Chinatown und chinesische Prostitution im San Francisco des 19. Jahrhunderts

Yan Gelings Roman "Fusang" und seine historischen Hintergründe


Magisterarbeit, 2009

96 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Inhaltliche und sprachliche Analyse des Romans „Fusang“ (“The Lost Daughter of Happiness”)
2.1. Biographie der Autorin Yan Geling
2.2. „Slave Girl in Holiday Attire“ - Die Entstehung des Romans
2.3. Das Leben einer chinesischen Prostituierten - Inhalt des Romans
2.4. Textanalyse des Romans
2.4.1. Die auktoriale Erzählperspektive
2.4.2. Die Ich-Du-Perspektive

3. Hintergründe der Romanhandlung: Chinesische Immigranten in den Vereinigten Staaten von Amerika
3.1. Von Kanton nach Kalifornien: Ursachen chinesischer Emigration
3.1.1. Naturkatastrophen, Epedemien und Aufstände: Ursachen in China
3.1.2. Auf der Suche nach Gold: Ursachen in den USA
3.2. Hoffnung auf Reichtum am Gold Mountain: Chinesische Arbeiter in San Francisco
3.3. Chinatown -Heimat in der Fremde
3.4. Unerwünschte Exoten
3.4.1.Erste antichinesische Bewegungen in Kalifornien
3.4.2. Gewalt gegen die unwillkommenen Gäste
3.4.3. Der Page Act und die Chinese Exclusion Laws

4. „Massenimportgut“ Chinesin - Darstellung von Frauenhandel und Prostitution in Fusang
4.1. Gründe für den Boom chinesischer Prostitution
4.1.1. Prostitution in China
4.1.2. Die Bachelor-Gesellschaft in Chinatown
4.2. Beschaffung und Verkauf chinesischer Frauen
4.2.1. Methoden der Menschenhändler
4.2.2. Das Schiff in die Gefangenschaft
4.2.3. Ankunft auf Angel Island
4.2.4. Verkauft an den Höchstbietenden
4.3. Das Leben der Prostituierten in Chinatown
4.3.1. Lebensumstände im Bordell
4.3.2. Fremde Exotinnen und „ausländische Teufel“
4.3.3. Christliche Missionen gegen chinesische Prostitution
4.4. Fusang - Eine typische chinesische Prostituierte?
4.5. Rückgang chinesischer Prostitution in San Francisco
4.6. Prostitution als Mit-Ursache des negativen Chinesenbilds

5. Fazit

6. Anhang

7. Glossar

8. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

Im Jahr 2001 trat George W. Bush sein Amt als 43. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an. Unter den 15 Ministern und Ministerinnen seines Kabinetts gab es nur eine Frau, die während Bushs gesamter Präsidentschaft im Amt blieb: Arbeitsministerin Elaine Lan Chao.

„Elaine Chao believes deeply in the American dream because she has lived it“, sagte Bush damals über seine Arbeitsministerin.1 Denn Chao war die erste Amerikanerin chinesischer Abstammung, die ein Amt im Kabinett eines US-Präsidenten innehatte. Geboren in Taipeh, emigrierte sie im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie nach Amerika.2 Vierzig Jahre später wurde sie Ministerin in Bushs Kabinett. Eine Tatsache, die in der heutigen Zeit niemanden verwundern dürfte. Schließlich gehört ein Großteil der chinesischstämmigen Amerikaner der Mittelschicht an. Bei vielen Chinesen, die in den USA leben, handelt es sich sogar um qualifizierte Fachkräfte, die für international tätige Unternehmen arbeiten. Oder um chinesische Studenten, die nach ihrer Ausbildung in den USA bleiben.3

Kaum vorstellbar, dass es durchaus eine Zeit gab, in der chinesische Einwanderer in den USA unwillkommen waren und dass Immigranten aus dem Land der Mitte in Amerika mit Diskriminierung, Rassismus und offene Gewalt durch Weiße konfrontiert wurden. Die US-Regierung erließ 1882 sogar ein Gesetz, das Chinesen zur einzigen unerwünschte Nation erklärte und ihnen über 60 Jahre lang die Einreise in die USA verwehrte.4

In dieser Zeit starker antichinesischer Bewegungen spielt Yan Gelings Roman Fusang (The Lost Daughter of Happiness). Yan - selbst chinesische Immigrantin in den USA - schildert darin das Leben einer Frau, die aus China entführt und in ein Bordell in San Franciscos Chinatown verkauft wird. Yans Darstellung Amerikas während des Goldrausches scheint von vielen historischen Ereignissen inspiriert. Die übergreifende Thematik des Romans jedoch ist die Beziehung zwischen Amerikanern und Chinesen zur damaligen Zeit. Am Schicksal der Protagonistin Fusang versucht Yan aufzuzeigen, mit welchen Schwierigkeiten die ersten chinesischen Einwanderer konfrontiert waren.

Ziel dieser Arbeit ist es, Yan Gelings Darstellung von San Franciscos Chinatown und chinesischer Prostitution mit historischen Tatsachen zu vergleichen. Wie sah das Leben erster chinesischer Immigranten in San Francisco aus? Wie entstanden die antichinesischen Bewegungen, die zu einem nationalen Einwanderungsverbot führten? Und inwiefern trug chinesische Prostitution zu dem negativen Chinabild der Amerikaner bei?

Meine Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zu Beginn werde ich den Roman sprachlich und inhaltlich analysieren. Anschließend werde ich Yan Gelings Beschreibung der Lebensumstände chinesischer Immigranten mit historischen Fakten vergleichen. Den größten Teil der Arbeit wird die Darstellung von Frauenhandel und Prostitution in Fusang unter Einbeziehung geschichtlicher Hintergründe einnehmen.

Als Grundlage dienen sowohl die chinesische Ausgabe von Fusang, als auch die englische Übersetzung. Für die Textanalyse arbeite ich mit den Leitfäden von Monika Fludernik und Jochen Vogt. Zudem orientiere ich mich an chinesisch- und englischsprachigen Abhandlungen über den Roman Fusang, Literatur zur Geschichte chinesischer Immigration in Amerika sowie an einigen Zeitungsartikeln aus dem 19. Jahrhundert, die die damalige Einstellung der amerikanischen Bevölkerung widerspiegeln.

