"Sie war mir alles in einem - Geliebte, komische Oper, Mutter und Freund."

Das Frauenbild in Kurt Tucholskys Prosa und ausgewählter Lyrik


Bachelor Thesis, 2011

72 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Frauenbild in Tucholskys Prosa
2.1 Rheinsberg.EinBilderbuchfürVerliebte
2.2 Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte
2.3 „Sie war bei mir. Sie gehörte dazu. Sie sorgte für mich.“ - Zwischenfazit

3 Tucholskys Frauen bild in ausgewählten Gedichten
3.1 „[...] du meine kleine Unterwelt.“ - Gedichte aus der Sicht von Frauen
3.1.1 „Wir singen allein im Duett“ - Zusammenfassung von Die Frau spricht
3.1.2 „Bubesticht“-VerweiseaufandereGedichte
3.2 „Wie wirds künftig mit den Frauen sein?“ - Zeitgeschichtliche Gedichte
3.3 „Woll mit die Pauke jepiekt-?“ - Frauenfiguren in Tucholskys Lyrik
3.4 „Liegt nicht draußen das Allerbeste?“ - Verweise auf weitere Gedichte
3.4.1 „Die Milch looft üba.“ - Die Darstellung von Beziehungen
3.4.2 „Immer nur eine Glocke läutend?“ - Tucholsky als Frauenheld
3.5 Zwischenfazit zu Tucholskys Lyrik

4 Fazit

5 Anhang
5.1 Die Frau spricht
5.1.1 Die geschiedene Frau
5.1.2 Eine Frau denkt
5.1.3 Die Nachfolgerin
5.1.4 Lamento
5.2 Liebespaar am Fenster
5.3 Theorie der Leidenschaft Berlin N 54
5.4 Sie, zu ihm
5.5 Nieder, bzw. Hoch die Frauen!
5.6 Oh Frau!
5.7 Mit dem Weininger
5.8 Wahre Liebe
5.9 Berliner Liebe
5.10 An die Berlinerin
5.11 Mutterns Hände
5.12 Stationen
5.13 Meeting
5.14 Ehekrach
5.15 Danach
5.16 Mikrokosmos
5.17 Confessio
5.18 Letzte Fahrt
5.19 Figurinen

6 Literaturverzeichn
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Bei dem Namen Kurt Tucholsky denken die Meisten wohl an einen politischen Feuilletonisten, der in der Zeit der Weimarer Republik „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten”[1] wollte. Satirisch-bissig warnte er seine deutschen Mitmenschen vor den Gefahren des kommenden Nationalsozialismus, nie ein Blatt vor den Mund nehmend. Dieses Bild von Tucholsky ist bis heute das Vorherrschende. Auch in den Blick literaturwissenschaftlicher Arbeiten gerät zumeist sein politisches Engagement.[2]

Einige wenige Arbeiten befassen sich überdies mit einem Thema, das Tucholsky nicht minder beschäftigt hat: Frauen. So veröffentlichte Gabriele Übleis bereits im Jahr 1987 Tucholsky und die Frauen.[3] Sie versucht, anhand der philosophisch-literarischen Einflüsse Tucholskys seine von ihr so bezeichnete „Erotomanie“[4] zu ergründen und sie auf reale Frauen, die Tucholskys Leben kreuzten, zu beziehen. Übleis beschränkt ihren Blick auf Tucholskys Biografie und lässt seine literarischen Publikationen außer Acht. Daher ist diese Arbeit für Literaturwissenschaftler, auch wegen der darin enthaltenen zahlreichen Vermutungen und Übertreibungen, ungeeignet, Tucholskys Frauenbild näher zu ergründen. Anders verhält es sich mit der im Jahr 2004 von Susanne Huber-Nienhaus veröffentlichten Arbeit Glücklose Liebe. Das Verhältnis der Geschlechter im Spiegel der Liebesgedichte von Erich Kästner und Kurt Tucholsky. Bei ihr steht Tucholskys literarisches Werk im Vordergrund, dadurch läuft sie nicht Gefahr, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ihre Untersuchung stellt wichtige Forschungsliteratur zu Tucholskys Frauenbild dar.

Verglichen mit dem, was Tucholsky publiziert hat, nämlich zwei Romane sowie unzählige Gedichte, die sich unter anderem ebenfalls mit dem Thema „Frau” beschäftigen, ist es erstaunlich, dass die Anzahl der literaturwissenschaftlichen Arbeiten hierüber eine solch geringe ist. Das Frauenbild Tucholskys war bislang überwiegend für Biografen von Belang. Tucholsky hatte sein Leben lang, trotzdem er verheiratet war, viele Affären. Ein Großteil der Biografen Tucholskys begründete dies
mit dem schlechten Verhältnis zu seiner Mutter Doris Tucholsky, die seither als die Ursache für seine „Bindungsunfähigkeit” steht.[5] Tucholskys literarisches Werk geriet dabei zumeist in den Hintergrund.

