Das buddhistische Konzept Achtsamkeit im Netzwerk der Copingstile


Diplomarbeit, 2008

126 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Achtsamkeit
2.1 Definitionsansätze der Achtsamkeitskonzepts
2.1.1 Achtsamkeit im Buddhismus
2.1.2 Achtsamkeit in der Psychotherapie
2.1.3 Achtsamkeit als psychologischer Prozess
2.1.4 Achtsamkeit auf der Ebene psychologischer Konstrukte
2.2 Operationalisierungsansätze der Achtsamkeit
2.2.1 Der Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit
2.2.2 Konvergente und divergente Konstruktvalidität
2.2.3 Faktoranalytische Untersuchung des Achtsamkeitskonzepts
2.2.4 Vergleich der deutschsprachigen Achtsamkeitsskalen
2.3 Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Achtsamkeit
2.3.1 Ergebnisse kontrolliert-randomisierter Untersuchungen
2.3.2 Ergebnisse nicht-kontrollierter Untersuchungen
2.4 Vorschlag einer Klassifikation vermuteter Wirkfaktoren der Achtsamkeit
2.4.1 Befundlage und Hemmnisse
2.4.2 Distanz gegenüber innerpsychischen Prozessen
2.4.3. Neubewertung von Gedanken
2.4.4 Reduktion der Grübelneigung
2.4.5 Identifizieren verzerrter Kognitionen
2.4.6 Emotionsregulation
2.4.7 Entkoppelung der Kognitions-Emotions-Verhaltensverknüpfung
2.4.8 Erweiterung des Handlungsspielraums durch Akzeptanz
2.4.9 Subjektives Kontrollerleben
2.4.10 Selbstwertgefühl und Selbstkonzept
2.4.11 Sensorische Sensibilisierung
2.4.12 Klassische und Operante Konditionierungseffekte

3 Stressbewältigung
3.1 Annahmen psychologischer Stressmodelle
3.1.1 Erklärungsansätze zur Entstehung von Stress
3.1.2 Bewältigung nach Lazarus und Folkman
3.2 Klassifikationen von Bewältigungsstrategien
3.2.1 Problemorientiertes und Emotionsorientiertes Coping
3.2.2 Funktionales und Dysfunktionales Coping
3.2.3 Bewältigung durch Aufmerksamkeitssteuerung: Vigilanz und Kognitive Vermeidung
3.3 Wirksamkeit spezieller Bewältigungsstrategien

4 Fragestellungen der Untersuchung

5 Methodik und Hypothesen der Untersuchung
5.1 Untersuchungsdesign
5.2 Stichprobe
5.3 Messinstrumente
5.3.1 Soziodemografischer Teil
5.3.2 Der Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit
5.3.3 Das Angstbewältigungs-Inventar
5.3.4 Das COPE-Inventar
5.3.5 Die Symptom-Checkliste
5.4 Statistische Hypothesen
5.5 Statistische Verfahren
5.5.1 Zur Prüfung der Zusammenhangshypothesen
5.5.2 Zur Prüfung der Unterschiedshypothesen
5.5.3 Zur Prüfung der Dimensionalität
5.5.4 Zur Prüfung von Mediatormodellen
5.5.5 Zur Prüfung von Moderatormodellen

6. Ergebnisse
6.1 Zum Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Bewältigungsstrategien
6.1.1 Geht Achtsamkeit mit aktiv-problemlösenden Strategien einher?
6.1.2 Geht Achtsamkeit mit passiv-vermeidenden Bewältigungsstrategien einher?
6.1.3. Unterscheiden sich Hoch- und Niedrigachtsame in ihrem Bewältigungs-verhalten?
6.1.4 Unterscheiden sich Hoch- und Niedrigachtsame hinsichtlich der Aufmerksamkeitssteuerung in Belastungssituationen?
6.2 Zum Zusammenhang von Psychischer Gesundheit und Achtsamkeit
6.2.1 Besteht ein Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und psychischer Gesundheit?
6.2.2 Wird der Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Psychischer Gesundheit über die Bewältigungsstrategien vermittelt?
6.2.3 Verändert Achtsamkeit den Einfluss der Bewältigungsstategien auf die Psychische Gesundheit?
6.2.4 Bildet Achtsamkeit unter den Copingstilen eine eigenständige Dimension?
6.2.5 Wo positioniert sich Achtsamkeit im Netzwerk der Copingstile?

7. Diskussion
7.1 Methodische Einschränkungen
7.1.1 Interne Validität
7.1.2 Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
7.1.3 Generalisierbarkeit
7.2. Diskussion der Untersuchungsergebnisse
7.2.1 Achtsamkeit geht mit aktiv-problemlösenden Bewältigungsstrategien einher
7.2.2 Achtsamkeit geht nicht mit passiv-vermeidenden Bewältigungsstrategien einher
7.2.3 Hochachtsame unterscheiden sich von Niedrigachtsamen in der Wahl der Bewältigungsstrategien
7.2.4 Achtsame entsprechen nicht der Gruppe der Nicht-Defensiven nach Krohne & Egloff
7.2.5 Achtsamkeit geht mit psychischer Gesundheit einher
7.2.6 Coping vermittelt partiell den Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Psychischer Gesundheit
7.2.7 Achtsamkeit wirkt nicht als Moderator
7.2.8 Achtsamkeit im Netzwerk der Copingstile
7.2.9 Achtsamkeit - Copingstil oder übergeordnete Einstellung?
7.3 Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Tabellenanhang

Fragebogen

Abbildungsverzeichnis

Abb. 2.1: Achtsamkeit in der Lehrreden des Buddha

Abb. 2.2: Achtsamkeitsverständnis nach J. Kabat-Zinn

Abb. 2.3: Achtsamkeitskomponenten nach S. R. Bishop

Abb. 2.4: Korrelation mit anderen Konstrukten

Abb. 3.1: Klassifikation der Stresstheorien

Abb. 3.2: Modell der Bewältigungsmodi

Abb. 5.1: Häufigkeitsverteilung der Studienfächer

Abb. 5.2: Mediatormodell

Abb. 5.3: Moderatormodell

Abb. 6.1: Mittelwertunterschiede zwischen Hoch- und Niedrigachtsamen

Abb. 6.2: Mittelwertunterschiede zwischen den Bewältigungsmodi

Abb. 6.3: Mediatoreffekte

Abb. 6.4: Ladungsdiagramm der Zwei-Faktorlösung

Tabellenverzeichnis

Tab. 2.1. Facetten der Achtsamkeit

Tab. 2.2. Vermutete Wirkfaktoren der Achtsamkeit

Tab. 4.1. Erwartete Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und Bewältigungsstrategien

Tab. 5.1. Klassifikation der Bewältigungsstrategien

Tab. 5.2. Fragestellungen und statistische Hypothese

Tab. 6.1. Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung

Tab. 6.2. Unterschiede im Bewäligungsverhalten

Tab. 6.3. Rotiertes Drei-Faktorenmodell

1 Einleitung

„Tue nichts, und alles ist getan.“

Lao-tse

Nichts-Tun wird im westlichen Kulturkreis oft als Passivität, als Verharren aufgefasst. Es ist jedoch etwas anderes gemeint. Bei genauerem Hinschauen enthüllt dieser kurze Vers die Essenz der zen-buddhistischen Lehre. Es gilt, das Nichts-Tun zu üben - kontinuierlich und immer wieder von Neuem. Dabei geht es nicht darum, sich von der Welt zurückzuziehen und in regungsloser Pose auf dem Meditationskissen zu verharren. Die Idee des Nichts-Tuns beinhaltet, die Dinge wahrzunehmen, wie sie sind - unabhängig davon, ob sie angenehm oder unangenehm sind und gleichgültig, ob sie zum Ziel führen oder ein Hindernis darstellen. Das Wahrgenommene wird nicht umgedeutet, damit es erträglicher ist, nicht gerade gebogen, damit es besser passt, nicht festgehalten, um alles aus ihm herauszuholen. Bodhi (1994), ein Lehrer des Theravâda-Buddhismus, fordert zum Nicht-Tun derjenigen Dinge auf, mit denen der Geist die meiste Zeit beschäftigt ist: Denken und Planen, Bewerten, Beurteilen und Interpretieren. Den östlichen Weisheitslehren nach führt das ernsthafte Bemühen, diese Dinge zu lassen, zu einem glückvollen, von Leid befreiten Leben.

In der westlichen Wissenschaftslehre beschäftigen sich eine Vielzahl von Forschergruppen gleichermaßen damit, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit psychisches Wohlbefinden erhalten oder wiedererlangt werden kann. Im Bereich der Stressbewältigungsforschung werden aus den Ergebnissen wissenschaftlicher Unter-suchungen Handlungsempfehlungen abgeleitet, die der Maxime des Geschehenlassens widersprechen. Für den Umgang mit Stress und Belastungen erweisen sich besonders aktive und problemfokussierte Verhaltensweisen als hilfreich, während passive und vermeidende Strategien als wenig effektiv, wenn nicht sogar gesundheitsschädlich eingeschätzt werden.

Die Unvereinbarkeit dieser beiden Handlungsempfehlungen ist der Ausgangspunkt für die wissenschaftlich-psychologische Untersuchung der vorliegenden Diplomarbeit. Es wird der Frage nachgegangen, wie diejenigen Menschen Stress bewältigen, die aus der Perspektive der östlichen Lehrer das Nichts-Tun erfolgreich anwenden. Möglich ist dies, weil die Idee des Nichts-Tuns vor kurzem Eingang in die wissenschaftlich-psychologische Forschung gefunden hat - über das Konzept der Achtsamkeit. Dieses beschreibt eine Haltung, in der die Aufmerksamkeit konsequent auf die Erfahrung des Augenblicks gerichtet ist. Jeder Moment wird möglichst vollständig, mit all seinen Facetten wahrgenommen. Die aktuellen Gedanken, Gefühle oder körperlichen Empfindungen werden nicht weiter verarbeitet, sondern lediglich ohne Wertung zur Kenntnis genommen. In den letzten fünfzehn Jahren wurde - zunächst im nordamerikanischen Raum und später auch in Deutschland - eine Vielzahl von Studien zur Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Therapien veröffentlicht. Ziel dieser Interventionen ist die Entwicklung einer inneren Haltung der Achtsamkeit. Ob eine solche Haltung tatsächlich mit psychischer Gesundheit einhergeht und mit welchen Bewältigungsstrategien - aktiv-problemlösende oder passiv-vermeidende - das Konzept der Achtsamkeit verbunden ist, sind die Leitfragen der vorliegenden Untersuchung.