Außerdem hatte ich die Möglichkeit die Autorin Yan Geling selbst zu ihrem Roman zu befragen. Durch ihren Ehemann, Lawrence A. Walker, konnte ich Kontakt zu Yan herstellen. Im Anhang befindet sich ein schriftliches Interview mit der Autorin. Die Fragen des Interviews stellte ich auf Walkers Wunsch in deutscher Sprache. Seine ursprüngliche Absicht, Yan Gelings Antworten auf Deutsch zurückzuschicken, änderte er jedoch aufgrund von Zeitmangel.

Die Fußnoten, die auf die verwendete Sekundärliteratur verweisen, werden durch eine ausführliche Bibliographie ergänzt. Bei Angaben zu Textstellen des

Romans Fusang nenne ich zuerst die Seitenzahl der chinesischen Version und anschließend die entsprechende Stelle der englischen Übersetzung. Die chinesischen Ausdrücke, Eigennamen und Ortsbezeichnungen fasse ich in einem Glossar zusammen, das am Ende dieser Arbeit zu finden ist.

2. Inhaltliche und sprachliche Analyse des Romans „Fusang“ (“The Lost Daughter of Happiness”)

Yan Gelings Roman Fusang wurde Anfang des Jahres 1996 in Taiwan, Hongkong und Peking veröffentlicht5 - in traditionellem und modernem Chinesisch. Fusang wurde bisher ins Englische, Französische, Holländische und Portugiesische übersetzt. Yan gilt als eine der wichtigsten, in den USA lebenden Autoren chinesischer Literatur.6 Von Ausnahmen abgesehen schreibt sie überwiegend auf Chinesisch. Den Roman The Banquet Bug zum Beispiel hat Yan direkt auf Englisch verfasst. In einem Interview7 sagte Yan, die schwierigste Erfahrung ihres Lebens sei gewesen, in englischer Sprache zu schreiben. Diese Herausforderung hat sie zwar gemeistert, Fusang jedoch hat sie in ihrer Muttersprache geschrieben, obwohl sie damals bereits in den USA lebte. Nach Yan sei der Roman sprachlich zu komplex gewesen, um ihn direkt in englischer Sprache zu verfassen.

Fusang wurde von United Daily News8 als bester Roman ausgezeichnet und zählte 2002 zu den Top Ten Bestsellern der L.A. Times. 2001, fünf Jahre nach Veröffentlichung der Originalausgabe, erschien Fusang, von Cathy Silber übersetzt, unter dem englischen Titel The Lost Daughter of Happiness.9

Obwohl Fusang in chinesischer Sprache verfasst wurde, kann der Roman laut Feng Pinchia dem Genre Asian American Immigrant Literature zugeordnet werden. In ihrem Aufsatz über Fusang stützt sich Feng auf das LOWINUS Project10, in dem folgende These aufgestellt wurde: „works that are created in the mother tongues of Asian immigrant authors should also be regarded as part of Asian American literature”.11 Fusang kann in zweierlei Hinsicht dem genannten Genre zugeordnet werden. Nicht nur ist der Roman das Werk einer in den USA lebenden chinesischen Autorin. Auch die Protagonistin des Romans ist eine Chinesin, die in die USA entführt wird. Zudem wird die Geschichte dieses Mädchens von einer fiktiven Ich-Erzählerin geschildert, die sich ebenfalls als Chinese American immigrant bezeichnet. Im Mittelpunkt des Romans steht also die Erfahrung chinesischer Immigranten in den USA - verfasst von einer Vertreterin dieser Gruppe. Fang Xiuzhen ordnet Fusang der Gattung des modernen historischen Romans über chinesische Immigranten zu: „成长于这种文 化背景之下的海外华人作家严歌苓也进入了这一写作领域,长篇小说《扶桑》就是一 篇极其典型的新历史主义小说。“12

2.1. Biographie der Autorin Yan Geling

Yan Geling wurde am 19. Dezember 1958 als Tochter des Schriftstellers Xiao Ma und der Schauspielerin Jia Ling in Shanghai geboren.13 Im Alter von zwölf Jahren ging Geling nach Chengdu und trat dort dem Tanzensemble der Volksbefreiungsarmee (VBA) bei.14 Einige Zeit später wurde Yan zur Kriegskorrespondentin der VBA befördert. Als Berichterstatterin für chinesisch-vietnamesische Grenzkonflikte entdeckte sie 1979 ihr Schreibtalent, dass sie wahrscheinlich von ihrem Vater und Großvater geerbt hatte, die ebenfalls Schriftsteller waren.15 Ihre Artikel wurden ab 1981 veröffentlicht - in der Zeitung der Militärregion. 1986 wurde Yan Geling Mitglied der Chinese Writer Association.16

Yans erster Roman Lü xue (Grünes Blut) wurde 1986 veröffentlicht. Bevor Geling China 1989 verließ, erschienen zwei weitere ihrer Werke: Yi ge nü bing di qiao qiao hua (Das Geflüster einer Soldatin) 1987 und Cixing de caodi (Graslandschaften der Frauen) 1989.17 Keiner dieser drei Romane wurde bisher ins Deutsche oder Englische übersetzt. 1989 nahm Yan Geling an einem master’s program der Peking Universität teil. Obwohl Yan nie dort studiert hat, wurde ihr - gemeinsam mit anderen jungen Autoren - ein Ehren-Bachelor-Abschluss der Wuhan Universität verliehen.18 Nach dem Tiananmen-Massaker verließ sie China und emigrierte in die Vereinigten Staaten von Amerika. In den USA studierte Yan am Columbia College in Chicago. Sie schloss das Studium mit einem Master in Fine Arts in Fiction Writing ab.19 Im September 1992 heiratete Yan den US-Diplomaten Lawrence A. Walker.20

Yan Geling hat über 20 Bücher veröffentlicht, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Außerdem wurden einige ihrer Werke verfilmt. Ihre bedeutendsten Romane sind The Banquet Bug - direkt in englischer Sprache verfasst - und Fusang (The Lost Daughter of Happiness). Yans Kurzgeschichtensammlung Bai she (White Snake and Other Stories) zählt ebenfalls zu ihren bekannten Büchern. Drei Geschichten aus diesem Band wurden verfilmt. Tian Yu (Celestial Bath) zum Beispiel war die Basis von Xiu Xiu - The Sent Down Girl, ein Film der Regisseurin Joan Chen. Aktuelle Romane Yan Gelings sind Dijiu ge guafu (The Ninth Widow) und Yi ge nüren de shishi (A Woman's Epic).21

2.2. „Slave Girl in Holiday Attire“ - Die Entstehung des Romans

Die Idee, Fusang zu schreiben, bekam Yan Geling, als sie in der California Historical Society in San Francisco ein Bild des deutschen Fotografen Arnold Genthe sah, auf dem ein chinesisches Mädchen abgebildet war. Diese Fotografie mit dem Titel „Slave Girl in Holiday Attire“ - Motiv der gebundenen US-Ausgabe des Romans - zeigt eine Chinesin, die mit gesenktem Kopf an einer Straßenecke steht. Das Foto erweckte sofort Yans Interesse und sie nahm sich vor, die Geschichte hinter dem Bild herauszufinden.22 Drei Jahre lang forschte sie über die ersten chinesischen Einwanderer San Franciscos und begann das Ausmaß der damaligen Diskriminierung ihrer Landsleute nachzuvollziehen. Von diesem Hintergrund aus, einer Zeit, die von Vorurteilen und Hass Chinesen gegenüber geprägt war, beschloss Yan, einen Roman über eine fiktive chinesische Prostituierte zu schreiben.