Ein fundierter wissenschaftlicher Überblick über Tucholskys literarisches Frauenbild, der sein gesamtes Werk umfasst und den Blick ausschließlich auf die Literatur Tucholskys richtet, ohne seine Biografie allzu sehr in den Vordergrund zu stellen, steht indes noch aus. Die vorliegende Arbeit soll einen Anstoß dazu geben. Hier kann nicht Tucholskys gesamtes Werk betrachtet werden, es wird sich daher auf seine Romane Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte und Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte sowie ausgewählte Gedichte beschränkt. Es gibt zahlreiche Gedichte Tucholskys, die sich mit dem Thema „Frau“ auseinandersetzen. Um den Gedichtbestand einzugrenzen, wurden fünf Kategorien aufgestellt, unter dessen Oberbegriff sich bestimmte Gedichte einordnen lassen. Die genaue Auswahl und Methodik wird in dem entsprechenden Teil 3 näher erläutert.

In der vorliegenden Arbeit gerät Tucholskys Biografie in den Hintergrund. Zum literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehört zwar auch die Bezugnahme der Biografie des Autors auf seine jeweiligen Werke, jedoch müssen bei einer solchen Vorgehensweise, gerade, wenn der Autor nicht mehr am Leben ist, Vermutungen angestellt und Rückschlüsse konstruiert werden, die dem rein literaturwissenschaftlichem Arbeiten zuwider laufen. Das soll hier vermieden werden. Tucholskys Literatur soll für sich sprechen. An einigen Stellen wird Tucholskys Lebensgeschichte ergänzend hinzugezogen, um Parallelen zur Literatur deutlich zu machen. Größeres Augenmerk wird auf die gesellschaftliche Situation der Zeit zur Veröffentlichung der jeweiligen Werke gelegt. Tucholskys Frauenbild wird mit dem damals herrschenden Geschlechterverständnis in Beziehung gesetzt.

Zum Schluss soll aufgezeigt werden, dass Tucholsky trotz einiger Unstimmigkeiten, die an gegebener Stelle herausgestellt werden, ein sehr avantgardistisches Frauenbild hatte.

2. Das Frauenbild in Tucholskys Prosa

Im Folgenden werden Tucholskys Romane Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte[6] sowie Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte[7] hinsichtlich des Frauenbildes näher untersucht.

2.1. Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte

Kurt Tucholsky veröffentlichte 1912 seinen ersten Roman[8] Rheinsberg. In diesem Roman erlebt das Berliner Pärchen Wolfgang und Claire drei idyllische Ferientage in Rheinsberg. Es vertreibt sich die Zeit unter anderem mit Spaziergängen und genießt seine Freizeit. Die Veröffentlichung des Romans wurde zunächst von vielen Verlagen abgelehnt, da die erotische Offenheit des Textes zu gewagt schien.[9] Die freizügige Beziehung zwischen Wolfgang und Claire, die als unverheiratetes Pärchen in einem Bett schlafen und auch sonst sexuell sehr aufgeschlossen sind, erschien in der noch traditionell-konservativen Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg anstößig, wenn nicht sogar als „erotische Rebellion”[10]. Der Roman wurde schließlich von dem Verleger Axel Juncker publiziert und zu einem großen Erfolg. Im Jahr 1921 wurde die zweite Auflage mit 50.000 Exemplaren, im Jahr 1931 bereits die vierte Auflage mit 100.000 Exemplaren veröffentlicht.[11] Selbst Tucholsky erkannte den Erfolg seines Erstlingsromans, denn in seinem 1921 erschienen Text zur zweiten Auflage bezeichnete er es als das Buch, „nach dem später generationsweise vom Blatt geliebt wurde”[12].

