Was ist Kommunitarismus? - Ideengeschichte, Entwicklung, politische Praxis


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

17 Seiten, Note: 2,3

MA Sven Sochorik (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Ideengeschichte
2.2. Drei Phasen kommunitarischen Denkens
2.2.1. Liberalismuskritik
2.2.2. Politischer Aktivismus
2.2.3. Reakademisierung und kommunitarischer Liberalismus

3. Praktische Beispiele der Umsetzung kommunitarischen Denkens

4. Schlussbetrachtungen

5. Bibliographie

1. Einleitung

„Das kommunitarische Projekt ist der Versuch einer Wiederbelebung von Gemeinschaftsdenken unter den Bedingungen postmoderner Informations- und Dienstleistungsgesellschaften“.[1] Diese kurze Definition beschreibt den Umfang des kommunitarischen Projekts. Erkennbar ist daher der philosophische und praktisch-politischen Bezug.

Dabei ist der Kommunitarismus keine „Schule“ in dem Sinne, sondern eher eine Übereinstimmung von verschiedenen Liberalismuskritikern die gegen den von übersteigerten Individualismus geprägten Neoliberalismus der achtziger Jahre argumentieren. „A number of political philosophers writing in the 1980s took issue with the notion that justice can be detached from the considerations of the good Challenges to contemporary right-orientated liberalism found in the writings of Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Michael Walzer, and also in my own work are sometimes described as the ‘communitarian’ critique of liberalism.”[2] Als Beispiele für die Verstärkung der Individualität und die damit verbundenen negativen gesellschaftlichen Konsequenzen, können seit den Sechziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts u.a. der Rückgang der Wahlbeteiligung, der Anstieg der Verbrechensrate und die Schwächung der Familie als Folge der Auflösung des Wertekonsens angeführt werden. Die Ursachen der Vertrauenskrise in die wirtschaftlichen und politischen Institutionen waren die fortdauernde Diskriminierung von Minderheiten, innenpolitische Skandale (Watergate- Affäre) und die schlechte ökonomische Entwicklung. „Insgesamt aber sei die Kritik jedoch nicht gegen die Institutionen oder das System selbst gerichtet gewesen, sondern gegen die jeweiligen Amtsträger und ihre als unzureichend beurteilten Leistungen.“[3] Zusätzlich gab es Bestrebungen von nicht unerheblichen Bevölkerungsteilen, die mit zunehmender Isolation und Individualisierung auch eine Reduzierung des staatlichen Machtbereiches forderten. Sie sahen aufgrund ihrer Erfahrungen in der Institution ‚Staat’ nicht die Administration, um gesellschaftliche Probleme wirkungsvoll lösen zu können und reagierten folgerichtig mit übersteigertem Individualismus und Selbsthilfe - also von staatlicher Seite durchaus gefördert. „Die liberalen Gesellschaften des Westens schienen nach dem Zusammenbruch der Regime in Osteuropa die strahlenden Sieger zu sein.

Doch schon seit Beginn der Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts diskutieren amerikanische Philosophen und Sozialwissenschaftler zunehmend die Grenzen der liberalen Gesellschaften. Sie kritisieren den übersteigerten Individualismus, der bereits in der Philosophie des Liberalismus angelegt sei, und setzen dieser eine stärkere Betonung gemeinschaftlicher Kontexte entgegen.“[4] Die verschiedenen Autoren formulierten die kommunitarische Position in Abgrenzung zum Liberalismuskonzept. Die Vertreter des Kommunitarismus, die sich eher

auf die Klassiker Aristoteles, Hegel und Tocqueville rekurrieren, also nicht gerade auf die Klassiker der Moderne (Locke, Rousseau, Kant), kritisieren an den verschiedenen liberalen Theorien, dass der Mensch nur als isoliertes Individuum angesehen wird. Nur so, laut liberalem Verständnis, könne der Mensch als Rechtsperson seinem Freiheitsdrang nachgehen. „Auslöser der kommunitaristischen Kritik sind keine Oberflächenphänomene, sondern strukturelle Bedingungen und Begleiterscheinungen der Moderne, die verhindern, dass ein Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit und sinnstiftender kollektiver Identitäten sich entwickeln und ausbreiten kann. Als solche Begleiterscheinungen lassen sich insbesondere benennen: die beschleunigte Vereinzelung des Individuums und die sich vertiefende soziale Fragmentierung moderner Gesellschaften, der Bedeutungsschwund persönlicher Bindungen und eine pathologische Ich-Bezogenheit (McIntyre) sowie der entpolitisierte individuelle Konsumismus (Taylor).“[5]

Dabei muss angemerkt werden, dass jeder der Autoren disparate Ansätze zur Liberalismuskritik wählt, die trotzdem unter dem Begriff der Communitarian-Liberal-Debate in der wissenschaftlichen Literatur zusammengefasst werden. Michael Sandel z.B. setzt sich in seinem Buch „Liberalism and the Limits of Justice“[6] konkret mit dem von John Rawls

in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“[7] propagierten Liberalismusbegriff auseinander und verfolgt demnach einen wissenschaftlich-theoretischen Ansatz. „Diese Kritik war der Auftakt der kommunitarischen Diskussion.