In einem Geschichtsbuch las Yan über amerikanische Jungen, die ihr Taschengeld dazu nutzten, chinesische Bordelle aufzusuchen, da diese viel billiger waren als andere. Sogar Jungen im Alter von acht Jahren sollen sich bei chinesischen Prostituierten mit Geschlechtskrankheiten angesteckt haben, was Yan Geling sehr schockierte. Sie überlegte, wie wohl das erste Mal - sowohl für eine Prostituierte als auch für den Kunden - gewesen sein musste.23 So wurde Yan zu der Haupthandlung ihres Romans inspiriert, der Liebesgeschichte zwischen der erwachsenen Prostituierten Fusang und dem anfangs zwölfjährigen Amerikaner Chris. Obwohl lange Zeit kein körperlicher Kontakt zwischen den beiden stattfindet, bedeuten Chris Besuche bei Fusang für ihn erste sexuelle Fantasien. Und für Fusang ist Chris der erste Freier.

2.3. Das Leben einer chinesischen Prostituierten - Inhalt des Romans

Als Baby wird die Titelfigur Fusang einem achtjährigen Jungen aus Kanton versprochen, der kurz danach auf der Suche nach Gold nach Kalifornien aufbricht. Im Alter von 14 Jahren heiratet Fusang ihren noch immer abwesenden Verlobten, um von nun an ihren Schwiegereltern als billige Arbeitskraft zu dienen. Einige Jahre später folgt Fusang einem Mädchenhändler auf ein Schiff nach Amerika. Der Mann gibt vor, nach China geschickt geworden zu sein, um Fusang zu ihren Ehemann zu bringen, weshalb sie freiwillig mit ihm geht. In San Francisco angekommen wird Fusang in die Prostitution verkauft.

Obwohl Fusang in den verschiedenen Bordellen unter erniedrigenden Umständen lebt, wirkt sie stets zufrieden, um nicht zu sagen sorglos. Sie nimmt Schläge und Demütigungen hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Auch die einer Fleischbeschau ähnelnden Auktionen, bei denen sie wie Vieh begutachtet wird, kümmern sie nicht. Fusang ist unergründlich, zeigt niemals Wut, Trauer oder Scham. Selbst ihren Körper verkauft sie ohne Hemmungen. Sie fügt sich ihren Freiern und scheint bisweilen sogar Gefallen an Sex zu finden.

Zu Beginn des Romans trifft Fusang auf ihren ersten „John“ - so werden weiße Kunden chinesischer Prostituierten genannt - den zwölfjährigen Chris, Sohn einer deutschstämmigen Familie in San Francisco. Fusang ist zu diesem Zeitpunkt 20, also acht Jahre älter als Chris. Anfangs nur heimlicher Beobachter wagt sich der Junge eines Tages ins Bordell, um Fusang kennen zu lernen. Es findet allerdings kein körperlicher Kontakt zwischen den beiden statt, da Chris nicht den Mut dazu aufbringt. Nur Fusangs Füße berührt er kurz, bevor er das Bordell fluchtartig verlässt. Nach diesem ersten Treffen besucht er Fusang regelmäßig, nur um Zeit mit ihr verbringen zu können. Er verliebt sich in sie, träumt sogar davon, sie eines Tages zu heiraten, obwohl Ehen zwischen Weißen und Chinesen in Kalifornien verboten sind. Chris malt sich in seiner Fantasie aus, Fusang aus dem Bordell zu retten. Während er in chinesischen Frauen wehrlose Opfer sieht, beginnt er zunehmend, asiatische Männer zu verachten. Seine Abneigung gegen Chinesen wird von den meisten Weißen in San Francisco geteilt.

Als Fusang an Tuberkulose erkrankt, wird sie in eine Art Krankenhaus verfrachtet, das jedoch eher als Sterbelager für chinesische Prostituierte dient. Durch Chris’ Hilfe wird Fusang von christlichen Missionarinnen vom Totenbett gerettet. Fusang wird in die Mission gebracht, wo Chris sie wöchentlich besucht. Er ist inzwischen 14 Jahre alt. Doch er sieht in Fusang nicht mehr die exotische Schönheit, die ihn einst so faszinierte, sondern eine ihm fremde Frau in einem sterilen weißen Raum, eingehüllt in sackartige Missionskleidung.

Erst als Fusang eines Tages in einer roten Bluse vor ihm steht, wird seine Leidenschaft für sie erneut entfacht. In dem Moment wird Chris klar, dass sich seine Beziehung zu Fusang verändert hat. Er ist nun bereit zu körperlichem Kontakt mit ihr, doch bevor es dazu kommen kann, betritt eine Missionarin das Zimmer. Empört darüber, dass eine chinesische Prostituierte ein Kind verführen will, verbietet sie den beiden jeglichen Kontakt. Als Chris daraufhin aufhört, Fusang zu besuchen, wird ihr bewusst, dass Chris nicht nur ein „John“ für sie war. Sie beginnt sich danach zu sehnen, dass Chris erwachsen wird und sie mit ihm zusammen sein kann.

Fusang bleibt nicht sehr lange in der christlichen Mission. Der chinesische Gangster Da Yong - bevor er seinen Namen änderte war er bekannt als Ah Ding - findet einen Weg, Fusang aus der Mission zu holen. Seine und Fusangs Wege haben sich bereits des Öfteren gekreuzt. Zuletzt hatte er beobachtet, dass die Missionsfrauen Fusang aus dem Krankenhaus retteten. Da Yong beschuldigt Fusang, ihn bestohlen zu haben. Er behauptet, dass nach chinesischem Brauch ein Dieb demjenigen gehört, den er bestohlen hat. Er fordert die Missionarinnen auf, Fusang an ihn frei zu geben. Als Fusang den angeblichen Diebstahl gesteht, muss Chris hilflos mit ansehen, wie sie Da Yong freiwillig folgt.