In Rheinsberg wird vordergründig die Unbeschwertheit und Leichtigkeit einer Liebe nachgezeichnet. Das Pärchen Wolfgang und Claire verbringt wenige Tage in Rheinsberg, es genießt die es umgebene Idylle und gönnt sich Entspannung. Die weibliche Protagonistin ist Claire. Ihre auszeichnendste Eigenschaft ist ihre „Sprache”:

[...] sie wirbelte die Worte so lange herum, bis sie halb unkenntlich geworden waren, ließ hier ein „T” aus, fügte da ein „S” ein, vertauschte alle Artikel, und man wußte (sic!) nie, ob es ihr beliebe, sich über die Unzulänglichkeit der Phrase oder über die andern (sic!) lustig zu machen. (S. 97)

Claire benutzt ihre Sprache also dazu, sich über andere oder über die Sprache als solche „lustig zu machen” (ebd.). Sie unterläuft damit geltende Autoritätsstrukturen.[13] Ihr Geliebter Wolfgang benutzt seine Sprache zwar grammatisch korrekt, doch lässt er sich einige Male auf Claires Sprachspiel mit Bemerkungen, die dem Amts- oder Theaterdeutsch entlehnt sind, ein (S. 98, 109). Mit seinen Äußerungen ironisiert er in dem Zusammenhang die jeweilige Sprechweise, die er benutzt. Wenn er beispielsweise auf Claires Frage, was er als nächstes zu tun gedenke, „[d]as überlasse du mir; es wird dir dann seinerzeit das Nötige mitgeteilt werden” (S. 98) antwortet, entlarvt er den Beamtenstil hinsichtlich seiner Kühle und Distanziertheit. Die Sachlichkeit des Behördendeutsch steht im Widerspruch zu Claires und Wolfgangs herzlicher Beziehung.

Claire studiert Medizin. Dieser Umstand ist aufgrund ihrer sprachlichen Angewohnheit „kaum glaubhaft, jedoch mit der Wahrheit übereinstimmend” (S. 97). Dass Claire als Frau im Jahr 1912 studiert, ist außergewöhnlich, hatten doch Frauen erst ab 1900 das Immatrikulationsrecht[14]. Dass sie ferner ein naturwissenschaftliches Fach belegt, ist außerdem bemerkenswert, da die Domäne der Naturwissenschaften seinerzeit stets Männern Vorbehalten war. Wolfgang hingegen kann nicht von dem medizinischen Wissen Claires profitieren, so diagnostiziert sie die Magenschmerzen ihres Partners als Cholera und stellt ihm in Aussicht: „Du stirbs (sic!), Wölfchen.” (S. 103). Claires Fachkenntnisse führen obendrein zu Neckereien zwischen den Partnern: Kurz nach Betreten des Zuges Richtung Rheinsberg entbrannt eine kleine Auseinandersetzung, ob es sich bei einer Pflanze um eine Akazie oder eine Magnolie handele (S. 96).

Diese Streitereien sind indes nicht ernst zu nehmen, denn: sie sagten sich häufig Dinge, die nicht recht zueinander paßten (sic!), nur um [...] den andern zu irritieren, sein Gleichgewicht zu erschüttern ... (S. 98) Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Protagonisten sind demnach nur gespielt. Dieses Spiel ist notwendig, um die die Partner umgebende Idylle zu ermöglichen und zu erhalten.[15] Zu dem Liebes-Spiel gehört außerdem die Inszenierung der eigenen Person[16], also Claires eigene Darstellung mithilfe ihrer besonderen Sprache. Wolfgang geht mit seinen Äußerungen auf Claires Sprachspiel ein und bestätigt es. Das Pärchen kreiert für sich eine eigene Sprache, die nur sie selbst verstehen können.[17] Claire und Wolfgang schaffen sich so eine eigene Welt und heben sich vom bürgerlichen Ambiente und konventionellen Diskursen ab.[18] Sie spielen jedoch nicht nur mit sich selbst, sondern ebenso mit fremden Personen: So gibt sich das Pärchen bei einer Schlossführung als „Ehepaar Gambetta aus Lindenau”[19] aus (S. 100). Fernerhin wird Lissy Aachener, die von den beiden im Boot mitgenommen wird, weis gemacht, Claire und Wolfgang seien Geschwister und noch nie in Berlin gewesen (S. 121).

Lissy studiert ebenfalls ein naturwissenschaftliches Fach, nämlich Heilwissenschaft. Sie bezeichnet sich selbst als „Monistin”[20] und erklärt Wolfgang und Claire während der Bootsfahrt die Vorzüge ihrer Lebensweise. Sie stellt den Gegenpart zu Claire dar. Beide Frauen können schon aufgrund ihres Studentinnenstatus' als emanzipiert angesehen werden. Claire jedoch ist in ihrer Emanzipation freizügiger und offener als Lissy. Wolfgang und sie schlafen als unverheiratetes Pärchen in einem Bett (S. 107), was in der konventionellen Vorkriegszeit ein Tabubruch darstellen musste. Claire beansprucht mit ihrem Verhalten überdies männliche Sphären, wenn sie beispielsweise in der Öffentlichkeit raucht und Ringe bläst (S. 103) oder ins Wasser spuckt (S. 112). Ihr Verhalten wird obendrein von einer älteren Dame, die in ihrem Denken wohl noch traditionellen Mustern nachhängt, als „unerhörte] [...] Person” (S. 118) bezeichnet.

