Die Familie in Deutschland nach Neidhardt


Seminararbeit, 1997

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1.EINLEITUNG

2.DEFINITIONUNDTHEORIEDERFAMILIE
2.1.EHEUNDFAMILIEUNDIHRESOZIALESTRUKTUR
2.2.VERBREITUNG,BEDEUTUNGUNDINSTITUTIONALISIERUNGDERFAMILIE
2.3.REGELNDERPARTNERWAHLUNDFAMILIENGRÜNDUNG
2.4.FAMILIE,VERWANDTSCHAFTUNDGESELLSCHAFT

3.PROBLEMFELDER UND PROBLEMBEDINGUNGEN FAMILIALER SOZIALISATION
3.1.GRUNDLEISTUNGENDERFAMILIEIMSOZIALISATIONSPROZEßIHRERKINDER
3.2.DIEGESELLSCHAFTLICHEISOLIERUNGDERFAMILIE
3.3.ROLLENPROBLEMEDERMUTTER
3.4.SCHICHTUNGSPROBLEMEFAMILIALERSOZIALISATION
3.4.1. FAMILIENEFFEKTE SOZIALER UNGLEICHHEIT
3.4.2. PROBLEME VON UNTERSCHICHTENKINDERN

4.FAZIT

5.LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung

Die Familie gilt als Inbegriff des Privaten, als ein sozialer Raum, in dem es sich auf sehr persönliche Weise leben läßt. Allerdings bleibt auch beim Gegenstand der Familie die Gesellschaft nicht draußen. Nur deshalb ist es schließlich auch möglich, Familiensoziologie zu betreiben, die versucht, „ die Macht des Gesellschaftlichen aufzuspüren“ (Neidhardt 1975a, S. 7). Es gilt nun zu zeigen, daß die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Abhängigkeiten in den Raum der Familie hineinreichen. Zwar ist die Familie heute relativ privat, aber selbst diese Tatsache ist gesellschaftlich bedingt. So ist der einzelne in der Familie nicht frei von sozialen Normen und geregeltem Rollenspiel.

Erstens nehmen die Mitglieder der Familie soziale Positionen ein, die gesellschaftlich definiert sind und in einem bestimmten geregelten Zusammenhang stehen. Die Struktur, d.h. die Rechte und Pflichten der einzelnen Positionen, und wie sie gegeneinander abgegrenzt und aufeinander bezogen sind, stellen das System der Familie aus strukturanalytischer Sicht dar. Zweitens interessieren die Ursachen und Bedingungen verschiedener Familienstrukturen (Faktorenanalyse). Soziologisch bedeutsam sind die Einwirkungen der sozialen Umwelt. So verändert der gesellschaftliche Wandel auch die Stellung, Struktur und Leistung der Familie. Drittens stellt sich die Frage nach der Leistung der Familie für die Gesellschaft, also ihrer eigenen sozialen Wirkungen (Funktionsanalyse).

In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Familiensoziologie relativ früh etabliert, dennoch sind Umfang und Qualität der empirischen Sozialforschung noch nicht hinreichend ausgebildet. Auch die Familie selbst hat sich durch Industrialisierungs- und Demokatisierungsvorgänge und durch Kriegs- und Nachkriegswandlungen stark verändert. Die umfassendsten deutschen Familienuntersuchungen der 50er Jahre beschäftigen sich eben mit diesen Zuständen und Anpassungsvorgängen, die mittlerweile abgeschlossen sind. Heutige Tendenzen und Entwicklungen sind nur vereinzelt untersucht worden, so daß noch viel empirische Arbeit bzgl. innerfamilialer Beziehungen, Familienstörungen, Familienpolitik etc. zu tun ist.

„ Um empirische Ergebnisse nun aber sowohl sinnvoll ermitteln als auch systematisch interpretieren zu können, bedarf es eines theoretischen Bezugsrahmens, der mehr als bisher die Familie als Teil des gesamtgesellschaftlichen Systems begreift“ (vgl. Neidhardt 1975a, S. 7-9).

