder Nationalismus107“ vermieden werden kann.
Russland hat für Danilevskij eine selbstständige und wichtige Rolle in der Geschichtsphiloso- phie, wie auch das „allslawen Bund“, was wiederum den Autor dieser „Idee“ als Slawophi- len108 bezeichnen kann. Gleichzeitig stand, wie Nikolaj Berdjaev richtig bemerkt hatte: „ […] für die alten Slawophilen […] die Universalität der Slawen im Vordergrund der Geschichte […]“109. Für Danilevskij ist die Mannigfaltigkeit der Geschichte auch so natürlich wie die Vielseitigkeit der verschiedenen Tier- oder Pflanzenarten. Im Bezug auf die Spaltung in der russischen Philosophie des 19. Jahrhunderts bringt Danilevskij nach der Einschätzung Alex- ander von Scheltings „den säkularisierten Streit“ zwischen Slawophilen und Westlern „zu einer Art Abschluß“ (vgl. Schelting, v. 1997: 220 f.).
II.) Wer war Nikolaj Jakovlevič Danilevskij?
„Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten ?“ Aber die, die gelebt hatten, hatten die Theorien entwickelt, die nie in einem Vakuum entstehen. So ist es auch mit der russischen Geschichts- philosophie. Sie hat Namen und Ideen hinterlassen, die bis zur Gegenwart diskutiert und un- tersucht werden. Aber „ […] nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat […]“110. Die oben zitierten Sätze aus den Schriften des Neuen Testaments sind sehr treffend, wenn die Rede von Danilevskij ist. Er ist mit 63 Jahren in Tiflis/Georgien während seiner Dienstreise unerwartet an einem Herzversagen verstorben. Zu seinen Hauptwerken zählen:
„Russland und Europa“ (1869) und eine unvollendete Auseinandersetzung mit der Evoluti- onstheorie: „Darwinismus. Eine kritische Untersuchung“ (1885), ein zweibändiges Werk, das „die Krönung seiner Tätigkeit als Naturalist“ sein sollte.
Das Buch „Russland und Europa“ hat erst nach seinem Tod ein breiteres Ansehen bekommen. Aber auch zu seinen Lebzeiten wurde das Buch entweder bewundert oder stark kritisiert und sogar des Plagiats beschuldigt (sieh III. b.)111. Seine wissenschaftliche Ergebnisse in der Ichthyologie über die Fischarten in Russland, wo er sich auch als Ökologe geäußert hatte, wurden in die Gesetzbücher Russland aufgenommen und sind bis heute verwendbar geblieben (vgl. Baluev 2001a: 37f.). Sein enzyklopädisches Talent und seine politischen Gedanken erle- ben eine Wiedergeburt vor allem auf der russischen politischen Bühne: Er wird zitiert, seine Bücher erneut herausgegeben, seine Ideen in den Schulen unterrichtet. Durch die Darstellung seiner Theorie der kulturhistorischen Typen wird er als „ein echter Vorläufer“ in der Kultur- kreislehre von Spengler, Toynbee, Schubart, Leontjev, Hungtington und Tibi anerkannt112. Seine Ideen wurden bereits aus den unterschiedlichen Perspektiven dargestellt: durch die herr- schende politischen und geistigen Ideen im damaligen Russland (Bestušev-Rjumin 1888), durch die Analyse seiner persönlichen Entwicklung/seiner Biographie (MacMaster 1954: 1967) oder durch seine Vorstellung über den Verlauf des historischen Prozesses und seines Fortschritts aus der Position der Kulturologie (Avdeeva 1992, von V.B.).
1) Kurze Biographie (1822–1885)
Nikolaj Jakovlevič Danilevskij wurde 1822 in einer adligen Familie als älterer Sohn eines wohlverdienenden Generals geboren. Seine erste Ausbildung hat er von einem privaten Leh- rer und in privaten Pensionen (im Ausland und in Moskau) bekommen. Mit 14 legte er erfolg- reich die Aufnahmeprüfungen ab und wurde in das berühmte Lyzeum in Carskoje Selo bei Petersburg113114 aufgenommen. 1842 schloss er seine Schulzeit ab.