Lissy hingegen wird schon rein äußerlich als eine Art „Mauerblümchen” beschrieben: Alles an ihr scheint grau und blass zu sein (S. 121). Auch in sexueller Hinsicht ist sie nicht die Aufgeschlossenste, denn:

Nein - heiraten wolle sie vorläufig nicht; sie habe noch keinen gefunden, der Mann gewesen wäre, ohne ein Sexualtier zu sein. Sie hatte einen schlechten Teint, und es sah aus, als bade sie selten. (S. 121)

Der blasse Teint Lissys ist eine Anspielung auf Sigmund Freud, der die Bleichsüchtigkeit von Frauen mit sexueller Enthaltsamkeit begründete.[21] Durch den Verzicht auf Sex gerate das Gleichgewicht des Körpers durcheinander und die Frau werde zudem hysterisch.[22] Als Heilungsmethode empfahl Freud der Frau, ihre „Gefühle mit einem geliebten jungen Mann”[23] zu befriedigen. Für Lissy hingegen ist der Beruf und die Wissenschaft die oberste Pflicht und alles andere „Nebendinge” (S. 121). Da die Wissenschaft ein von Männern dominiertes Gebiet ist, muss sie dafür ihre Weiblichkeit aufgeben.[24]

Durch ihre ablehnende Haltung gegenüber der Institution Ehe widerläuft Lissy jedoch den damaligen, konventionellen Rollenmustern. Verheiratete Frauen gingen zu dieser Zeit ausschließlich ihren Haushaltspflichten nach und gaben ihren Beruf für die Familie auf. Diese Eigenschaft und ihr Studentenstatus kennzeichnen Lissy als emanzipierte Frau. In sexueller Hinsicht kann sie jedoch nicht als emanzipiert angesehen werden. Durch die Aufgabe ihrer Sexualität erscheint sie als Negativbild der Frauenemanzipation.[25]

Claire hingegen muss ihre wissenschaftlichen Kenntnisse zurücknehmen und in dem von ihr und Wolfgang inszenierten Spiel aufheben, um nicht wie Lissy zu enden.[26] So gibt sie ihrem Partner falsche und übertriebene Diagnosen, von denen Wolfgang medizinisch nicht profitieren kann. In sexueller Hinsicht bleibt sie dadurch jedoch attraktiv für ihn. Durch die Kontrastfiguren Lissy und Claire wird deutlich, dass sich die Attribute Bildung und Sexualität beim weiblichen Geschlecht gegenseitig ausschließen. Eine Frau kann entweder sexuell anziehend sein, dann muss sie ihre Bildung zurücknehmen, oder aber intelligent, in diesem Fall allerdings muss sie ihre Weiblichkeit aufheben.

Die sexuelle Aufgeschlossenheit Wolfgang und Claires wird in ihrem „Spott über die Sehnsucht der Bürger” deutlich:

„Wölfehen, du hast doch niemalen (sic!) eine andere geliebt, vor mir?” „Nie!” Es prickelte, so über die Sehnsucht der Bürger zu spotten, über das, was sie Liebe nannten, über ihre Gier, stets der erste zu sein ... Sie waren beide nicht unerfahren. (S. 102) Mit ihrer Verhöhnung unterlaufen Claire und Wolfgang traditionelle Beziehungsmuster und heben sich deutlich von ihnen ab. Claire gibt sich außerdem als abgeklärt und zynisch zu erkennen. Wolfgang jedoch empfindet eine gewisse Sehnsucht, die in seinem inneren Monolog bei einem Spaziergang mit Claire zutage tritt:

Sehnsucht - Sehnsucht nach der Erfüllung! Hier war alles [...] - und doch zog es weiter, der Fuß strebte vorwärts, irgendwo lag ein Ziel, nie zu erreichen! (S. 115) Wolfgang akzeptiert, dass Claire bereits andere Partner vor ihm hatte, er selbst ist schließlich ebenfalls nicht „unerfahren” (S. 102), und doch fühlt er, trotz der lockeren, aufgeschlossenen Beziehung mit Claire, keine Erfüllung. Dieses Sehnsuchtsgefühl, das Gefühl, ständig weiter treiben zu müssen, thematisiert Tucholsky öfter in seinem Werk.[27] Es kennzeichnet ein inneres Hin- und Hergerissensein zwischen monogamen