In meinem Referat werde ich mich nun zunächst der Definition und Theorie der Familie zuwenden und im zweiten Kapitel auf die Problemfelder und Problembedingungen familialer Sozialisation eingehen.

2. Definition und Theorie der Familie

„Es gibt keinen Prototyp von Familie und keine natürliche Urform. Die Familienformen korrespondieren jeweils eng mit den historischen, gesellschaftlichen, sozialstrukturellen und subkulturellen Rahmenbedingungen in denen sie auftreten. Pluralität und Wandel familialer Lebensformen sind daher ebenso selbstverständlich wie gesellschaftliche Differenziertheit und Dynamik“ (Schneider 1994, S.14).

Die Familie, eine der weitverbreitetsten Erscheinungen gesellschaftlichen Lebens, ist in ihrer Größe und Zusammensetzung, in ihrer Eheordnung, Herrschaftsstruktur, Stabilität und Leistung sowie in ihrer gesellschaftlichen Stellung und Bedeutung wandelbar und durch Wirtschaft, Technik, Religion etc. bedingt (vgl. Neidhardt 1975a, S.9).

Die verschiedenen Definitionen von Familie reichen vom katholischen Familienleitbild, das auf der Überzeugung von gottgestifteter Ehe und Familie basiert, über den bürgerlichen Familienbegriff, der auf dem Ideal einer legalen lebenslangen Ehe mit gemeinsamen Kindern basiert bis hin zum allgemeinen Gegenwartsverständnis von Familie in der BRD: Es vereinigt das Zusammenspiel von Ehe, Haushalt, Elternschaft und Verwandtschaft. Der statistische Familienbegriff besagt, daß Familie stets Haushaltsgemeinschaft ist, Ehe hinreichende Bedingung für Familie ist und nicht verheiratete Alleinerziehende, die mit ihren Kindern eine Haushaltsgemeinschaft bilden auch als Familie gelten. Allgemein läßt sich sagen, zur Familie gehört, wer subjektiv dazugerechnet wird (vgl. Schneider 1994, S. 14-19).

2.1. Ehe und Familie und ihre soziale Struktur

Die Gesellschaft beruht auf der Paarung der Geschlechter und deren dauerhafter Gemeinschaft, mit dem Vorsatz, die geborenen Kinder als die eigenen zu legitimieren. In diesem Fall spricht man von einer Ehe, die in den meisten Gesellschaften als eine Institution behandelt, als wertvoll anerkannt und geschützt, aber auch geregelt und oft erzwungen wird.

„Hauptzielsetzung der Familienpolitik in der Bundesrepublik ist, die Familie als autonome Institution zu schützen, zu fördern und zu unterstützen, damit sie ihre Aufgaben in eigener Verantwortung bestmöglich erfüllen kann“ (Schneider 1994, S.59).

Ihre Besonderheit ist der öffentliche, rituelle und kultische Vorgang der Eheschließung.

Aus der Ehe wird eine Familie, wenn die Ehepartner biologisch abstammende oder adoptierte Kinder als eigene anerkennen und bei sich aufnehmen. Die Kernfamilie besteht aus den Eltern, die mit ihren eigenen Kindern zusammenleben. Vollständig ist sie, wenn beide Elternteile vertreten sind. Fehlt aufgrund von nichtehelicher Geburt, Trennung oder Verwitwung einer der beiden, handelt es sich um eine unvollständige Kernfamilie.

Die Kernfamilie als Zentralbegriff ist im folgenden auch gemeint, wenn nur von Familie die Rede ist. Sie unterscheidet sich von anderen Gruppen durch die besondere Art ihrer Mitglieder. Die sozialen Positionen heißen: Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Sie weichen im Hinblick auf ihr Geschlecht und ihre Generation voneinander ab. Diese Differenzierungen sind immer vorhanden und für die Familie konstitutiv. Sie ist geprägt durch typische Begegnungen von Geschlechtern und Generationen. Diese beiden primären Elemente sind biologisch begründet. Das Geschlecht der Ehepartner, die Gebärfreudigkeit der Frau und die hilflosen Kinder sind natürliche Vorgegebenheiten. Sozialkulturelle Einwirkungen, wie die moralische Regulierung der Geschlechterbeziehung, die Bedeutung der Mutterschaft oder die Elternabhängigkeit der Kinder, verdrängt nicht die biologischen Tatsachen der Familie. Man spricht von einer biologisch- sozialen Doppelnatur der Familie.