Da Yong bringt Fusang in einem seiner Häuser unter. Obwohl er sie als sein Eigentum betrachtet, genießt Fusang bei Da Yong einige Freiheiten. So darf sie kommen und gehen, wann sie will, kann ihre freie Zeit in Teehäusern und in Geschäften Chinatowns verbringen. Sie wird zu einer der begehrtesten Prostituierten San Franciscos, vor deren Tür die Freier Schlange stehen. Obwohl sein Vater es ihm verboten hat, versucht Chris, Fusang wieder zu sehen. Nach einer Nacht in Chinatowns Opiumhöhlen und Spielhöllen, schläft er betrunken vor Da Yongs Bordell ein. Am nächsten Tag findet Fusang den schlafenden Chris vor der Tür und versteckt ihn in ihrem Zimmer. Zum ersten Mal kommt es zu sexuellem Kontakt zwischen Fusang und Chris. Chris kann sich gerade noch vor Da Yong verstecken, als dieser unerwartet ins Zimmer kommt. Chris versucht Fusang zu überreden, ihren Zuhälter während der Rasur mit dem Rasiermesser zu töten. Doch der Zuhälter bemerkt Chris’ Anwesenheit. Er zeigt keine Angst, lässt sich sogar weiter von Fusang rasieren. Da Yong spottet über die Pläne des Jungen, mit Fusang zu fliehen, um sie zu heiraten. Als Fusang keinerlei Anstalten macht, ihm zu folgen, verlässt Chris das Bordell.

Chris’ Hass auf chinesische Männer ist nun stärker denn je. Er beteiligt sich an einem zerstörerischen Feldzug weißer Männer durch Chinatown, der in einer Massenvergewaltigung Fusangs endet. Die Prostituierte wehrt sich nicht gegen die weißen Männer. Sie schreit nicht einmal, sondern lässt alles teilnahmslos über sich ergehen. Sie weiß, dass Chris einer der Täter war, was jedoch nichts an ihrer Liebe zu ihm ändert.

Als Da Yong zurückkommt und sieht, was Fusang angetan wurde, beschließt er, sie zu töten. Schließlich sieht er aber ein, dass diese Art Rettung einer Frau - für ihn ein Akt der Liebe - nur deren Ehemann zusteht. Er beschließt Fusang frei zu geben und an den ersten Mann, an dessen Namen sie sich erinnern kann, zu verheiraten. Fusang scheint jedoch den Namen keines einzigen Mannes zu kennen. Sie wartet auf Chris, obwohl dieser inzwischen nicht mehr in San Francisco lebt. Sein Vater hat ihn auf eine Schule nach London geschickt.

Zwei Jahre später kommt Chris als 17-jähriger zurück nach San Francisco. Er kann sich die Vergewaltigung Fusangs nicht verzeihen und beschließt deshalb, sie nie wieder zu sehen. Er beginnt an einer von der Mission gegründeten Schule für Chinesen zu unterrichten. Doch als Chris Fusang zufällig in einem Teehaus sieht, kann er seine Gefühle für sie nicht unterdrücken. Er kann ihr einfach nicht fernbleiben. Die beiden treffen sich danach täglich in dem Hinterzimmer des Teehauses. Und obwohl Chris anfangs versucht, in Fusang nur die Prostituierte zu sehen, gesteht er ihr schließlich seine Liebe und macht ihr sogar einen Heiratsantrag.

Am Ende des Romans heiratet Fusang jedoch Da Yong, der wegen Mordes an einem weißen Geschäftsmann zum Tode verurteilt wurde. Fusang hatte schon lange geahnt, wer Da Yong in Wirklichkeit war: Der Mann, dem sie bereits als Baby versprochen worden war. Als er ihr einen silbernen Armreif schenkt, weiß sie, dass Da Yong tatsächlich ihr Ehemann ist und sie beschließt, ihn vor seiner Hinrichtung zu heiraten. Durch die Eheschließung versucht Da Yong, Fusang letztendlich doch noch aus der Prostitution zu retten.

Chris erfährt aus der Zeitung, was Fusang getan hat. Er beginnt zu begreifen, dass er Fusang niemals wirklich verstanden hat. Er heiratet und wird Professor für chinesische Geschichte. Chris und Fusang laufen sich während ihres Lebens noch einige Male über den Weg, scheinen sich jedoch nicht zu erkennen.

Neben der primären Handlung, Fusangs Geschichte, gibt es noch eine zweite Ebene, eine zweite Protagonistin. Diese Frau lebt etwa 120 Jahre später als Fusang, also gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine namenlose chinesische Schriftstellerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Fusangs Geschichte zu erzählen, nachdem sie ausgiebig über diese recherchiert hat. Sie stützt sich bei ihrer Schilderung Fusangs auf 160 geschichtliche Dokumente, die sie über die Prostituierte gelesen hat. Die Schriftstellerin ist, wie die Protagonistin ihres Projektes, eine chinesische Immigrantin, die in den USA lebt. Sie kommentiert Ereignisse in Fusangs Leben, indem sie diese mit eigenen Erfahrungen vergleicht. So erklärt die Schriftstellerin zum Beispiel Fusangs Verständigungsprobleme mit Chris, indem sie ähnliche Situationen zwischen sich selbst und ihrem weißen Ehemann beschreibt. Anzeichen von Diskriminierung chinesischer Einwanderer zu Zeiten Fusangs vergleicht die Schriftstellerin mit Vorurteilen rassistischer Gruppen der Gegenwart.

2.4. Textanalyse des Romans

Fusang ist nicht in Kapitel unterteilt, sondern in zwei Ebenen unterschiedlicher Erzählperspektiven, die sich abwechseln. Während die Haupthandlung in auktorialer Erzählperspektive verfasst ist, wird die Rahmenhandlung von einer fiktiven Ich-Erzählerin - der chinesischen Schriftstellerin - geschildert. Die Ich-Erzählung ist erzähltheoretisch besonders interessant, da es sich dabei um eine Ich-Du-Erzählung handelt - eine Art Dialog zwischen der Erzählerin und ihrer Protagonistin Fusang. Diese Form von Ich-Du-Erzählung hatte Yan Geling ursprünglich nicht geplant. Schließlich waren es jedoch gerade die Dialoge zwischen der fiktiven Ich-Erzählerin und Fusang, die Yan dabei halfen, mit dem Schreiben ihres Romans zu beginnen.24 Obwohl diese Form der Erzählung, eine Mischung aus erster und zweiter Person, nur etwa ein Drittel von Fusang ausmacht, wird sie von Kritikern des Romans sehr ausführlich analysiert.