Die einzelnen Kapitel der vorliegenden Diplomarbeit bauen inhaltlich aufeinander auf, dennoch ist der Einstieg an verschiedenen Stellen möglich, da die wichtigsten Aussagen in regelmäßigen Abständen zusammengefasst werden. Der „rote Faden“ der Arbeit ergibt die folgende inhaltliche Gliederung: In den Kapiteln 2.1 und 2.2 wird in das Konzept der Achtsamkeit eingeführt - zum einen über die Achtsamkeitspraxis des Buddhismus sowie seine Anwendung in der Psychotherapie, zum anderen über empirische Ansätze der Definition des Konzepts. Die Kapitel 2.3 und 2.4 fassen den gegenwärtigen Stand der Forschung in Bezug auf die Wirksamkeit und die Wirkungsweise von Achtsamkeit zusammen. In den Kapitel 3.1 bis 3.3 werden psychologische Modelle zur Entstehung von Stress und Ansätze zur Klassifikation von Bewältigungsstrategien vorgestellt. Außerdem wird ein Überblick gegeben, welche Strategien in der Copingforschung als besonders wirksam identifiziert wurden. Aus den theoretischen Überlegungen ergeben sich die spezifischen Fragestellungen der vorliegenden Diplomarbeit, die in Kapitel 4 ausführlich dargestellt sind. Anhand der Kapitel 5 und 6 können der methodische Aufbau der empirischen Untersuchung, die statistischen Auswertungsprozeduren sowie die Ergebnisse nachvollzogen werden. Die Diskussion der Methodik und der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung findet in Kapitel 7 statt.

2 Achtsamkeit

2.1 Definitionsansätze der Achtsamkeitskonzepts

Die ersten vier Kapitel stellen in einem kurzen Abriss dar, wie das Achtsamkeitskonzept in seinen unterschiedlichen Kontexten definiert wird. Es geht dabei um eine möglichst präzise Annäherung daran, als was Achtsamkeit verstanden werden kann. Möglich wird dies über die Betrachtung seiner ursprünglichen Bedeutung im Buddhismus, seiner Anwendung in der Psychotherapie und über die wissenschaftlichen Definitonsansätze, die feststellen, um was sich bei dem Achtsamkeitskonzept aus psychologischer Sicht handelt.

2.1.1 Achtsamkeit im Buddhismus

Die Bedeutung des Achtsamkeitsprinzips fällt in den verschiedenen Meditationstraditionen des Buddhismus unterschiedlich aus. Eine zentrale Rolle spielt die Kultivierung von Achtsamkeit im Theravada-Buddhismus, der heute überwiegend in Südostasien und Sri Lanka vertreten ist. Dieser gehört zusammen mit dem Tibetischen Buddhismus und dem Zen zu den drei Haupttraditionen, die auch in den Westen getragen wurden (Gruber, 1).

Im Theravâda-Buddhismus ist Achtsamkeit das Hauptmittel, um Einsicht zu gewinnen in die drei Daseinsmerkmale des Lebens: Vergänglichkeit, Ungreifbarkeit und Nicht-Selbstheit1. Sie stellen die Erkenntnis dar, dass die Wirklichkeit flusshaft-vergänglich, letztlich ungreifbar und selbstloser Natur ist (Gruber, 2001). Aber wie soll es zu dieser Erkenntnis kommen? Die Lehrreden des Buddha, u.a. die Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit2, enthalten konkrete Anweisungen, wie Achtsamkeit systematisch in der Meditation und im Alltag eingeübt werden soll. Der Weg sei die Entwicklung einer Moment-zu-Moment-Aufmerksamkeit gegenüber folgenden Wahrnehmungs-inhalten: allem Körperlichen, allen Gefühlsreaktionen, allen Geistesqualitäten und allen natürlichen Wahrheiten.

Er spricht dabei von einer reinen Aufmerksamkeit. Rein deshalb, weil die Objekte schlicht so wahrgenommen werden sollen, wie sie tatsächlich sind; ohne sie vorschnell zu beurteilen, zu kategorisieren oder mit anderen kognitiven Aktivitäten auf sie zu reagieren. Falls dennoch solche Prozesse ablaufen und zum Beispiel weitere Gedanken oder Reflexionen angestoßen werden, werden ebendiese zum Gegenstand der Betrachtung; d.h. ihnen wird mit der beschriebenen reinen Aufmerksamkeit begegnet (Bodhi, 1994).

Die Abbildung 2.1 zeigt eine stark vereinfachte Darstellung des buddhistischen Achtsamkeitsverständisses.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2.1: Achtsamkeit in der Lehrreden des Buddha (eigene Grafik)

Das Praktizieren von Achtsamkeit wird eher als ein aktives Nicht-Tun verstanden: Nicht Denken, nicht Bewerten oder Beurteilen, nicht Assoziieren, nicht Planen, nicht Vorstellen, nicht Interpretieren etc. (Bodhi, 1994). Siddharta Gautama (zit. nach Thera, 1989), der Buddha, resümiert dies so:

„Das Gesehene soll lediglich ein Gesehenes sein,

das Gehörte lediglich ein Gehörtes,

das (durch die drei anderen Körpersinne) Empfundene lediglich ein (so) Empfundenes,

das Erkannte lediglich ein Erkanntes.“

Im Verständnis buddhistischer Meditationspraxis beschreibt das Prinzip Achtsamkeit also eine Haltung, in der alle nacheinander ins Bewusstsein kommenden Phänomene gleich behandelt werden. Das kann geschehen, indem sie lediglich aufmerksam registriert werden und nichts weiter damit „getan“ wird.

2.1.2 Achtsamkeit in der Psychotherapie

Eng an dieses buddhistische Verständnis anknüpfend definiert Kabat-Zinn, der Begründer der am weitesten verbreiteten Achtsamkeitsintervention, den Begriff. Er beschreibt Achtsamkeit als eine bestimmte Art und Weise der Aufmerksamkeitslenkung. Sie sei absichtsvoll, auf den aktuellen Moment gerichtet und nicht-urteilend (Kabat-Zinn, 1990)3. Er stellt den Bewusstseinszustand, der dabei entsteht, dem sogenannten Autopilot-Modus gegenüber. Dieser zeichnet im Gegensatz zur Achtsamkeit dadurch aus, dass mentale Aktivitäten jeglicher Art dominieren, z.B. Tagträume, Phantasien, Zukunftsgedanken, Grübeleien etc. (Heidenreich & Michalak, 2004). Die Abbildung 2.2 veranschaulicht Kabat-Zinns Achtamkeitsverständnis.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2.2: Achtsamkeitsverständnis nach J. Kabat-Zinn (eigene Grafik)

Der Verdienst Kabat-Zinns ist, dass er die Achtsamkeit aus ihren religiös-spirituellen Kontext herauslöste und als therapeutische Methode etablierte. Sie bildet das Kernstück des Behandlungsprogramms „Mindfulness-based Stress Reduction“, das er als ehemaliger Molekularbiologe und Anatomieprofessor an der Stress-Reduction-Clinic, Massachusetts, entwickelte. Da es eine Pionierrolle im Bereich der Therapie einnimmt und bis heute die am weitesten verbreitete Achtsamkeitsintervention ist (an über 200 Kliniken und Zentren weltweit, vgl. Bishop, 2002), soll sie an dieser Stelle kurz vorgestellt werden, um das Achtsamkeitsprinzip greifbarer zu machen.

Das Programm der Mindfulness-Based Stress Reduction ist eine achtwöchige Gruppenintervention, das ursprünglich für PatientInnen mit Schmerzstörungen entwickelt wurde. Heute wird sie in der Regel nicht mit störungshomogenen Gruppen durchgeführt, sondern mit PatientInnen mit ganz unterschiedlichen körperlichen oder psychischen Erkrankungen. Es werden einerseits konkrete Übungen vermittelt, andererseits wird großer Wert auf den Transfer der Übungsinhalte in die informelle Praxis des Alltags gelegt. Die formelle Praxis des Programms setzt sich aus Sitz- und Gehmeditation, Body-Scan und Yoga-Übungen zusammen. Sie werden in den acht wöchentlichen Gruppensitzungen sowie einem ganztägigen Seminar gemeinsam gelernt. An den restlichen Tagen üben die TeilnehmerInnen täglich ca. 45 Minuten eigenständig. Achtsamkeit wird in diesem Programm vor allem durch die Methode der Atemmeditation geschult. Die TeilnehmerInnen nehmen dabei eine bequeme Position auf einem Stuhl oder einem Kissen ein und richten ihre Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen der Atmung. Die Atmung wird nicht beeinflusst, sondern in ihrem unwillkürlichen Ablauf einfach beobachtet. Gegenstand der Betrachtung kann zum Beispiel das Senken und Heben der Bauchdecke sein. Sobald die Aufmerksamkeit zu Gedanken, Emotionen oder anderen Körperempfindungen abschweift, wird dies lediglich zur Kenntnis genommen, ohne es zu bewerten oder zu analysieren, und anschließend die Aufmerksamkeit sanft wieder auf den Atem gelenkt. Dies wird jedes Mal wiederholt, sobald er/sie bemerkt dass sich seine/ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes als den Atem richtet (vgl. Bishop, 2002; Heidenreich & Michalak, 2006).