Beziehungen und dem Leben als Alleinstehender, in dem man seine Triebe in zahlreichen Affären ausleben kann. In Tucholskys Rheinsberg werden also zwei gegensätzlich emanzipierte Frauen beschrieben. Sie belegen beide ein naturwissenschaftliches Fach: Claire studiert Medizin, Lissy Heilwissenschaft. Mit diesem Studium ist die Ausübung von Pflegeberufen möglich. Das ist ein interessanter Aspekt, da diese Berufe seinerzeit typisch für Frauen waren, weil sie nach gängiger Meinung in der Natur der Frau lagen. Durch eine solchen Beschäftigung würden die beiden weiblichen Figuren ihre Emanzipation wieder aufgeben und sich dem traditionellen Rollenbild fügen. Im Folgenden wird die Verbindung von Tucholskys Biografie den Frauenfiguren seines Romans kurz dargestellt. Rheinsberg wurde „Unsern lieben Frauen M. W.[,] K. F. [und] C. P.” (S. 94) gewidmet. Dechiffriert man diese Abkürzungen, so ergeben die beiden letzten Initialen die Namen Kitty Frankfurter[28] und Claire Pimbusch[29]. Die erste Abkürzung steht für die spätere Frau von Kurt Szafranski[30], der die Illustrationen für den Roman geliefert hatte. Kitty Frankfurter war zu der Zeit Kurt Tucholskys

Verlobte[31], mit Claire Pimbusch ist Tucholskys damalige Freundin Else Weil gemeint.[32]

Tucholsky gab ihr diesen Namen und war mit ihr im Jahr 1911 in Rheinsberg. Er führte zu diesem Zeitpunkt also nicht nur zwei Beziehungen gleichzeitig, sondern widmete seinen ersten Roman beiden Frauen und benannte obendrein die Protagonistin des Romans nach dem Spitznamen seiner Freundin und nicht nach dem seiner Verlobten. Tucholsky selbst kommentierte das ironisch:

Es waren dreißig Exemplare [die Vorzugsausgabe bestand aus 30 Exemplaren, Anm. d. Verf., J. H.] - und weil wir es unsern (sic!) Damen schenken mußten (sic!), die im Verhältnis 29:1 unter uns aufgeteilt waren, malten wir in alle Exemplare eine schöne 1, damit es keinen Ärger gäbe.[33]

Die Namenspatronin Else Weils ist eine Figur in Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland”[34]. Claire Pimbusch erscheint dort als überaus hässliche Figur[35] mit einer hohen, gebrochenen Stimme und einem grünlichen, stechenden Blick[36]. Sie flieht mit ihren Ätherträumen aus der langweiligen Welt[37] und ist äußerst sadistisch veranlagt[38]. Geschlechtsverkehr ist mit ihr nicht möglich, sie scheint zum sexuellen Akt nicht in der Lage zu sein, wie ihr Ehemann dem Protagonisten des Romans versichert.[39] Allein diese Beschreibung macht deutlich, dass die Figur Claire in Tucholskys Roman eine andere als in Heinrich Manns Werk ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass Tucholsky die Namensgebung nach Mann ironisch meinte.

Zwischen der literarischen Figur Claire und der realen Person Else Weil finden sich jedoch einige Übereinstimmungen: Zum einen war Else Weil ebenfalls Medizinerin, sie pflegte eine erotische Beziehung zu Tucholsky und beide waren im Jahr 1911 in Rheinsberg.[40] Die literarische Figur Claire kann jedoch nicht mit der realen Else Weil gleichgesetzt werden. Wahrscheinlich hat Else Weil lediglich Anstöße und den Rahmen für die Romanfigur gegeben.

Anschließend wird Tucholskys zweiter Roman hinsichtlich der Frauenfiguren näher untersucht.

2.2. Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte

Schloß Gripsholm erschien 1931 als Fortsetzungsroman im Berliner Tageblatt, in Buchform ebenfalls im selben Jahr[41], und ist der erfolgreichste Roman Tucholskys.[42] Die Protagonisten Kurt und Lydia, ebenfalls wie in Rheinsberg ein Berliner Pärchen, verbringen in diesem Roman ihren Urlaub in Schweden. Während ihres Urlaubs werden sie auf ein Kinderheim und deren streng-herrschende, gewalttätige Direktorin Frau Adriani sowie dem dort lebenden Mädchen Ada aufmerksam. Mit der brieflichen Unterstützung von Adas Mutter, Frau Collin, befreien sie schließlich das Kind aus der Gewaltherrschaft. Die Geschichte endet auf der Heimreise nach Berlin, Kurt wird Ada später zu ihrer Mutter nach Zürich zurückbringen.

