Von braven und frechen Mädchen - Geschlechterkonstruktionen in den Mädchenbüchern des 20. Jahrhunderts im Vergleich


Seminararbeit, 2009

37 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG

2. Von traditionellen und modernen Mädchenbüchern
2.1. Zum Begriff der Mädchenliteratur
2.2. Das traditionelle Mädchenbuch
2.3. Das moderne Mädchenbuch

3. Das Bild des Weiblichen – Geschlechterkonstrukte
3.1. Zum Begriff der Geschlechtsrolle
3.2. Die Kindheit des jungen Mädchens und die Entwicklung zu einer jungen Frau nach Simone de Beauvoir

4. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht (1949). Simone de Beauvoirs Thesen im Vergleich mit Emmy von Rhodens Der Trotzkopf (1885) vor dem Hintergrund der Zeit und der Gesellschaft
4.1. Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es - Die Rebellion gegen das stereotype Mädchenbild
4.2. Die Passivität der Frauen ist ein von den Erziehern und der Gesellschaft auferlegtes Schicksal – Ilses Drang nach Freiheit und Selbstbestimmtheit
4.3. Verzicht auf Autonomie, um zu gefallen – Ilse erlernt die weiblichen Tugenden während ihres Aufenthalts im Pensionat
4.4. Die Ehe ist die einzige Karriere der Frauen – Ilse und ihre Beziehung zu Leo
4.5. Werkzitate und erstes Resümee

5. Der Umbruch des Geschlechterkonstrukts – vom traditionellen zum modernen Mädchenbuch
5.1. Die Konstruktion des weiblichen Geschlechts in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf
5.1.1. Pippis Abgrenzung vom stereotypen Mädchenbild
5.1.2. Pippis Autonomie und Unabhängigkeit
5.1.3. Pippis Spiel mit Autoritäten und ihre Schlagfertigkeit
5.2. Die Konstruktion des weiblichen Geschlechts in Mira Lobes Räuberbraut
5.2.1. Mathilde Meyers bzw. Isabella della Pontes Abgrenzung vom stereotypen Mädchenbild
5.2.2. Gesellschaftskritik – Geschlechterrollen im Blickfeld
5.2.3. Autoritäten und Mathildes Widerspruchsgeist
5.2.4. Traum- und Tagwelt – von der Passivität zur Aktivität

6. Die Frage der Geschlechter in der Kinder- und Jugendliteratur und ihre fantastische Verarbeitung
6.1. Das Streben der Mädchen nach Identität, Solidarität und Toleranz
6.2. Die Wirkung der Fantastik auf die junge Leserin bzw. den jungen Leser

7. Resümee

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die zentrale Textgrundlage der vorliegenden Arbeit sind die Werke: Der Trotzkopf von Emmy von Rhoden, Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren und Die Räuberbraut von Mira Lobe. Diese Werke erschienen erstmals zwischen den Jahren 1885 und 1974. Alle drei Bücher, die zum Genre der Mädchenliteratur zu zählen sind, waren und sind bis heute noch äußerst erfolgreich, zum Teil auch international.

Ich selbst las als Kind Lindgrens Pippi Langstrumpf und wusste, dass dieses Mädchen, genannt Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminza Efraims Tochter Langstrumpf, besonders war und nicht mit Figuren in anderen Mädchenbüchern zu vergleichen ist.

Dies allein stellt allerdings keinen Grund dar, den oben genannten Texten diese Arbeit zu widmen. Ziel dieser Arbeit ist es, die Entwicklung im Mädchenbuch des letzten Jahrhunderts sowohl literarisch als auch pädagogisch festzuhalten und sie vor den Hintergrund der jeweiligen Zeit und Gesellschaft sowie auch des Lebens der Autorinnen zu stellen.

Im Interesse dieser Arbeit steht die besondere Beachtung der Geschlechterkonstruktionen, deren Besonderheit und Andersartigkeit in den jeweiligen Mädchenbüchern mit Hilfe von sekundärliterarischen Werken zu Gendertheorien sowie mit Hilfe von sozialgeschichtlichen Werken analysiert werden soll. Ziel ist es, einen Vergleich zwischen den Mädchenbüchern in der ersten Hälfte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu schaffen und die Entwicklung des Gesellschaftsbildes des weiblichen Geschlechts aufzuzeigen.