In ihr kommen die Grundthemen, besonders das Problem des atomisierten Individuums zu Sprache.“[8] Auf diese Liberalismuskritik, insbesondere die Sanders an Rawls, werde ich zu Beginn des dritten Kapitels eingehen, zuvor jedoch den Kommunitarismus in seinen

historischen Kontext einordnen. Um die öffentliche Diskussion des Gemeinschaftsbegriffes darzulegen, möchte ich mich daher in den Kapiteln 3.2. bis 4. auf das Kommunitarismus-Konzept Amitai Etzionis beziehen, weil es durch seinen Praxisbezug das politische Denken in den USA und in Europa parteiübergreifend beeinflusst und Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme vorstellt.

2. Hauptteil

2.1. Ideengeschichte

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kam es in England, als Folge eines ungehemmten Kapitalismus zur Kritik am Liberalismus. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hatten sich in Folge der Industriellen Revolution grundlegend verändert. Breite Bevölkerungs-schichten sahen sich einer sozialen Ausgrenzung ausgesetzt und waren dadurch in der vom Liberalismus propagierten individuellen Freiheit eingeschränkt. Da aber gerade diese Freiheit Vorrausetzung des liberalen Staatsverständnisses war, waren die Forderungen, die negativen Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sozialverträglich aufzufangen und durch gemäßigte Staatsinterventionen den Markt des ungehemmten Kapitalismus im Sinne der Gemeinschaft zu bändigen. Die Vertreter des ‚New Liberalism’ unter ihnen Leonard T. Hobhouse D.G. Ritchie propagierten gemeinsame Werte und soziale Kooperation als Grundpfeiler des Staates und als Vorrausetzung für die freie Entfaltung des Individuums. „Die Ausbildung von individueller Freiheit und individuellen Präferenzen erschien nur auf der Grundlage gemeinschaftlicher Lebensformen möglich; umgekehrt konnte der Individualismus nur sozialverträglich gedacht werden, wenn er moralisch auf die Gemeinschaft zurückbezogen blieb. Soziale Kooperation und die Ausbildung gemeinschaftlicher Werte wurden als die Grundlagen eines‚guten Lebens’ revitalisiert, und es wurde damit eine bürgerliche Sphäre zu konstituierend versucht, die sich vermittelnd zwischen Individuum Staat schob.“[9] Dabei grenzten sich die Theoretiker des ‚New Liberalism’ eindeutig von anderen Reformbewegungen wie die des Sozialismus oder des Utopismus ab, die sich aufgrund der sich veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gebildet hatten. Die Rolle des Staates als ordnungsstiftendes Element wurde ebenso wenig in Frage gestellt wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit der Vorrausetzung von Privateigentum an Produktionsmitteln.

In den USA war der Gemeinschaftsgedanke durch die Umstände der Einwanderung und durch den Puritanismus in der Staatsidee und in der amerikanischen Geistesgeschichte verankert. „Der Puritanismus war bekanntlich geleitet von starken christlichen Brüderlichkeitsidealen. In diese waren schon in England die starken lokalistischen Traditionen des Landes eingegangen, eine Tendenz, die sich auf dem neuen Kontinent zwangsläufig verstärkte. [...] Aber klar dürfte sein, dass das Erbe des Puritanismus und auch die Intentionen Lockes nicht so einlinig auf die Konkurrenz isolierter Individuen zulaufen. “[10] Also kann in den USA auf eine Tradition des Gemeinschaftsgedankens zurückgeblickt werden, der sich aus der Entstehungsgeschichte heraus ergibt. Vorhandene Gemeinschaften in Europa wurden aufgegeben und an ihrer Stelle konstituierten sich auf unterschiedliche Art und Weise andere Gemeinschaften in den USA. „Als klassischer Fall können Einwanderungsstudien gelten, in denen die Zersetzung europäischer Dorfgemeinschaften und die Entstehung nicht einer Massengesellschaft isolierter Individuen, sondern neuer Gemeinschaftsformen in den ethnischen „Ghettos“ amerikanischer Großstädte kontrastierte.“[11]

[...]


[1] Walter Reese-Schäfer: Kommunitarismus, Frankfurt/Main, 2001, S.7.

[2] Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice, Camebridge, 1998, S.186.

[3] Vorländer, Hans: Politische Kultur, in: Lösche, Peter; von Loeffelholz (Hrsg.): Länderbericht USA, Bonn, 2004, S. 314.

[4] Andreas Beierwaltes: „Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen. Theorie“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 43,1995, S. 26.

[5] Frankenberg, Günter (Hrsg.):Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt/Main, 1994, S. 11.

[6] Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice, Camebridge, 1998.

[7] Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main, 1979.

[8] Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus, Frankfurt/Main, 2001, S. 13.

[9] Vorländer, Hans: Dritter Weg und Kommunitarismus, in: Das Parlament Nr. 16/17 2001, S. 18.

[10] Joas, Hans: Gemeinschaft und Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 1992, S. 863.

[11] Joas, Hans: Gemeinschaft und Demokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7, 1992, S. 863.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Was ist Kommunitarismus? - Ideengeschichte, Entwicklung, politische Praxis
Hochschule
Technische Universität Dresden
Veranstaltung
Politisches Denken in den USA
Note
2,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
17
Katalognummer
V132107
ISBN (eBook)
9783640428830
ISBN (Buch)
9783640428656
Dateigröße
475 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kommunitarismus, Definition, Ideengeschichte, Entwicklung, Praxis
Arbeit zitieren
MA Sven Sochorik (Autor:in), 2005, Was ist Kommunitarismus? - Ideengeschichte, Entwicklung, politische Praxis , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132107

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Was ist Kommunitarismus? - Ideengeschichte, Entwicklung, politische Praxis



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden