Systemisches Coaching. Referenztheorien, grundlegende Prinzipien und praktische Formen systemischer Interventionen in Coachingprozessen


Diplomarbeit, 2009

133 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung
1.1 Zielsetzung
1.2 Gliederung der Arbeit

2 Theoretische Vorgedanken: Referenztheorien des systemischen Coachings
2.1 Wegbereiter und Strömungen der systemischen Theorie und Praxis
2.2 Kybernetik 1. und 2. Ordnung
2.3 Was ist ein System?
2.3.1 Soziale Systeme
2.3.2 Soziale Systeme in Bezug auf systemisches Coaching
2.4 Wie Leben sich selbst erzeugt: Der Begriff der Autopoiesis
2.4.1 Operationale Geschlossenheit
2.4.2 Strukturelle Kopplung
2.4.3 Kurzer Abriss der Theorie sozialer Systeme nach Luhmann
2.5 Der Radikale Konstruktivismus
2.6 Systemische Beratung als konstruktivistisch orientierte Beratung
2.7 Zusammenfassung

3 Coaching
3.1 Begriffklärung und Herleitung – zur Entstehung des heutigen Coaching-verständnisses
3.2 Versuch einer Definition
3.3 Begriffsabgrenzung
3.3.1 Abgrenzung zu Psychotherapie
3.3.2 Abgrenzung zu Training
3.3.3 Abgrenzung zu Mentoring
3.3.4 Abgrenzung zu Supervision

4 Systemisches Coaching
4.1 Was ist systemisches Coaching?
4.1.1 Das Zusammentreffen von Experten
4.1.2 Der ‚blinde Fleck’
4.2 Grundannahmen und Haltungen im systemisch-konstruktivistischen Coachingprozess
4.2.1 Jeder Mensch ist ein einzigartiges und nimmt die Welt individuell wahr
4.2.2 Positive Unterstellung und Lösungsabstinenz
4.2.3 Menschen können sich nur selbst verändern
4.2.4 Ganzheitlichkeit und Zirkularität
4.2.5 Allparteilichkeit und Neutralität
4.2.6 Neugier verbunden mit kreativen Fragen
4.2.7 Aktives Zuhören
4.2.8 Menschen ‚sind’ nicht, sondern ‚verhalten’ sich
4.2.9 Akzeptanz und Wertschätzung
4.3 Zusammenfassung und Stellungnahme

5 Systemische Interventionen
5.1 Systemische Frageformen
5.1.1 Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
5.1.2 Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
5.1.2.1 Hypothetische Fragen
5.1.2.2 Fragen nach Ausnahmen
5.1.2.3 Fragen nach Ressourcen
5.1.2.4 Zielvisionen und Wunderfrage
5.1.2.5 Paradoxe Fragen – die Verschlimmerung von Problemen
5.1.3 Zirkuläre Fragen
5.1.3.1 Fragen, die Unterschiede verdeutlichen und Alternativen darstellen
5.1.3.2 Fragen nach verhaltensmäßigen Unterschieden
5.1.3.3 Skalenfragen
5.1.3.4 Übereinstimmungsfragen
5.1.3.5 Personenbezogene Unterschiede
5.1.4 Dissoziierende Fragen
5.2 Umdeutung - Reframing
5.2.1 Bedeutungsreframing
5.2.2 Kontextreframing
5.3 Reflecting Team
5.4 Zusammenfassung der systemischen Fragen und Reflexion

6 Schlussbetrachtung
6.1 Zusammenfassung
6.2 Diskussion

7 Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Blinder Fleck (von Foerster 1985, S. 26)

Abbildung 2: Das Vier-Schritte-Modell (Radatz 2006b, S. 102)

1 Einleitung

In dem im Jahre 1962 erschienenem Buch „The structure of Scientific Revolutions“ von T. S. Kuhn wird ein Erklärungsmodell für Wissenschaftsentwicklung entworfen. Darin wird die Meinung vertreten, dass Wissenschaftsentwicklung nicht kontinuierlich verlaufe, sondern in Brüchen, welche jeweils ‚Paradigma-Wechsel’ beziehungsweise ‚wissenschaftliche Revolutionen’ in Form von sprunghaften Gestaltveränderungen des jeweiligen Wirklichkeitsmodells darstellen. Zwischen jenen ‚Brüchen’ findet normale Wissenschaft statt, wobei diese allerdings von dem jeweilig vorherrschenden wissenschaftlichen Denkmuster und Zeitgeist geleitet wird. Diese bestimmen beispielsweise die relevanten Fragestellungen, Methoden, Erklärungs- und Lösungsansätze. Neue Denkmuster sind verbunden mit neuen Formen der Erkenntnisgewinnung, die es überhaupt erst möglich machen, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Neue Paradigmen liefern zwar andere Erklärungen, sind aber gleichzeitig schwer durchzusetzen, da die Vertreter alter Paradigmen nur schwer zu überzeugen sind (vgl. Krause 2003, S. 127).

Die systemische Denkweise wird genau als ein solches ‚neues Paradigma’ bezeichnet, eben weil diese Denkweise eine andere Herangehensweise nutzt, um zu Erkenntnissen zu gelangen (ebd., S. 127). So unterscheidet sich die systemische Denkweise von dem westlichen Alltagsdenken in der Weise, dass Erkenntnisse verwendet werden, die sich aus der Systemtheorie verbunden mit der Kybernetik 2. Ordnung (Simon 2006, S. 12 f.) und den Gedanken des Radikalen Konstruktivismus ableiten lassen. Für die Praxis - wie beispielsweise für das hier zu behandelnde Thema des systemischen Coachings - bedeutet es, dass an die Stelle geradlinig-kausaler Erklärungen nun zirkuläre Umschreibungen treten. Darüber hinaus werden Objekte nicht länger als isoliert voneinander betrachtet, sondern die Relationen zwischen ihnen treten nun ins Blickfeld (Simon 2006, S. 12 f.).

Die Basis des systemischen Coachings macht die Haltung der systemisch-konstruktivistischen Denkweise aus. Diese geht in ihren Grundlagen auf Piaget und Bertalanffy, Bateson, von Foerster, von Glasersfeld und Watzlawick zurück. Einen weiteren wichtigen Anteil haben die Biologen Maturana und Varela als auch der Soziologe Luhmann geschaffen. Auch wenn diese Personen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entstammen, so ist ihnen doch eine ähnliche Weise, die Welt zu betrachten, gemein (vgl. Radatz 2006b, S. 31 f.). Jenes neue Paradigma – die systemisch-konstruktivistische Denkweise - mit seinen Prämissen und Grundhaltungen soll in der vorliegenden Arbeit vorgestellt werden, um schließlich Interventionsmöglichkeiten innerhalb der praktischen Anwendung im systemischen Coaching herauszuarbeiten.

1.1 Zielsetzung

In der vorliegenden Diplomarbeit soll grundlegend erörtert werden, auf welchen Referenztheorien die Denkweise und die Haltung eines systemisch agierenden Coaches fußen. Des Weiteren soll darauf eingegangen werden, was die Begrifflichkeit des ‚Coachings’ detailliert mein, um in Folge dessen die ausgeführten Theoriekonstrukte und Coaching zusammenzuführen zum systemischen Coaching.

Der Fokus ist darauf gerichtet, zu überprüfen inwieweit die dargestellten Theorien in die Praxis umgesetzt werden können: Dabei stellt sich die Frage danach, wie sich eine systemische Grundhaltung darstellt und durch welche Denkweisen sie sich auszeichnet. Was sind die Prämissen einer systemischen Grundhaltung? Welche Aspekte unterscheiden sich zum omnipräsenten typischen westlichen Denkstil in linearer Kausalität?

Weiterhin steht im Fokus der Arbeit, wie jene Haltungen in das alltägliche Leben und Erleben beispielsweise eines Coachees (~ Klient des Coaches) implementiert werden können. Es werden Instrumente (~ Interventionsmöglichkeiten) benannt, um die Welt auf eine andere, bisher ungewohnte Weise wahrzunehmen und Ereignisse dahingehend zu bewerten. Dementsprechend stellt sich die Frage danach, welche Möglichkeiten es für einen systemisch arbeitenden Coach gibt, um in einem System einen Impuls auszulösen, welcher dieses näher zum angestrebten Ziel führt.

Zusammenfassend besteht das Hauptziel der Arbeit darin, den aktuellen Stand des systemischen Coachings kritisch und reflektierend vorzustellen. Dabei soll es nicht nur um die Erläuterung theoretischer Konstrukte gehen, auf denen die Annahmen des systemischen Coachings basieren, sondern vielmehr um die Umsetzung dieser: Das Hauptaugenmerk liegt somit auf der Erörterung der Werthaltungen und Einstellungen eines systemisch-konstruktivistisch denkenden Menschen sowie der kritischen Darstellung aktueller systemischer Interventionsmöglichkeiten.

1.2 Gliederung der Arbeit

Die Kernthematik der vorliegenden Arbeit ist die Ausarbeitung dessen, was genau systemisches Coaching ist – durch welche Haltungen und Interventionsmöglichkeiten es sich auszeichnet: Dabei meint der Oberbegriff ‚systemische Beratung’ verschiedene Varianten systemischen Denkens und Handelns, denen theoretische Annahmen zu Grunde liegen, welche im 2. Kapitel erörtert werden. Um dem Leser zunächst einen Überblick über verschiedene systemische Strömungen zu verschaffen, gilt es in einem kurzen geschichtlichen Abriss zu erläutern, welche Namen gemeinhin mit den Anfängen systemischer und konstruktivistischer Überlegungen in Zusammenhang stehen.

Systemische Theorien sind tendenziell soziologisch und beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Themen. Dieser systemische Blick hat sich insbesondere in der betrieblichen Organisationsentwicklung durchsetzen können (vgl. Siebert 2003, S. 38). Eine systemische Kernthese ist folgende: „Je komplexer die sozialen Systeme, desto mehr müssen Eigendynamik und Wechselwirkungen berücksichtigt werden und desto weniger sind monokausale Erklärungen und Steuerungen erfolgversprechend“ (Zit. Siebert 2003, S. 38). Als Resultat daraus fand die Weiterentwicklung von der Kybernetik 1. Ordnung zur Kybernetik 2. Ordnung statt, welche ebenfalls im 2. Kapitel behandelt werden. Da es im systemischen Coaching unter anderem um das Eingreifen in (soziale) Systeme geht, erachte ich es als unerlässlich, eine Grundlage dafür zu schaffen, was als ‚System’ beziehungsweise als ‚soziales System’ zu verstehen ist (vgl. Kapitel 2.3). Darüber hinaus soll auch auf die Begrifflichkeit der Autopoiesis eingegangen werden, deren Prinzipien im engen Zusammenhang mit der systemischen Denkweise und Arbeit steht (Kapitel 2.4).

An dieser Stelle möchte ich abermals Siebert (ebd., S. 38) hervorheben, welcher konstatiert, dass sich systemisches und konstruktivistisches Denken zwar voneinander unterscheiden, aber dass es dennoch erhebliche Schnittmengen zwischen beiden gibt. Dadurch kommt er zu dem Schluss, von einem einheitlichen Paradigma sprechen zu können. Diese Auffassung wird auch unter anderem von Tomaschek (2003, S. 17) und Radatz (2006b, S. 31) geteilt, welche von einer systemisch-konstruktivistischen Denkweise sprechen. Da das systemische Coaching auf eben jenem konstruktivistischen Paradigma basiert, welche zeitweise sehr radikal von systemischen Coaches vertreten wird (vgl. Brunner 2004, S. 656), soll ein besonderes Augenmerk auf das Gedankengut des Radikalen Konstruktivismus gelegt werden (vgl. Kapitel 2.5). Zwar gibt es nach Steinkellner (2005, S. 44) noch weitere Spielarten des konstruktivistischen Paradigmas (wie z.B. Symbolischer Interaktionismus, Sozialer Konstruktivismus), jedoch ist allen gemein, dass sie von der sozialen Konstruiertheit der Beobachtung der Welt ausgehen.

Im 3. Kapitel soll Coaching im Allgemeinen näher betrachtet werden. Auch an dieser Stelle soll zunächst die geschichtliche Entwicklung, welche das Personal(führungs)instrument Coaching in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, nachgezeichnet werden, um herauszuarbeiten, in welcher Phase sich Coaching aktuell befindet. Darauf aufbauend soll mittels unterschiedlicher Definitionen des Begriffes ‚Coaching’ der Versuch unternommen werden, verbindende Elemente herauszufiltern, mit dem Ziel aufzuzeigen, was genau sich hinter diesem Personalinstrument verbirgt. Darüber hinaus wird eine Abgrenzung von Coaching zu anderen Beratungsmaßnahmen vorgenommen.

Die beiden folgenden Kapitel stellen die zentralen Abschnitte der Arbeit dar. Auf der theoretischen Grundlage der Referenztheorien und des Instrumentes des Coachings im Allgemeinen, soll im 4. Kapitel auf die spezielle Form des ‚systemischen Coachings’ eingegangen werden. Dabei ist es von enormer Wichtigkeit, zwischen der systemischen Haltung und der Verwendung systemischer Werkzeuge klar zu unterscheiden: Die systemische Haltung, als Basis jedweden systemischen Handelns, meint die grundsätzliche Herangehensweise an ein Coaching. Sie bestimmt wie der Coach handelt – welche Prämissen und Überzeugungen dieser Handlungsweise zu Grunde liegen. Es geht dabei unter anderem darum, die zentralen Aspekte des Unterschiedes des systemischen Denkens zum linear-kausalen Denken zu benennen und aufzuzeigen, dass Handlungen stets zirkulär sind und von jedem Menschen auf eine andere Weise wahrgenommen werden.

Die systemischen Werkzeuge, welche im 5. Kapitel erläutert und kritisch reflektiert werden sollen, bestimmen was der Coach tut – welche Werkzeuge er anwendet, um dem gewünschten Beratungserfolg näher zu kommen. Hierbei sind vornehmlich die systemischen Frageformen hervorzuheben, welche in ihrer Variation den Großteil der Interventionen ausmachen. Des Weiteren stellen die Interventionen des ‚Reframings’ und des ‚Reflecting Teams’ Möglichkeiten für den systemisch arbeitenden Coach dar, den Klienten in die Richtung seiner Zielvisionen zu führen.

Den Abschluss der Arbeit bildet das Kapitel 6, in welchem eine Zusammenfassung der relevanten Ergebnisse dieser Arbeit erfolgt. Darüber hinaus wird eine Diskussion in Form einer reflektierenden Schlussbetrachtung der gesamten Arbeit formuliert.

Ich möchte anmerken, dass sich die vorliegende Arbeit insbesondere auf das Setting des Einzelcoachings konzentriert. Dabei möchte ich mich der Auffassung Radatz’ (2006b, S. 25) anschließen, dass andere Formen des Coachings – wie etwa Gruppen- oder Teamcoaching oder beispielsweise Coaching in der Organisationsberatung – andere Grundkonzepte erfordern als jenes, welches hier behandelt wird. Dies liegt daran, dass der Fokus des Coaches in Gruppen- oder Teamcoaching ein anderer sein muss als im Einzelcoaching, da Coachingprozesse in Gruppen einer völlig anderen Komplexität und Dynamik unterliegen.

Schlussendlich möchte ich darauf hinweisen, dass die Begriffe Coach und Coachee im Englischen sowohl für die weibliche als auch für die männliche Form gelten. Da dies im Deutschen nicht der Fall ist, habe ich mich aufgrund der besseren und verständlicheren Lesbarkeit dafür entschieden, im gesamten Text bei der männlichen Form zu bleiben. Darüber hinaus werden die Begriffe Coachee und Klient synonym zueinander verwendet.

2 Theoretische Vorgedanken: Referenztheorien des systemischen Coachings

Im Folgenden wird ein kurzer geschichtlicher Abriss aufzeigen, welche Personen gemeinhin als Vorreiter der systemisch-konstruktivistischen Denkweise gelten und mit der Entwicklung erster systemischer Interventionsmethoden in Zusammenhang gebracht werden.

Die Grundlagen des systemischen Coachings werden hauptsächlich der Systemtheorie (unter anderem Luhmanns), der Philosophie des Radikalen Konstruktivismus und den Ansätzen der systemischen Therapie entnommen. Infolgedessen möchte ich zunächst die theoretischen Konstrukte genauer betrachten, welche dem systemischen Coaching als Basis dienen. Es soll des Weiteren der Versuch unternommen werden, bereits während dieser theoretischen Abhandlung an einigen Stellen den Bogen zur Praxis zu schlagen und jene theoretischen Vorstellungen auf den Coachingsprozess zu übertragen. Dabei besteht nicht der Anspruch die Systemtheorie oder die konstruktivistischen Vorstellungen dezidiert und vollständig zu umschreiben - dies würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen – sondern lediglich einen Überblick zu verschaffen, um spätere Ausführungen (die Praxis des systemischen Coachings betreffend) leichter nachvollziehbar zu machen.

2.1 Wegbereiter und Strömungen der systemischen Theorie und Praxis

Migge (2005, S. 343) konstatiert, dass es innerhalb der systemischen Theorie und Praxis keine explizite Gründerpersönlichkeit gibt. Viele Gedanken diverser Einfluss nehmender Strömungen, die hier zusammenfließen – z.B. Kybernetik, Chaostheorie, Spieltheorie, Systemtheorie, Konstruktivismus - wurden innerhalb der Wissenschaft parallel veröffentlicht. Dabei nahmen sie einander auf und inspirierten sich gegenseitig.

Es sollen innerhalb dieser Arbeit lediglich einige Eckpfeiler und Personen benannt werden, die einen entscheidenden Einfluss auf die heutige Anwendungspraxis des systemischen Coachings hatten und für deren Grundhaltung gegenüber dem Menschen, seinem Handeln und seinen Einstellungen verantwortlich sind.

Gregory Bateson ging bereits in den 40er Jahren davon aus, dass die Aufmerksamkeit innerhalb der Veränderungsarbeit nicht auf eine einzelne Person oder einen bestimmten Faktor liegen, sondern auf das soziale System gerichtet sein sollte. Er geht von der Zirkularität sozialer Systeme aus (vgl. Kapitel 4.2.4), die er aus technischen Regelkreisen ableitet. Bezüglich der Anwendung auf soziale Systeme hat er diese modifiziert: Als Elemente des Systems gelten für Bateson immer die handelnden Personen innerhalb des Systems (vgl. Migge, S. 344) – im Gegensatz zur Auffassung Luhmanns (wobei an dieser Stelle auch explizit darauf hingewiesen werden soll, dass die systemtheoretischen Überlegungen Batesons von Anfang an auf praktische Anwendbarkeit ausgerichtet waren – im Gegensatz zu Luhmanns Ausführungen).

Dabei stellt Bateson (zusammen mit dem Psychiater Ruesch) in seinem 1951 erschienen Buch ‚Kommunikation’ den Versuch dar, die allgemeine Systemtheorie (unter anderem Luhmanns) auf soziale Systeme und den darin befindlichen Kommunikationen zu übertragen (vgl. König & Volmer 2005, S. 21). Die handelnden Personen reagieren demnach nicht einfach auf irgendwelche Reize, sondern machen sich ständig ein individuelles Bild von der Wirklichkeit – dieses Bild jedoch ist niemals die Wirklichkeit selbst. Aber aufgrund dieser Basis der vielfältigen, wechselseitigen Deutungen der Wirklichkeit (= Interpunktionen) bilden sich Regelkreisläufe der Kommunikation heraus (vgl. Migge 2005, S. 344). Stierlin (1994, S. 57 f.) betont, dass es vor allem Bateson war, der die Kybernetik[1], als die Lehre von Steuerungsprozessen, und damit auch ökosystemisches Denken im psychosozialen Bereich ansiedelte.

Paul Watzlawick hat die Kommunikationsvorstellungen Batesons erstmals zusammengeführt und weiterentwickelt. In seiner bekannten Publikation „Menschliche Kommunikation“ (erstmalig 1969 erschienen) stellt er die Axiome menschlicher Kommunikation zusammen, welche in ihrer Ursprünglichkeit auf den Systembegriff Batesons zurückgehen. Die wohl bekanntesten Aussagen darin sind folgende:

- Man kann nicht nicht kommunizieren.
- Jede Äußerung enthält sowohl eine Inhalts- als auch eine Beziehungsbotschaft.
- Die Natur der Beziehung wird durch die Kommunikationsabläufe bedingt.

Sowohl Watzlawick als auch Bateson waren Mitglieder der sogenannten Palo Alto Gruppe (vgl. Migge, S 2005. 344 f.). In Palo Alto (Kalifornien) befindet sich das Mental Research Institute - MRI (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 20). Um Bateson entstand hier in den 50er Jahren eine Schule, die Kommunikationspathologien untersuchte. Dabei wendeten sie beispielsweise paradoxe Kommunikation ganz bewusst in Therapien an (vgl. Migge 2005, S. 344 f.). Eine Intervention, die sich später etwas modifiziert im systemischen Coaching innerhalb der Anwendung der ‚paradoxen Fragen’ wiederfand, auf welche zu einem späteren Zeitpunkt (vgl. Kapitel 5.3.3.5) eingegangen werden soll.

Auch Gerstenmaier (2004, S. 680) hebt den besonderen Einfluss der Palo Alto Gruppe rund um Paul Watzlawick auf die Entwicklung konstruktivistischer Beratungsansätze hervor: Watzlawick änderte zunächst die gängigen Vorstellungen von objektiver Diagnostik, indem er zwischen zwei differierenden Wirklichkeiten unterschied: Zum einen die Wirklichkeit, welche physikalische Eigenschaften bezeichnet (= Wirklichkeit der 1. Ordnung) und zum anderen die Wirklichkeit 2. Ordnung, welche die erste ergänzt. Letztgenannte ist das Ergebnis von Kommunikationsprozessen und ist gekennzeichnet durch Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen sowie durch Anweisungen, wie die Welt wahrzunehmen ist. Diese Wirklichkeit 2. Ordnung ist auch jene, die - laut Watzlawick - Gegenstand von Therapie oder Beratung ist. Wenn eben jene Wirklichkeitskonstruktionen zu Problemen führen, setzen an dieser Stelle die Beratungsmethoden der Palo Alto Gruppe an: Durch bestimmte Interventionen und Techniken wird der Klient zum Handeln und zum Reflektieren seiner Wirklichkeitskonstruktionen ermuntert und angeleitet (vgl. Gerstenmaier 2004, S. 680). Ebenso verhält es sich im systemischen Coaching: Mit Hilfe bestimmter Interventionen, wie den speziellen systemischen Frageformen oder Reframing (Umdeutungen), wird an den problematisierenden Wirklichkeitskonstruktionen des Coachees gearbeitet.

Gerstenmaier konstatiert, dass Watzlawick selbst, seinen Beratungsansatz „als konsequente Anwendung konstruktivistischen Denkens, der zunehmend auch in Selbsthilfe- und Coachinggruppen zur Anwendung kommt“ (Zit. Gerstenmaier 2004, S. 680) begriffen hat.

Die Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli

Von Schlippe und Schweitzer (1997, S. 21) heben hervor, dass das in den 70er Jahren entstandene Mailänder Modell um M.S. Palazzolo, welche stark von den Gedanken in Batesons Werk „Ökologie des Geistes“ fasziniert wurde (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 27; Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 223), für nahezu alle systemischen Konzepte und die Annahme von Zirkularität (vgl. Kapitel 4.2.4) von unschätzbarer Bedeutung ist. Sowohl die Haltung der Neutralität (vgl. Kapitel 4.2.5) als auch die Intervention der zirkulären Fragen (vgl. Kapitel 5.1.3) entstammen den Konzepten des Mailänder Modells (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 26).

Das Mailänder Team sah Motive, Gefühle, Bedürfnisse und den individuellen Konflikt als Konstrukte einer überholten Epistemologie an und versuchte auf Grund dieser Annahme schon früh, einen ‚kybernetischen Konstruktivismus’ zu verwirklichen: In jeder Gruppe, in jedem System entwickeln sich mit der Zeit Regeln, welche die Verhaltensspielräume zum einen beschreiben und zum anderen eingrenzen (von Schlippe und Schweitzer 1997, S. 28).

Innerhalb der lösungsorientierten Kurzzeittherapie (ab Mitte der 70er Jahre) Steve de Shazers und seiner Frau Insoo Kim Berg wird ab der ersten Frage des Beraters nicht auf das Problem des Klienten, sondern direkt auf die Lösung eingegangen (vgl. ebd., S. 35).

Die Kernaussage dieses Ansatzes besteht darin, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Problem und der Lösung gibt. Des Weiteren werden Ressourcen eines Menschen als naturgegeben vorausgesetzt (vgl. Kapitel 4.2.2) - auch wenn sie der betreffenden Person aktuell nicht direkt bewusst sind. ‚Berühmtheit’ erlangte de Shazer mit seiner ‚Wunderfrage’ (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 35 f.), auf welche später (vgl. Kapitel 5.1.2.4) eingegangen wird.

2.2 Kybernetik 1. und 2. Ordnung

Es war Bertalanffy, der einst in der Biologie die Idee der Systemtheorie als etwas Zusammengesetztes, das untereinander in Wechselwirkung steht, formulierte. „Mit der Kybernetik wurde ein wissenschaftliches Programm ins Leben gerufen, welches zur Beschreibung, Regelung, und Steuerung von komplexen Systemen dienen sollte“ (Zit. Müller & Hoffman 2003, S. 185). Genau jenen Punkt der Wechselwirkungen beschreiben Backhausen und Thommen (2003, S. 74) als die große Entdeckung der Kybernetik: „Die Illusion der Eigenständigkeit der Dinge wurde durch die Berücksichtigung von zirkulären Rückkopplungszusammenhängen aufgegeben“ (Zit. Backhausen & Thommen 2003, S. 74).

Die Kybernetik 1. Ordnung wird von Geschichtsschreibern der Systemtheorie etwa in den Jahrzehnten von 1950 – 1980 verortet. Dies ist eine Phase, die sich mit Theorien über beobachtete Systeme befasst. Die Phase der Entwicklung von Theorien über Beobachter, die ihrerseits ein System beobachten wird als Kybernetik 2. Ordnung bezeichnet (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 53).

Es klang bereits an, dass die Kybernetik ein wissenschaftliches Programm bezeichnet, welches der Beschreibung der Regelung und Steuerung komplexer Systeme dient. Bezüglich der Kybernetik 1. Ordnung weisen Schmidt und Vierzigmann (2006, S. 219) darauf hin, dass hier psychosoziale Systeme analog zu technischen Regelkreismodellen konzipiert sind: In beiden finden sich Merkmale wie Rückkopplungsstrukturen, Homöostase, Informationsverarbeitung und die Fähigkeit sich an veränderte Umweltbedingungen - über die Entwicklung geeigneter Strategien - anzupassen, wieder. Die Homöostase – Selbstregulation – bezeichnet dabei die Fähigkeit eines Systems sich durch negative Rückkopplung in einem stabilen Zustand zu halten. Das System ist somit fähig, einen homöostatischen Zustand einzuhalten, indem es Veränderungen seiner Umwelt aktiv ausgleicht. Das impliziert, dass mittels gezielter Beeinflussung die Kontrolle eines Systems und dessen zielgerichtete Steuerung möglich sind. In diesem Umstand liegt begründet, dass die Konzepte der Kybernetik 1. Ordnung großen Anklang unter anderem in Managementkreisen fanden (vgl. Simon 2006, S. 18 f.).

Eben genannte Merkmale kann ein vom System unabhängiger Coach analysieren und entsprechend steuern. Entsprechende Maßnahmen in Richtung der Zielvorstellungen können umso leichter und effektiver eingeleitet werden, je genauer er die Interaktionen des zu beratenden Systems durchschaut. Schmidt und Vierzigmann (ebd., S. 220) führen als Beispiele für Beratungsansätze, die auf der Kybernetik 1. Ordnung aufbauen, strukturelle[2] als auch strategische[3] Ansätze systemischer Familientherapien an (vgl. Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 219). Jedoch geben von Schlippe und Schweitzer (1997, S. 53) zu bedenken, dass Aussagen der Kybernetik 1. Ordnung mittlerweile kritisch gesehen werden, da sie eine Denkweise in Begriffen wie Kontrolle und Steuerung nahe legen.

Für das 20. Jahrhundert war es kennzeichnend, dass Erklärungsmodelle, die statische Beschreibungen im Sinne einer Newtonschen Mechanik lieferten, mehr und mehr durch die Kybernetik 2. Ordnung verdrängt wurden. Die Kybernetik bezog sich zunächst auf biologische Wissenschaften – umfasste aber auch alsbald psychosoziale Wissenschaften und Ansätze (vgl. Stierlin 1995, S. 58). Der Glaube an die Möglichkeit objektiver Beobachtungen, die losgelöst sind von den Bedingungen oder Erfahrungen des Beobachters, begann zu bröckeln „als Kybernetiker begannen, ihre Theorien über die selbstbezügliche Organisation lebender Systeme auch auf sich selbst zu beziehen“ (Zit. Simon 1991, S. 34). Bislang sind diese davon ausgegangen, dass sie außerhalb der von ihnen beobachteten Systeme stehen und dieses somit unabhängig von ihnen und ihrer Beobachtung abläuft. Simon spricht in diesem Zusammenhang von einem übergeordneten System im Sinne von „System plus von ihm beobachtetes System“ (Zit. ebd., S. 34), so dass nunmehr keine unabhängige, objektive Beobachtung möglich ist. Vielmehr wird der vermeintlich unabhängige Beobachter somit nach dieser Erkenntnis plötzlich zu einem teilnehmenden Beobachter, der nun selbst im Verdacht steht, das beobachtete System nicht nur zu beschreiben, sondern es gleichzeitig auch zu verändern oder zu beeinflussen (vgl. ebd., S.34). Der Beweis, dass dem tatsächlich so ist, liegt für mich darin, dass bereits das Hinzuziehen eines Coaches, welcher sich zunächst nur in der beobachtenden Rolle befindet, eine Intervention darstellt und mittels seiner Anwesenheit in das System eingreift (vgl. Kapitel 5).

Aus dieser zuvor beschriebenen Beobachtung der Beobachtung resultiert die Kybernetik 2. Ordnung, welche die „Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Gegenstand seiner Erkenntnis“ (Zit. Simon 1991, S. 34) untersucht. Die Kybernetik 2. Ordnung, nennt sich aus dem Grunde so, da sie die kybernetischen Prinzipien auf sich selbst bezieht. Denn hierbei geht es um eben jene Fragen, wie die menschliche Erkenntnis kybernetisch organisiert wird (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 53). Aufgrund der Einbeziehung oder des Ausschlusses eines Beobachters lassen sich unterschiedliche Ordnungen der Beobachtung beschreiben: Als ‚Beobachtung 1. Ordnung’ gilt die Beobachtung eines Gegenstandes und als ‚Beobachtung 2. Ordnung’ gilt die Beobachtung der Beobachtung jenes Gegenstandes (vgl. Simon 2006, S. 42).

Dabei besteht durchaus die Möglichkeit über diese Beobachtung – bewusst als auch unbewusst vom Beobachter – in die selbstbezüglichen Prozesse einzugreifen, welche das System in seiner Funktion und Struktur erschaffen und erhalten. In der Folge ist der Beobachter somit fähig, das System, welches er beobachtet, zu verändern oder aber auch zu erhalten oder völlig neu zu erschaffen. Weiterhin liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Aussagen über das System oder das Objekt stets auch Aussagen über den Beobachter selbst und seine Verhaltensweisen sind (vgl. Simon 1991, S. 34).

Daraus folgt für den Einsatz eines Coachings, dass es stets zu berücksichtigen gilt, dass nicht nur in betrieblicher Hinsicht eine Systemdynamik existiert (am Arbeitsplatz), sondern dass das Coaching selbst „Teil einer Systemdynamik [darstellt] , die für das Ergebnis der Zusammenarbeit sehr wesentlich ist“ (Zit. Schmidt 1997, S.83 f.). Die Kybernetik 2. Ordnung bedeutet für die Praxis, dass der Coach immer auch ein Teil des Gesamtgeschehens von dem ist, was im Coaching passiert. Er ist beteiligter Beobachter - Schmidt (1997, S. 83 f.) beruft sich an dieser Stelle auf Maturana, der dazu sagt: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt“ (Zit. Maturana & Varela 1970, S. 34). Das heißt, dass das, was der Coach über seinen Klienten sagt, nur eine Konstruktion von ihm selbst und nicht die objektive Wirklichkeit über den Klienten ist – der Coach reflektiert sich selbst rückbezüglich. (vgl. Schmidt 1997, S. 83 f.).

Auch Radatz (2006b, S. 37 f.) betont den Punkt der Rückbezüglichkeit: Mit jeder Sichtweise, die der Coach in das Coaching einbringt, treten unweigerlich seine subjektiven Einstellungen zutage. Selbst jede Wiederholung des Gesagten des Coachees wird in der ganz individuellen Sichtweise und der Vorstellung der Welt des Coachs widergespiegelt. Radatz empfiehlt dem Coach sich als Konsequenz ganz bewusst in die (subjektive) Rolle des Beobachters einzufinden und dadurch ein gemeinsames Beratungssystem mit dem Klienten zu knüpfen. Infolgedessen ist es diesem System nun möglich, das Problem des Coachees aus verschiedenen, individuellen Blickwinkeln heraus zu betrachten.

Die Kybernetik der Kybernetik umfasst ganz explizit auch den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion[4], so Wimmer (vgl. http://www.wimmer-partner.at/pdf.dateien/system-intervention.pdf, Zugriff am 29.10.2008) als auch Backhausen und Thommen (2003, S. 74 f.), da die beschriebene Wirklichkeit durch die Beschreibung (mit-)konstruiert wird. Somit lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Kybernetik 2. Ordnung die systemisch-konstruktivistische Perspektive widerspiegelt (die Grundannahmen des Radikalen Konstruktivismus sollen im Kapitel 2.5 und 4.2.1 genauer aufgenommen werden). Auch Stierlin (1994, S. 81) konstatiert, dass sich in der Kybernetik 2. Ordnung zum einen die Bedeutung des Radikalen Konstruktivismus widerspiegele und zum anderen die stetig wachsende postmoderne Perspektivenvielfalt, die mit erstgenanntem eng verbunden ist.

Daraus folgt in Bezug auf das Coaching, dass ein (Klienten-)System nicht mehr als objektiv beobachtbar gilt, sondern als reine Konstruktion der Wahrnehmung des Betreffenden. Theorien über objektive Beobachtungsgegenstände werden ersetzt durch Theorien des Beobachters. Das bedeutet für die Praxis eines jeden Beraters, dass der ursprüngliche Glaube, dass sie als Experten von außen ein System objektiv wahrnehmen und dementsprechend Interventionen konstruieren können, in der Form keinen Bestand mehr hat. Der Berater ist nun gefordert, den Fokus auf Prozesse wie Sprache, Erkenntnis und der individuellen Bedeutungsgebung dieser durch den Klienten zu legen und somit Zusammenhänge zwischen diesen einzelnen Komponenten nachvollziehen zu können (vgl. http://www.wimmer-partner.at/pdf.dateien/system-intervention.pdf, Zugriff am 29.10.2008).

Auch Schmidt und Vierzigmann (2006, S. 221) ziehen aus der Entwicklungsphase der Kybernetik 2. Ordnung den Schluss, dass sich das Selbstverständnis des Coaches innerhalb dieser Entwicklungsphase gemäß der Rezeption des Radikalen Konstruktivismus in grundlegender Art und Weise ändert: „Wenn alles, was gesagt wird, von und zu einem Beobachter gesagt wird [...] , dann ist jeder Berater selbst Teil der von ihm konstruierten Wirklichkeit und verliert damit seinen Expertenstatus gegenüber den zu beratenden Systemen.“ (Zit. Schmidt & Vierzigmann 2006, S.221) – in der Folge daraus kommt es im Coaching zu einem Zusammentreffen von Experten, da auch der Coachee selbst zu einem solchen wird (vgl. Kapitel 4.1.1).

2.3 Was ist ein System?

In Anlehnung an Hall und Fagen ist ein System „a set of objects together with relationships between the objects and their attributes“ (Zit. Hall & Fagen 1956, S.18). Diese sehr globale Definition versteht ein System als die Summe seiner Objekte und Elemente in Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen eben jenen Objekten und deren Merkmalen (vgl. Schlippe & Schweitzer 1997, S. 54). Dabei leitet sich ‚systematisch’ vom griechischen Wort ‚to systema’ ab und bedeutet ursprünglich „das aus mehreren Teilen zusammengesetzte und gegliederte Ganze“ (Zit. Brunner 2004, S. 655). Das verdeutlicht, dass im Zentrum der Theorienbildung nicht die Beobachtung einzelner Phänomene oder die systematische Ordnung von Dingen, sondern die Beobachtung ihrer (geordneten) Vernetzung untereinander steht (vgl. Kapitel 4.2.4). Darauf aufbauend kann systemische Beratung ebenso als ‚ganzheitliche’ oder ‚vernetzende’ Beratung wiedergegeben werden (vgl. Brunner 2004, S.655; Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 218). Weiterhin, so ergänzen Schmidt und Vierzigmann (2006, S. 218), wird die Wirkung dieser Vernetzung nicht als Summe der Einzelphänomene gewertet, sondern der Dynamik der Vernetzungen zugerechnet. Folglich werden Systeme als generierende Ordnungen gesehen, die sich als Endresultat einer derartigen Dynamik bilden.

Allerdings, so betont Jensen (1999, S. 375), müsste die Aussage ‚es gibt Systeme’ konstruktivistisch in dem Sinne interpretiert werden, dass es lediglich Beobachter gibt, die dementsprechend beobachten. Denn Realität ist gemäß den konstruktivistischen Überzeugungen, das was als Realität erscheint – genauer werden die Grundgedanken des Radikalen Konstruktivismus im Kapitel 2.5 erläutert.

Systeme als formale Modelle werden von den jeweiligen Beobachtern genutzt, um Wirklichkeit zu konstruieren. Dabei obliegt die Definition bezüglich der Zugehörigkeiten eines Systems dem Beobachter selbst – das bedeutet es gibt den Innen- als auch den Außenbereich eines Systems. Eine Unterscheidung zur Umwelt findet statt (vgl. Krause 2003, S. 128). Willke[5] definiert System daher als „einen ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen, deren Beziehung untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen konstituiert eine Systemgrenze, die System und Umwelt des Systems trennt“ (Zit. Willke nach Krause 2003, S. 128). Willke bezieht sich auf die Relation zwischen Umwelt und System – es geht um das Innen und das Außen eines Systems. Daraus folgt, dass Systeme selbst und der Prozess der Unterscheidung als eng miteinander verbunden anzusehen sind.

Backhausen und Thommen (2003, S. 56) konstatieren hingegen, dass die Trennung zwischen System und Umwelt ausschließlich der Komplexitätsreduktion des Beobachters dient – tatsächlich aber nicht wahr ist. System und Umwelt sind als gemeinsames Ökosystem zu betrachten.

Eine weitere vorstellbare Unterscheidung, die das Individuum bei Systemen vornehmen kann, neben dem Unterscheiden des ‚Innen’ und ‚Außen’ eines Systems, ist die der lebenden und nicht lebenden Systeme – beide werden von sehr unterschiedlichen Dynamiken geleitet (vgl. von Schlippe & Schweitzer, S. 55). Diesbezüglich führt Simon (1991, S. 28 f.) ein sehr anschauliches, praktisches Beispiel, das der Nachvollziehbarkeit dienen soll, an: Es geht um die Fragen, die der Betrachter bei dem Anblick einer Beule im Auto eines Freundes und bei dem Anblick einer Beule a m Kopf eines Freundes stellen wird: Zunächst erscheint es nahe liegend, dass eine fremde Kraft auf das System eingewirkt hat, um diese Deformierung entstehen zu lassen. Doch während sich der Betrachter beim Auto nach drei Wochen nicht wundern wird, dieselbe Beule wieder zu sehen, wird er bei der Beule am Kopf des Freundes, wenn sie dann unverändert geblieben ist, fragen, warum er diese immer noch habe. Implizit stellt er damit die Frage danach, was der Gegenüber getan habe, um diese Beule aufrecht zu erhalten. Der eklatante Unterschied zwischen lebenden und nicht lebenden Systemen ist, dass erstere durch eine spezielle Eigendynamik gekennzeichnet sind, die sie aktiv aufrecht erhalten – beispielsweise durch ein bestimmtes Verhalten, das die Beule nicht abklingen lässt, wie das absichtliche Zusammenstoßen mit einem Schrank, weil es so schön ist, wenn der Schmerz nachlässt, so Simon. So gilt für ihn in Bezug auf lebende Systeme: „Alles verändert sich, es sei denn, irgendwer oder -was sorgt dafür, daß es bleibt wie es ist“ (Zit. Simon 1991, S. 29).

In diesem Zusammenhang, der Unterscheidung von Systemen, prägte Heinz von Foerster den Begriff der trivialen und nichttrivialen Maschinen: Sofern der Beobachter oder Nutzer trivialer Maschinen über ausreichend Kompetenz und Wissen verfügt, so sind diese von ihm vollständig durchschau- und steuerbar. Sie stehen in Gegensatz zu nichttrivialen Systemen, wie beispielsweise dem Menschen, welche einem ständigen Wandel und der Eigendynamik unterliegen, die dafür sorgen, dass sie sich einer genauen Analyse oder Beeinflussung von außen entziehen (vgl. Schlippe & Schweitzer 1997, S. 55 f.). Lebende, dynamische Systeme verfügen dabei über eine schier unendlich große Bandbreite von Möglichkeiten, sich zu verhalten. Zudem sind sie dadurch gekennzeichnet, dass sie auf ein- und denselben Input je nach Kontext in unterschiedlicher Weise reagieren. Diese Kontextsensibilität lässt sie unvorhersehbar sowie nicht kalkulierbar werden (vgl. Backhausen & Thommen 2003, S. 30; Tomaschek 2003, S. 35; Huschke-Rhein 1998, S. 198) – insofern lässt sich für einen systemisch agierenden Coach zu keiner Zeit abschätzen, wie sich die von ihm verwendeten Interventionen, sich tatsächlich auswirken und welche (Ketten-)Reaktionen sie hervorrufen können.

2.3.1 Soziale Systeme

Ein soziales System definiert sich darüber, dass die jeweiligen Gruppenmitglieder über eine gemeinsame Realität verfügen „und damit eine Bereich sinnvollen Handelns und Kommunizierens erzeugt haben und auf ihn bezogen interagieren“ (Zit. Hejl 1990, S. 319). Mittels dieser Definition kann beispielsweise eine Firma erst dann als soziales System bezeichnet werden, wenn die dort miteinander Interagierenden tatsächlich an der Realitätskonstruktion teilhaben. Besteht diese Möglichkeit nicht, so stellen sie kein derartiges System dar, sondern arbeiten lediglich für eines (ebd., S. 320).

Lebewesen produzieren durch ihre Kommunikation und ihr Handeln ein Netzwerk von Interaktionen. Dieses Netzwerk wiederum ist es, was soziale Systeme ausmacht – folglich bestehen soziale Systeme aus Lebewesen. Durch die sinnhafte Verknüpfung aller Handlungen eines Systems entsteht die Anschlussfähigkeit einer Handlung an die andere Handlung, somit gelten sie als ‚Sinnträger’. Sollte eine Handlung aktuell keinen Sinn haben, so wird dies innerhalb des sozialen Systems via Kommunikation bewertet sowie durch soziale Festlegungen geregelt (vgl. Rebmann, Tenfelde & Uhe 2003, S. 64). Die ‚Geschäftsgrundlage’ sozialer Systeme besteht also gewissermaßen darin, dass die Systemmitglieder über ein gemeinsames Repertoire von Interaktionen verfügen, welche unter ihnen als sinnvoll oder angemessen angesehen werden. Somit lässt sich festhalten, dass erst auf Grund eines Konsens bezüglich ‚sinnvollen’ Handelns soziale Systeme entstehen – beziehungsweise diese sich von anderen sozialen Systemen mittels der Bewertung von Interaktionen betreffend ihrer ‚Sinnhaftigkeit’ abgrenzen (vgl. Hejl 1990, S. 328).