Ein weiteres Merkmal ist das Zusammenleben, gekennzeichnet durch ständige Begegnungen aller Mitglieder, welche relativ viele Interessen- und Daseinsbereiche menschlichen Lebens umfassen. Viele Themen werden in der Familie gestellt und besprochen, so daß sie eine totale Gruppe darstellt. Der Haushalt ist das räumliche Zentrum, in der sich die Kernfamilie vereinigt. Sind die Kinder erwachsen, verlassen sie die Abstammungsfamilie, um eine eigene Zeugungsfamilie zu gründen. Von einer Großfamilie spricht man, wenn nicht nur die Mitglieder der Kernfamilie in einem Haushalt leben. Es handelt sich hierbei um eine Verwandtschaftsfamilie oder um eine Kommune. Die Kernfamilie ist dagegen mit der Haushaltsgruppe identisch.

In der Familiensoziologie kam es immer wieder durch unklar definierte Familienbegriffe zu falsch beobachteten Veränderungen der Familie, wo eigentlich nur das Verwandtschaftssystem betroffen war.

Die Familie erscheint aufgrund ihrer biologischen Grundierung und der Totalität der sozialen Beziehungen als Intimgruppe. Die Alltäglichkeit ihres Zusammenseins bringt es mit sich, daß ständig in der Öffentlichkeit tabuierte Zonen berührt werden. Zwar sind Ausmaß und Art der Intimitäten innerhalb der Familie sehr verschieden, aber sie ist überall voller Vertraulichkeiten, was die sozialen Beziehungen als einmalig, besonders und gefühlvoll erscheinen läßt. Die Familie ist also eine soziale Kleinstgruppe der besonderen Art, die durch Generation und Geschlecht ihrer Mitglieder typisch bestimmt ist. Im folgenden sollen nun die allgemeinen Grundmuster der sozialen Beziehungen innerhalb der Kernfamilie betrachtet werden.

Die Inhaber der sozialen Grundpositionen (Vater, Mutter, Sohn und Tochter) sind durch zahlreiche Beziehungen gekennzeichnet, denen drei Eigenschaften zugrundeliegen:

1. Sie sind umfassend und schließen verschiedene Aspekte des Lebens ein.
2. Sie sind gefühlvoll und affektiv und durchdringen den individuellen Intimbereich
3. Sie sind für die Angehörigen einzigartig und werden mit keinem außerhalb der Kernfamilie derart geteilt.

Die Kernfamilie setzt sich von ihrer sozialen Umwelt ab und bildet eine soziale Einheit. Diese Absonderungstendenz ist unterschiedlich stark ausgeprägt, wobei ein Mindestmaß sozialer Abgrenzung Voraussetzung für die Besonderheit der Familie ist. Diese Merkmale sind in ihrer Ausprägung abhängig von wechselnden Umweltbedingungen. Die soziale Struktur der Kernfamilie ist nur dann bestimmbar, wenn man bedenkt, daß die sozialen Positionen nach Geschlechts- und Generationsmerkmalen differenziert sind. Die mindestens sechs Elementarbeziehungen wirken sich besonders in den beiden grundlegenden Differenzierungssystemen, der Arbeits- und Autoritätsteilung aus.

Das System der innerfamilialen Arbeitsteilung ist geprägt von der primären Aufgabe der Kinderpflege- und aufzucht, für die Eltern verantwortlich sind. Aber auch die Kinder erbringen Leistungen für die Eltern, indem ihnen mit zunehmenden Alter mehr Haushaltsaufgaben zugewiesen werden. Durch ihre einfache Anwesenheit und ihr kindliches Verhalten vermitteln sie den Eltern zudem wichtige Erlebnisse und Erfahrungen.