Das Programm macht deutlich, wie Kabat-Zinn Achtsamkeit versteht: als eine Fähigkeit, die bei jedem Menschen angelegt ist, die man jedoch wie einen Muskel beständig trainieren muss (Kabat-Zinn, 2006). Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit absichtsvoll und nicht-wertend auf das momentane Erleben zu richten, ermögliche es dann in mehr und mehr Situationen des Alltags den beschriebenen Bewusstseinszustand der Achtsamkeit herzustellen.

Achtsamkeit fand inzwischen Eingang in eine Reihe weiterer Therapien. Drei der bekanntesten sind:

- Mindfulness-Based Cognitive Therapy (Segal, Williams & Teasdale, 2002), der
- Dialektisch-Behavioralen Therapie (Linehan, 1996) und der
- Acceptance and Commitment Therapy (Hayes, Strohsal & Wilson, 1999).

Von welchen Wirkmechanismen des Achtsamkeitsprinzips diese Therapieansätze ausgehen, ist in einem anderen Abschnitt (Kap. 2.4) beschrieben.

2.1.3 Achtsamkeit als psychologischer Prozess

Die Definition von Kabat-Zinn nähert sich dem Konstrukt Achtsamkeit, indem sie beschreibt, über welche Art der Aufmerksamkeitslenkung dieser Bewusstseinszustand hergestellt wird. Bishop und Kollegen wenden ein, dass diese Definition zu unpräzise sei, vor allem dann, wenn man das Konstrukt Achtsamkeit wissenschaftlich einordnen wolle (Bishop, Lau, Shapiro, Carlson, Anderson & Carmody, 2004). Mit ihrer operationalen Definition versuchen sie deshalb eine genaue Determinierung des Begriffs, um daraus empirisch prüfbare Hypothesen abzuleiten. Sie schlagen ein Zwei-Komponenten-Modell vor, welches die impliziten psychologischen Prozesse der Achtsamkeit erfasst. Achtsamkeit sei zum einen eine Selbstregulation der Aufmerksamkeit, zum anderen eine Einstellung gegenüber der momentanen Erfahrung (Abb. 2.3).

Die Regulation der Aufmerksamkeit ermöglicht, dass sie immer wieder von einem Moment zum nächsten auf die Erlebnisse des Augenblicks gelenkt und aufrechterhalten werden kann. Dies hat den Effekt, dass die sich ständig verändernden Reize (z.B. Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen) einfach nur wahrgenommen werden, ohne sie gedanklich weiter zu verarbeiten (Bishop et al., 2004).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2.3: Achtsamkeitskomponenten nach S. R. Bishop (eigene Grafik)

Betrachtet man die erste Komponente aus einer allgemeinpsychologischen Perspektive, dann beinhaltet die Selbstregulation der Aufmerksamkeit Prozesse wie die Aufmerksamkeitsaufrechterhaltung, den Aufmerksamkeitswechsel und die Hemmung elaborierter, sekundärer Prozesse (Bishop, 2002). Aus differentiell-psychologischer Perspektive sind nach diesem Modell solche Personen achtsamer, die ihre Aufmerksamkeit länger auf die unmittelbar im Moment ablaufenden Prozesse richten können, sich weniger in gedankliche Elaborationen verstricken und wenn sie dies tun, ihre Aufmerksamkeit leichter wieder auf den aktuellen Moment lenken können (Bishop et al., 2004).

Mit dieser aufmerksamkeitsregulierenden Komponente geht eine neugierige, offene und akzeptierende Haltung gegenüber den momentanen Erlebnisinhalten einher, die Bishops zweite Komponente darstellt. Jedem Augenblick wird mit Neugier begegnet, ohne selektiv bestimmte Erlebnisse zu bevorzugen oder auszuwählen. Die von Moment zu Moment ins Bewusstsein kommenden Erlebnisinhalte werden unvoreingenommen akzeptiert und zugelassen, indem sie wahrgenommen werden.

Nach dieser Definition wird Achtsamkeit als eine Art metakognitiver Prozess verstanden. Die Aufmerksamkeit nimmt eine beobachtende Rolle gegenüber dem kognitiven Geschehen ein, es werden z.B. die eigenen Gedanken beobachtet. Bishop und Kollegen (2004) sprechen in diesem Zusammenhang von einer metakognitiven Regulation der Aufmerksamkeit.

Auch sie begreifen Achtsamkeit als Zustand, der nur durch regelmäßiges Üben ausgebildet werden kann. Ihnen zufolge können jedoch außer der Atemmeditation auch andere Methoden einen achtsamen Bewusstseinzustand fördern. Zum Beispiel könne sich Achtsamkeit auch im Rahmen einer erfolgreichen Psychotherapie entwickeln. Durch die Definition der Achtsamkeit als psychologischen Prozess lösen sie das Konstrukt aus dem Kontext der Meditationspraxis heraus. Als Konsequenz daraus könne man, so Hayes und Shenk (2004), genau genommen jede Technik, welche zum Ziel hat die Aufmerksamkeit auf den Moment zu erhöhen und eine Einstellung von Akzeptanz zu kultivieren, als eine achtsamkeitsbasierte Methode bezeichnen.

2.1.4 Achtsamkeit auf der Ebene psychologischer Konstrukte

Nach dem der Definitionsansatz von Bishop (2002, 2004) vorgestellt wurde, der Achtsamkeit zum einen als Einstellung gegenüber der aktuellen Erfahrung und zum anderen als Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsregulation versteht, wird geprüft, was das Achtsamkeitskonstrukt aus persönlichkeitspsychologischer Sicht darstellt. Es wird diskutiert, ob man das Achtsamkeitskonstrukt als Persönlichkeitsmerkmal verstehen kann, um welche Art von Persönlichkeitsmerkmal es sich im engeren Sinne handeln könnte und welche Definition für die vorliegende Untersuchung angenommen wird.

Persönlichkeitsmerkmale (traits) zeichnen sich nach dem Eigenschaftsparadigma durch drei Merkmale aus: Sie bilden interindividuelle Unterschiede ab, sind transsituativ konsistent und zeitlich stabil. Was sagt die bisherige Forschung zum Achtsamkeitskonstrukt in Bezug auf diese Merkmale aus? Die zahlreichen Achtsamkeitsskalen, die entwickelt wurden, sprechen für die (zumindest implizite) Annahme der Autoren dass die Merkmale auch auf das Achtsamkeitskonstrukt zutreffen. Einen empirischen Nachweis dafür konnten bisher nur Brown und Ryan (2003; 2004) in ihren Untersuchungen erbringen, die individuelle Unterschiede auch bei Personen fanden, die keinerlei Erfahrung in Meditation hatten. Auch theoretisch erscheint es jedoch plausibel, dass Achtsamkeit das Erleben und Verhalten einer Person in unterschiedlichen Kontexten und über verschiedene Situationen hinweg beeinflusst. Was seine zeitliche Konsistenz angeht, scheint es sich eher um einen mitttelfristige Stabilität zu handeln. Indikator dafür ist, dass Achtsamkeitsinterventionen darauf abzielen, die Achtsamkeit der Teilnehmer bedeutsam zu verändern (d.h. zu erhöhen). Weiterhin wird Achtsamkeit im Verständnis einiger Experten, u.a. Jon Kabat-Zinn, als Fähigkeit betrachtet, die angeboren und bei jedem Menschen zu einem bestimmten Grad ausgeprägt ist. Angesichts des persönlichkeitspsychologischen Fähigkeitsbegriffs, der darunter Eigenschaften wie Intelligenz, Kreativität oder soziale Kompetenz versteht, lässt sich das Achtsamkeitskonstrukt dort nur schwer einordnen, will man es in seiner Bedeutung nicht entfremden.

Schon eher macht es Sinn, Achtsamkeit dem Bereich der Temperamentsmerkmale zuzuordnen, die individuelle Besonderheiten in Formaspekten des Verhaltens beschreiben. Diese zeigen sich in den „drei A´s der Persönlichkeit“: Affekt, Aktivierung und Aufmerksamkeit (Asendorpf, 2007). Die enge Verknüpfung von Achtsamkeit und neurophysiologischen Prozessen ist bisher nicht ausreichend erforscht, dennoch ist in vorangehenden Kapiteln deutlich geworden, wie radikal das Achtsamkeitskonzept an basalen Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozessen ansetzt.

Das Achtsamkeitskonzept psychologisch als Einstellung zu definieren, wie Bishop (2002) es tut, ist nachvollziehbar. Einstellungen bezeichnen individuelle Besonderheiten in der Bewertung spezifischer Objekte der Wahrnehmung (Asendorpf, 2007). Das Objekt der Wahrnehmung ist beim Achtsamkeitskonzept die Erfahrung des aktuellen Moments. Allerdings wird diesem gegenüber eine nicht-wertende Haltung eingenommen, was die persönlichkeitspsychologische Definition ad absurdum führt.

Dass das Achtsamkeitskonzept auf der Ebene psychologischer Konstrukte schwer einzuordnen ist, wenn man das Konzept nicht soweit reduzieren will, dass sein eigentlicher Inhalt verloren geht, liegt in dem ihm eigenen Ganzheitlichkeitanspruch begründet. Es zeigt sich bei den Definitionsversuchen bespielsweise, dass abwechselnd zwei unterschiedliche Aspekte des Achtsamkeitskonzepts in den Blick genommen werden. Einerseits wird Achtsamkeit als Handlung verstanden (zum Beispiel als willentliche Lenkung der Aufmerksamkeit auf den aktuellen Moment), andererseits als das Ergebnis dieser Handlung (zum Beispiel der Bewusstseinszustand der Achtsamkeit bei Kabat-Zinn). Bishop (2002) hat beide Aspekte in seine Achtsamkeitsdefinition integriert. Für ihn bezeichnet Achtsamkeit zum einen, inwieweit eine Person ihre Aufmerksamkeit reguliert und zum anderen welche Einstellung sie gegenüber der aktuellen Erfahrung einnimmt.