[...]
1 Es war die „goldene Epoche der russischen Poesie und Literatur“ vgl. Losskij (1991: 4 f.) von V.B.
2 Mehr dazu in: Norbert (2002: 346 ff.).
3 Tschižewskij/Groh (1959: 8).
4 Herder in: Tschižewskij/Groh (1959: 25).
5 Es ist eine Synopse aus der gestellten Frage von Danilevskij in „Russland und Europa“: „Ist Russland Euro- pa?“, und seiner Antwort, dass „leider oder erfreulicherweise“ es dies nicht ist. Vgl. Danilewsky (1920: 5, 21).
6 Vgl. Berdjaev (1946: 64 ff.) von V.B.; russ: „Интеллигенция“ (dt.: Intelligenz“/„Intelligenzija“)
7 In der UdSSR war das Wort „Intelligenzija“ („Intelligent“ (sg.) /„Intelligenzija (pl.)) negativ belegt.
8 Im Wesentlichen teilt sich die russische Intelligenzija auf „Westler“ und „Slawophilen“ (slawo: slawisch, lat. Form, phil: liebend (griech.) = „Freunde der Slawen“). Siehe dazu Teil A. I. 2.
9 Vgl. Dostojewski (1999: 238).
10 Vgl. Bestušev- Rjumin (1888: 565) von V.B.
11 Ebd.
12 Danilevskij (2002: 143 f.) unterscheidet im Begriff der „Wahrheit“ (russ. „Истина”/„Istina“) das „äußere“ – die Tatsache und das „innere Element – die Widerspiegelung dieser Tatsache im menschlichen Bewusstsein“. Es lässt sich evtl. als „absolute Wahrheit“ ins Deutsche übersetzen (von V.B.).
13 Vgl. Avdeeva (1998: 61 f.) von V.B.
14 Die Zitate aus „Russland und Europa“ sind entweder aus der russischen Ausgabe direkt übersetzt und als: „Danilevskij 2002“ gekennzeichnet oder aus der deutschen Ausgabe „Danilewsky 1920“ übernommen.
15 Vgl. Van der Pot (1999: 631).
16 Vgl. Danilevskij (2002: 272 ff.), Kap. XI: „Europahörigkeit – die Krankheit des russischen Lebens“ von V.B.
17 Z.B. in Sorokin (1953: 89) und in MacMaster (1967: 21, 294).
18 Danilevskij (2002: 136).
19 Pflaum (1967: 292ff.) erklärt, dass das deut. Wort: „ Zivilisation“ etwas um 1775 in Gebrauch gekommen ist und „ Kultur“ um 1860 der heute gebräuchliche zeit- und raumbezogene Kulturbegriff geboren wurde.
20 Die gleiche Wertung von Kultur und Zivilisation findet man bei Herder, Schiller. Die Gegenüberstellung von „beiden Schwestern“ fängt mit Kant, Pestalozzi, W. v. Humboldt u.a. an. (Vgl., ebd.: 300 ff.).
21 Für MacMaster (1954: 159) ist es „a kind of idea of progress”. Vgl. Danilevskij (2002:127).
22 Laut Ernst Nolte (1991: 15, 20) hat eine „Zeitdiagnose in erster Linie die Gegenwart im Auge, aber sie schließt die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Gegenwart nicht notwendigerweise aus […]“.
23 Sergej Kiselёv (1999: 148) hat die Archiv-Materialien aus dem „Nikitskij“ Botanischen Garten in Yalta/Ukra- ine zur Verfügung gestellt, wo Danilevskij zwischen 1877 und 1879 Direktor war (von V.B.).