Im ersten Teil der Arbeit komme ich kurz auf die traditionellen und die modernen Mädchenbücher zu sprechen. Den Kern dieser Arbeit bildet dann die Auseinandersetzung mit Geschlechtertypisierungen- und Konstrukten am textnahen Beispiel von traditionellen und modernen Mädchenbüchern vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeit und Gesellschaft.

2. Von traditionellen und modernen Mädchenbüchern

Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit liegt auf dem Vergleich zwischen der Mädchenliteratur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und jener in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um sowohl literarische als auch pädagogische Unterschiede festzumachen, ist ein kurzer Abriss zur Geschichte des Mädchenbuches unerlässlich. Im Anschluss daran steht die genaue Auseinandersetzung mit Emmy von Rhodens Der Trotzkopf, Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und Mira Lobes Die Räuberbraut.

2.1. Zum Begriff der Mädchenliteratur

Unter dem Begriff der Mädchenliteratur ist jene Literatur zusammengefasst, die „explizit für Mädchen herausgegeben oder verfasst worden ist.“[1] Vergleicht man Mädchenbücher aus verschiedenen historischen Epochen und unterschiedlicher sozialer Stände und Schichten, so wird aus ihnen ersichtlich, welche jeweiligen gesellschaftlichen Erwartungen sich an Mädchen und Frauen darin abbilden. Die Protagonistinnen vermitteln den jungen Leserinnen gesellschaftliche Normen, Eigenschaften, Verhaltensweisen sowie Bewusstseinsinhalte. Das heißt, Mädchenbücher haben nicht nur eine literarhistorische Bedeutung, sondern wirken auch gesellschaftlich und didaktisch.

2.2. Das traditionelle Mädchenbuch

Die ersten Bücher, Almanache und Zeitschriften, die sich explizit an Mädchen wandten, erschienen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu jenem Zeitpunkt ist die für Mädchen geschriebene Literatur vor allem moralisch-belehrend. Im 19. Jahrhundert kristallisiert sich die Backfischliteratur heraus und im 20. Jahrhundert löst sich das Mädchen im Mädchenbuch immer mehr von ihrem traditionellen Rollenbild hin zum befreiten Mädchen. Die Aufgabe der traditionellen Mädchenbücher lag darin, „die Bestimmung der Frau als Hausfrau, Gattin und Mutter“[2] zu unterstreichen, um auch die jungen Leserinnen auf ein Leben im Haushalt als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. Aufgabe der Frau ist es, die Familie nach innen und die des Mannes sie nach außen zu repräsentieren, denn er steht im öffentlichen Raum. Die ersten Bücher, die an Mädchen gerichtet sind, sind gekennzeichnet durch „ihre positive Einstellung zur weiblichen Gelehrsamkeit“[3]. Es geht hier vor allem um die Erziehung zur Vernunft und zu einem tugendhaften Leben. Die junge Leserin ist das zu belehrende, manipulierbare Mädchen. Zunächst hatte man noch die Befürchtung, dass das Lesen die weiblichen Geschöpfe von ihren Pflichten abhalten würde und tat es als eine unnütze Beschäftigung ab. Doch im Sinne des Lehrens von Unterweisung und Sitten erlaubte man die Lektüre. Die Lebens- und Kinderwelten in den Büchern sind alle in der Realität angesiedelt, fantastische Elemente gibt es keine, so dass das Erzählte einen Platz in der realen Welt des jungen lesenden Mädchen findet. Die Botschaft der Mädchenbücher ist jene, dass Ungehorsam und Unvernunft keinen Zuspruch findet und nur ein tugendhaftes Leben belohnt wird und man sich so auf dem besten Weg in das Erwachsenendasein befindet. Im ausgehendend 19. Jahrhundert etabliert sich die Backfischliteratur, einen Anfang stellt Emmy von Rhodens Der Trotzkopf. Ilse, das trotzköpfige Mädchen, verstößt gegen jegliche Normen, was zur Konsequenz hat, dass sie ins Pensionat geschickt wird, um dort ihren Eigensinn abzulegen und sittsam zu werden. Ziel dieser Bücher ist es, dass das Mädchen in einer fremden Umgebung (Pensionate, Internate) reif wird und zur jungen Frau heranwächst. Als erwachsen gilt sie erst dann, wenn sie die Heirat mit einem Mann vollzieht.

