Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm und der "fehlende elfte Punkt" (die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens)

Wahlkampftaktik oder tatsächliches Versäumnis?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

19 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Gliederung:

I. Einleitung: Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm

II. Hauptteil: Der „fehlende elfte Punkt“ (die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens) – Wahlkampftaktik oder tatsächliches Versäumnis?
1. Versäumt oder unterlassen
1.1 Möglichkeit des schlichten Vergessens bei der Konzeption des Programms
1.2 Klare Haltung des Kanzlers und der Bundesregierung zur Oder-Neiße-Linie bereits vor dem Fall der Mauer
1.3 Zentral: Weg zur deutschen Einheit und dessen internationale Einbettung – Verzicht auf Konkretisierung
2. Wahltaktisches Manöver
2.1 Schwache Stellung Kohls im Entscheidungsjahr 1989
2.2 Schwache Umfragewerte der CDU/CSU Ende der 1980er Jahre
2.3 Das Erstarken der Republikaner unter Franz Schönhuber seit Mitte der 1980er Jahre

III. Schluss: Endgütige völkerrechtliche Festschreibung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens im „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (vom 14. September 1990) und im „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen (vom 14. November 1990)

Literaturverzeichnis

I. Einleitung: Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm

In den Tagen nach dem Fall der Mauer (9. November 1989) entfachte sich eine nicht nur national, sondern auch international geführte Diskussion darüber, wie Deutschlands Zukunft aussehen könnte bzw. sollte. Aus Bonn galt es zu dieser Zeit, wie der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte konstatiert, der „diffusen Ratlosigkeit“ in der deutschen Öffentlichkeit „eine Richtung zu geben“.[1]

Doch selbst im Bundeskanzleramt musste festgestellt werden, dass man angesichts der „Revolution der deutschland- und außenpolitischen Rahmenbedingungen“ kein strategisches Konzept zur Bewältigung der durch den unerwarteten Fall der Mauer neu geschaffenen Situation hatte.[2]

Als sich Kohls „engster Beraterstab“[3] am 23. November im Kanzlerbungalow zu einer abendlichen Diskussionsrunde traf, war es Horst Teltschik, der damaliger Leiter der

Abteilung 2 im Bundeskanzleramt und damit wichtigster außen- und sicherheitspolitischer Berater Kohls, der den Vorschlag zu einer deutschlandpolitischen Initiative des Bundeskanzlers einbrachte.[4] Man einigte sich darauf, ein Programm auszuarbeiten, das einen gangbaren Weg zur Vereinigung aufzeigen sollte. Dieses sollte vor seiner Veröffentlichung durch den Kanzler im Bundestag weder der Koalition noch den Vier Mächten vorgelegt, geschweige denn mit ihnen abgestimmt werden, um den geplanten Überraschungseffekt der Rede zu voller Geltung zu bringen.[5]

Der Kanzler sollte in die Offensive gehen und im zentralen Thema „Deutsche Frage“ die Meinungsführerschaft übernehmen, indem er dem Konzept der „Vertragsgemeinschaft“ des DDR-Ministerpräsidenten Modrow und der „darin implizierten Festschreibung der Zweistaatlichkeit“ eine Perspektive der deutschen Einheit „mit griffigen, doch nicht allzu eng gefaßten Zwischenschritten und ohne konkreten Zeithorizont“ entgegenstellte.[6] Würde Kohl dies nicht tun, so Teltschik, „bestünde die Gefahr, daß diese Aufgabe von der FDP oder SPD übernommen würde“.[7]

Am 28. November 1989 unterbreitete der Kanzler in der Haushaltsdebatte des Bundestages das Ergebnis in Form eines „Zehn-Punkte-Programms“: Es begann mit der Bereitschaft der Bundesregierung zu Sofort-Hilfemaßnahmen und der Fortsetzung und Erweiterung der Zusammenarbeit mit der DDR.[8] Weiter forderte Kohl zum wiederholten Male einen „grundlegenden Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems der DDR“, insbesondere die Aufhebung des Machtmonopols der SED.[9]

In den folgenden Punkten (vier und fünf) beschrieb der Kanzler seine Vision eines stufenweisen Vorgehens[10] bei der Herstellung der staatlichen Einheit ausgehend von Modrows Idee der bloßen Vertragsgemeinschaft über „konföderative Strukturen“ hin schließlich zur Föderation – also der staatlichen Einheit[11]: „Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, daß weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“[12]

„Ebenso gewichtig“[13] wie das Ziel der Wiedervereinigung war für den Kanzler deren Einbettung in den „gesamteuropäischen Prozeß“[14]: die Intensivierung der europäischen Integration und des KSZE-Prozesses, die Fortentwicklung von Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Schaffung „übergreifender Sicherheitsstrukturen in Europa“.[15]

Untersucht man Kohls Programm unter den Gesichtspunkten von Neuigkeitswert, Quellen und Lücken, dann zeigt sich, dass in der gesamten Rede des Bundeskanzlers „keine qualitativ neuen oder gar revolutionären Elemente“ enthalten sind.[16] Zentrale Passagen - zum Beispiel zur deutschen Frage - waren dem Grundgesetz, dem Brief zur deutschen Einheit oder der KSZE-Schlussakte von Helsinki entnommen. „Neu - und damit aufsehenerregend“ war laut Professor Werner Weidenfeld lediglich die Bündelung der Aussagen in einem „griffigen, durchnummerierten Programm“ sowie die ausdrückliche Ankündigung, „bewährte Rhetorik in Anbetracht der Möglichkeiten einer geänderten Lage in konkrete Politik umsetzten zu wollen“.[17]