Steinkellner (2005, S. 63) führt an, dass soziale Systeme – in der Tradition Luhmanns – autopoietische Systeme darstellen (vgl. Kapitel 2.4), weil sie die Elemente, aus denen sie bestehen (Kommunikationen), selbst erzeugen. Dieser Kategorisierung von sozialen Systemen widerspricht Hejl (1990, S. 323-327) und beruft sich darauf, dass soziale Systeme nicht die lebenden Systeme erzeugen, aus denen sie bestehen. Selbst wenn man Handlungen (und dazu zählen auch Kommunikationen) als konstituierende Komponenten eines sozialen Systems ansieht, so weist Hejl darauf hin, dass Handlungen schlicht Handlungen bleiben, da sich nicht nachweisen lässt, dass aus ihnen ein System im Sinne der Selbsterhaltung entsteht. In einem weiteren Schritt stellt Hejl fest, dass soziale Systeme auch nicht als selbstreferentiell begriffen werden sollten.

In der Konsequenz aus vorhergehenden Überlegungen führt er den Begriff ‚synreferentiell’ ein, welcher für ihn als passende Charakteristik für soziale Systeme dient: „die notwendige Ausbildung von parallelisierten Zuständen in den interagierenden lebenden Systemen ist ... [die] physiologische Basis sozial erzeugter gemeinsamer Realitäten, von Sinn und Bedeutung" (Zit. Hejl 1990, S. 327). Sie entstehen dabei als Resultat sozialer Interaktionen.

Allerdings möchte ich hinzufügen, dass ich die Diskussion und Frage danach, ob ein soziales System als autopoietisches oder als synreferentielles System zu betrachten ist, in Bezug auf diese Arbeit nicht als besonders zieldienlich erachte – zumal Vertreter beider Ansätze durchaus nachvollziehbare Argumentationen anführen. Dennoch möchte ich diese beiden Standpunkte nicht unerwähnt lassen, unterlasse es jedoch, näher auf jene Positionen eingehen, da diese Diskussion nicht Thema der vorliegenden Arbeit ist.

Innerhalb des Systems werden die Kontakte zu den Elementen vollzogen, so dass dadurch zwangsläufig eine Grenze entsteht, welche das System von anderen abtrennt (vgl. Steinkellner 2005, S. 66 f.). Jene Grenzbestimmung stellt für Hejl (1990, S. 320 f.) ein aus systematischen und wissenschaftspraktischen Gründen wichtiges, aber gleichzeitig auch schwer zu beantwortendes Problem dar: Die Antwort findet er in der konstruktivistischen Sichtweise. Hejl definiert als Grenze eines sozialen Systems das zu erklärende Problem, welches ein Beobachter (oder eine Beobachtergemeinschaft) ausgewählt hat. Er nimmt damit Abstand davon, soziale Systeme mit Hilfe ‚natürlicher’ Grenzen einzugrenzen. Hingegen konstatiert er, dass die Grenzen durch Interaktionen der Komponenten erschaffen werden. Somit stellen Individuen ‚Berührungspunkte’ zwischen verschiedenen sozialen Systemen dar, da ein Individuum stets auch immer eine Komponente mehrerer sozialer Systeme ist – ein Punkt, auf welchen auch Radatz (2006b, S. 59) hinweist. Jene Feststellung lässt den Schluss zu, dass „Gesellschaft als ein Netzwerk sozialer Systeme mit den Individuen als »Knoten«“ (Zit. Hejl 1990, S. 321) verstanden werden kann. Dabei ist zu bedenken, dass jeder Beobachter auch immer gleichzeitig einen Teil dieses Netzwerkes darstellt.

2.3.2 Soziale Systeme in Bezug auf systemisches Coaching

„Der Prozess der Konstruktion von Systemen und deren Einfluss auf die sich bildende Wirklichkeit muss – gerade beim Coaching – zentral berücksichtigt werden“ (Zit. Backhausen & Thommen 2003, S. 40). Es wird also deutlich, dass ein System nicht ein Etwas ist „das dem Beobachter präsentiert wird, es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird“ (Zit. Maturana 1985, S. 175) – wie bereits zuvor durch Hejl angedeutet wurde. Das heißt ein System wird nicht als etwas, das es (objektiv) gibt, betrachtet, sondern dem Beobachter obliegt die Entscheidung, ob und wie er ein hochkomplexes Ökosystem in Subeinheiten aufteilt (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S.86) – was ganz den konstruktivistischen Grundgedanken entspricht.

Die Wichtigkeit des Prozesses der Systemkonstruktion liegt darin begründet, dass Grenzen in sozialen Systemen der Abgrenzung zur Umwelt dienen, woraus sich in der Folge Systemdifferenzierungen bilden (vgl. Rebmann, Tenfelde & Uhe 2003, S. 66). Durch jene Grenzziehungen wird meines Erachtens die Identitätsbildung reguliert sowie die Wirklichkeitskonstruktionen beeinflusst, so dass es für einen Coach unerlässlich ist, die Systemvorstellungen des Coachees zu hinterfragen. Wenn er an diesen Vorstellungen anknüpft und gegebenenfalls an und mit ihnen arbeitet, so verändern sich automatisch die Wirklichkeitsvorstellungen des Klienten – und ebenso die Systemvorstellungen. Die Berücksichtigung der Systemkonstruktion ist im Coaching deshalb unerlässlich, weil aus meiner Sicht keine angestrebte Veränderung (z.B. Beseitigung des Problems des Coachees) erreicht werden kann, wenn jene nicht hinterfragt und beispielsweise ‚aufgeweicht’ werden.

In Bezug auf den Coachingprozess lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass ein Ereignis in der Umgebung des Klienten immer auch von dieser Person selbst abhängig ist, da die betreffende Person immer selbst entscheidet, welche Auswirkungen bestimmte Kontextbedingungen auf sie selbst haben. In diesem Umstand sieht Tomaschek (ebd. S. 54) die Chance eines systemisch-konstruktivistischen Coachings: „die Entwicklung neuer und vor allem anderer Sichtweisen zu einer Situation, zu einem Problem ermöglichen. So können zunächst ungünstige Ereignisse, in ein anderes Licht gestellt, neue Möglichkeiten zur Veränderung eröffnen“ (Zit. Tomaschek 2003, S. 54). Jene Umdeutungen, z.B. von Kontexten, finden sich auch in der Intervention des Reframings wieder (vgl. Kapitel 5.2).

Soziale Systeme stellen für Radatz (2006b, S. 57-59) lediglich reine Konstrukte dar, die es dem Menschen ermöglichen, beobachtbare Phänomene leichter zu beschreiben. Jeder Mensch erfährt sich im Alltag selbst als zu einem System zugehörig – oder eben nicht. Dies können Familiensysteme, Unternehmenssysteme, Schulsysteme oder Abteilungssysteme sein. Ein jedes System ist geprägt von seiner ganz eigenen Charakteristik – so kann beispielsweise über einen gewissen Zeitraum ein bestimmter Firmenjargon oder eine bestimmte Umgangsweise miteinander geprägt werden, die dann systemtypisch sind. Dadurch werden die Systemmitglieder in ihrem Handeln von den Strukturen des Systems eingeschränkt, andererseits generiert es aber auch Möglichkeiten: Wenn eine Person einen Arbeitsplatzwechsel vornimmt – also einen Systemwechsel – verändert sich sein Verhalten in vielen Fällen grundlegend, so Radatz, da sein Handeln nun von anderen Strukturen geprägt und begrenzt ist.

Meines Erachtens greift Radatz hier auf die Ausführungen Luhmanns zurück, für den soziale Systeme ebenfalls die Funktion der Komplexitätsreduktion haben, um damit die unbestimmte Komplexität der Welt ‚behandelbar’ werden zu lassen. Daraus folgt für Luhmann, dass soziale Systeme gewissermaßen Inseln geringerer Komplexität innerhalb des diffus-komplexes Weltmeeres darstellen (vgl. Schuldt 2003, S. 21).

Luhmanns Auffassung von sozialen Systemen hebt sich nachdrücklich von traditionellen Sichtweisen ab: Für ihn besteht ein soziales System nicht aus Personen (sie zählen für ihn zur Umwelt sozialer Systeme) oder aus Beziehungen zwischen Menschen, sondern „aus Kommunikationen und nur Kommunikationen“ (Zit. Luhmann 1990, S. 197).

Für die Thematik des Coaching – im Prinzip für jede Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten der Erwachsenenbildung und Beratung – jedoch ist die praktische Leistungsfähigkeit der soziologischen Systemtheorie Luhmanns eher begrenzt, eben weil ihr die soziologische Perspektive zugrunde liegt. Dieser geht es bekanntlich nicht um die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten für den Praktiker. Somit sehen König und Volmer (2005, S. 19) den Nutzen der Systemtheorie für die handelnden Disziplinen eher im heuristischen Wert, da diese die Aufmerksamkeit auf spezifische Sachverhalte von sozialen Systemen lenkt: Beispielsweise ist die Reduzierung von Komplexität von Bedeutung bei dem Umgang mit der täglich anfallenden E-Mail-Flut und die Thematik der Systemgrenze zwischen Team und Vorgesetztem bedeutend für die Organisationsberatung. Allerdings wird auch auf die Versperrung des Zugangs zu speziellen Themen praktischer Fragestellungen durch die Luhmannsche Systemtheorie hingewiesen: Dadurch dass die Kommunikation und nicht Personen als Elemente sozialer Systeme begriffen werden, rückt die Person des zu Beratenden in den Hintergrund (ebd., S. 20).

2.4 Wie Leben sich selbst erzeugt: Der Begriff der Autopoiesis

Für einen lebenden Organismus ist die Grundvoraussetzung, um weiterhin als solcher zu gelten, bestimmte Aktivitäten vorzunehmen. Dabei handelt es sich zum einen um die Prozesse, die im Organismus selbst ablaufen, wie z.B. der Stoffwechsel oder der Kreislauf, und zum anderen um damit verbundene Verhaltensweisen, wie beispielsweise essen und trinken. Es ist somit das Funktionieren dieser körperlichen Strukturen, die zur Folge haben, dass eben jene weiterhin bewahrt bleiben. Maturana und Varela – eigentlich Biologen[6] – gaben diesem Prozess der Selbsterschaffung und –erhaltung des Organismus die Bezeichnung ‚Autopoiesis’ (vgl. Simon 1991, S. 30). „Sie beschreiben damit Leben als einen Prozeß, bei dem sich lebende Systeme als Einheiten selbst produzieren.“ (Zit. Simon 1991, S. 30).