Auch für die vorliegende Untersuchung wird diese zweitteilige Definition angenommen, da beide Aspekte für die Untersuchung von Relevanz sind. Bezüglich der Komponente der Aufmerksamkeitsregulation wird die Frage untersucht, wie sich die Aufmerksamkeitsregulation der Achtsamkeit im Bewältigungsmodell von Krohne und Egloff (1999, vgl. Kap. 3.2.3) positioniert. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, welche Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stresssituatioen mit der Einstellung der Achtsamkeit einhergehen (vgl. Kap. 3.2.2). Begünstigt eine achtsame Einstellung passiv-vermeidende oder aktiv-problemlösende Strategien? Außerdem ist zu vermuten, dass Achtsamkeit einen spezifischen Umgang mit Belastungen hervorzusagen vermag, so wäre es aus persönlichkeitspsychologischer Sicht den Copingstile zuordenbar. Diesen Fragen wird in der vorliegenden Untersuchung nachgegangen.

2.2 Operationalisierungsansätze der Achtsamkeit

In den folgenden vier Kapiteln werden die Erkenntnisse zusammengetragen, die sich aus der empirischen Analyse des Achtsamkeitskonzepts ergeben. Von Interesse sind dabei zum einen die zur Erfassung des Konstrukts entwickelten Instrumente. Die Items der Fragebögen dienen dabei als Indikatoren dafür, was Achtsamkeit den jeweiligen Autoren nach beinhaltet bzw. (bei negativ gepolten Items) was als dessen Gegenteil angesehen wird. Zum anderen sind Untersuchungen von Bedeutung, in denen Dimensionalitäts- und Korrelationsanalysen zum Achtsamkeitskonzept durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Studien werden kurz dargestellt und in Bezug auf die Klärung der Frage, wie Achtsamkeit definiert werden kann, eingeordnet.

2.2.1 Der Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit

In den letzten Jahren sind im angloamerikanischen Raum eine Reihe von Fragebögen veröffentlicht worden, die das Konstrukt auf unterschiedliche Art und Weise messen. Zwei davon wurden auch für den deutschsprachigen Raum adaptiert: Die Mindful Attention Awareness Scale (Brown & Ryan, 2003; dt. von Heidenreich und Michalak, 2003) und das Kentucky Inventory of Mindfulness Skills (Baer, Smith & Allen, 2004; dt. von Ströhle, unveröff.). Außerdem entwickelte eine Freiburger Arbeitsgruppe (Walach, Buchheld, Buttenmüller, Kleinknecht, Grossman & Schmidt, 2004) ein eigenständiges Instrument, den Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit.

Der Freiburger Achtsamkeitsfragebogen (FFA) ist derjenige unter den deutschen Achtsamkeitsskalen, der am explizitesten Bezug nimmt auf die buddhistischen Wurzeln des Achtsamkeitskonstrukts. Anhand der Vipassanâ-Literatur formulierte die Arbeitsgruppe um Walach zunächst 73 Items, die das buddhistische Achtsamkeitsverständnis abbilden. Danach befragten sie eine Reihe von Experten mit langjähriger Meditationserfahrung. Daraus resultierte eine Vorform des Fragebogens mit 38 Items. Die Überprüfung dieser (Trennschärfekoeffizienten und Schwierigkeitsindices) ergab den FFA mit 30-Items. Trotz seiner vergleichsweise hohen Variabilität - er erfasst auch subtilere Aspekte der Achtsamkeit wie Nicht-Identifikation und Nicht-Reaktivität - weist er eine hohe interne Konsistenz (Cronbachs a = .93) auf, die auch in Folgestudien (Walach et al., 2004) bestätigt werden konnte. Die Dimensionalität der Skala ist unterschiedlich, weshalb die Autoren eine Generalfaktorenlösung am ehesten in Betracht ziehen. Nach Walach und Kollegen würden die Ergebnisse dafür sprechen, dass es sich bei der Achtsamkeit im Grunde um ein ganzheitliches und unteilbares Konstrukt handelt, das sich zwar durch methodische Analysen in verschiedene Komponenten zerlegen lässt, jedoch im konkreten Erleben nicht in unabhängige Elemente zerfällt.

Ströhle (unveröff.) kam in seinen Analysen zum Schluss, dass ein Zwei-Faktoren-Modell die Beziehung zwischen den Items noch besser erklärt. Der erste Faktor fasse Items zusammen, die die Aufmerksamkeit auf und Beobachtung von momentan ablaufenden körperlichen und geistigen Prozessen abbilden. Der zweite Faktor beinhaltet die Offenheit und Akzeptanz gegenüber sich selbst und anderen.

2.2.2 Konvergente und divergente Konstruktvalidität

Die Analysen zur diskriminanten Validität des FFA ergaben folgende Zusammenhänge: Die mit dem FFA erfasste Achtsamkeit ist positiv assoziiert mit den Konstrukten Private Selbstaufmerksamkeit und Selbsterkenntnis. Zur Skala Öffentliche Selbstaufmerksamkeit besteht hingegen ein schwach negativer Zusammenhang. Negative Korrelationen bestehen weiterhin zu den Konstrukten psychopathologische Symptombelastung und Dissoziation. Ingesamt bestätigen die gefunden Zusammenhänge die Operationalisierung des Konstrukts.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2.4: Korrelation mit anderen Konstrukten in der Studie von Walach et al. (2004) (eigene Grafik)

2.2.3 Faktoranalytische Untersuchung des Achtsamkeitskonzepts

Einen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht der Ansatz der Arbeitsgruppe um Ruth A. Baer. Diese (Baer, Smith, Hopkins, Krietemeyer & Toney, 2006) wählten fünf der englischsprachigen Fragebögen aus4 - darunter eine Übersetzung des Freiburger Fragebogens zur Achtsamkeit - und führten eine methodisch anspruchsvolle Analyse, um Hinweise auf die zugrunde liegenden Dimensionen der Achtsamkeit zu gewinnen. Sie rechneten explorative und konfirmatorische Faktorenanalysen mit dem Gesamtsatz der Items aller fünf Fragebögen, die sie an einer Stichprobe von 613 Psychologiestudierenden erhoben hatten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Achtsamkeit sich, wenn sie mit Fragebögen erfasst wird, in fünf Facetten differenzieren lässt. Vier der fünf Faktoren entsprechen weitgehend den Unterskalen des KIMS (Kentucky Inventory of Mindfulness Skills). Es ergab sich ein weiterer Faktor, der eine nicht-reaktive Haltung gegenüber innerem Erleben5 abbildet. In Tabelle 2.1 sind die fünf Facetten mit jeweils einem Markieritem sowie die Zusammenhänge mit anderen Konstrukten dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2.1. Facetten der Achtsamkeit in der Studie von Baer et al. (2006) (eigene Tab.)

(+) bedeutsamer positiver Zusammenhang, (-) bedeutsamer negativer Zusammenhang

Baer fand, dass die Subskala Beobachten keine bedeutsame Ladung auf dem dahinter liegenden Achtsamkeitsfaktor hatte. Ein Modell zweiter Ordnung, welches die restlichen Primärfaktoren Beschreiben, Mit Aufmerksamkeit Handeln, Akzeptieren ohne Bewertung und Nicht-Reaktivität beinhaltete, passte besser zu den Daten. Die Ergebnisse sind jedoch nicht auf Menschen mit Erfahrung in Meditation verallgemeinerbar, da in solch einer Stichprobe alle fünf Faktoren Facetten eines dahinter liegenden Konstrukts waren. Interessanterweise ergeben sich aus der Untersuchung Hinweise, dass die Faktorenstruktur von Grad der Meditationserfahrung abhängt. So zeigt sich zum Beispiel nur bei Personen mit Meditationserfahrung ein positiver Zusammenhang zwischen den Facetten „Beobachten“ und „Akzeptieren ohne Bewertung“. Insgesamt korrelierten die Komponenten in der erwarteten Richtung mit unterschiedlichen anderen Konstrukten und besaßen inkrementelle Validität in der Vorhersage von psychischen Symptomen.

Was kann man daraus ableiten, um das Achtsamkeitskonstrukt genauer zu determinieren? In den statistischen Analysen von Baer und Kollegen zeigt sich Achtsamkeit nicht als eindimensionales Konstrukt, sondern als Konstrukt mit verschiedenen Facetten. In ihrem Fünf-Faktoren-Modell sind dies die Teilaspekte: Nicht-Reagieren, Beobachten, Beschreiben, Mit-Achtsamkeit-Handeln und Akzeptieren-ohne-Bewertung. Insgesamt deuten die Ergebnisse auf die Nützlichkeit einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise von Achtsamkeit hin.

2.2.4 Vergleich der deutschsprachigen Achtsamkeitsskalen

Zu vergleichbaren Ergebnissen kam Ströhle im Rahmen seiner Diplomarbeit (2006, unveröff.). Er verglich die drei deutschsprachigen Achtsamkeitsfragebögen Freiburger Fragebogen zur Achtsamkeit (FFA), Mindful Attention Awareness Scale (MAAS) und Kentucky Inventory of Mindfulness (KIMS) anhand einer Stichprobe von 498 Studierenden. Im Bezug auf den FFA konnte er die von Walach und Kollegen postulierte Eindimensionalität des Konstrukts zwar replizieren, allerdings erwies sich ein alternatives Modell als (noch) passgenauer. Dieses Zwei-Faktoren-Modell, entwickelt auf der Grundlage theoretischer Überlegungen (Ströhle, unveröff.) bildet die Datenlage noch besser ab und ist zudem sparsamer. Zwei zentrale Komponenten der Achtsamkeit werden gegenübergestellt: Die Aufmerksamkeit gegenüber momentanen körperlichen und geistigen Prozessen und die Akzeptanz und Offenheit gegenüber sich selbst und anderen. Sie korrelieren zu r = .56 miteinander.