Lydia benutzt, so wie Claire, eine etwas eigentümliche Sprache. Sie spricht missingsch: „Du bischa all do?” (S. 152). „Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher hochdeutsch (sic!) sprechen will.” (ebd.), erläutert der Ich­Erzähler. Kurt liebt an Lydia genau das, die Sprache und das Niederdeutsche (S. 155). Er verehrt die plattdeutsche Sprache, Landschaft, und die Menschen, die dort leben:

Es ist jener Weg, den die deutsche Sprache leider nicht gegangen ist, wieviel kraftvoller ist da alles, wieviel bildhafter, einfacher, klarer [...]. Und die Menschen ... was es da im alten Niederdeutschland [...] für Häuser gegeben hat, eine Traumwelt von Absonderlichkeit, Güte und Musik, eine Käfersammlung von Leuten, die alle nur einmal vorkommen ... (S. 203 f.)

Was Lydias missingsch so besonders macht, sind die Einflüsse des Berlinerischen und dass sie „sich diese Sprache ins Hochdeutsche um[bog], wie es ihr paßte (sic!)” (S. 155).

Lydia arbeitet als Sekräterin (S. 151) und ist damit als typische erwerbstätige Frau in der Weimarer Republik zu sehen. In dieser Zeit waren Angestellte ein Massenphänomen. Ab 1925 entwickelte sich der Trend zur modernen

Dienstleistungsgesellschaft, rund ein Drittel der Erwerbstätigen arbeiteten im tertiären Sektor.[43] Die Ausweitung der Dienstleistungsberufe hatte Einfluss auf die Erwerbsarbeit von Frauen: Für die Betriebe waren das gute Aussehen und das anständige Benehmen der Frauen Werbemittel für das Geschäft.[44] Frauen ergriffen ob des gesellschaftlichen Ansehens, des Kontaktes zu besseren Kreisen als auch der sauberen Arbeit den Angestelltenberuf.[45]

Lydia und Kurt spielen gleichermaßen ein Namensspiel. Sie treiben es allerdings noch weiter als das Rheinsberg-Pärchen, indem sie sich selbst neue Namen geben. So ist Lydia für Kurt „die Prinzessin” (S. 151). Kurts Freunde Karlchen und Jakopp (sic!) nannten jede Frau, mit der eine von uns dreien zu tun hatte, „die Prinzessin”, um den betreffenden Prinzgemahl zu ehren - [...] aber keine andere durfte je mehr so genannt werden. (S. 151)

Diese Aussage widerspricht sich. Am Anfang der Äußerung teilt der Ich-Erzähler mit, dass jede Partnerin der Freunde "Prinzessin" genannt wird. Hierdurch wird die Frau zu einem ungreifbaren, austauschbaren Objekt innerhalb einer Masse. Der Frau wird ferner nicht aufgrund charakterlicher oder körperlicher Eigenschaften der Spitzname verliehen, sondern, um den jeweiligen Mann an ihrer Seite zu ehren, also herausragen zu lassen. Zum Schluss bemerkt der Ich-Erzähler aber im Widerspruch zum vorher Gesagten, dass von nun an keine andere Frau mehr diesen Spitznamen erhalten dürfe. Er möchte so seine Partnerin aus der Masse herausheben und für ihn einzigartig machen. Dies gelingt ihm aufgrund der Besetzung des Spitznamens mit anderen Personen jedoch nur bedingt. Das erkennt man daran, dass Kurt im direkten Sprachgebrauch Lydia fast immer bei ihrem richtigen Namen nennt. Der Kosename „Prinzessin” wird nahezu ausschließlich vom Ich-Erzähler verwendet.

Lydia nennt Kurt ebenfalls anders, nämlich Peter, denn darauf hatten sie sich „unter anderem [...] geeinigt” (S. 154). Der Leser erfährt erst gegen Ende des Romans Peters richtigen Namen, als Lydia ihrer sie besuchenden Freundin Billie diesen verrät sowie, warum sie einen anderen bevorzugt: „Ku-ert... Dascha gah kein Nomen [...].” (S. 236).[46] Im direkten Sprachgebrauch verwendet Lydia als Spitznamen für Kurt oft „Daddy”. Dieser Kosename bildet nicht das Verhältnis zwischen dem Pärchen ab, er steht sogar im Widerspruch zu ihm. Da Lydia für Kurt unter anderem die Rolle der Mutter einnimmt, wie nachfolgend näher dargestellt wird, ist die Namensgebung "Vater" durch Lydia für Kurt paradox. Dieser Kosename kann demnach als ironisch angesehen werden.