Im Konzept der Autopoiesis werden lebende Systeme also als selbstreflexive Prozesse beschrieben, die dadurch ihre Struktur eigenständig erhalten und eben diese auch selbst erzeugen (vgl. Migge 2005, S. 351). Somit lässt sich festhalten, dass Autopoiesis eine Form der zirkulären Selbsterzeugung darstellt. Simon (1991, S. 30) verdeutlicht sehr bildlich, dass damit nicht beispielsweise ein Konstrukteur gemeint ist, der etwas - z.B. einen Gegenstand - herstellt. Vielmehr ist eben genau jene Differenz zwischen dem Schaffenden, dem Kreierenden und dem herzustellendem Stück aufgehoben: Derjenige, der produziert, trägt mit dieser Tätigkeit zu seiner Selbsterhaltung bei und sorgt somit quasi für die Produktion seiner selbst – es gibt keinen Unterschied zwischen Produzent und Produkt.

Huschke-Rhein (1998, S. 14 f.) versteht Autopoiesis unter Berufung auf Maturana als Selbststeuerungfähigkeit lebender und sozialer Systeme. Bei der Übertragung auf Bildungsprozesse wird diese Selbststeuerung (die verbunden ist mit Begriffen wie Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung) als primäres Ziel anvisiert. Die Aufgabe aller Erziehungsvorgänge (und Coaching kann meines Erachtens durchaus Elemente des ‚Erziehens’ beinhalten) ist somit die Förderung von Selbstorganisation.

Bezüglich der Auffassung von Problemen gibt Huschke-Rhein (1998, S. 59) zu bedenken, dass jedes autopoietisches System sich zu jedem Zeitpunkt autonom organisiert. Das heißt auch ein Problem hat eine positive Funktion für den Coachee (auch wenn es selbst nach außen dysfunktional erscheint) - und oftmals auch für dessen Umgebung (Personen aus der Umgebung sind somit beispielsweise nicht der ‚Sündenbock’, da der Coachee diese ‚Funktion’ übernommen hat).

Radatz (2006b, S. 39) übersetzt Autopoiesis mit dem Begriff der ‚Selbstgestaltung’ als die spezielle Organisationsform aller Lebewesen. Das heißt, dass Lebewesen auf das reagieren, was aus der Umwelt auf sie trifft – dabei reagieren sie auf ihre ganze eigene Art und Weise: Sie reagieren entsprechend ihrer eigenen Struktur und sind vollkommen frei, zu antworten oder eben nicht zu antworten. Für das Lebewesen Mensch bedeutet Autopoiesis, dass sein Verhalten nicht durch die Umwelt bestimmt wird, sondern durch seine eigene Entscheidung, in der Weise zu reagieren, wie es für sie angemessen erscheint – und welche wiederum für die Systemumwelt nicht vorhersehbar ist. Menschen können aus systemisch-konstruktivistischer Sicht nicht von außen in eine bestimmte, gewünschte Richtung verändert werden, da ihre Entscheidung, sich zu verhalten - beziehungsweise zu reagieren - komplett ihnen allein obliegt.

Diese Sichtweise gilt es auch stets beim Coaching zu berücksichtigen: Menschen können nur sich selbst verändern (vgl. Kapitel 4.2.3). Zwar lassen sich gewisse Vorannahmen bezüglich der Auswirkungen systemischer Fragen als Interventionsmöglichkeiten seitens des Coaches treffen, allerdings kann dieser niemals sicher wissen, was sie beim Klienten hervorrufen oder auslösen (ebd., S. 40). So betont Arnold (2003, S. 23), dass eine äußere Kraft zwar in der Lage ist, auf ein System einzuwirken und es gegebenenfalls auch zu ‚stören’, jedoch kann diese Kraft kaum eine intentionale Wirkung entfalten, geschweige denn von einer Wirkungssicherheit ausgehen.

2.4.1 Operationale Geschlossenheit

Lebewesen sind als operational geschlossene Systeme zu betrachten, was bedeutet „sie können nur mit ihren eigenen Zuständen operieren und nicht mit systemfremden Komponenten“ (Zit. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 68). Das liegt darin begründet, dass es ihnen nur um sich selbst geht – sie also autonom sind und somit nach eigenen Gesetzen leben. Was auch immer das System tut, es operiert ausschließlich auf Grund seiner eigenen Organisation (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 68) und nach den systemeigenen Regeln (vgl. Backhausen & Thommen 2003, S. 64; Simon 2006, S. 34). Jegliche Reize der Umwelt werden dahingehend bewertet, ob sie für die Fortsetzung der eigenen Struktur anschlussfähig, funktional sind. Als Beispiel dafür dient das Gehirn: Die Umwelt wird nicht im Gehirn abgebildet – es verarbeitet lediglich die eindringenden Informationen nach eigenen Sinnbezügen. Dabei arbeitet es nach eigenen (neuronalen) Gesetzmäßigkeiten und Voraussetzungen (vgl. Huschke-Rhein 1998, S. 97). Dadurch entstehen meines Erachtens auch die so genannten ‚Blinden Flecke’ (vgl. Kapitel 4.1.2), welche den Menschen lediglich einen Teil der Umwelt wahrnehmen lassen, während andere Ereignisse oder Zusammenhänge unbewusst ausgeblendet werden und somit nicht sinnbezogen verarbeitet werden können. Ein Coaching kann dabei unterstützen, die tradierte Sichtweise des Coachees zu erweitern und dadurch die ‚Blinden Flecke’ kleiner und die operationale Geschlossenheit etwas ‚flexibler’ werden zu lassen. Der Blick wird geschärft für bisher nicht beachtete Umwelteinflüsse, die gegebenenfalls dazu beitragen könnten, der Lösung der vorgetragenen Problematik des Coachees ein wenig näher zu kommen.

Krieger konstatiert: „Auf der Ebene von autopoietischen Systemen aber wird operationale Geschlossenheit im nicht-trivialen Sinne verwendet als Bezeichnung für die informationelle Geschlossenheit des Systems“ (Zit. Krieger 1996, S. 38). Somit gibt es keinen Informationsaustausch zwischen System und Umwelt, da ein autopoietisches System nur agiert, um die eigene Autopoiesis aufrechtzuerhalten. Ereignisse der Umwelt sind somit nur ‚Störungen’, „die erst zu Informationen auf Grund der eigenen Organisation des Systems werden“ (Zit. ebd., S. 38). Das System ist also operationell als auch informationell gegen seine Umwelt geschlossen (vgl. ebd. S. 157).

Von Schlippe und Schweitzer (1997, S. 68) interpretieren die operationale Geschlossenheit nicht gleichermaßen endgültig wie Krieger es zuvor ausgedrückt hat. Sie betonen, dass Systeme zwar Informationen aus der Umwelt aufnehmen können, aber dass sie durch diese nicht unbegrenzt beeinflussbar sind. Jener Umstand, nicht zu wissen wie ein System auf Einflüsse (‚Störungen’) von außen reagiert, ist von immenser Bedeutung - insbesondere wenn es darum geht, Interventionen zu platzieren. Das heißt, dass die Absicht, ein System in eine bestimmte Richtung zu lenken, bestenfalls via struktureller Kopplung (vgl. Kapitel 2.4.2) erreicht werden kann: „Das zu steuernde System muss sich gemäß seinen autonomen Regeln entscheiden, die vorgeschlagenen Unterschiede für sich als relevant zu bewerten“ (Zit. Backhausen & Thommen 2003, S. 65).Somit muss das lebende System gewissermaßen die Maßstäbe für die Verarbeitung empfangener Informationen oder Energie selber setzen (vgl. Huschke-Rhein 1998, S. 14).

An diesem Punkt setzt auch Hejl (1990, S. 308 f.) an, der ausführt, dass die „operationale Geschlossenheit lebender Systeme als das Organisationsprinzip verstanden werden kann, das Kognition zu einem konstruktiven Prozeß macht“ (Zit. Hejl 1990, S. 308): Für ein System dieser Art gelten äußere Einflüsse als der Auslöser für interne Veränderungen. Jene internen Veränderungen gelten dabei als Zustandsmodifikationen, die als Repräsentationen der Umwelt des lebenden Systems wahrgenommen werden. Dabei stellen die Repräsentationen vielmehr ‚Vorstellungen’ als Abbildungen der Realität dar. Damit lässt sich wiederum der Bogen von der operationalen Geschlossenheit eines Systems zu den konstruktivistischen Gedankengängen ziehen: Die konkrete Ausprägung der Repräsentationen ist vom aktuellen Zustand und den individuellen Erfahrungen der Interaktionsgeschichte des Systems abhängig.

Es lässt sich festhalten, dass „der Zustand eines operational geschlossenen Systems als Resultat der Interaktionsgeschichte des Systems verstanden werden muß“ (Zit. Hejl 1990, S.310).

Bezogen auf das Setting des Coachings bedeutet es für den Coach, mittels Interventionen zu überprüfen, ob jene Unterschiede in der Sichtweise bestimmter Ereignisse, welche er dem Klienten anbietet, tatsächlich zu relevanten Unterschieden werden können – zu „Unterschieden, die einen Unterschied machen“ (Zit. Backhausen & Thommen 2003, S. 65) – wenngleich es zu beachten gilt, dass aufgrund der operationalen Geschlossenheit eines Systems Instruktionen nicht eindeutig steuerbar sind (ebd., S. 153).

Dadurch dass sich aber der Coach in der Rolle des Beobachters 2. Ordnung (er ist somit Beobachter der Beobachtung, was sich auf die Kybernetik 2. Ordnung bezieht) befindet, ist er fähig zu erkennen, dass unterschiedliche Beschreibungen des jeweilig geschilderten Kontextes möglich sind – diese kann er mittels verschiedener Interventionen versuchen, dem Coachee zu offerieren (ebd., S. 65), um diesen, mit Hilfe alternativer Sichtweisen, zu alternativen Bedeutungszuschreibungen anzuregen (ebd., S. 153). Weiterhin stellen Backhausen und Thommen (ebd., S. 65) fest, dass eben genau jene Betrachtung des Kontextes (welcher für die Wahl der relevanten Unterscheidungen in Bezug auf das durch den Klienten vorgetragene Problem maßgebend ist) der wesentliche Aspekt systemischen Arbeitens ist. Innerhalb der Kontextbetrachtung kommen verschiedene Hierarchieebenen (wie Individuum oder Team), zeitliche Aspekte (Vergangenheit, Zukunft) als auch verknüpfende Regeln (Erwartungen, Werte, Ziele) zum Tragen. Durch eine Analyse des jeweiligen Kontextes lässt sich unter anderem die Entstehung, aber auch die Aufrechterhaltung von Problemen erkennen. Des Weiteren bietet die systemische Analyse dieser Kontextvariablen die Chance, an der Veränderung dieser Probleme zu arbeiten, da es ein Feld neuer Unterscheidungsmöglichkeiten eröffnet (dazu auch die Interventionsmöglichkeit des ‚Reframings’ in Kapitel 5.2).