Die Akzeptanzfacette wird von den Skalen in unterschiedlicher Weise erfasst. Während sie beim FFA über positiv formulierte Items erhoben wird, die durch Offenheit, wohlwollende Annahme und Wertschätzung gekennzeichnet sind, findet die Operationalisierung beim KIMS über die Nicht-Bewertung der Erfahrungen statt. Das heißt, eine Erfahrung, z.B. einen körperlichen Schmerz, zu akzeptieren, bedeutet, von inneren Bewertungen dieser Erfahrung Abstand zu nehmen. Baer und Kollegen (2006) vermuten, dass Items mit dem Wort „akzeptieren“ nur wenig auf Akzeptanz-Faktor laden, weil sie möglicherweise als gleichgültiges, resigniertes Billigen von Erfahrungen verstanden werden. Hohe Ladungen ergaben sich hingegen bei Items, die die Nicht-Bewertung zum Inhalt hatten.

Zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: Sowohl in den englisch- als auch in den deutschsprachigen Skalen erweist sich das Achtsamkeitskonstrukt als mehrdimensionales Konzept mit verschieden Facetten. Zwei offensichtlich substantielle Aspekte sind die Aufmerksamkeits- und die Akzeptanzfacette, die die Aufmerksamkeit gegenüber momentanen körperlichen und geistigen Prozessen einerseits und die Akzeptanz und Offenheit gegenüber sich selbst und anderen andrerseits beschreiben. Außerdem zeigt sich konstant, dass die psychometrische Erfassung der Achtsamkeit auch in Stichproben aus Personen ohne Meditationserfahrung sinnvoll ist. Das bestätigt die Annahme, dass Achtsamkeit als eine angeborene Fähigkeit zu verstehen ist, die allen Menschen innewohnt und nicht etwas spezifisch Buddhistisches ist. Dass jeder Mensch seine Aufmerksamkeit in einer gewissen Weise reguliert und eine bestimmte Haltung gegenüber der aktuellen Erfahrung einnimmt, ist durchaus plausibel. Insofern bestätigen die Erkenntnisse der empirischen Forschung zum einen die Vielschichtigkeit des Konstrukts, zum anderen die seiner Universalität.

2.3 Empirische Befunde zur Wirksamkeit von Achtsamkeit

Aktuell existieren drei Überblicksarbeiten, die die Befundlage in der Achtsamkeitsforschung wiedergeben; zum einen Baer (2003) und Bishop (2002) aus dem englischsprachigen Raum, zum anderen eine Metaanalyse von Grossmann, Niemann, Schmidt und Walach (2004). Anhand dieser soll folgenden Fragen nachgegangen werden: Sind achtsamkeitsbasierte Interventionen tatsächlich in der Lage, die Stressbelastung zu mindern und das psychische Wohlbefinden zu steigern? Inwieweit lässt sich die Wirksamkeit des MBSR-Programms empirisch bestätigen? Und finden sich diese Effekte ebenso in nicht-klinischen Stichproben, also bei Personen, die nicht in psychotherapeutischer Behandlung sind? Welche Aussagen darüber zu treffen sind, wird in den folgenden beiden Kapitel deutlich.

2.3.1 Ergebnisse kontrolliert-randomisierter Untersuchungen

Unter der Vielzahl der Untersuchungen sind bislang nur fünf kontrolliert-randomisierte Studien publiziert worden, deren Ergebnisse an dieser Stelle kurz vorgestellt werden sollen. In einer Studie mit kontrolliertem, randomisierten Design wurden PatientInnen mit verschiedenen Krebserkrankungen untersucht. Nach der Durchführung des MBSR-Programms zeigte sich eine deutliche Reduktion der psychischen Belastung (Speca, Carlson, Goodey & Angen, 2000). Darüber hinaus zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Zeit, in der die PatientInnen Achtsamkeitsübungen durchführten, und der Belastungsreduktion.

Auch bei der Behandlung chronisch depressiver PatientInnen gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit des achtsamkeitsbasierten Ansatzes. So zeigte sich in einer kontrollierten, randomisierten Studie, dass die Mindfulness-Based Cognitive Therapy eine wirksame Methode zur Behandlung von Depressionen ist (Teasdale, Williams, Ridgeway, Soulsby & Lau, 2000; Teasdale, Moore, Hayhurst, Pope, Williams & Segal, 2002). Die Mindfulness-Based Cognitive Therapy ist ein Therapieansatz, der speziell zur Rückfallprophylaxe bei chronischen Depressionen entwickelt wurde. Er ist eng an die MBSR angelehnt, integriert aber zusätzlich Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie. Bei der Analyse der Wirksamkeit des achtwöchigen Gruppenprogramms zeigte sich ein interessantes Befundmuster. Das Rückfallrisiko konnte im Vergleich zur Standardbehandlung um mehr als die Hälfte gesenkt werden (66 % bzw. 36 %); allerdings nur bei den PatientInnen, die bereits mehr als zwei depressive Episoden aufwiesen. In einer weiteren kontrollierten, randomisierten Studie wurde dieses Befundmuster repliziert (Ma & Teasdale, 2004). Die Autoren erklären diesen Effekt damit, dass diese PatientInnen - mit mehr als zwei Episoden in der Vorgeschichte - die Episoden nicht aufgrund von kritischen Lebensereignissen erlitten, sondern durch automatisierte kognitive Aufschaukelungs-prozesse, die negative Denkmuster reaktivierten und zum Rückfall führten. Die Autoren sehen das Wirkpotential der Achtsamkeit gerade in der Aushebelung dieser negativen Gedankenspiralen.

Im Gegensatz zum klinischen Feld gibt es bisher nur wenige Studien, die sich mit der Wirksamkeit von Achtsamkeitsinterventionen im nicht-klinischen Kontext befassen. In zwei randomisierten, kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass MBSR in einer Allgemeinbevölkerungsstichprobe zu einer Verminderung von Stress, Angst und Dysphorie führt (Astin, 1997; Shapiro, Schwartz & Bonner, 1998). Die Wirkung von unspezifischen Faktoren wie Gruppenkohäsion, Behandlungserwartungen u.a. kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, da die Kontrollbedingung keine aktive Intervention enthielt.

2.3.2 Ergebnisse nicht-kontrollierter Untersuchungen

Neben den beschriebenen kontrollierten Studien liegen eine Reihe von nicht-kontrollierten Studien vor. Dort wurden die Effekte der MBSR-Behandlung in verschiedenen Störungsgruppen wie chronischer Schmerzen, Binge-Eating-Disorder und Schlafstörungen untersucht. Bei den chronischen SchmerzpatientInnen zeigte sich eine signifikante Reduktion der psychischen Belastung (Kabat-Zinn, Lipworth & Burney, 1985; Kabat-Zinn, Lipworth, Burney & Sellers, 1987; zit. nach Heidenreich & Michalak, 2006). Und das sowohl nach der Behandlung als auch in einem 4-Jahres-Follow-Up. In den Studien zur Generalisierten Angststörung und Panikstörung wurde ebenfalls im Verlaufe der MBSR Behandlung eine Reduktion der belastenden Symptome festgestellt (Kabat-Zinn, Massion, Kristeller, Peterson, Fletcher, Pbert, Lenderking & Santorelli, 1992), wobei auch hier die Veränderungen über einen Zeitraum von drei Jahren weitgehend stabil blieben (Miller, Fletcher & Kabat-Zinn, 1995).

Die methodische Qualität der Studien wird von den Autoren der drei Überblicksarbeiten (Baer; Bishop; Grossman et al.) gleichermaßen beurteilt: Die Untersuchungen weisen mehrheitlich erhebliche methodische Mängel auf. So fehlen beispielsweise Vergleiche mit Kontrollgruppen oder die Auswirkungen von paralleler medikamentöser Behandlung wurde nur unzureichend kontrolliert. Angaben zu Drop-Out-Raten und statistischen Kennwerten bleiben in einigen Untersuchungen ganz aus. Dennoch kommen alle drei Autoren insgesamt zu der Schlussfolgerung, dass es konsistente Hinweise für die Wirksamkeit von MBSR gibt. Die in den Arbeiten von Baer und Grossman et al. berichteten Effektstärken liegen im mittleren Bereich (ES = 0.59 bzw. ES = 0.50). Heidenreich und Michalak (2006) weisen darauf hin, dass die Verwendung von heterogenen Stichproben mit teilweise niedrigen Ausgangswerten die Größe der Effektstärken ungünstig beeinflusst haben dürfte.

2.4 Vorschlag einer Klassifikation vermuteter Wirkfaktoren der Achtsamkeit

Wenn dem so ist, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen in der Lage sind, den Umgang mit Belastungen zu verbessern und das psychische Wohlbefinden zu steigern, stellt sich die nächste Frage: Wodurch wird die Veränderung möglich und auf welchen Mechanismen beruht diese Wirksamkeit?

2.4.1 Befundlage und Hemmnisse

Durchsucht man die Literatur, muss man feststellen, dass die Befundlage dürftig ist. Viele Studien geben zwar die Vielfalt der Definitionsansätze wieder, äußern sich aber nur am Rande zu vermuteten oder bestätigten Wirkfaktoren. Systematische Überlegungen dazu finden sich zum einen bei Bohus und Huppertz (2006), zum anderen bei Berking und von Känel (2007). Erstere beschreiben vor dem Hintergrund der Dialektisch-Behavioralen Therapie von Borderline-Störungen in differenzierter Weise folgende hypothetische Mechanismen:

- die Verbesserung von metakognitiven Prozessen, was eine Relativierung aktivierter kognitiv-emotionaler Schemata erleichtert;
- die Verbesserung der Akzeptanz unangenehmer innerer und äußerer Phänomene;
- die Verbesserung des emotionalen Aktivierungsniveaus bei expositionsbasierten Verfahren;
- die Verbesserung der Selbstorganisation kognitiv-emotionaler Strukturen bei psychopathologisch nicht relevanten Problemen und die Entfaltung von spirituellen Prozessen (S. 274).