Kurt und Lydia spielen, wie Claire und Wolfgang in Rheinsberg, das Namensspiel auch mit fremden Personen. Das Paar bezieht ihr Feriendomizil im Schloß Grispholm, eines der ältesten Schlösser Schwedens (S. 169).[47] Dort treffen sie eines Tages auf deutsche Touristen, mit denen sie ins Gespräch kommen. Hier gibt sich Kurt als „Herr Sengespeck” und Lydia als seine Frau aus (S. 185). Lydia indes scheint das Namensspiel mit fremden Personen nicht zu billigen, denn kurz darauf gibt sie Kurt unter dem Tisch einen Tritt (ebd.). Damit zeigt sie ihren Unmut, dass Kurt ihr eigenes, privates Namensspiel auf die Realität ausgeweitet hat. Durch das Spiel schaffen sich die Figuren eine eigene Welt. Diese Welt stellt für Lydia etwas höchst Intimes dar, sie grenzt sich von der realen Umgebung ab. Durch die Übertragung des Spiels auf fremde Personen bindet Kurt diese in den privaten Kreis des Pärchens ein, was Lydia nicht gutheißt. Die Touristen jedoch sind sich der echten Namen des Pärchens nicht bewusst. So wird ihre komplette Einbindung in die Privatssphäre Kurt und Lydias unterbunden. Lydias Tritt kann demnach auch als ironisch-neckend gedeutet werden. Lydia ist, genau wie Claire, offen in ihren Einstellungen bezüglich

zwischenmenschlicher Beziehungen. Ihre Haltung ähnelt dem „Spott über die Sehnsucht der Bürger” des Rheinsberg-Pärchens. Lydia spricht auf der Fahrt nach Schweden französisch, was Kurt nicht versteht. Da er sich jedoch schon für längere Zeit in Frankreich aufgehalten hat, schließt sie daraus, dass er sich nur mit Frauen beschäftigt hat, anstatt die Sprache zu lernen. Doch sie nimmt ihm diesen Umstand nicht ernsthaft übel oder ist misstrauisch, sondern bittet ihn, zu erzählen, wie die Französinnen sind (S. 158). Kurt beschreibt die Frauen sehr einfühlsam als liebenswürdige Mathematik [...] [mit] ein[em] vernünftige^] Herz[en], das manchmal mit ihnen durchginge, doch pfiffen sie es immerwiederzurück. (S. 159) Und weiter:

Ich verstände sie nicht ganz. „Es scheinen Frauen zu sein”, sagte Lydia. (ebd.)

Hier wird deutlich, dass Lydia es ebenfalls als selbstverständlich erachtet, dass Kurt bereits mit anderen Frauen zusammen war. Auch sie folgt nicht den bürgerlichen Konventionen, denn sie erhebt keinen Anspruch auf Besitz an Kurt. Diese Einstellung ist für die Zeit der Veröffentlichung des Romans, nämlich der 1930er Jahre, nicht sonderlich außergewöhnlich. Zu dieser Zeit waren die konventionellen Beziehungsvorstellungen im Gegensatz zur Zeit des Erscheinens von Rheinsberg, dem Beginn des 20. Jahrhunderts, etwas aufgelockert. Die zwischengeschlechtlichen, traditionellen Rollenmuster befanden sich im Aufbruch. Da sie jedoch noch nicht vollends aufgehoben und verändert waren, ist Lydias Ansicht über Beziehungen trotzdem eine progressive.

Kurt empfindet jedoch, ähnlich wie Wolfgang in Rheinsberg, einen inneren Zwiespalt. Am zweiten Urlaubstag führt Kurt nach dem gemeinsamen Abendessen mit Lydia einen inneren Monolog mit seinem inneren „Schwein” (S. 191). Kurt denkt an Abenteuer mit anderen Frauen. Das „Schwein” nimmt hier die Position des Verführers und Freuenhelden ein, Kurt spricht dagegen und versucht, sich selbst von der Unnötigkeit dieser Avancen zu überzeugen (ebd.). Dieses Zwiegespräch könnte ein Verweis auf das Freudsche Modell der psychischen Systeme sein.[48] Nach Freud ist die Psyche in das Es, Ich und Über-Ich gespalten. Das Es stellt das Zentrum des Triebhaften, das Ich das des Bewusstseins und das Über-Ich das der Moral dar.[49] Das Ich ist die Vernunft, die zwischen den triebhaften Wünschen des Es und den moralischen Idealen des Über-Ich eine Vermittlerrolle einnimmt.[50] In Kurts innerem Monolog stellt das „Schwein” das Es dar, dessen Aussage Kurts Ich mit Vernunft widerspricht.[51] Um das Es zum Schweigen zu bringen und somit die triebhaften Wünsche zu verdrängen, muss das Ich das Es totschlagen (S. 191 f.). Kurt ist sich jedoch bewusst, dass die Zweifel erneut aufkommen können, denn: „Für dieses Mal [Heraushebung von der Verf., J. H.] schlug ich es tot” (S. 192). Er empfindet gleichermaßen, wie Wolfgang, einen inneren Konflikt zwischen der monogamen Beziehung und dem polygamen Junggesellendasein.