Wie deutlich geworden sein dürfte, geht es bereits an dieser Stelle der Arbeit darum, Probleme oder Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und als Coach neue, alternative Wirklichkeitskonstruktionen anzuregen und diese dem Klienten anzubieten. Diese Denkweise beruht auf den Annahmen des Radikalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 2.5).

2.4.2 Strukturelle Kopplung

Innerhalb der Kybernetik 2. Ordnung werden psychische und soziale (autopoietische) Systeme als strukturell gekoppelt gedacht (Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 221). Maturana und Varela sprechen von struktureller Kopplung „wenn sich zwei (oder mehr) autopoietische Einheiten [so organisiert haben, dass] ihre Interaktionen einen rekursiven und sehr stabilen Charakter erlangt haben“ (Zit. Maturana & Varela 1987, S. 85), so dass sie zueinander passen. Von Schlippe und Schweitzer erläutern die Begrifflichkeit ‚rekursiv’ damit, „daß die Einheiten sich jeweils wechselseitig verstören, und zwar so, daß die jeweiligen Verstörungen gut zueinander passen und vom jeweils anderen in immer gleicher Weise verarbeitet werden. In diesem Fall „driften“ die beiden Systeme gemeinsam“ (Zit. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 70). Das heißt, psychische und soziale Systeme koordinieren sich durch wechselseitige Reaktionen gegenseitig und produzieren ein „strukturelles Driften“ (Zit. Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 221).

Das bedeutet für meine Begriffe, dass ein autopoietiesches System insoweit autonom ist, dass es alles verarbeitet, was an dieses System herangetragen wird (inklusive aller Informationen über die Umwelt) indem es die Informationen ausschließlich in seiner eigenen ‚Operationssprache’ erfasst und behandelt und somit diese Informationen ‚entcodiert’. Mit anderen Worten: Alles was von außen an das System herangetragen werden kann, gerät nur via struktureller Kopplung ins System und wird dort in ein anschlussfähiges Element transformiert. Dabei ist die Sprache das Medium, welches das Verstehen der Kommunikation wahrscheinlich macht, so Steinkellner (2005, S. 83). Er beruft sich dabei auf Luhmann, welcher ausführt, dass die Sprache die Brücke zwischen den psychischen und sozialen Systemen schlägt, indem sie: „die regelmäßige strukturelle Kopplung von Bewusstseinssystemen und Kommunikationssystemen … ermöglicht“ (Zit. Luhmann nach Steinkellner, 2005, S. 83) und damit der Produktion von Sinn dient. Dabei ist zu bedenken, dass nach Luhmann Sprache auf diese beiden Systemarten angewiesen ist und kein eigenes System darstellt (vgl. Kapitel 2.4.3).

Die strukturelle Kopplung ‚ersetzt’ den ‚Eingriff’ des einen Systems ins andere System durch systeminterne Erwartungsbildung. Nicht Ereignisse der Umwelt sind damit die Ursache systemischen Verhaltens, sondern die systemeigenen Erwartungen und deren Irritierbarkeit. Das System reagiert auf seine eigene Sensibilität. Luhmann führt als praktisches Beispiel an, dass strukturelle Kopplung die Einstellung des Systems meint, dass es bestimmte Eigenschaften seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich dementsprechend strukturell darauf verlässt: Wie z.B. die Tatsache, dass Geld überhaupt angenommen wird oder auch die Erwartung, dass andere Menschen in der Lage sind, die Uhrzeit festzustellen (vgl. Luhmann 1993, S. 441).

Diesbezüglich stellen Backhausen und Thommen (2003, S. 96) treffend fest, dass Leben ein Kopplungsphänomen schlechthin darstellt. Insofern ist es für jeden Coach von immenser Bedeutung, beobachtbare Phänomene wie Konflikte oder Krankenstände innerhalb eines Unternehmens nicht als Eigenschaften von Personen zu betrachten, sondern als Zusammenspiel von gekoppelten Komponenten (diese können dann gegebenenfalls mittels verschiedener Interventionen versucht werden zu verändern).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die strukturelle Kopplung das Verhältnis regelt, welches ein System zu seiner Umwelt einnimmt und somit „die gegenseitige Beeinflussung bei der Entwicklung von Strukturen“ (Zit. Steinkellner 2005, S. 84) – immer im Hinblick darauf, die eigene Autopoiesis fortzusetzen. Dabei ist die strukturelle Kopplung praktisch die Antwort auf das Problem, dass autopoietiesche Systeme operativ geschlossen sind, wobei soziale und psychische Systeme mittels Sprache gekoppelt sind.

2.4.3 Kurzer Abriss der Theorie sozialer Systeme nach Luhmann

Insbesondere den Soziologen Luhmann gilt es hervorzuheben, wenn es um die Übertragung der Vorstellungen der Autopoiesis Maturanas und Varelas geht. Er beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit es möglich ist, diese biologische Theorie auf soziale Systeme und Phänomene zu übertragen.

Dabei unterscheidet er zwischen drei Klassen autopoietischer Systeme: Leben, Bewusstsein und Kommunikation – alle drei operieren unabhängig voneinander, obwohl sie vielfältig miteinander verknüpfbar sind und einander gegenseitig bedingen. Ohne ihre ständige Beteiligung aneinander, käme jedes einzelne System von ihnen zum Erliegen: Ohne Leben kein Bewusstsein und keine Kommunikation und so weiter. Weiterhin ist es wichtig zu bedenken, dass es niemals eine komplette Deckung zwischen diesen drei Systemen geben kann – sie können sich allenfalls partiell überlappen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 71-73). Innerhalb eines Coachings wäre es beispielsweise denkbar, dass mittels der Sprache der Bewusstseinszustand des Klienten so kommuniziert wird, dass ein besonders empathischer Coach in der Lage ist, über seine Rückmeldung – z.B. durch Paraphrasieren (vgl. Kapitel 5.3.1) - deutlich zu machen, dass er das Gesagte genau so verstanden hat, wie der Klient es verstanden wissen wollte.

Die Konsequenz, die daraus hervorgeht, dass die soeben erwähnten autopoietischen Systeme operational geschlossen sind (also unabhängig voneinander operieren), ist jene, dass nur Kommunikation auch Kommunikation erzeugen kann – und nicht beispielsweise durch das Bewusstsein erzeugt wird (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 71; Simon 2006, S. 90 f). Des Weiteren lebt das Leben sein Leben „ohne daß ihm Bewußtsein oder Kommunikation hinzugefügt werden könnte“ (Zit. Luhmann 1997, S. 71). Aber – und das klang bereits an – es besteht die Möglichkeit der gegenseitigen Störung oder Anregung, wenn auch nicht der gezielten Beeinflussung. Insbesondere das Bewusstsein hat diese privilegierte Position inne, die Kommunikation irritieren zu können. Beide sind mittels des ‚Sinns’ so stark miteinander verbunden. Sinn bedeutet die aktive Auswahl aus der Überfülle des für das ‚System Mensch’ Mögliche und gibt dem ganzen menschlichen Erleben eine Ordnung (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 72).

Die drei genannten Systeme erzeugen sich aufgrund ihrer Autopoiesis ständig neu – somit ist das jeweilige Geschehen, kaum dass es stattfand, schon wieder verschwunden. Allerdings hinterlässt es Spuren - wobei alles „was erinnert werden soll, […] in den jeweiligen Systemen hochselektiv behandelt werden [muss] (Zit. Luhmann 1997, S. 75). Das heißt, dass der Mensch aus der Komplexität des Geschehens das herausnimmt, was in seinen bevorzugten Sinnkonstruktionsmustern hineinpasst und ihm viabel (vgl. Kapitel 2.5) erscheint (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 73).

2.5 Der Radikale Konstruktivismus

Es ist der Radikale Konstruktivismus, welcher als maßgeblich wegweisend für den systemischen Ansatz zu nennen ist, so Watzlawick. Dieser

„untersucht die individuellen, familiären, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, ideologischen Prozesse, durch die wir unsere Wirklichkeit buchstäblich konstruieren und natürlich fest annehmen, daß diese Wirklichkeit die objektive Wirklichkeit ist und unweigerlich denjenigen als „mad or bad“ (im Englischen klingt das sehr schön), also als schlecht oder verrückt bezeichnen, der die Wirklichkeit anders sieht.“ (Zit. Watzlawick 1997, S. 26)

Dabei steht der Konstruktivismus im Gegensatz zum naiven Realismus. Dieser geht von der Annahme aus, dass das Gehirn ein Instrument ist, welches die äußere Welt abbildet, das heißt, dass die von außen kommenden Informationen sinnvoll verarbeitet werden (vgl. Migge 2005, S. 163).

In der konstruktivistischen Philosophie, welche die erkenntnistheoretische Grundlage systemischen Denkens ist und mit Namen verbunden wird wie von Foerster, Bateson, Maturana, Varela und von Glasersfeld (vgl. von Schlippe & Schweitzer 1997, S. 87), hingegen geht man davon aus, „daß externe Reize nur energetische Randbedingungen darstellen für jene Inhalte, die unser Geist – sich selbst als Maßstab nehmend - erzeugt“ (Zit. von Glasersfeld nach Migge 2005, S. 163). Mit anderen Worten bedeutet jene Aussage, dass alle Bedeutungen, die von außen wahrnehmbaren Ereignissen oder Verhalten zugeschrieben werden, vom Individuum selbst gemäß seiner gemachten Erfahrungen und seiner Sozialisationsgeschichte konzipiert und auf die jeweiligen Ereignisse hin projiziert werden (vgl. ebd., S. 163). ‚Radikal’ ist dabei vor allem der „Abschied von der Objektivität“ (so der Titel eines Aufsatzes von E. von Glasersfeld aus dem Jahr 1991).

Neben der individuellen Sozialisationsgeschichte des Individuums hängt die ‚Decodierung’ des Wahrgenommenen meines Erachtens auch im entscheidenden Maße von der jeweiligen Tagesverfassung ab: Diese wiederum ist abhängig von der körperlichen sowie der psychischen Befindlichkeit des Betreffenden. Auch Erwartungshaltungen spielen hier eine Rolle: Ein neuer Kollege beispielsweise, über den es bereits negative Gerüchte bezüglich seines rücksichtslosen Verhaltens gibt, wird vermutlich nicht neutral von seinen zukünftigen Mitarbeitern empfangen werden. Aussagen seinerseits werden tendenziell in der Weise ‚decodiert’, dass sie zu den bereits kursierenden Gerüchten passen, da schließlich eine Erwartungshaltung vorhanden ist, die nur auf Bestätigung wartet.

Zudem ist auch die soziale Prägung des direkten Umfeldes während des Erwachsenwerdens verantwortlich dafür, wie Wahrnehmungen interpretiert werden. Innerhalb der Sozialisation orientieren sich Heranwachsende sowohl negativ als auch positiv an ihren Vorbildern, welche zunächst hauptsächlich aus der Familie, der Bildungseinrichtung und dem Freundeskreis bestehen und sich stark auf die Entwicklung der Persönlichkeit mit all ihren Einstellungen auswirken.