Dass Kohls Rede vor allem aus „Altbekanntem“ bestand, führte nach Weidenfeld dazu, dass nach jenen Elementen gesucht wurde, die aus dem „vorhandenen Repertoire“ gerade nicht in dem Zehn-Punkte-Programm des Kanzlers untergebracht wurden.[18] Schon sehr bald nach der Rede vor dem Bundestag wurde von diversen Seiten (Koalitionspartner FDP; Opposition im Bundestag; deutsche Presse; Ausland) festgestellt, dass die NATO-Mitgliedschaft als elementarer Bestandteil der Westbindung ebenso wenig wie die polnische Westgrenze in Kohls Programm Einzug gehalten hatte.[19]

Die Aufnahme dieses fehlenden „elften Punktes“ - nämlich die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens - forderte die oppositionelle SPD, die sich zunächst für eine „kooperative Strategie“ gegenüber der Bundesregierung ausgesprochen hatte, bereits einen Tag nach Kohls Rede in einem Entschließungsantrag.[20]

Im Folgenden soll untersucht werden, ob es sich bei der beschriebenen Unterlassung um ein Versäumnis des Kanzlers und seines Beraterstabes handelte, oder ob diese „Lücke“ aus wahltaktischen Gründen - 1990 galt mit seinen fünf Landtagswahlen (u. a. in den drei größten Bundesländern) und der Bundestagswahl im Dezember als „Mega-Wahljahr“[21] - ganz bewusst mit Rücksicht zum Beispiel auf die Vertriebenen (-verbände) nicht geschlossen worden war.

II. Hauptteil: Der „fehlende elfte Punkt“ (die Anerkennung der Oder-Neiße- Linie als Westgrenze Polens) – Wahlkampftaktik oder tatsächliches Versäumnis?

1. Versäumt oder unterlassen

1.1 Möglichkeit des schlichten Vergessens bei der Konzeption des Programms

Zwischen der am Abend des 23. November 1989 getroffenen Entscheidung Kohls und seines engsten Beraterstabs, das Zehn-Punkte-Programm auszuarbeiten, und der Rede des Kanzlers in der Haushaltsdebatte im Bundestag blieben lediglich vier volle Tage für die Konzeption, Ausarbeitung, Ausformulierung und Korrektur des Papiers.

Dass unter diesem Zeitdruck Fehler und Versäumnisse hätten vorkommen können, ist nachvollziehbar. Dass allerdings keinem der elf Berater Kohls bei der Festlegung der Eckpunkte des Programms am 23. November im Kanzlerbungalow und auch keinem Mitglied des am folgenden Tag von Teltschik gebildeten zehnköpfigen Arbeitsstabs die Frage der polnischen Westgrenze in den Sinn kam, erscheint mehr als unwahrscheinlich; insbesondere weil sie seit dem Sommer 1989 wieder „stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt war“[22], nachdem die neue polnischen Regierung unter Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki zwar öffentlich das Recht der deutschen auf Selbstbestimmung - und damit auf Wiedervereinigung - anerkannte, aber gleichzeitig auf eine ausreichende Garantie der Oder-Neiße-Grenze „pochte“.[23]

[...]


[1] Vgl.: Korte, Karl-Rudolf, Die Chance genutzt? Die Politik zur Einheit Deutschlands, Frankfurt a.M./ New York 1994, S. 88.

[2] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, S. 97.

[3] Z.a.: Kohl, Helmut, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 98.

[4] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit, Stuttgart 1998, S. 98 f.

[5] Vgl.: Zelikow, Philipp / Rice, Condoleezza, Sternstunden der Diplomatie, Berlin 1997, S. 176 ff.

[6] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit, Stuttgart 1998, S. 98 f.

[7] Vgl.: Teltschik, Horst: 329 Tage. Innenansicht einer Einigung, Berlin 1993, S. 49.

[8] Z.a.: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bulletin: Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag, Bonn 29. November 1989, S. 1146.

[9] Ebenda, S. 1146.

[10] Vgl.: Korte, Karl-Rudolf, Die Chance genutzt? Frankfurt a.M. / New York 1994, S. 88.

[11] Z.a.: Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm, Bonn 29. November 1989, S. 1147.

[12] Ebenda, S. 1147.

[13] Vgl.: Jäger, Wolfgang, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung, Stuttgart 1998, S. 58

[14] Z.a.: Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm, Bonn 29. November 1989, S. 1147.

[15] Ebenda, S. 1147 f.

[16] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit, Stuttgart 1998, S. 109.

[17] Ebenda, S. 109.

[18] Ebenda, S. 109.

[19] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit, Stuttgart 1998, S. 109.

[20] Ebenda, S. 111 f.

[21] Herles, Wolfgang, Nationalrausch. Szenen aus dem deutschen Machtkampf, München 1990, S. 125.

[22] Vgl.: Weidenfeld, Werner, Außenpolitik für die Deutsche Einheit, Stuttgart 1998, S. 109.

[23] Ebenda, S. 479 f.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm und der "fehlende elfte Punkt" (die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens)
Untertitel
Wahlkampftaktik oder tatsächliches Versäumnis?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Dokumente zur deutschen Außenpolitik
Note
2,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V136271
ISBN (eBook)
9783640434862
ISBN (Buch)
9783640434633
Dateigröße
462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Helmut, Kohls, Zehn-Punkte-Programm, Punkt, Anerkennung, Oder-Neiße-Linie, Westgrenze, Polens), Wahlkampftaktik, Versäumnis
Arbeit zitieren
Philipp Goldner (Autor:in), 2007, Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm und der "fehlende elfte Punkt" (die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136271

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