24 Pticyn (2003: 17 ff.) fasst zusammen, dass die „Rarität von Materialen über Danilevskij in der Manuskriptab- teilung der russ. Nationalbibliothek in St. Petersburg sich befindet“ (237 Materialen gehören zum persönlichen Fonds von Danilevskij; 224 aus dem persönlichen Fonds V. Grigorjev und 608 von I. Pomjalovskogo), von V.B.
25 Im russisch sprechenden Raum wird eine Person offiziell mit dem Vornamen, dem Namen des Vaters und anschließend mit dem Familiennamen angesprochen. In dieser Arbeit wird im Folgenden die europäische Form verwendet.
26 Russ.: „соль русской земли“/„sol’ russkoj zemli“. Vgl. Strachov (1888a: XIX) von V.B.
27 Russ.: „бесподобная голова“/„bespodobnaja golova“ (Brief von A. Majkov v.1868 an F. Dostojevskij), in: Baluev (2001a: 112) von V.B.
28 Z.B.: Der Student Nečaev (stand in Verbindung mit Bakunin) ermordet (1869) eigenwillig ein anderes Mit- glied seiner revolutionären Gruppe. Dostojevskij beschreibt dieses Phänomen in seinem Roman „Dämonen“.
29 „Die großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West in unserer Zeit sind nur dann richtig zu verstehen“, betont Kohn (1956: Titelseite), „wenn man die Geschichte der slawischen Völker und ihren Weg durch die poli- tischen Geschehnisse der letzten 150 Jahren kennt. Auch für die zukünftige politische Neuordnung im osteuro- päischen Raum ist die profunde Kenntniss und realistische Einschätzungen der Geschichte, der kulturellen und politischen Anliegen der slawischen Völker und ihrer langgehegten Wünsche unerlässliche Voraussetzung.“
30 Pitirim A. Sorokin (1889–1968) war Prof. an der Moskauer Universität, später Prof. an der Harvard- Universität.
31 „Wer ist schuld?“ (Herzen, 1848) und „Was tun?“ (Černyševskij1862/1863) sind auch die berühmten Romane, deren Titel wie „selbstquälerische Fragen“ klingen und eine Form der ΄Selbsterkenntnis΄ in der russischen Lite- ratur im 19. Jahrhundert waren (vgl. Geier 1991: 7).
32 Russ. „Матушка-Русь“/„Matuška-Rus’“ ist eine historisch-folklorisierende Bezeichnung von Russland.
33 Russ.: „Вече“./„Veče“. wurde im 9.–12. Jahrhundert von den „großen“ Leuten, der Oberschicht beherrscht.
34 Für Miljukov (1898: 222f.) war „ […] die Vorstellung über das zukünftige Schicksal Russlands abhängig von der Antwort, welche von [diesen zwei – V.B.] Charakteristika: (russ.“крайгяя элементарность“/„krajnjaja ele- mentarnost’“ и „cовершенное своеобразие“/„soveršennoje svoeobrazie“) entscheidend werden“.
35 Russ.: „Повесть временных лет“/„Povest’ vremenych let“ (Erzählung über die Zeitverhältnisse des Jahr- zehnts“) ist das altrussische (erhaltene) Schriftdenkmal über die Entstehung des alten Russland und seine Bezie- hungen zum abendländischen Europa. Der Text „verwendet jene Vorstellungen, die auf Hekataios und Herodot, Polybios und Ptolemaios […] zurückgehen“. Der Autor war u.a. Nestor (1056–1114). Mehr dazu in: Geier (1996: 39, 69 f.).
36 Zwar entstand das Buch von Danilevskij mehr als eine Art der Reaktion auf die politische Situation Russlands im 19. Jahrhundert. Die historischen Beispiele verwendet er seit der Gründung Russlands.