Radatz (2006b, S. 35) führt an, dass selbst bei den Worten „Ich habe es mit eigenen Ohren gehört – also muss es wahr sein“ die Wahrnehmung dessen lediglich subjektiv ist: Schwingungen werden über das Ohr an das Gehirn transportiert – hier erst werden sie verarbeitet und zu dem, was die Person glaubt, die Wahrheit darstellt. Diese allerdings hängt immer mit den individuellen Erfahrungen, Emotionen und Gedanken der Person zusammen, so dass ein kunterbuntes Resultat aus all dem entsteht – dieses kann selbstredend niemals objektiv sein. Es ist und bleibt die subjektive Wirklichkeit des Wahrnehmenden, wobei Backhausen und Thommen (2003, S. 83, S. 91) die Betonung darauf legen, dass jede Wahrnehmung einer aktiven Gestaltung des Wahrnehmenden entspringt. Dieses aktive Gestalten beruht auf getroffenen Entscheidungen, die folglich auch anders hätten ausfallen können. Jene Eigenschaft von Wirklichkeitskonstruktionen wird als Kontingenz bezeichnet. Sehr passend dazu beschreibt Tomaschek (2003, S. 45) die Phonetik der Deutschen Syntax, welche den Begriff ‚Wahr-Nehmung’ als etwas das für ‚wahr’ ‚genommen’ (befunden) wird, umschreibt. Das heißt im „epistemologischen Sinne, dass die Bedeutung von `wahr´ im wahrheitstheoretischen Sinne, in der `Wahrnehmung´ des Subjekts liegt“ (Zit. Tomaschek 2003, S. 45).

Migge (2005, S. 163) betont, dass für die jeweiligen Konstruktionen einzig und allein entscheidend ist, dass sie in das betreffende Leben passen. Das heißt, die Konstruktionen müssen ‚viabel’ sein. Backhausen und Thommen (2003, S. 60 f.) fügen hinzu, dass jede getroffene Wahl (z.B. was die Systembildung betrifft – denn Systeme sind, wie bereits erwähnt, lediglich selektive Gestaltungen der Erfahrungen des Individuums und nicht die tatsächliche Abbildung der Wirklichkeit), die stets auch immer anders sein könnte, sich in der Auseinandersetzung mit der Welt zu bewähren hat. Da die Entscheidung für eine bestimmte getroffene Selektion, und den sich daraus ergebenden Wirklichkeitskonstruktionen auf den bisherigen Erfahrungen des Individuums beruht, kann sie durchaus auch mit zukünftigen widersprüchlichen Erfahrungen wieder zu Fall gebracht werden – je nachdem ob sich die Selektionen als viabel für die jeweilige Wirklichkeitskonstruktion des Betroffenen erweisen.

So konstatiert Hejl (1990, S. 303 f.), dass eine konstruktivistische Sozialtheorie ein Konstrukt ist, da sie sich nicht auf die traditionelle Vorstellung von Objektivität bezieht. Darüber hinaus stellt sie auch nicht das Resultat von überindividuellen Systemen dar, auf welche das Individuum willenlos reagiert. Zudem ist sie ein Konstrukt, da es immer die Individuen selbst sind, welche eine solche Theorie vorschlagen. So stellt Hejl im Resultat fest, dass eine konstruktivistische Sozialtheorie kein Abbild der sozialen Wirklichkeit darstellt, sondern dass diese lediglich anstrebt, „Beiträge zum sozialen Prozeß der Erzeugung von Realitätskonstrukten“ (Zit. Hejl 1990, S. 304) zu unterbreiten, um dadurch ‚nützlich’ zu sein.

Dabei ist die Konstruktion von Wirklichkeit nicht als bewusster Prozess zu verstehen (wie etwa ein Ingenieur, der ein Gebäude erbaut), „sondern als unbewusster Prozess, bei dem Erfahrungen geordnet und zueinander mehr oder weniger konsistent in Beziehung gesetzt werden“ (Zit. Simon 2006, S. 68). Wobei an dieser Stelle nicht der Eindruck entstehen soll, dass es völlig beliebig sei, welches Weltbild konstruiert wird. So betont Simon (ebd. S. 71), dass zwar der Wahrheitsanspruch als aufgegeben angesehen wird, nicht aber der Unwahrheitsanspruch. Auf diesen Punkt nimmt die bereits angesprochene Viabilität Bezug: Wenn ein Beobachter beispielsweise mit einem Objekt zusammenstößt (z.B. indem er gegen einen Baum läuft), so ist es für ihn unumgänglich sein Weltbild anzupassen. Somit müssen Hypothesen falsifizierbar sein, denn nur so ist es möglich, „einen interpersonellen Konsens über die Welt herzustellen“ (Zit. Simon 2006, S. 71), um eine Einigung darüber treffen zu können, was möglich ist, was nicht möglich ist und welche Aussagen somit als falsch erachtet werden müssen.

Aufgrund der operationalen Geschlossenheit und der Autopoiesis eines lebenden Systems (z.B. Mensch) ist es für Tomaschek unvermeidlich, dass dieses System sein Wissen selbst erzeugt. Somit lässt sich der Begriff Wissen als „eine interne Konstruktion von Impulsen und Reizen, sagen wir von der postulierten `realen Außenwelt´ empfangend, [… begreifen] und diese Erkenntniserzeugung ist niemals objektiv im üblichen wissenschaftlichen Terminus“ (Zit. Tomaschek 2003, S. 24). Das bedeutet, dass der gesamte Prozess des Erkennens im konstruktivistischen Sinne ein in sich geschlossener, selbstreferentieller und zirkulär rückläufiger Prozess ist, der Wissen erschafft, ‚kreiert’, und aus diesem Grund nur subjektiv sein kann (vgl. Tomaschek 2003, S. 25). Dazu meint von Foerster: „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (Zit. von Foerster 1973, S. 19). Der Mensch erlangt sein Wissen also nicht irgendwoher, sondern erzeugt es für sich selber (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 258).

Früher oder später stellt sich die Frage danach, wie denn das menschliche Zusammenleben überhaupt zustande kommt und ein Zusammenleben und Kooperieren gewährleistet sein kann. Tomaschek (2003, S. 33) gibt darauf die Antwort, dass der Mensch von Beginn an sein Leben strukturiert und Handlungsschemata entwickelt, um eine gewisse Regelmäßigkeit – und somit auch Vorhersehbarkeit – in seinem Tun zu erreichen. Durch die gebildeten Kategorien und Schemata ist das Individuum in der Lage, Voraussagen treffen zu können und eine gewisse Konstanz in seinem Alltag zu erreichen. Dadurch wird ein Gefühl für Objektivität entwickelt.

Auch für Simon (1991, S. 61) stellt sich an dieser Stelle unweigerlich die Frage danach, wie es überhaupt möglich ist, bei derart vielen verschiedenen Möglichkeiten die Welt wahrzunehmen, jemals mit einer anderen Person einen Konsens zu finden und sich auf eine Sichtweise zu verständigen. Simon liefert diesbezüglich die Antwort, indem er auf den Spieltheoretiker Robert Axelrod zurückgreift: Um die Chance der Zusammenarbeit und den Konsens, zunächst einmal überhaupt erst zu eröffnen (und um sie später eventuell zu fördern), muss eine grundsätzliche Einigung über eine gemeinsame Sichtweise der Welt herrschen. Weiterhin ist auch die Anerkennung gemeinsamer Werte (was der Einzelne tun darf und was er zu lassen hat) ausschlaggebend für die Entwicklung einer Chance der Zusammenarbeit. Axelrod wies in diesem Zusammenhang innerhalb diverser Computersimulationen nach, dass bei dem Entschluss mindestens zwei Spieler miteinander zu kooperieren, diese einen entscheidenden Vorteil gegenüber Mitspielern, die nur für sich selbst spielten, haben. Dieses Ergebnis – hervorgerufen durch die Ethik der Mitmenschlichkeit - ist langfristig gesehen mit den größten Überlebenswahrscheinlichkeiten verbunden und wirkt wohl nicht nur für Simon beruhigend (vgl. Simon 1991, S. 61). Es ist somit also nahe liegend – für das eigene Überleben – den Konsens innerhalb der verschiedenen ‚Sprachen’ und Wirklichkeitskonstruktionen der Menschen zu suchen und zu fördern – ein Ziel, welches mittels eines Coachings herbeigeführt werden kann.

[...]


[1] Der Begriff Kybernetik wird hergeleitet von ‚kybernetes’ (griechisch: Steuermann) und geht auf den Mathematiker Norbert Wiener zurück (http://www.wimmer-partner.at/pdf.dateien/system-intervention.pdf, Zugriff am 29.10.2008).

[2] Strukturelle Ansätze sind an die Theorie des Strukturfunktionalismus Parsons angelehnt. Mit der Frage danach, wie etwas funktioniert, stellen die Strukturalisten die Strukturen, in welche der Klient eingebettet ist, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen (vgl. Schmidt & Vierzigmann 2006, S. 220).

[3] Die Strategische Familientherapie findet in vielen verschiedenen Schulen Verwendung. Allen gemein ist, dass sie ihren Fokus auf die Paradoxien der Kommunikation gelegt haben. Das Ziel ist es, das vom Klienten präsentierte Ziel zu lösen – danach ist die Therapie beendet (vgl. ebd., S. 220 f.).

[4] „Unter „Wirklichkeitskonstruktionen“ muß dabei die Gesamtheit der Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster verstanden werden, die jeder einzelne im Laufe seines Lebens aufgebaut hat“ (Zit. Simon 1992, S. 187).

[5] Die Systemtheorie Luhmanns wurde durch Willke weiterentwickelt, der sich im stärkerem Maße Fragen der praktischen Konsequenzen gewidmet hat (vgl. König & Volmer 2005, S. 20).

[6] Im Rahmen der Biologie hat Maturana Autopoiesis (Selbstorganisation) definiert als Systeme, die sich selbst erzeugen. Dabei führt er als Standardbeispiel für ein derartiges System die Zelle auf: „Eine Zelle ist ein Netzwerk chemischer Reaktionen, die Moleküle derart erzeugen, daß sie 1. durch ihre Interaktionen genau das Netzwerk an Reaktionen erzeugen bzw. an ihm rekursiv mitwirken, welches sich selbst erzeugte, und 2. die Zelle als eine materielle Einheit verwirklichen“ (Zit. Maturana 1985, S. 158).

Ende der Leseprobe aus 133 Seiten

Details

Titel
Systemisches Coaching. Referenztheorien, grundlegende Prinzipien und praktische Formen systemischer Interventionen in Coachingprozessen
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
133
Katalognummer
V133649
ISBN (eBook)
9783640403936
ISBN (Buch)
9783640403653
Dateigröße
1542 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Systemisches, Coaching, Referenztheorien, Prinzipien, Formen, Interventionen, Coachingprozessen
Arbeit zitieren
Claudia Michalek (Autor:in), 2009, Systemisches Coaching. Referenztheorien, grundlegende Prinzipien und praktische Formen systemischer Interventionen in Coachingprozessen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133649

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