Zwischen den Eltern existiert eine geschlechtsbedingte Rollendifferenzierung: Der Mann und Vater ist für die außerhäuslichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aufgaben zuständig, während die Frau, bedingt durch ihre Schwangerschaft und ihre natürlichen Funktionen bei der Kinderpflege- und aufzucht ins Haus verwiesen wird. Ihre Arbeitsbereiche sind der Gartenbau, die Regelung des Konsums, die Kindererziehung und der Ausgleich innerfamilialer Spannungen. Das Ausmaß dieser Rollendifferenzierung ist unterschiedlich groß und heute sehr im Fluß.

Generations- und geschlechtsbestimmte Rollendifferenzierungen beeinflussen stark die Autoritätsstruktur, wobei die Kinder untergeordnet und extrem abhängig von ihren Eltern sind. Zwischen Mann und Frau ist es ein komplexes Phänomen. Die meisten Gesellschaften sind durch ein Patriarchat geprägt, da bei der weitverbreiteten Arbeitsteilung der Mann für die Sicherung des Lebensunterhalts zuständig ist, und die Frau so von ihm abhängt. Ihre Herrschaftschance wächst mit der Übernahme wirtschaftlicher Versorgung und sozialem Status. Aber auch militärische, politische und ideologische Gegebenheiten wirken sich auf die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern. Sie begünstigen meistens den Status des Mannes und Vaters. Ein eindeutiges Matriarchat ist keine verbreitete Erscheinung. Dennoch ist die Frau zwar formell unfrei, aber materiell selbständig, da ihr ein Teilbereich des Familienlebens untersteht. Die Reichweite des männlichen Einflusses ist also begrenzt. Es liegt eine Kompetenz- und Herrschaftsspaltung zwischen den Geschlechtern vor (vgl. Neidhardt 1975a, S. 9-14).

2.2. Verbreitung, Bedeutung und Institutionalisierung der Familie

Die Kernfamilie ist in ihrer Grundstruktur fast universell. Diese universale menschliche Sozialgruppe existiert entweder als gesonderte und stark funktionale Gruppe oder als zentrale Einheit, von der her komplexere Familienformen aufgebaut sind.

„Die vollständige Kernfamilie hat in der Bundesrepublik ihren Jahrzehnte währenden Status als die weitaus verbreitetste Lebensform verloren. Zwischen 1972 und 1990 verringerte sich die Zahl vollständiger Kernfamilien von 9,6 auf 8,8 Millionen“ (Schneider 1994, S.114).

Gleichzeitig wächst die Bedeutung alternativer Lebensformen, wie z.B. Alleinleben, nichteheliche Lebensgemeinschaft etc. (vgl. Schneider 1994, S. 114-140).

In kollektivistischen Gemeinschaften übernehmen die öffentlichen Einrichtungen die zentralen Familienleistungen (Kibbuzim in Israel). In diesen landwirtschaftlichen Kollektiven gibt es kein Privateigentum und die Kinder werden gemeinschaftlich in Kinderhäusern aufgezogen. Die Funktionen der Kernfamilie sind sehr beschränkt und dennoch von sozialer Bedeutung. In einigen mutterrechtlichen Gesellschaften laufen die Verwandtschaftsbeziehungen nur über die Herkunftsfamilie der Mutter. Der Ehegatte hat nur einen symbolischen Wert und ist nicht für das Kind verantwortlich. Die Kindererziehung und Versorgung ist ausschließlich Aufgabe der Mutter und ihrer Verwandten.

Trotz dieser Einschränkung der These von der Universalität der Kernfamilie ist sie in fast allen Gesellschaften allgemein; sie ist Grundeinrichtung der menschlichen Gesellschaft. Für die Zukunft gibt es gute Gründe, daß die Familie, zwar in veränderter Form, bleiben wird.