37 Danilewsky (1920: 277) verweist auf die „Rechtgläubigkeit, Slawentum, Bauernlandteil“.
38 „Ros’, Rus, Rhos, urspr. finn. = „Ruotsi“ (schwed. = ‚Waräger’), bezog sich sowohl auf das Volk als auch das Land und den Staat der Ostslaven. Als „Russland“ seit dem Jahre 1564 anzutreffen. Mehr dazu in: Franz (2002: 384 ff.).
39 Von V.B.
40 Vladimir Svjatoslavič (960–1015), genannt „krasnoje solniško“(„rote Sonnchen“), war Fürst in Kiev; vgl. Utechin (1966: 11 ff.).
41 In Konstantinopel wurde zum Patriarchen im Allgemeinen ein Grieche ernannt. Metropolit Ilarion war der erste „nicht Grieche“; vgl. Utechin (1966: 13).
42 Danilevskij (2002: 201) zitiert den russischen Dichter Aksakov und betont, dass diese Worte „tiefe Wahrheit seien“. (Von V.B.)
43 Der Name „Tataren” nimmt seinen Ursprung aus dem griech: „tartaros“ („die Dämonische“). In den russ. Geschichtsbücher schreibt man: „Tataren oder Mongolen – Tatarenjoch“ (1240–1480); vgl. Geier (1996: 70 ff.).
44 Ivan III. (1440–1505), als „der Sammler der russischen Erde“ (russ.: „собиратель земли русской“/“sobiratel’ zemli russkoj“) bekannt. Er regierte Russland mehr als 43 Jahre.
45 Russ.: „царь“/ „Car’“ oder „Zar’“ geht auf den Titel „Cäsar“ zurück; vgl.: Nolte (2005: 59).
46 Der Begriff „Messianismus“ (hebräisch: „mashiah“/„der Gesalbte“) bedeutet eine „Ideengruppe, die sich auf eine (Vorher-)Bestimmung für das Schicksal der Welt bezieht“ (vgl. Franz 2002: 291).
47 Über die neue Erdbeschreibung zitierte Geier (1996: 107 f.) aus Büsching, A. (1766) über Russland wie folgt: „ […] Die Grenzen des russischen Reiches erstrecken sich viel weiter, als die Grenzen des eigentlichen Ruß- lands, gegen Westen und Süden, aber sie sind durch gewisse aufgerichtete Verträge bestimmt […]“.
48 Ivan IV. (1530–1584) ist bekannt als „Groznyj“ /„Ivan der Schreckliche“.
49 Peter Alekseevič Romanov; Peter I. (1672-1725), russischer Zar, Imperator, „Selbstherrscher“.
50 Diese Redewendung stammt aus dem Gedicht „Der ehren Reiter“, 1833, von Puškin und wurde später zur politischen Metapher, wenn über Peter I. und Europa gesprochen wurde; russ: „прорубил окно в Европу“/„prorubil okno v Evropu“ (dt. wörtlich: „ein Fenster wurde nach Europa gefällt“), von V.B.
51 Auch als ein Sammelbegriff („Altorthodoxie“, russ.: „старообрядчики“/„staroobrjadčiki“) bezeichnet er keine Anerkennung der Reformen (von 1653) von Patriarch Nikon (1605–1681); vgl. Geier (1996: 67).
52 Ekaterina Aleksevna Romanova (1729–1796). Der russische Name wurde nach der Taufe 1744 gegeben.
53 In den Schriften der Zarin findet man fünf Aufgaben für die Reformation Russlands. Die kurze Zusammenfas- sung sah wie folgt aus: 1) „die Aufklärung der Nation, die man herrschen soll“; 2). „die Ordnung in der Gesell- schaft und Gesetztreue“; 3). „die gute Polizeieinrichtung“; 4). „die Sorgen für die Wohlstand des Landes“ und 5). „der Staat soll von anderen Staaten respektiert und geachtet werden“. Mehr dazu in: Ključevskij (von V.B.).