Tan Chunqiong zum Beispiel ist der Ansicht, dass der Roman rein aus auktorialer Perspektive verfasst, nicht dieselbe Wirkung auf den Leser gehabt hätte. Ein allwissender Erzähler hätte zwar die Handlung kommentieren, nicht aber wirklich daran teilnehmen können. Durch die Ich-Du-Form könne sich die Erzählerin jedoch nicht nur mit dem Leser, sondern auch mit der Protagonistin austauschen und bleibe dadurch fortlaufend präsent. Gerade die ineinander greifende, komplexe Struktur aus erster, zweiter und dritter Person, mache den Roman so interessant.25 Auch für Yao Xiaonan26 ist es der Wechsel der verschiedenen Erzählperspektiven, der das Besondere an Fusang ausmacht. Die nicht an der Geschichte teilnehmende auktoriale Erzählerin könne allwissend das Innenleben der Charaktere schildern, während die Ich-Erzählerin nur ein eingeschränktes Wissen habe, dafür aber an der Handlung teilnehme.27

Nachfolgend werde ich auf die beiden Erzählperspektiven eingehen und sie an Textbeispielen verdeutlichen.

2.4.1. Die auktoriale Erzählperspektive

Die Geschichte Fusangs wird dem Leser von der auktorialen Erzählerin übermittelt. Sie ist mit der Erzählerin der Ich-Perspektive identisch: Eine chinesische Schriftstellerin, die ein Buch über Fusangs Leben schreibt. Als auktoriale Erzählerin ist sie jedoch nicht selbst Teil der Geschichte, sondern schildert diese allwissend von außen. Die Gefühle und Handlungen der Figuren beschreibt sie in der dritten Person.

Auf den Leser wirkt die auktoriale Erzählerin oft mit der Autorin identisch. Diese scheinbare Verschmelzung lässt sich dadurch erklären, dass die fiktive Schriftstellerin zu Beginn des Romans - in der Ich-Perspektive - ihr Projekt vorstellt: Die Schilderung von Fusangs Leben. Nach Monika Fludernik ist es typisch für die auktoriale Erzählsituation, dass „der Erzähler sich als Autor geriert“.28 Als auktoriale Erzählerin nimmt die Schriftstellerin zwar nicht an der Handlung teil, hat aber aufgrund der Ich-Erzählperspektive eine klar definierte Identität. Eine Identität, die viele Parallelen zur Autorin Yan Geling aufweist, worauf ich in Kapitel 2.4.2. eingehen werde.

Die auktoriale Erzählung nimmt den größeren Teil des Romans ein. Sie beginnt - nach der ersten Ich-Du-Erzählung - mit einer Szene in Fusangs Zimmer im Bordell. Die Prostituierte wartet seit über einem Monat auf einen Freier. Als der zwölfjährige Chris erscheint, ist Fusang zunächst überrascht, lässt es sich ihm gegenüber allerdings nicht anmerken.

扶桑不知这男童许多次藏在树影和墙影中看她。他没有见过比她更奇异的东西。[…] 在扶桑眼里,他只是一个男性儿童,和阿白的那些小嫖客没大区别的小白鬼。她

还是打定主意好好侍候他。[…] 克里斯朵夫,我的名字。叫我克里斯吧。他把嗓

音压得低而粗壮,做成绝非生手的样子。扶桑半蹲一下,说:我名字叫扶桑。他 早已问出了她的名字。

She didn’t know that countless times this boy had hidden in the shadows of walls and trees to watch her. She was the strangest thing he’d ever seen. […] As far as Fusang was concerned, he was just a boy, another little white devil not much different from Doughface’s johns. Still, she made up her mind to give him good service. […] My name is Christopher. Call me Chris. He forced his voice to sound rough and low to make himself seem an old hand at this. Fusang said with a curtsy, My name is Fusang. He had found out her name a long time ago.29

Dieses Textbeispiel verdeutlicht, wie schwer Erzählerbericht und Figurenrede zu differenzieren sind, da die direkte Rede nicht durch Satzzeichen markiert wird. Während die Personenrede in der chinesischen Ausgabe manchmal durch einen Doppelpunkt markiert ist, ist die Figurenrede in der englischen Version durch Großbuchstaben nach dem Komma erkennbar. Meist jedoch lassen sich Erzählerbericht und Figurenrede nur aus dem Zusammenhang unterscheiden.

Schon die erste Begegnung zwischen Chris und Fusang zeigt, dass es sich nicht um eine personale Erzählung mit Fusang als Reflektorfigur, sondern um eine auktoriale Erzählung handelt. Der Leser erfährt sowohl die Gedanken von Chris, als auch die Fusangs. Dies ist ein typisches Merkmal der auktorialen Perspektive. Der Erzähler kann in das Bewusstsein seiner Figuren blicken und schildert diese allwissend. Er „schwebt quasi über den Dingen und blickt kundig auf sie herab“.30

Ein weiteres Beispiel für den Einblick des Erzählers in die Gefühle mehrerer Figuren kann an folgender Szene verdeutlicht werden. Nachdem Fusang Chris in ihrem Bad versteckt hat, betritt Da Yong ihr Zimmer. Einen Moment lang spielt Chris mit dem Gedanken, den Zuhälter mit einer Rasierklinge zu töten:

心事很重他看着她。他对她没有妒嫉。[…] 然而他的心事却拂不去。[…] 不知是 什么让她藏起那少年。[…] 克里斯后悔他錯过了拿刀的机会。

Something was weighing on him. He wasn’t jealous. […] But he couldn’t flick the weight of his mind […] She didn’t know what had possessed her to hide the boy. […] Chris wished he’d grabbed the razor when he’d had the chance.31