Emmy von Rhoden – Der Trotzkopf (1885)

Die fünfzehnjährige Ilse lebt gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Anne auf dem Gut Moosdorf. Ilse verhält sich sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihrem Verhalten eher jungenhaft. Sie liebt es im Wald herumzutollen, auf Bäume zu klettern, zerrissene Kleidung zu tragen und widersetzt sich den Erwachsenen. Ihre Stiefmutter und der Pfarrer Wollert erachten es für notwendig, sie zu einer sittsamen Dame zu erziehen und wollen, dass sie die wesentlichen Tugenden einer Frau im Pensionat erlernt. Es braucht ein wenig Überzeugungsarbeit bis auch Ilses Vater, Herr Macket, damit einverstanden ist. Aber die Sorge, dass Ilse unverheiratet bleiben könnte, überwiegt. Im Pensionat schließt sie Mädchenfreundschaften und fügt sich nach anfänglicher Widerspenstigkeit immer mehr ihrer weiblichen Rolle. Als sie aus dem Pensionat entlassen wird, lernt sie Leo, den Landratssohn, kennen und verlobt sich mit ihm.

2.3. Das moderne Mädchenbuch

In den Mädchenbüchern der zweiten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts vollzieht sich zunehmend ein inhaltlicher und struktureller Wandel.

Das moderne Mädchenbuch unterscheidet sich vom traditionellen vor allem dahingehend, dass das typische Rollenbild des Mädchens aufgehoben wird. Ein selbstbestimmtes Leben wurde dem Mädchen zwar noch immer nicht zugestanden, aber die fast ausschließlich weiblichen Autorinnen wenden sich zunehmend gegen bestehende Formen des Erziehens und somit gegen bestimmte Lebensregeln und Lehren. Eine Ausnahme bildet Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Sie führt ein selbstbestimmtes Leben abseits von Gehorsam und Autorität und gestaltet ihren Alltag nach ihrem Willen. Die neunjährige Pippi lebt in vollkommener Unabhängigkeit und zeigt, wie sie sich ohne Anleitung der Erwachsenen zu einem richtigen Verhalten durch den Alltag schlägt und ihn für sich interessant gestaltet. Diese Art von Mädchenliteratur schweift ab von den Normen und räumt den jungen Leserinnen Platz für ihre Fantasie und ihr eigenständiges Denken ein. Eine Zäsur vollzieht sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Mädchenbücher der 1970er Jahre sind vor allem „sozial- und rollenkritisch“[4]. Konflikte und Themen, die bisher keinen Raum in dem Genre fanden, etablieren sich. Bisherige Tabuthemen (Tod, Sexualität, Erkrankungen etc.) werden nicht mehr verschwiegen, sondern zum Inhalt des Mädchenbuchs gemacht. Es werden Probleme des Alltags thematisiert, etwa Kriminalität, Randgruppen der Gesellschaft, z.B. Gastarbeiter, Behinderte etc. sowie die Arbeitswelt und Politik. Dazu gehört auch Lobes fantastischer Roman Die Räuberbraut. Im Vordergrund steht nun nicht mehr das traditionell-klischeehafte weibliche Rollenbild, sondern das Mädchen mit einem eigenständigen Leben und eigenen Wertvorstellungen.

Astrid Lindgren: Pippi in der Villa Kunterbunt (1944)

Das Buch gliedert sich in elf Kapitel und jedes ist mit einem eigenen pointierten Titel versehen und kann unabhängig vom anderen gelesen werden. Das außergewöhnliche Mädchen, Pippi Langstrumpf, bleibt in der kleinen schwedischen Stadt, in der es die Villa Kunterbunt bezieht, nicht lange unbekannt. Gemeinsam mit ihrem Affen, Herrn Nilsson, und ihrem Pferd lebt sie dort ohne Eltern und ohne Regeln. Die Nachbarskinder Tommy und Annika suchen Pippis Gesellschaft und erleben ein Abenteuer nach dem nächsten und bekommen kuriose Geschichten von fernen Ländern erzählt.

Mira Lobe – Die Räuberbraut (1974)

Die dreizehnjährige Mathilde Meier kämpft nachts in ihren Träumen als Isabella della Ponte gemeinsam mit dem Helden Don Diego um Gerechtigkeit und greift das Problem des Hungers und der Armut in der Dritten Welt auf. In ihrer Fantasiewelt engagiert sie sich auch für jene Probleme, die gegenwärtig und in unmittelbarer Nähe auftreten. Durch die nächtlichen fantastischen Abenteuer lernt sie, sich auch im realen Leben durchzusetzen. Sie engagiert sich für die Umwelt und für die Alten und Jungen. Durch ihr Heldinnen-Ich in den Träumen findet sie nach und nach von ihrer fantastischen Welt in die Realität und zu sich selbst zurück.