54 In Russland hatten mehr als 20 % der Bevölkerung Europas gelebt. Dabei wurde der Außenhandel vier Mal erhöht. Russland nimmt den ersten Platz in der Welt für die Roheisenerzeugung an. Mehr dazu in Miljukov (1898: 120).
55 Im 19. Jahrhundert machte Danilevskij (2002: 41, * Fußnote) darauf aufmerksam, dass: „ […] das russische Territorium mit 375.000 Mile2 gemessen wurde. Britannien mit allen zu ihr gehörenden Reichen in Afrika, Asi- en, Süd- und Nordamerika, Kanada und Australien insgesamt über 425.000 Mile2 […]“. (Von V.B.)
56 Russland wurde „Gendarm Europas“ mit der Herrschaft des Zaren Nikolaus I. (1796–1855) genannt. Anlass war unter anderem die Intervention russischen Truppen in Ungarn (1848); vgl. Geier (1996: 127).
57 Russ.: „Освободитель“/„Osvoboditel’“ wurde zuerst Alexander I. (1777–1825) genannt. Er war der „Retter der Europa“ vor Napoleon. Mit „Zar’- Befreier“ wurde der Sohn von Nikolaus I., Alexander II. (1818–1881), gemeint. Das Beiwort bezieht sich im zweiten Fall auf die Bauernbefreiung in Russland aus der Leibeigenschaft (1861) und auf die Unterstützung der „südslawischen Brüder“ auf dem Balkan. Vgl. Geier (1996: 16, 113 ff.).
58 Für Hecker (1916: 29) bekamen seit 1812 „ […] the Russian people […] an individuality of their own.“
59 Nach der Initiative Alexanders I. wurde in Paris (1815) ein politisches Bündnis zwischen drei Großmächten: Königreich Preußen, Österreich und Russland gegründet. Vgl. Nolte (2005: 125).
60 Nikolaus I. soll als Kommentar zu diesem Epitheton folgendes gesagt zu haben: „Wenn sie mich schon nicht lieben [wollen], dann werden sie mich hassen müssen.“ Vgl. Geier (1996: 26).
61 Russ.: „Православие, самодержавие, народность“/„Pravoslavie, samoderšavier, narodnost’“. Julius Hecker (1916: 33) übersetzt diese “portfolio of Trinity“ von Uwarow wie folgt: „ […] Our general task consists in estab- lishing such an education fort he nation as will unify in itself the spirit of Orthodoxy, of Autocracy and of Na- tionalism […].“ Der letzten Begriff „Narodnost’“, der auf Englisch als „Nationalism“ übersetzt wurde, sollte kurz geklärt werden, da dieser Begriff auf Russisch verschiedene Bedeutungen hat und hier als „volksverbunde- ner Patriotismus“ zu verstehen ist. Mehr dazu in Golzewski/Pickhan (1998: vor allem: 14, 21).
62 Siehe dazu in diesem Teil auch I.2.
63 Russ: „Восточноя война“/„Vostočnaja vojna“, „Orientkrieg“ (1853–1856). Der Krieg begann als russisch- türkischer Krieg und zählte in der Geschichte sozusagen zu den „Stellungskriegen“, d.h. eine defensive Form der Kriegsführung im Unterschied zum „Bewegungskrieg“, vgl. Nolte (2005: 138 ff.).
64 Z.B. Danilewsky (1920: 157 ff.) widmet diesem Thema das ganze Kapitel, hier hat er ein Zeichen dafür ge- sehen, dass „Europa Russland fremd ist“. Auch Dostojewski (1999: 221) beschäftigte sich intensiv mit der „Ori- entfrage“.
65 Von V.B.
66 Alexander II. („Zar’-Befreier“) (1818–1881) regierte Russland ab 1855 nach dem Tod seines Vaters.
67 Auch „Ahryman“ ist eine persische Namensform, die in der iranischen Mythologie als „Böser Geist“, „Macht der Finsternis“ verstanden wird.