Da Yong fühlt, dass ihn etwas belastet. Fusang überlegt, warum sie Chris versteckt hat. Und Chris wünscht sich, er hätte selbst nach dem Rasierer gegriffen. Die Gedanken aller drei in der Szene agierenden Personen werden geschildert. Die auktoriale Erzählerin hat nicht nur Einblick in die Gedanken ihrer Figuren, sondern organisiert außerdem „die Zeit-, Ort- und Figurenabfolge“.32 So ist es ihr möglich, Handlungen verschiedener Charaktere zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten zu schildern. Außerdem weicht die Erzählerin des Öfteren von der Chronologie der Geschichte ab und „der Erzählerbericht wendet sich früheren oder späteren Ereignissen zu“.33 Ort und Zeit der primären Handlung ist San Francisco circa 1870, doch Anachronien34 führen den Leser sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft einiger Figuren. Die Ordnung des Geschehens und die Ordnung der Erzählung treten auseinander, was möglich ist, weil ein auktorialer Erzähler nicht an das Hier und Jetzt des Geschehens gebunden ist.35

So werden einige Szenen aus der Sicht des älteren Chris geschildert: „克里斯 在几年后会真正懂扶桑这个笑” (A few years later Chris would come to understand that smile).36 Oder: „多年后,大约是在十四岁左右,克里斯有天想到 他走出扶桑和大勇那幢楼的感觉“ (One day many years later, around the time he was forty, Chris remembered how he felt when he left Fusang and Da Yong’s house that day).37 Diese Prolepsen38 veranschaulichen die Allwissenheit des Erzählers umso mehr, da er sogar die Zukunft seiner Charaktere kennt. Auch frühere Ereignisse im Leben der Figuren werden nachträglich eingeschoben. So erfährt der Leser zum Beispiel erst ab Seite 3539 von Fusangs Kindheit und Jugend und dass sie als junges Mädchen nach Amerika entführt wurde.

Während es sich hier um eine Analepse40 handelt, die durch „从前“ in der chinesischen, und „once upon a time“ in der englischen Ausgabe markiert wird, gibt es Rückwendungen, die sich nur aus dem Zusammenhang erschließen lassen können. Zum Beispiel wird bei der Beschreibung von Da Yongs Vergangenheit erst nach mehreren Sätzen klar, dass es sich um frühere Ereignisse seines Lebens handelt.41

In den auktorial erzählten Textstellen ist die Er-Sie-Form vorherrschend. Das Leben der Figuren wird in der dritten Person beschrieben, meist in berichtender Weise. Dennoch gibt es Abschnitte, in denen die Erzählerin die zweite Person nutzt. Wie in folgendem Textbeispiel, dass die Masseneinwanderung chinesischer Arbeiter in die USA beschreibt:

你挡住他右边的路,他便从你左边通过,你把路全挡完,他便低下头,耐心温和 地等待你走开。

If you blocked their way in the right, they would pass on your left, and if you blocked their way entirely, they would bow their heads and patiently wait for you to get out of the way.42

Im Gegensatz zur Ich-Du-Erzählung, bezieht sich die Anrede „Du“ hier nicht auf Fusang, sondern ist an den Leser gerichtet. An denjenigen, dem die Geschichte übermittelt werden soll. Auch dies ist ein Merkmal auktorialen Erzählens: Kommentare, Wertungen und die Ansprache an den Leser.43 Obwohl die Vermittlerin der Geschichte dem Leser nicht als Person sichtbar wird, bekommt dieser einen Eindruck ihrer Gefühle und Gedanken. Sie tauscht sich direkt mit dem Leser aus und teilt ihm dabei auf zynische Art ihre eigene Meinung zum Thema chinesische Einwanderung und Diskriminierung mit. Solche Kommentare finden sich ansonsten hauptsächlich in dem Teil des Romans, der in der Ich-Du-Perspektive verfasst ist.

2.4.2. Die Ich-Du-Perspektive

Etwa ein Drittel des Romans ist in der Ich-Erzählperspektive verfasst, genauer gesagt in einer Erzählperspektive der ersten und zweiten Person. Aufgrund der Verwendung des Pronomens „du“, ist dieser Teil des Romans keine reine Ich-Erzählung, sondern eine Ich-Du-Erzählung. Auf die genauen Merkmale dieser Erzählform werde ich später näher eingehen.

Aus ihrer Welt blickt die fiktive Schriftstellerin auf ihre Hauptfigur Fusang, deren Geschichte sie erzählt. Laut Vogt kann man bei Ich-Erzählungen zwischen einem erzählenden und einem erlebenden Ich unterscheiden: „Ein Ich, das einst gewisse Ereignisse erlebte, und ein anderes, das sie nach mehr oder weniger langer Zeit erzählt“.44 Die Erzählerin ist nicht nur erzählendes Ich ihrer eigenen Erlebnisse, sondern schildert außerdem die Geschichte ihres literarischen Projekts. Dabei benutzt sie nicht die dritte Person, sondern spricht ihre Protagonistin mit „du“ an, liest deren Gedanken oder versucht ihr verschiedene Geschehnisse zu erklären. Dabei bewegt sie sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen persönlichen Erlebnissen und historischen Tatsachen. Zu Beginn des Romans stellt die Ich-Erzählerin ihre Hauptfigur vor.

这就是你。这个款款从喃呢的竹床上站起,穿腥红大缎的就是你了。缎袄上有十斤

重的绣, 绣得最密的部位坚硬冰冷,如铮铮盔甲。我这个距你一百二十年的后人对

如此绣工只能发出毫无见识的惊识。[…] 你始终不同于拍卖场上的所有女子。首 先,你活过了二十岁。这是个奇迹,你这类女子几乎找不出活过二十岁的。我找 遍这一百六十本书,你是唯一活到相当寿数的。[…] 我已经基本上清楚你的身世。 你是个二十岁的妓女,是陆续漂洋过海的三千中国妓女中的一个。

This is who you are. The one dressed in red, slowly rising from the creaking bamboo bed, is you. The embroidery on your satin padded jacket must weigh ten catties; the parts stitched most densely are as hard as ice, or armor. From a distance of one hundred and twenty years, I am amazed by the needlework, so thoroughly beyond me. […] You’re nothing like the other girls on auction. First of all, you lived past twenty. This is a miracle. I looked through all one hundred and sixty of those books and you were the only one to live so long […] I know who you were: a twenty-year-old prostitute, one of a succession of three thousand prostitutes from China.45