Was sind die Ursachen für die Universalität der Kernfamilie? Hypothesen führen auf Faktoren zurück, „welche die gesellschaftliche Prägung und Behandlung bestimmter relativ allgemeiner Bedürfnisse der menschlichen Natur und sozialen Ordnung betreffen“ (Neidhardt 1975a, S.16). In der Familie ist die gleichzeitige Befriedigung individueller Bedürfnisse und gesellschaftlicher Interessen am ehesten dauerhaft erreichbar. In jeder Gesellschaft laufen bestimmte Grundprozesse ab die das Überleben der Familie sichern. Neben politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Vorgängen ist die Kernfamilie aufgrund ihrer besonderen Struktur als Träger dieser gesellschaftlich relevanten Grundprozesse der Reproduktion, der Aufzucht und der Sozialisation der Kinder relativ funktional. Die Kernfamilie vermag es, Probleme, wie die Belastung der Mutter durch Schwangerschaft, Geburt und Pflege sowie Aufzucht der Kinder zu lösen. Daher ist die fundamentalste Funktion der Kernfamilie, die soziale Bindung des Vaters an das gesellschaftliche Schicksal von Mutter und Kind, die für die soziale Leistungsfähigkeit der Mutter und für die Stellung und Entwicklung des Kindes bedeutsam ist.

Die Mutter ist biologisch stark an das Kind gebunden, da sie die Schwangerschaft und Geburt vollzieht und sozial verpflichtet ist, für ihr Kind zu sorgen. Ihre Beziehung ist von Anfang an offenkundig. Die weniger eindeutige und zwingende Beziehung des Mannes zu Mutter und Kind stellt eine „ soziale Ergänzung einer biologisch unverbindlichen Rolle“ (Neidhardt 1975a, S.16) dar. Die Vaterrolle ist eine Verpflichtung des Mannes, sich an der Reproduktion, Aufzucht und Sozialisation des Kindes zu beteiligen, und so die belastete Mutter zu unterstützen und die soziale Existenz des Kindes zu sichern. Die Kernfamilie stellt damit ein gesellschaftlich bedeutsames System des Lastenausgleichs zwischen den Geschlechtern dar. Eine unvollständige Familie gefährdet die Aufzucht und Sozialisation des Kindes und belastet den Status der Mutter. Die Ersetzung der Familie (Kibbuzim) bzw. des Vaters (mutterrechtliche Gesellschaften) ist von bestimmten Wirtschafts-, Eigentums- und Herrschaftsvoraussetzungen möglich, die allerdings nur selten erfüllt sind. Demgegenüber kann die Kernfamilie sich den verschiedensten Umweltbedingungen anpassen und gilt als allgemeine Lösung.

Die Kernfamilie bietet überdies gute strukturelle Voraussetzungen, die zentralen Grundprozesse der Gesellschaft zu bewältigen. In ihr lassen sich individuelle Bedürfnisse nach Sicherheit, Intimität und Solidarität mit kollektiven Ordnungsinteressen verschränken.

Der hohe gesellschaftliche Funktionswert verhalf der Kernfamilie zu ausdrücklicher Anerkennung und verbindlicher Norm. In unserer Gesellschaft ist eine solche Institutionalisierung offenkundig. Ihre Offenkundigkeit drückt sich in den Lehren der Kirchen, im Grundgesetz, in der Existenz eines Familienministeriums und einer Familienpolitik sowie in der Tätigkeit der Gerichte aus, die die Verletzung der Pflichten gegenüber den Kindern verfolgen und bestrafen.

„Modernisierung der Familie auf der Ebene der binnenfamilialen Beziehungen hat zu einer Stärkung der Rechte der einzelnen Familienmitglieder geführt, während die Souveränität der Familie als Einheit gesunken ist“ (Schneider 1994, S.143).