68 Prof. Sumner (in: Tschižewskij/Groh (1959: 564) bestätigt diese Aussage, dass „die Gegensätze und Antipa- thien zwischen Rußland und dem Westen im 19. Jahrhundert stark hervortraten“, und bemerkte, dass das „beson- deres von Russen betont wurde“.
69 Dostojevskij, in: Tschižewskij/Groh (1959: 2474 ff.)
70 Im Dezember 1825 versuchten junge Offiziere (zwischen 25 und 33 Jahre alt) und Adlige in einem Putsch die Konstitution zu verändern. Die „Dekabristen“ (russ.: „Dezember“) scheitern mit den grausamen Folgen: 5 To- desurteile, über Hunderte Angeklagte wurden nach Sibirien verbannt; vgl. Nolte (2005: 126 ).
71 Klaus von Beyme (2002: 28 f.) stellte in „Matrix 1“ „Theoretiker, Ideologie, Länder“ zusammen.
72 Zitaten-Portal im Internet. In: URL: http://www.zit.at/, v. 18.03.2008.
73 Peter Čaadaev (1794-1856), russ. Philosoph, Publizist. Er wurde von Nikolaus I. für verrückt erklärt. „In Rom wäre er Brutus, in Athen Perikles und in Russland war er ein Offizier“ (Puškin).
74 Dazu zählen das „Universalgenie“ Michail Lomonossov (1711–1765), auch „russischer Philo von Alexan- dria“, Grigorij Skovoroda (1722–1794) und andere. Mehr dazu in: Losskij (1991: 4 ff.) von V.B.
75 Vasilij Zen’kovskij (1881–1962), russ. Historiker, Prof. der Philosophie in Russland; Prag 1923, Paris 1926.
76 Für Dostojewski (1999: 287 ff.) entstand diese Spaltung „aus dem größten Missverständnis/Irrtum des Vers- tandes, nicht aber aus dem Irrtum des Herzens“.
77 Russ.: „Западники“/„Zapadniki“. Für Berdjaev (1946: 72; 74) ging es hier „ […] nicht um die Übernahme von westlichen Gedanken, sondern um die Überarbeitung“, um die sozialen Probleme zu lösen.
78 Alexander Gradovskij (1841–1889) russ. Prof. der Rechte an der Universität St. Petersburg, „der russische Benjamin Constant“. Danilevskij tauschte sich oft mit ihm aus. Vgl. Sultanov (2001: 13) von V.B.
79 Hecker (1916: 62) unterscheidet „ […] three relatively distinct trends […] (1) the theocratic trend of the thir- ties with Chaädaev [Čaadaev- V.B.]; (2) the humanitarian trend of the forties with Belinsky […] ( 3) the populist philosophy of the sixties“ mit Herzen und später mit Černyševskij.
80 Die Fakten und die Zahlen für die Urbanisierung, den Bau der Fabriken; Vergleich der Entwicklung der Ver- kehrsverbindungen in Russland und in europäischen Ländern (die ökonomischen Unterschiede und die Rolle von Finanzen und Militär in Russland). Mehr dazu in: Miljukov (1898: 78 f., 89 ff., 115 ff., von V.B.)
81 Kohn (1954: 123) schrieb: „ […] von Schelling und Hegel, Fichte und Schlegel – so extreme Denker wie der radikale Philosoph Max Stirner (1806–1856) wurden in Rußland mehr gelesen als in Deutschland […]“.
82 Z.B. sind in „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoj (2004: 5) viele Dialoge in der französischen Sprache abge- fasst.