Sowohl in der chinesischen als auch in der englischen Ausgabe im Präsens verfasst, wirken die Passagen in der Ich-Du-Erzählperspektive wie gerade stattfindende Dialoge zwischen der Schriftstellerin Fusang. Einseitige Dialoge, da Fusang nicht mit Worten antwortet, sondern höchstens mit Blicken, die die Ich-Erzählerin zu deuten versucht - als wissend, ängstlich, glücklich oder überrascht. Zum Beispiel sagt die Ich-Erzählerin, nachdem sie Fusang eine Weile lang nicht in der zweiten Person angesprochen hat: „你像挺吃惊似的。是的,我们 是有一陈子没见面了“ (You seem surprised. Yes, it’s been a while since we’ve seen each other).46

Durch die Dialoge der Ich-Erzählerin mit Fusang bekommt der Leser bereits zu Beginn des Romans Informationen über die fiktive Schriftstellerin:

这时你看着二十世纪未的我。我这个写书匠。[…] 有人把我们叫作第五代中国移 民。你想我为什么单单挑出你来写。你并不知道你被洋人史学家们记载下来,记 载入一百六十部无人问津的圣弗郎西斯科华人的史书中,是作为最美丽的一个中 国妓女被记载的。

Now look at me, a writer here in the late twentieth century. […] Some call us fifth wave Chinese immigrants. You’re wondering why I singled you out. You don’t know that foreign historians wrote about you in those one hundred and sixty histories of the Chinese in San Francisco that no one else has bothered to read.47

Derart persönliche Kommentare verleiten auf den ersten Blick dazu, die fiktive Erzählerin mit der Autorin Yan Geling gleichzusetzen. Beide Frauen sind chinesische Schriftstellerinnen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den USA leben, verheiratet mit einem Amerikaner. Beide Frauen wuchsen zur Zeit der Kulturrevolution in China auf. Auch die ausgiebige Recherche, die die Ich-Erzählerin wiederholt erwähnt - 160 geschichtliche Werke hat sie über San Franciscos Chinatown im 19. Jahrhundert gelesen - wurde sowohl von ihr als auch von Yan Geling selbst betrieben. Obwohl Yan nach eigener Aussage eher 16 als 160 Bücher zum Thema gelesen hat.48

Durch Sätze wie “你等一等,让我从这些史书里找出个简洁的形容。” (Wait a minute while I find a description of him in this pile of histories)49 oder “趁你昏迷 这会儿,让我再细读一遍这场以你为名目的杀戮。” (Let me take this opportunity while you are unconscious to reread another passage about the battle over you)50 kann der Leser der Ich-Erzählerin beinahe bei ihren Nachforschungen über die Schulter blicken. Wie gesagt handelt es sich bei Fusang um eine Ich-Du-Erzählung. Erzählungen in der zweiten Person bezeichnet Monika Fludernik als die unnatürlichste aller Erzählformen, „since real-world speakers would not usually narrate to the current addressee their own experiences in the present or in the past”.51 Doch Yan Geling wählte die Du-Form nicht aus stilistischen Gründen, sondern weil sie nur durch den Dialog mit der Protagonistin mit ihrem Roman beginnen konnte.52 Fludernik definiert die Du-Erzählung folgendermaßen:

In der Du-Erzählung referiert ein Pronomen der zweiten Person, das heißt ein Anrede-Pronomen, auf den Protagonisten. Der Erzähler erzählt die Geschichte des Adressaten und kann sowohl in personalisierter, ja sogar teils in homodiegetischer Funktion vorkommen, nämlich insofern, als er mit dem Adressaten eine gemeinsame Vergangenheit teilt: es handelt sich dann eigentlich um eine Ich-Du-Erzählung, die naturgemäß auch das Pronomen der inklusiven ersten Person Plural verwendet (wir).53

Dass Fluderniks Definition - gemeinsame Vergangenheit bzw. Erfahrungen zwischen Erzähler und Adressat - auf Fusang zutrifft, zeigen folgende Beispiele:

你们生存了下来, 我们要生存下去。我们走下飞机走过移民局官员找茬子的刻薄 面孔,我们像你们一样茫然四顾。[…] 我们本性不改地埋头苦干[…] 仍是孤独, 像第一个踏上美国海岸的中国人一样孤独。

You survived in your day and we are going to survive in mine. When we walk off the plane, past the mean, critical faces of Customs and Immigration, we are as bewildered as you. […] We haven’t changed much. […] We’re still isolated, as isolated as the first Chinese to set foot on American soil.54

就像我们这批人涌出机场闸口,引得人们突然向我们忧心忡忡地注目一样,警觉 和敌意在这一瞬穿透了一百多年的历史,回到我们双方的内心。

The same thing happens when we come pouring out the airport gates and people suddenly stare at us so anxiously. Suspicion on both sides elides a hundred years of history and the past shoots right back to us.55

Obwohl die Ich-Erzählerin etwa 120 Jahre später lebt als Fusang und die beiden Frauen deshalb keine gemeinsame Vergangenheit haben, teilen sie die Erfahrung, chinesische Immigrantinnen in den USA zu sein. Die beiden Textstellen verdeutlichen, dass sich nach Ansicht der Ich-Erzählerin in den 120 Jahren nicht viel getan hat. Chinesen in Amerika seien noch immer isoliert. Das Ausmaß dieser Isolierung und Diskriminierung zu Fusangs Zeiten wird im Kapitel

3.4. dieser Arbeit erörtert.

Nach Sally E. McWilliams zeigt sich in der persönlichen Geschichte der fiktiven Schriftstellerin eine Art “fifth generation cynicism and loss of direction in the urban landscape of contemporary multicultural America”.56 Tatsächlich äußert die Ich-Erzählerin ihre Meinung über die Isolierung chinesischer Immigranten in zahlreichen zynischen Kommentaren. Vorurteile Ausländern gegenüber seien noch im gleichen Maße vorhanden wie zu Fusangs Zeiten.57 Yan Geling teilt viele Gefühle ihrer Ich-Erzählerin, „such as alienation and displacement”.58 Aber im Gegensatz zu ihrer fiktiven Erzählerin zeigt sich Yan Geling nicht resigniert über die Situation in Amerika lebender Chinesen. Die Autorin wurde während eines Fernsehauftritts von einer Zuschauerin gefragt, ob sie sich in den USA manchmal isoliert und fremd fühle. Yan bejahte dies zwar, fügte aber hinzu, dass sie diese Entfremdung nicht als negativ betrachte. Sondern als etwas, das ihr die nötige Distanz und eine klare Sicht auf einige Dinge gebe.59 Obwohl es viele Gemeinsamkeiten zwischen Yan und der Ich-Erzählerin gibt, finden sich also trotzdem unterschiedliche Denkweisen zwischen den beiden.