Ausmaß und Art der Institutionalisierung können sehr verschieden geregelt sein. In der Sowjetunion wurde in den Jahren 1917 bis 1936 die institutionellen Stützen der Ehe und Familie abgebaut, um der kollektivistischen Lebensordnung im Sinne der kommunistischen Idealvorstellung gerecht zu werden. Die Folge war ein starker Geburtenrückgang. In den 30ern fand eine Reinstitutionalisierung der Familie statt. Der Kernfamilie kommt in ihrer Grundgestalt unabhängig vom politischen Aufbau des Staates ein hoher Ordnungswert zu.

Beim Schutz der Kernfamilie spielt auch die soziale Kontrolle der Sexualität eine große Rolle. In keiner Gesellschaft darf der Geschlechtstrieb vollkommen frei mit beliebigen Partnern befriedigt werden. Die überall vorhandenen Einschränkungen und Regelungen des menschlichen Sexualverhaltens betreffen vielmehr die Ehe und Kindererzeugung als rein sexuelle Momente. Es geht also mehr um Präventivmaßnahmen im Hinblick auf ihre möglichen Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben, nämlich um die Verhinderung von illegitimen Geburten außerhalb der Kernfamilie. Die Sexualtabus sind vom Legitimitätsprinzip abgeleitet. Jedes Kind soll Mitglied einer vollständigen Kernfamilie sein. Am stärksten geächtet sind sexuelle Beziehungen, wo es keine Chance gibt, ein eventuell gezeugtes Kind zu legitimieren (außerehelicher Geschlechtsverkehr). Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen Sexualtabu und Legitimitätsprinzip. Solche Differenzierungen innerhalb der Sexualmoral finden sich in der BRD wieder. Die Verwerflichkeit des außerehelichen Geschlechtsverkehrs spiegelt sich in unserer Bewertung der ehelichen Treue und der Sorge um den Fortbestand vorhandener Kernfamilien wider (vgl. Neidhardt 1975a, S. 14-19).

2.3. Regeln der Partnerwahl und Familiengründung

In allen Gesellschaften gibt es Normen, die über die Existenz und Zusammensetzung der Kernfamilie bestimmen. Die Regeln der Partnerwahl entscheiden erstens darüber, wer überhaupt heiratsfähig ist. Die Zulassungskriterien auf den Heiratsmarkt sind nach Zahl und Art nicht in allen Gesellschaften gleich. Bestimmte Personen sind moralisch auf prinzipielle Ehelosigkeit verpflichtet, bestimmte Altersgruppen gelten als noch nicht oder nicht mehr heiratsfähig. In manchen Gesellschaften gilt das Gebot der Einehe oder die Aberkennung des Heiratsrechts der armen und unehrbaren Mitglieder. Zweitens wird darüber bestimmt, welche Paarbeziehungen innerhalb der Kategorie der Heiratsfähigen als passend oder unpassend gelten. Der Heiratsmarkt wird in mehrere geschlossene Teilmärkte differenziert. In allen Gesellschaften wird in sozial geregelter Form die Gemäßheit zweier Geschlechtspartner beurteilt, die unterschiedlich starken Zwängen und Sanktionen unterlegen sind. „Auch ist es keineswegs einheitlich, wer die Partnerwahl praktisch vornimmt“ (Neidhardt 1975a, S. 20). Entweder entscheiden die beiden Betroffenen selbst darüber oder sie besitzen nur wenig Mitspracherecht. Dann befinden Verwandte oder wirtschaftliche und politische Instanzen darüber.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Familie in Deutschland nach Neidhardt
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Inst. für Soziologie)
Veranstaltung
Seminar: Klassiker der Familiensoziologie
Note
1,7
Autor
Jahr
1997
Seiten
24
Katalognummer
V14698
ISBN (eBook)
9783638200264
ISBN (Buch)
9783638682800
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text.
Schlagworte
Familie, Deutschland, Neidhardt, Seminar, Klassiker, Familiensoziologie
Arbeit zitieren
Laura Dahm (Autor:in), 1997, Die Familie in Deutschland nach Neidhardt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14698

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