83 Herzen in: Tschižewskij/Groh (1959: 214, 219 f.).
84 Russ.: „Славянофилы“/„Slavjanofily“ (griech: „Freund und Gönner der Slawen und ihrer Kultur). Tomaš Masaryk (1913: 209 ff.) schreibt: „[…] Die Bezeichnung slawophil bedeutet ursprünglich die Liebe zur slawi- schen Schrift, nicht zu den Slawen oder dem Slawismus […] Kireevskij [Begründer des Slawophilentums] nennt seine Richtung orthodox-slawisch, andere sprechen von „Slawen“ […]“.
85 Nikolaj Berdjaev (1874–1948), russischer Philosoph, war in seiner Jugend Marxist, wandte sich zum Idealis- mus und bekannte sich später zum orthodoxen Christentum. Mehr dazu in: Utechin (1966: 245 ff.).
86 Aleksej Chomjakov (1804–1860) war der „russische Pico della Mirandola“ und konnte „de omni re cibili“ diskutieren. Mehr dazu in: Losskij (1991: 31), von V.B.
87 Beide waren die Hauptsprecher der Bewegung. Russlands sollte für sie zu der Formel: „ Machtfülle für die Zaren, Meinungs- und Versammlungsfreiheit für das Land “ zurückkehren. Vgl. Utechin (1966: 80 f.).
88 Ivan Kireevskij (1806–1856) traf sich in 1830 in München mit Schelling. Vgl. Losskij (1991: 12).
89 Mehr dazu in: Golczewski/Pickhan (1998: 27 f.).
90 Diese Gedanken sind in den „Tagebüchern“ von Dostojewski (1999) stark vertreten.
91 Fjodor Tjutčev (1803–1873) war einer der bedeutendsten russ. Lyriker und ein Diplomat. Während seines Aufenthalts in München in den 30er Jahren hatte er seine eigene slawophile Geschichtsanschauung ausgearbei- tet. Mehr dazu in: Golczewski/Pickhan (1998: 225).
92 Vgl. Tjutčev in: Golczewski/Pickhan (1998: 226 ff.).
93 Außer Herder (1841b:. 246f.), der mit Begeisterung über die slawische Völker schrieb, sind auch die anderen Beitrage interessant, wie z.B. Friedrich Müller (1708–1783), der eine „Sammlung russischer Geschichte“ schrieb. August Ludwig Schlötzer (1735–1809) übersetzte die Nestor-Chronik und die Arbeiten zur russischen Grammatik. Mehr dazu in Geier (1996: 131 f.).
94 Russ: „Умом Россию не понять, aршином общим не измерить:У ней особенная стать - В Россию можно только верить.“ Vgl. auch in: Beyme (2002: 58), im Text von V.B.
95 Aus der Diskussionsform zwischen Professoren und Akademikern entstand in Russland in 2003 ein Buch: „Der Hauptzwist von Westlern und Slawophilen bis zur Globalisierung“. Mehr in: Blecher/Ljubarskij (2003).
96 Als Beispiel dazu dient für Berdjaev (1947: 65f.) Nikolaj Danilevskij. Er hat „recht” „ […] that what is known as European culture is not the only possible culture and that other types of culture are a possibility“, aber Berd- jaev widerspricht Danilevskijs Ansichten mit Hinweis auf die nicht existierenden “allgemeinen Menschheit”: „There is no civilization which holds good for all mankind, no common history of man […].”
97 Für Danilevskij (2002: 344, von V. B.) war Joseph II. (1741–1790) der „erste unfreiwillige Begründer des zukünftigen Panslawismus“, da er durch die Germanisierung des Nationalbewusstseins „den Slawen erweckte“.
98 Van der Pot (1999: 207) schreibt, dass „ […] im Allgemeinen […] Schelling einen wichtigen Einfluss auf die Entstehung der polnischen und russischen nationalistisch-trinitarischen Geschichtsdeutung gehabt hat […]“.
99 Mehr dazu in: Geier (1996: 130 f.).
100 Geier (1996: 137) definiert die Teilübersetzung als „eines der interessantesten Dokumente oder Manifeste des russischen Panslawismus, den panrussoslawischen Ideologie oder Weltanschauung überhaupt“.