Berking und von Känel (2007) vermuten folgende Mechanismen, über welche achtsamkeitsbasierte Verfahren ihre Wirkung entfalten:

- Exposition
- Kognitive Umstrukturierung
- Selbstmanagement
- Entspannung sowie
- Stärkung von Akzeptanz und Toleranz (S. 174f).

Ein Grund für die vergleichsweise dünne Befundlage ist sicher, dass es sich bei der Untersuchung der Achtsamkeit um ein sehr junges Forschungsgebiet handelt. Zum anderen bedarf es aufwändiger und methodisch anspruchsvoller Studien, um einzelne Wirkfaktoren isoliert zu untersuchen, denn sie sind immer eingebettet in die vielfältigen Wechselwirkungen des therapeutischen Kontextes. Daher gibt es bisher nur vereinzelt empirische Belege dazu, wie Achtsamkeit wirkt.

Ein weiteres Hemmnis liegt vermutlich in den Wurzeln des Achtsamkeitsprinzips. Immer wieder muss hier eine möglichst präzise Übersetzung geleistet werden, nämlich von einem ursprünglich buddhistischen Prinzip in die Termini der wissenschaftlich-psychologischen Forschung. Das Achtsamkeitsprinzip ist jedoch eingebettet in einen weltanschaulichen Kontext, der von dem des westlichen Kulturkreises abweicht. Dieser Unterschied darf nicht unterschätzt werden. In den Reden Buddhas (vgl. Schumann, 2000), zum Beispiel der „Lehrrede über die Erweckung der Achtsamkeit“6 wird auch die Wirkungsweise des Achtsamkeitprinzips beschrieben. Aufgrund der kulturellen und lebensanschaulichen Unterschiede können Übersetzungen in das Verständnis der westlich geprägten wissenschaftlichen Psychologie immer nur eine Annäherung an das tatsächlich Gemeinte sein.

An dieser Stelle der vorliegenden Diplomarbeit wird der Versuch unternommen, den aktuellen Wissensstand zu den Wirkmechanismen der Achtsamkeit sinnvoll zu strukturieren und sie bezüglich ihrer empirischen Prüfbarkeit und der bisherigen Erforschung einzuordnen. Als Grundlage dafür dienen neben eigenen Überlegungen die Ausführungen folgender Autoren: Bohus & Huppertz (2006), Berking und von Känel (2007), Grossman (2006), Walach et al. (2004), Heidenreich & Michalak (2006), Meibert et al. (2006), Kabat-Zinn (1990; 2006), Bishop (2002), Teasdale et al. (2000), Linehan (1996), Hayes und Shenk (1999) und Goleman (1996).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 2.2. Vermutete Wirkfaktoren der Achtsamkeit (eigene Tab.)

Ein Dilemma, welches sich unausweichlich offenbart, wenn man diese Überlegungen anstellt ist folgendes: Versteht man Achtsamkeit in seiner ursprünglichen, buddhistischen Definition, kann man nur schwer von Wirkfaktoren sprechen. Das vermutlich wichtigste Merkmal der Achtsamkeitsübungen ist ja eben ihre Nicht-Intentionaliät. Das bedeutet, es geht beim Üben von Achtsamkeit eben nicht darum, einen bestimmten Effekt, eine Wirkung herzustellen. Noch weniger wird eine irgendwie geartete psychologische Veränderung angestrebt. Wenn das Nicht-Streben, das Nicht-Erreichen-Wollen die Voraussetzung dafür ist, dass Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden, dann steckt man bei der Erforschung der Wirkfaktoren unweigerlich in einem Dilemma. Dieses Spannungsfeld sollte im Hinblick auf die Ausführungen in den folgenden Kapiteln im Blick behalten werden.

2.4.2 Distanz gegenüber innerpsychischen Prozessen

Es ist zunächst das Naheliegendste, die Wirkung im Bereich der Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozessen zu suchen. Mit Hilfe der Achtsamkeit wird ja eine Art der Aufmerksamkeitslenkung und -aufrechterhaltung geschult. Diese Art der Aufmerksamkeit soll es ermöglichen, die eigenen Gedanken und Gefühle wertfrei zu beobachten, besonders den Prozess ihres Auftauchens und Verschwindens. Diese einfache Betrachtung, die aus einer nicht bewertenden Haltung heraus geschieht, ermöglicht es folgende Erfahrung zu machen: Gedanken sind keine realitätsgetreue Abbildung der Wirklichkeit, es handelt sich lediglich um mentale Ereignisse (Bishop, 2002). Die Fähigkeit, die aus dieser Erkenntnis resultiert, nämlich die Beobachtung der eigenen innerpsychischer Vorgänge, beschreibt Goleman (1996) als Metakognition und Metastimmung. Durch die neutrale Haltung, die den beobachteten Vorgängen gegenüber eingenommen wird, wird auch in Zeiten von Stress die Fähigkeit zur Selbstreflexion aufrechterhalten, so Goleman.

In der Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie (Teasdale et al., 2000) wird ebenso auf die Entwicklung dieser Fähigkeit abgezielt. In der Analyse der Rückfallraten der depressiven PatientInnen wurde die sog. metacognitive awareness als wesentlicher Prädiktor für einen Nicht-Rückfall identifiziert. Mit diesem Begriff beschreiben die Autoren die Fähigkeit, eine nicht-identifizierende Haltung einzunehmen. Diese Haltung ermöglicht es, gegenüber automatisierten Gedankenmustern eine Distanz zu entwickeln. So sei es leichter das Abgleiten in automatisierte Abläufe aus negativen Gedanken und Gefühlen zu verhindern.

Linehan, der Begründerin der Dialektisch-Behavioralen Therapie (1996), spricht ebenfalls von einer nicht-wertenden Beobachtungshaltung. Diese auszubilden ist ein Therapieziel und ermöglicht den Borderline-PatientInnen beispielsweise, dass sie Warnsignale besser einschätzten. Ein sich ankündigender Selbstverletzungsimpuls etwa könne in einer nicht-wertenden Haltung eher erkannt und richtig eingeschätzt werden.

Übertragen auf alltäglichere Stresssituationen nicht psychisch erkrankter Menschen würde das bedeuten: Diese kritischen Situationen frühzeitig zu erkennen, d.h. zu bemerken, dass die Situationen gerade die eigenen Ressourcen in besonderer Weise beansprucht bzw. übersteigt, ist die Voraussetzung für einen gesundheitsförderlichen Umgang damit. In einem zweiten Schritt kann dann bewusst und der Situation entsprechend reagiert werden. Die Wirkungsweise des Achtsamkeitsprinzips könnte also durch folgenden Prozess erklärt werden: Die Aufmerksamkeitslenkung auf die eigenen innerpsychischen Vorgänge macht deutlich, dass es sich lediglich um mentale Ereignisse handelt und nicht um die Abbildung der Realität. Diese Erfahrung begünstigt, dass sich die Person ihren eigenen Gedanken und Gefühlen Abstand wahren kann, und weniger schnell in automatisierte Reaktionsabfolgen gerät, die langfristig ungünstige Folgen haben.

2.4.3. Neubewertung von Gedanken

Eng damit verbunden sind Überlegungen dazu, dass Achtsamkeit eine veränderte Bewertung von Gedanken bewirkt. In einer Pilotstudie zu einer achtsamkeitsbasierten Therapie von Schlafstörungen (Heidenreich, Tuin, Pflug, Michal & Michalak, 2006), die sich eng an die bereits beschriebene Achtsamkeitsbasierte Kognitive Verhaltenstherapie anlehnt, wurde dieser Wirkfaktor identifiziert. Die Sorge der PatientInnen, dass bei dem Versuch Einzuschlafen, bestimmte Gedanken auftreten würden, verringerte sich und außerdem bewerteten sie die grüblerischen Gedanken anders. Es fand eine Neubewertung dieser Gedanken statt. Im Prae-Post-Vergleich zeigte sich eine bedeutsame Verbesserung der Gesamtschlafzeit sowie der Einschlaflatenz.

Es gibt also Hinweise darauf, dass die Vermittlung von Achtsamkeit dazu verhilft, den Kreislauf der kognitiven Prozesse, die einer Schlafstörung zugrunde liegen und sie aufrechterhalten, zu unterbrechen, in dem diese - eventuell aus der vorher beschriebenen distanzierten Haltung heraus, neu bewertet werden und an Bedeutsamkeit verlieren.

2.4.4 Reduktion der Grübelneigung

Dass die Neigung zu Grübeln abnimmt, konnten Jain und Kollegen in einer Studie zeigen, die an Studenten in der Prüfungszeit entweder ein Achtsamkeitstraining oder ein normales Entspannungsverfahren durchführten (Jain, Shapiro, Swanick, Roesch, Mills, Bell & Schwartz, 2007). Beide Trainings waren in der Lage, die Belastung zu reduzieren, aber nur das achtsamkeitsbasierte Verfahren senkte gleichzeitig die Grübelneigung. Außerdem fungierte diese Reduktion des Grübelns als Mediator, der die Funktion zwischen Achtsamkeitstraining und Belastungsreduktion zu großen Teil aufklärte. Die Reduktion von Grübeln scheint also ein Wirkfaktor zu sein, der spezifisch für Achtsamkeitsinterventionen ist. Auch Bishop (2002) schlägt vor, die Wirkung der Achtsamkeitsinterventionen auf vornehmlich kognitive Prozesse genauer zu untersuchen. Er vermutet Veränderungen in der Daueraufmerksamkeit, dem Aufmerksamkeitswechsel und dass die Unterbindung elaborierter kognitiver Prozesse gefördert wird. Doch auch hierzu wurden bislang keine Studien veröffentlicht.