3. Das Bild des Weiblichen – Geschlechterkonstrukte

Im folgenden Abschnitt möchte ich jene Aspekte aus Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht behandeln, die für diese Arbeit wesentlich sind. Simone de Beauvoirs Werk diskutiert die traditionelle Diskriminierung der Frau und fordert Emanzipation. Sie stellt fest: „Soweit man die Geschichte zurückverfolgt, sind sie [die Frauen] immer dem Manne untergeordnet gewesen“[5] und sie werden vom Mann als Menschen zweiter Klasse behandelt. „Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“[6]

Nach einer kurzen Einführung in das Werk versuche ich an den drei ausgewählten Mädchenbüchern aufzuzeigen, wie sich das traditionelle Rollenverhalten in der Literatur für Kinder und Jugendliche im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat.

3.1. Zum Begriff der Geschlechtsrolle

Unter dem Begriff der Rolle wird die „Summe der gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten (zugleich mit dem äußeren Erscheinungsbild) eines Inhabers einer sozialen Position“[7] verstanden. Der Träger bzw. die Trägerin einer Rolle ist im Interesse dieser Arbeit der Mann bzw. die Frau. Sowohl dem weiblichen als auch dem männlichen Geschlecht begegnet man, die Normen und Werte betreffend, mit einer bestimmten Erwartungshaltung. Diese Verhaltenserwartungen der Gesellschaft an die Rolle bedeuten „ein Bündel von Verhaltensnormen, deren Einhaltung oder Nichteinhaltung positiv oder negativ sanktioniert wird.“[8] Die differenzierte Auffassung des weiblichen und männlichen geht einher mit der Zuschreibung einer Rolle an das Geschlecht, welche nicht angeboren und somit biologisch begründbar ist. Denn jedes Individuum „wird mit einer enormen Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten geboren, von denen nur ein eng begrenzter Teil durch Sozialisation zur faktischen Ausbildung kommt.“[9] Die Rollen, die wir einnehmen, werden gelernt und umfassen die Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft an die Frau bzw. an den Mann.

3.2. Die Kindheit des jungen Mädchens und die Entwicklung zu einer jungen Frau nach Simone de Beauvoir

Nach Simone de Beauvoir ist das weibliche Wesen und die Rolle, welche die Frau in der Gesellschaft einnimmt, nicht an der „biologischen, psychischen oder ökonomischen Bestimmung“[10] festzumachen, sondern an der Gesellschaft selbst, welche der späteren Frau schon in der Kindheit ein bestimmtes stereotypes Rollenbild vermittelt und sie zur „Passivität, zur Koketterie und zur Mutterschaft drängen“[11] Denn das Kind selbst differenziert sich zunächst nicht geschlechtlich, sondern über jene Körperteile, die sowohl Mädchen als auch Jungen gegeben sind. Interessant ist all jenes, was mit den Augen und Händen erfassbar ist, und nicht mit den unterschiedlichen Geschlechtsteilen. Simone de Beauvoir begründet die frühe Rollenzuteilung, denen Mädchen und Jungen unterworfen sind, mit der unterschiedlichen Zuwendung der Eltern an das Geschlecht. Während der ersten drei bis vier Lebensjahre gebe es keine unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen. Nach den ersten Lebensjahren wird den Kindern aber bereits die künftige Rolle auferlegt. Nach und nach wird dem Kind der Körper der Mutter entzogen und es entwöhnt.

Doch es sind vor allem die Knaben, denen Küsse und Liebkosungen zunehmend verwehrt bleiben. Das kleine Mädchen dagegen wird weiterhin gehätschelt, es darf weiterhin am Rockzipfel der Mutter hängen, der Vater nimmt es auf die Knie und streicht im übers Haar [...][12]

Im Gegensatz zum Mädchen wird dem Jungen aus dem näheren Umfeld vermittelt, dass ein Mann nicht weint, sich nicht im Spiegel betrachtet und auch nicht darum bittet, geküsst zu werden. Dass es sich um einen kleinen Jungen und nicht um einen erwachsenen Mann handelt, ist nicht von Interesse, weil früh schon die Rollenzuweisung erteilt wird. Das heißt, wenn er sich aus dem Kindsein löst, findet er bei den Erwachsenen Gefallen.