Nicht nur zwischen Yan Geling und der fiktiven Schriftstellerin gibt es Parallelen, sondern auch zwischen Ich-Erzählerin und Fusang. „The close affinity between the narrator and the protagonist bridges the time difference - more than 128 years in total - between the two women”.60 Diese von Feng angesprochene Affinität der beiden Frauen bezieht sich vor allem auf ihre ähnlichen Erfahrungen als Immigrantinnen in den USA. So hat die Ich-Erzählerin zum Beispiel mit ihrem amerikanischen Ehemann ähnliche Verständigungsprobleme wie Fusang mit Chris:

我记不清有多少个瞬间我和丈夫深陷的灰眼睛相遇,我们战栗了,对于彼此差异 的迷恋,以及对于彼此企图懂得的渴望使我俩无论多亲密无间相处不作数了,战 栗中我们陷在陌生和新险中,陷在一种感觉的僵局中。

You and Chris are standing here [...] I don’t know how many times my husband and I have trembled when my eyes met the gray depths of his - in the infatuation born of our differences, in our desire to understand each other, it stops mattering how close we are; trembling, we become strangers to each other.61

[...]


1 Marquis; New York Times: 12. Januar 2001.

2 Siehe Marquis; New York Times: 12. Januar 2001.

3 Siehe Liu 2006: S.13

4 Siehe Wang 2001: S.4

5 Siehe Yan 2003: S. 245

6 Siehe Jin (2006: S.570); Shu (2002: S.17)

7 Liu; China Central Television, 22.05.2005

8 Eine der drei größten in Taiwan veröffentlichten Zeitungen

9 Siehe Yan Gelings Website: http://www.redroom.com/author/geling-yan

10 Abkürzung für “Languages of What Is Now the United States”

11 Feng 2000: S. 61

12 Fang 2002: S.68

13 Informationen stammen aus meiner Email-Korrespondenz mit Yan Gelings Ehemann Lawrence A. Walker

14 Siehe Yan Gelings Website: http://www.redroom.com/author/geling-yan

15 Siehe Shu 2002: S.17

16 Liu; China Central Television, 22.05.2005

17 Siehe Yan Gelings Website: http://www.redroom.com/author/geling-yan

18 Informationen stammen aus meiner Email-Korrespondenz mit Yan Gelings Ehemann Lawrence A. Walker

19 Siehe Yan Gelings Website: http://www.redroom.com/author/geling-yan

20 Informationen stammen aus meiner Email-Korrespondenz mit Yan Gelings Ehemann Lawrence A. Walker

21 Siehe Yan Gelings Website: http://www.redroom.com/author/geling-yan

22 Siehe mein Interview mit Yan Geling (Anhang ). Die Autorin hat ihren Antworten das Foto „Slave Girl in Holiday Attire“ zugefügt. Außerdem ist es auf der Website der California Historical Society zu sehen: http://www.californiahistoricalsociety.org/collections/photo_collection/genthe/index.html

23 Siehe mein Interview mit Yan Geling (Anhang )

24 Informationen stammen aus meiner Email-Korrespondenz mit Yan Gelings Ehemann Lawrence A. Walker

25 Siehe Tan 2008: S.57-58

26 Siehe Yao 2004: S.77

27 Siehe auch Lin (2007: S.70); Shang (2007: S.67)

28 Fludernik 2008, S. 107

29 Yan 2003: S.8; Yan/Silber 2002: S.10-11.

30 Fludernik 2008: S.106-107

31 Yan 2003: S.155-160; Yan/Silber 2002: S.189-195

32 Fludernik 2008: S.106-107

33 Fludernik 2008: S.55

34 Als Anachronien bezeichnet Fludernik (2008: S. 46) Abweichungen von der Chronologie der Geschichte.

35 Siehe Vogt (2006: S.119-120).

36 Yan 2003: S. 111; Yan/Silber 2002: S. 137.

37 Yan 2003: S.161-162; Yan/Silber 2002: S.197.

38 Fludernik (2008: S.178) definiert die Prolepse als „der von der laufenden Chronologie abweichende Bericht über Ereignisse, die in der Zukunft liegen“.

39 S. 35 bezieht sich auf die chinesische Ausgabe von Fusang. In der englischen Übersetzung findet sich die beschriebene Textstelle auf S. 44

40 Als Analepse bezeichnet Genette Unterbrechungen „der fiktiv-gegenwärtigen Handlungsfolge und Einschub von Ereignissen, die schon früher stattgefunden haben“; Siehe Vogt (2006: S. 120)

41 Yan 2003: S.59; Yan/Silber 2002: S.74.

42 Yan 2003: S.44; Yan/Silber 2002: S.57.

43 Siehe Vogt (2006: S. 59-61)

44 Vogt 2006: S. 72

45 Yan 2003: S.1-2; Yan/Silber 2002: S.1-2.

46 Yan 2003: S.120; Yan/Silber 2002: S.146

47 Yan 2003: S.3; Yan/Silber 2002: S.3

48 Siehe mein Interview mit Yan Geling (Anhang )

49 Yan 2003: S.23-24; Yan/Silber 2002: S. 30

50 Yan 2003: S.95 ; Yan/Silber 2002: S. 117

51 Fludernik 1994: S. 290

52 Informationen stammen aus meiner Email-Korrespondenz mit Yan Gelings Ehemann Lawrence A. Walker

53 Fludernik 1995: S. 283

54 Yan 2003: S.126-127; Yan/Silber 2002: S.153-155

55 Yan 2003: 14; Yan/Silber 2002: S.18

56 McWilliams 2005: S.134

57 Textstelle zu Rassismus und Vorurteilen: Yan 2003: S.169-171; Yan/Silber 2002: S.207-208

58 Siehe mein Interview mit Yan Geling (Anhang)

59 Liu; China Central Television, 22.05.2005

60 Feng 2000: S.63

61 Yan 2003: S.34; Yan/Silber 2002: S.43

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Chinatown und chinesische Prostitution im San Francisco des 19. Jahrhunderts
Untertitel
Yan Gelings Roman "Fusang" und seine historischen Hintergründe
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
96
Katalognummer
V141309
ISBN (eBook)
9783640508631
ISBN (Buch)
9783640508471
Dateigröße
1103 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chinatown, San Francisco, Prostitution, Yan Geling, Fusang, The lost daughter of happiness, chinesische Prostitution
Arbeit zitieren
Nicole Koller (Autor:in), 2009, Chinatown und chinesische Prostitution im San Francisco des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141309

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