Das, was er als Unterbindung elaborierter kognitiver Prozesse bezeichnet, liegt inhaltlich in der Nähe der Grübelneigung, die in der Untersuchung von Jain und Kollegen beobachtet wurde. Dieser Befund ist durchaus plausibel, da während der Achtsamkeitsmeditation immer wieder ebendies trainiert wird. Nämlich aufkommende Gedanken und Gefühle eben nicht weiterzuverfolgen, zu analysieren oder diesen in einer anderen Art und Weise nachzugehen.

Die Zurückführung der Aufmerksamkeit zum Atem führt zur Unterbrechung der Gedankenketten. Ausgebildet wird daher die Fähigkeit, hoch automatisierte Gedankenketten (wie es auch beim Grübeln der Fall ist) zu unterbrechen.

Interessant wäre tatsächlich, so wie auch Bishop vorschlägt, auf neurobiologischer Ebene zu untersuchen, ob die Hemmung dieser neuronalen Assoziationsketten bedeutsam modifiziert wird.

2.4.5 Identifizieren verzerrter Kognitionen

Die bis hierhin beschriebenen Mechanismen könnten Modifikationsprozesse anstoßen, die in der Kognitiven Therapie als kognitive Umstrukturierung bezeichnet und dort ein Ziel der Behandlung darstellen. Der Patient/ die Patientin soll in die Lage versetzt werden sog. verzerrte Wahrnehmungsinhalte als solche zu erkennen. Dazu gehört die Erfahrung, dass es Wahrnehmungsinhalte gibt, die aufgrund der individuellen Lerngeschichte falsch oder zumindest einseitig wahrgenommen werden.

In die Verhaltenstherapie hat neben Albert Ellis vor allem der Psychiater Aaron T. Beck diesen kognitiven Ansatz eingeführt. Die zentrale Annahme ist, dass Kognitionen, d.h. Gedanken, Vorstellungen, Erwartungen, Wahrnehmungsstile etc., einen Einfluss auf das emotionale Befinden haben. De Jong-Meyer (2003) fasst es folgendermaßen zusammen:

„Störungen der Affektivität wie Angst oder Depression resultieren aus der Aktivierung von Schemata, die eine idiosynkratische Sicht der eigenen Person sowie der Interpretation gegenwärtiger und zukünftiger Erfahrungen mit der Umwelt und der Zukunft beinhalten“ (S. 510).

Die verzerrte Sicht auf die Realität ist also der Grundgedanke seines kognitiven Modells, mit dem er ursprünglich die Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen erklärte (Margraf) und dass er später auch auf Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen erweiterte (vgl. de Jong-Meyer, 2003).

Bei einer Depression bedeutet das, dass der Erkrankte das Verhalten anderer beispielsweise auf die eigene Person bezieht und negativ interpretiert Zum Beispiel schlussfolgert er, wenn der Chef kurz angebunden war: Er war sicher so unfreundlich, weil er mit meiner Arbeit unzufrieden ist und mich sowieso für einen schlechten Mitarbeiter hält.

Beck nimmt an, dass diesen fehlerhaften Schlussfolgerungen (sog. logische Fehler) auf dysfunktionalen Grundüberzeugungen (sog. kognitiven Schemata) beruhen, die in solchen Situationen aktiviert werden und ebensolche „automatischen“ Gedanken anstoßen. Eine dysfunktionale Grundüberzeugung könnte zum Beispiel sein: Ich muss perfekt sein, um liebenswert zu sein. Der Teufelskreis schließt sich, wenn sich diese Grundannahme durch die verzerrte Wahrnehmung aktueller Situationen wieder und wieder „bestätigt“ wird.

Ziel der kognitiven Verfahren ist es nun, die PatientInnen anzuregen, jene automatischen Gedanken auf mögliche Verzerrungen und Fehler hin zu untersuchen und zu relativieren. Dies wird in der Kognitiven Verhaltenstherapie über verschiedene Techniken wie den Sokratischen Dialog oder das Gedankenprotokoll realisiert (de Jong-Meyer, 2003).

Nach Bohus und Huppertz (2006) setzen achtsamkeitsbasierte Verfahren genau an diesem Punkt an:

„Die fortwährende Übung in der Wahrnehmung und Beobachtung von inneren Gedankenströmen schult das Gehirn in ausgezeichneter Weise, automatisierte Gedanken zu erkennen und als solche zu identifizieren. Dies nimmt den Kognitionen sehr viel von ihrer zerstörerischen Kraft, indem sie von nachfolgenden Reaktionsmustern „entkoppelt“ werden.“ (S. 271)

Es handelt sich dabei um ein Anliegen, dass in ähnlicher Weise in der buddhistischen Achtsamkeitsliteratur beschrieben wird. Synonym zu Begriff der Achtsamkeitsmeditation wird beispielsweise der Begriff der Einsichtsmeditation7 verwendet (vgl. Buchheld, 2000). Einsicht soll ermöglicht werden in die grundlegende Natur des Körper-Geist-Prozesses (Kornfield & Breiter, 1996), um die drei Daseinsmerkmale Vergänglichkeit, Ungreifbarkeit und Nicht-Selbstheit zu erkennen (s. Kap. 2.1). Diese sollen eine weniger verzerrte, genauere Wahrnehmung der Realität ermöglichen. An dieser Stelle kann leider keine genauere Darstellung der buddhistischen Quellen erfolgen. Es soll lediglich auf die Parallele zwischen Mechanismen der Kognitiven Verhaltenstherapie und dem buddhistischen Verständnis von Achtsamkeit hingewiesen werden.

Im Unterschied zur Kognitiven Verhaltenstherapie sollen die verzerrenden, automatischen Gedankenmuster nicht durch funktionalere ersetzt werden. Die Absichtslosigkeit, ein zentraler Aspekt der buddhistischen Achtsamkeitsverständnisses, enthält einen anderen Umgang mit diesen verzerrten Kognitionen. Es soll lediglich beobachtet und zur Kenntnis genommen werden, dass diese Gedanken unzutreffend und fehlerhaft sind. Es erfolgt keine Bewertung in funktionale oder dysfunktionale Gedanken, in pathogene und gesunde. In der bereits beschriebenen Achtsamkeitsbasierten Kognitiven Therapie weisen Teasdale und seine Kollegen (2000) explizit darauf hin, dass das Ziel der Therapie nicht die Vermeidung von Dysthymie, Trauer oder Niedergeschlagenheit ist, sondern dass es ausschließlich darum geht, die negative Spirale der dadurch ausgelösten automatischen Kognitionen aufzulösen. Die Befunde der Arbeitsgruppe um Walach (2004), die eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit im Zusammenhang mit Achtsamkeit belegen, deuten ebenfalls darauf hin, dass Achtsamkeit das Identifizieren verzerrter Wahrnehmungsinhalte erleichtern könnte und das es sich dabei um eine weitere Wirkkomponente der Achtsamkeit handeln könnte.

Auch Linehan (1996), die Achtsamkeit in ihrem Therapieansatz zur Behandlung von Borderline-Störungen integriert hat, zeigt auf, dass in einer nicht-wertenden Beobachterhaltung die Konsequenzen des eigenen Verhaltens besser abgeschätzt werden können, was die Veränderung dieses Verhaltens immens erleichtern kann. Mit dieser Haltung sei es zum Beispiel einer Patientin mit Borderline-Störung möglich, die eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen und sich eher extern Hilfe zu besorgen, wenn sich ein erneuter Selbstverletzungsimpuls ankündigt.

Übertragen auf alltäglichere Situationen, mit denen sich nicht erkrankte, sondern „normal“ belastete Menschen konfrontiert sehen, bedeutet das: Stresssituationen als „kritische“ Situationen frühzeitig zu erkennen ist eine Grundkompetenz, um Belastungen zu bewältigen. Bemerkt eine Person rechtzeitig, dass die momentane Situation die eigenen Ressourcen in besonderer Weise beansprucht, z.B. eben durch eine achtsame Grundhaltung, kann sie in einem zweiten Schritt einen passgenaueren Umgang mit dieser Situation wählen.

Was das Achtsamkeitsprinzip im Umgang mit Belastungssituationen bewirkt, wird in der Literatur vor allem von denjenigen beschrieben, die Achtsamkeitsinterventionen durchführen. P. Meibert (2006), Psychotherapeutin und MBSR-Trainerin8, beschreibt die Wirkung der Achtsamkeit folgerndermaßen:

„Durch die Schulung der Achtsamkeit und den Austausch in der Gruppe werden Stressmuster bewusst, dysfunktionales, schädigendes Stressbewältigungs- und Gesundheitsverhalten kann den TeilnehmerInnen verdeutlich werden und sie werden angeleitet, durch bewussten, achtsamen Umgang mit sich selbst diese Muster zu durchbrechen“ (S. 276).

Achtsamkeit ermöglicht also das Verändern bzw. Labilisieren dysfunktionaler Stressmuster. Als dysfunktional werden Reaktionsabfolgen bezeichnet, die ihre Funktion nur unzureichend oder gar nicht erfüllen. Das Ziel des erfolgreichen Umgangs mit Stresssituationen ist, dass die Empfindung von Stress und Belastung verringert wird. Aber auch langfristig sollte der Umgang mit dem Problem so sein, dass er nicht der eigenen Person oder anderen schadet. Man könnte es zum Beispiel als dysfunktional bezeichnen, wenn ein fortbestehender Konflikt in einer Partnerschaft von beiden Partnern ignoriert oder geleugnet wird. Kommt es irgendwann dann zur Eskalation, bringt das oft gegenseitige Verletzungen mit sich, die ein viel größeres Risiko für die Partnerschaft darstellen als der ursprüngliche Konflikt .Ein anderes Beispiel wäre ein unverbesserlicher Choleriker, der sich immer wenn er morgens den Bus verpasst so über alle Maßen ärgert, dass er noch Stunden später schlecht gelaunt ist.