101 Später wurden einige von den russischen Bewegungen in der Einstellung radikaler, wie z.B. „Great Russian“, „Land and Liberty“ (1863), „Peoples will“ (1879) (teilte sich später in „Black Land Partition“), was auch die terroristischen Aufrufe zeigten. Vgl. Hecker (1916: 34; 37; 42 f.).
102 Vgl. Geier (1996: 136).
103 Die finanzielle Unterstützung bekam der II. Kongress nicht nur von der Regierung, sondern auch von ge- gründeten Gesellschaften mit der Teilnahme von Slawophilen, z.B. der „Moskauer Slawische Wohltätig- keitsgesellschaft“ (1857). Ziel solcher Gesellschaften war die kulturelle und politische Solidarität mit den Süd- und Westslawen. Die Mitgliedschaft war heterogen. Vorsitzender: Pogodin. Vgl. Utechin (1966: 84).
104 Die nächsten Kongresse fanden unter der Bezeichnung „Neuslawismus“ im Jahr 1908 in Prag und im Jahr 1910 in Sofia statt. Mehr dazu in: Geier (1996: 118 ff.).
105 Vgl. Utechin, (1966: 240 ff.), Afansjev (2002: 80 ff.).
106 Vladimir Solov’ёv (1853–1900) war der Sohn eines liberalen Historikers. „Die Krise der westlichen Philoso- phie“ (1874) war das Thema seiner Dissertation. Er erlebte später die seelische Umwandlung vom begeisterten Slawophilen in seiner Jugend bis zum „Prediger des Papsttum“, was zu Schwierigkeiten führte. In einem Brief an seinen Bruder (Nov. 1887) beklagte er, dass er „außer Kritiken an Slawophilen und Danilevskij“ „nichts an- deres in Zeitungen mehr publizieren“ dürfte. Vgl. Dubina (1999: 158, von V.B.). Seit 1882 arbeitete er haupt- sächlich als unabhängiger Journalist. Während der 90er Jahren war er Redakteur der philosophischen Abteilung des Brockhaus-Jefron Enzyklopädischen Wörterbuch. Vgl. Solowjew (1965: 126 ff.).
107 Solowjew (1972: 110) schrieb: „ […] Jede Nation hat das Recht, zu leben und ihre Kräfte frei zu entfalten, ohne das gleiche Recht der anderen zu verletzen […].“
108 Es gibt die Einstellung, dass er nicht ohne Ausnahme zu den Slawophilen zählen darf. Vgl. Dostal’ (1986: 81 ff.); Pticyn (1993: 9). Für Berdjaev war Danilevskij auch „Anderes“ als bekannte Slawopile, wie Chomjakov oder Aksakov, vgl. Berdjaev (1946: 99), von V.B.
109 Danilevskij ist eher der Vorläufer von Spengler (Teil D.). Vgl. Berdyaev (1947: 65; 67); Losskij (1991: 79).
110 Die Heilige Schrift. Einheitsübersetzung (1981: 1464); danach: Das Evangelium nach Lukas, Kap. 24, Vers. 5: 1361; Das Evangelium nach Matthäus, Kap. 13, Vers. 57.
111 Mehr dazu z.B. in: Solowjew (1972: 107 ff.).
112 Vgl. Sorokin (1953: 14), Beyme (2002: 602); Çağlar (1980: 80), Teil D; Anhang 5B.
113 MacMaster (1967) schrieb „the first analytical study“ über Danilevskij, wo einige theoretische Überlegungen des russischen Autors durch seine Biographie erklärt wurden.
114 Zu den Studenten zählt Alexander S. Puškin (1799–1837), ein großer russ. Dichter. Seine Rolle für die russi- sche Literatur kann man mit Johann Wolfgang von Goethe (1710–1782) für die deutsche Literatur vergleichen.
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