Die Anforderungen, die an das männliche Wesen gestellt werden, „implizieren eine unmittelbare Wertschätzung“[13] und zeugen von Männlichkeit im jungen Alter. Im Gegensatz zum Jungen wird die Passivität zum wesentlichen Charakteristikum der „weiblichen“ Frau gemacht. Der Junge wird von haushälterischen Tätigkeiten ferngehalten und darf sich, indem er zum Beispiel auf Bäume klettert, in seiner Unabhängigkeit üben. Das junge Mädchen hingegen muss auf jegliche Autonomie und auf die Freiheit verzichten.

[...] denn je weniger sie ihre Freiheit ausübt, um die sie umgebende Welt zu verstehen, zu erfassen und zu entdecken, um so weniger Anregung wird sie in ihre finden, um so weniger wird sie es wagen, sich als Subjekt zu behaupten. Würde sie dazu ermutigt, könnte sie die gleiche lebhafte Ausgelassenheit, die gleiche Neugier, die gleiche Unternehmungslust, die gleiche Kühnheit an den Tag legen wie ein Junge.[14]

Simone de Beauvoir stellt fest, dass es vor allem die Mütter sind, die dem jungen Mädchen weibliche Normen vermitteln wollen, während meist jene Töchter, die mit einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen sind, auch all jenes erleben dürfen, was den Jungen gewährt ist. Aber dennoch ist es die Umgebung, die Lehrer, die Verwandten und Bekannten, die schockiert über das Benehmen der Tochter sind, und so Einfluss auf den Vater haben können. Die Mutter hingegen sieht in ihrer Tochter eine Art Doppelgängerin, der sie ihre eigene Bestimmung aufzwingt, um sie zu ihrem Ebenbild zu machen. Hierbei gehe es vor allem darum, dass aus dem Mädchen eine „richtige“ Frau gemacht wird, damit sie es in der Gesellschaft leichter hat. Es wird dafür gesorgt, dass sie andere Mädchen als Freundinnen gewinnt und von Lehrerinnen unterrichtet wird. Sie wird mit weiblichen Tugenden wie dem Nähen, Kochen, Haushaltsführung, Benehmen etc. vertraut gemacht, um später zu gefallen. Hält sie gewisse weibliche Verhaltensregeln nicht ein, so ermahnt man sie, nicht den Eindruck zu erwecken, dass an ihr ein Junge verloren gegangen wäre.

[...]


[1] Schweikle, Günther / Schweikle, Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung2 1990, S. 289.

[2] Havekost, Hermann: Mädchenbücher aus drei Jahrhunderten. Oldenburg: BIS 1983, S. 11.

[3] Grenz, Dagmar: Von der Nützlichkeit und der Schädlichkeit des Lesens. Lektüreempfehlungen in der Mädchenliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Grenz, Dagmar / Wilkending, Gisela (Hg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Weinheim und München: Juventa 1997, S. 16.

[4] Grenz, Dagmar: Zeitgenössische Mädchenliteratur – Tradition oder Neubeginn?. In: Grenz, Dagmar / Wilkending, Gisela (Hg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Weinheim und München: Juventa 1997, S. 241.

[5] De Beauvoir, Simone : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Deutsche Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt10 2009, S. 14.

[6] ebd. S.12.

[7] Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Band 20. Mannheim, Wien, Zürich: Bibliographisches Institut 1977, S. 261.

[8] ebd. S. 267.

[9] Dorn, Monika: Was dürfen Frauen wissen?. Zur Mädchenbildung zwischen Diskriminierung und Emanzipation. Dissertation. Univ. Wien 1996, S. 20.

[10] De Beauvoir, Simone : Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Deutsche Übersetzung von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt10 2009, S. 334.

[11] ebd. S. 335.

[12] ebd. S. 337.

[13] ebd. S. 338.

[14] ebd. S. 348.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Von braven und frechen Mädchen - Geschlechterkonstruktionen in den Mädchenbüchern des 20. Jahrhunderts im Vergleich
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik )
Veranstaltung
Kinder- und Jugendliteratur im Jahrhundert des Kindes
Note
2
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V148808
ISBN (eBook)
9783640627431
ISBN (Buch)
9783640627783
Dateigröße
515 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mädchen, Geschlechterkonstruktionen, Mädchenbüchern, Jahrhunderts, Vergleich
Arbeit zitieren
Claudia Mosburger (Autor:in), 2009, Von braven und frechen Mädchen - Geschlechterkonstruktionen in den Mädchenbüchern des 20. Jahrhunderts im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148808

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