Achtsamkeit leitet seiner Konzeption genommen nach kein „besseres“ oder funktionaleres Verhalten an. Das Primat der Absichtslosigkeit und Nicht-Bewertung sind die Kernstücke der Achtsamkeit. Dennoch ist plausibel und passt zu dem Befund der stressmindernden Wirkung von Achtsamkeitsinterventionen, dass die achtsame Aufmerksamkeitslenkung den Boden bereitet für die Modifikation von Erleben und Verhalten, das sich auf den Umgang mit Stress bezieht.

2.4.6 Emotionsregulation

Immer wieder wird gefordert bei den Untersuchungen zur Achtsamkeit nicht nur kognitive Parameter zu untersuchen (vgl. Heidenreich & Michalak, 2006). Grossman (2006) weist darauf hin, dass Achtsamkeit in eine Reihe nicht nur kognitiver, sondern auch emotionaler, sozialer und ethischer Dimensionen eingebettet ist. Es müssten als Wirkfaktoren daher neben kognitiven auch emotionale, körperliche, spirituelle Effekte in Betracht gezogen werden.

Studien, die speziell die emotionsbezogenen Prozesse in den Blick nehmen, gibt es bisher nur im Bereich der Meditationsforschung. So fand beispielsweise die Arbeitsgruppe um Aftanas & Golocheykin (2005) in Laboruntersuchungen systematische Unterschiede zwischen meditierenden und nicht-meditierenden ProbandInnen, in Bezug auf die Reaktion, die sie auf experimentell induzierte negative Emotionen zeigten. Sie interpretieren diese Befunde vor dem Hintergrund der Ergebnisse anderer Meditationsstudien dahingehend, dass sie schlussfolgern, dass Meditationserfahrene über eine bessere Fertigkeit verfügen, starkes emotionales Arousal zu modulieren.

Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass die Ergebnisse der Meditationsforschung nicht ohne weiteres auf das Achtsamkeitskonstrukt übertragbar sind. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass beide Konzepte - Meditation und Achtsamkeit - unmittelbar miteinander verknüpft sind, und demzufolge auch Achtsamkeit Wirkungen hervorrufen kann, die emotionsregulierende Prozesse anstoßen. Ob die stressmindernde Wirkung von Achtsamkeitsinterventionen unter anderem auf diese zurückzuführen ist, bedarf bis jetzt noch einer empirischen Prüfung.

2.4.7 Entkoppelung der Kognitions-Emotions-Verhaltensverknüpfung

Mit dem Wirkfaktor der Entkoppelung der Kognitions-Emotions-Verhaltensverknüpfung beschäftigt sich eine zunehmende Anzahl von Arbeitsgruppen, die Laboruntersuchungen zum Umgang mit aversiven Situationen untersuchen. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass akzeptanzbasierten Copingstrategien im Gegensatz zu unterdrückungsbasierten einen besseren Umgang ermöglichen (Cioffi & Holloway, 1993; Feldner, Zvolensky, Eifert & Spira, 2003; Hayes, Bissett, et al., 1999; Levitt, Brown, Orsillo & Barlow, 2004; zit. nach Heidenreich & Michalak, 2006). Die akzeptanzbasierten Strategien kommen dabei der „Strategie“ der Achtsamkeit sehr nahe. Sie bedienen sich der Erkenntnis, dass Kognitionen nicht automatisch das Verhalten steuern. Die Entkoppelung dieser (oft automatisierten) Verknüpfung ist ein weiterer Effekt, der spezifisch für Achtsamkeits-interventionen sein könnte.

In der erst vor kurzem abgeschlossenen Untersuchung einer Arbeitsgruppe der National University of Ireland (McMullen, Barnes-Holmes, Barnes-Holmes, Stewart, Luciano, Cochrane, 2008) wurden die ProbandInnen ebenfalls zu einer akzeptanzorientierten Bewältigungsstrategie angehalten. Sie wurden gebeten, den experimentell induzierten Stromschlägen folgendermaßen zu begegnen: Sie sollten die Gedanken und die Gefühle, die dem Stromschlag vorausgehen, lediglich zur Kenntnis nehmen, sich aber klar machen, dass es nur Gedanken und Gefühle sind, die nicht notwendigerweise ihr Verhalten bestimmen müssen. Außerdem führten sie eine Übung durch, die diese Entkoppelung verdeutlichen soll. Sie wiederholen laut den Satz „Ich kann nicht laufen“ während sie im Laborraum auf und ab gehen.

Der akzeptanzorientierten Strategie gegenübergestellt wurde in dieser Untersuchung die Strategie der Ablenkung, in anderen Untersuchungen andere unterdrückungsbasierte Strategien. Die Ablenkungsstrategie beinhaltete, einfach an etwas Schönes zu denken und so die unangenehmen Gedanken beiseite zu schieben. Die Ablenkungsstrategie war im Ergebnis weit weniger hilfreich, um die Stromschläge auszuhalten. Die ProbandInnen, die eine akzeptierende Strategie anwendeten, nahmen signifikant mehr Stromschläge in Kauf, um mit der eigentlichen (angenehmen) Aufgabe fortfahren zu können. Außerdem berichteten sie eine geringere subjektiv empfundene Schmerzstärke.

Die Autoren verweisen in ihren Untersuchungen auf die immense Bedeutung der Fähigkeit, auch unangenehme Zustände aushalten zu können. Sie sei bei chronischen SchmerzpatientInnen zum Beispiel von entscheidender Bedeutung, um einer Tätigkeit nachzugehen und eine selbstständige Lebensführung zu ermöglichen. Nach Hayes und Shenk (1999) führt die beschriebene Entkoppelung von Kognition/Emotion und Verhalten zu einer größeren Flexibilität. Es ist die Erfahrung: Ich kann etwas anderes machen, als es mir meine Gedanken vorschreiben. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der von ihnen entwickelten Therapie, der Acceptance and Commitment Therapy (1999).

Die Stresssituation hier, das In-Kauf-nehmen eines unangenehmen körperlichen Reizes (der Stromschlag), um etwas Angenehmes fortführen zu können, wird also durch ein akzeptierendes Umgehen mit dieser Situation am besten ermöglicht.

Überträgt man diese Ergebnisse auf den Umgang mit Belastungen, würde das bedeuten: Eine „Strategie“ der Achtsamkeit steigert die Toleranz für unangenehme Zustände. Im Grunde genommen handelt es sich genau darum bei Stresssituationen. Es sind Situationen, die psychisch einen unangenehmen Zustand hervorrufen. Gelingt es diesen (meist nicht gleich änderbaren) Zustand zu akzeptieren, dann wird er als weniger belastend erlebt. Ein möglicher Weg, wie dies erreicht werden kann, könnte tatsächlich sein, die (teils automatisierte) Verknüpfung von Kognitionen/Emotionen und Verhalten aufzubrechen. Diese Entkoppelung könnte durchaus ein Effekt sein, der in Achtsamkeitsinterventionen angeregt wird und die belastungsreduzierende Wirkung dieser Interventionen erklärt.

2.4.8 Erweiterung des Handlungsspielraums durch Akzeptanz

Nach Bishop (2002) führt Achtsamkeit zu einer langfristigen Einstellungsänderung. Verändert wird die Einstellung gegenüber dem eigenen Erleben und Verhalten. Ein kontinuierliches Üben in Achtsamkeit (v.a. im Alltag) beinhaltet, dass die eigenen Gedanken- und Gefühlsprozesse aus einer neutralen, wertungsfreien Haltung heraus beobachtet werden. Dies fördert eine Haltung des Nicht-Reagieren-Müssens bzw. des Nicht-Verändern-Müssens. Die verstärkte Aufmerksamkeit verhindert, dass automatisierte Gedanken- und Gefühlsketten angestoßen werden, also automatische, wenig bewusste Reaktionen. Das wäre ein Erleben und Verhalten, das Kabat-Zinn (1990) den „Autopilot-Modus“ nennt und der Achtsamkeit gegenüberstellt. Diese sich durch die Übung in Achtsamkeit entwickelnde Nicht-Reaktivität soll keinesfalls davon abhalten, konkrete Handlungsschritte zu unternehmen. Solche Schritte sind oft Folge dieser Haltung, die sich darauf beschränkt, zunächst genau wahrzunehmen, was passiert.

Gerade dies sei das Potential der Achtsamkeit, so Berking und von Känel (2007). Achtsamkeit biete eine konkrete Handlung an, wenn es im Behandlungsprozess notwendig ist, Akzeptanz zu entwickeln. Von PatientInnen werde Akzeptanz oft abgelehnt, weil sie Akzeptanz als Passivität oder Resignation verstehen und dies zu einem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht führt. Ist ein chronischer Schmerzpatient beispielsweise mit anhaltenden Schmerzen konfrontiert, gehe es zunächst darum, den Ist-Zustand anzunehmen. Bohus und Huppertz (2006) beschreiben es so:

[...]


1 (Pali) anicca, dukkha und anatta

2 (Pali) Satipatthana-Sutta

3 (Original) Paying attention in a particular way: on purpose, in the present moment and nonjudgementally.

4 Mindfulness Attention Awareness Scale, Freiburg Mindfulness Inventory, Kentucky Inventory of Mindfulness Skills, Cognitive and Affective Mindfulness Scale, Mindfulness Questionnaire

5 (Englisch) nonreactive stance toward inner experience

6 (Pali) Satipatthana-Sutta

7 (Pali) Vipassana

8 MBSR: Mindfulness-Based Stress Reduction (vgl. Kap. 2.1.2)

Ende der Leseprobe aus 126 Seiten

Details

Titel
Das buddhistische Konzept Achtsamkeit im Netzwerk der Copingstile
Hochschule
Universität Leipzig
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
126
Katalognummer
V137644
ISBN (eBook)
9783640464036
ISBN (Buch)
9783640461202
Dateigröße
1220 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konzept, Achtsamkeit, Netzwerk, Copingstile
Arbeit zitieren
Franziska Thieme (Autor:in), 2008, Das buddhistische Konzept Achtsamkeit im Netzwerk der Copingstile, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137644

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