Dass Kurt und Lydia eine offenherzige Einstellung zur Sexualität haben, wird an den beiden Besuchern Karlchen, eines der besten Freunde Kurts, und Billie, einer langjährigen Freundin Lydias, deutlich. Die beiden besuchen das Pärchen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Karlchen bedeutet für Kurt das, was Billie für Lydia verkörpert: Sie sind jeweils seit vielen Jahren miteinander befreundet und noch nie hat das andere Geschlecht zwischen ihnen gestanden (S. 205, 224). Gerade, weil sie sich dessen so sicher sind, können sie offen miteinander umgehen: Obwohl Kurt davon überzeugt ist, dass Karlchen Lydia begehrt (S. 205), fordert er die beiden auf, sich zu küssen, was sie auch tun (S. 207).[52] Einen kleinen Anflug von Eifersucht empfindet Kurt jedoch, wenn ihm der Abschiedskuss von Lydia und seinem besten Freund „reichlich lang” erscheint (S. 222). Hier wird deutlich, dass man die Partner zwar in sexueller Hinsicht untereinander tauschen kann, dass dabei aber keine tiefergehenden Gefühle aufkommen sollten.

Lydia geht mit der Begierde Kurts, die er für Billie empfindet, offen um. Sie findet es „hübsch, wenn ihr euch gern habt” (S. 229). Kurt fühlt sich zu Billie stark hingezogen. Am Anfang ihres Besuches erfährt der Leser überwiegend Billies körperliche Eigenschaften:

Billies Körper war braun [...]. Sie hatte zu dieser getönten Haut rehbraune Augen und [...] blondes Haar [...]. [...] Eine fremde Süße ging von ihr aus; wenn sie so dasaß, die Beine angezogen, die Hände unter den Knien, dann war sie wie eine schöne Katze. Man konnte sie immerzu ansehn (sic!). (S. 225)

Bei den Gesprächen mit Lydia und Billie über die tyrannische Direktorin des Kinderheims, Frau Adriani, und über das zu rettende Kind Ada, wird sich Kurt der Verschiedenheit beider Frauen bewusst: Die Prinzessin Feuer und Flamme; das Kinderleid hatte sie aufgebracht, ihr Herz sprühte. Billie bedauerte das Kind, aber es war, wie wenn ein Fremder in der Untergrundbahn „Verzeihung!” sagte ... sie bedauerte es artig und wohlerzogen und ganz unbeteiligt. (S. 233) Durch diese Eigenschaft Billies entfernt sich Kurt von ihr und erkennt scharfsinnig, dass es nur seine Triebe sind, die ihn zu Billie ziehen: Billie hatte kein Herz. Hast du ihr Herz geliebt, du Lügner? Sie hat so lange Beine ...

Ja, abersie hatja kein Herz. (S. 234)

Nun hat er „einen sittlichen Grund, sie niedriger zu stellen als Lydia” (ebd.). Besonders deutlich wird dies in der anschließenden Friedhofs-Episode. Adas verstorbener Bruder ist auf einem nahe gelegenen Friedhof begraben. Lydia, Kurt und Billie besuchen das Grab, und Kurt muss bei dem Gedanken, dass es sich bei dem Toten um einen kleinen Jungen handelt, weinen. Hier vergisst er, dass er „Billie begehrt hatte, und flüchtet[e] zu der Prinzessin” (S. 235). Kurt ist sich bewusst, dass er Billie rein körperlich begehrt, Lydia hingegen ist für ihn mehr als nur ein erotisches Abenteuer. Bereits am Anfang des Romans bemerkt er: „Sie war mir alles in einem: Geliebte, komische Oper, Mutter und Freund.” (S. 154). Zu diesem Zeitpunkt ist sie allerdings vor allem Kurts Geliebte, denn es werden mehrfach sinnliche Faktoren und die Attraktivität Lydias angesprochen.[53] Im weiteren Verlauf der Erzählung rückt dieser

Aspekt jedoch in den Hintergrund, Lydia wird mehr und mehr zur Mutter.[54] Diese Wandlung wird auch durch den Ich-Erzähler bewusst gemacht: „Ich, Sohn, tat die Pfeife weg, weil die Mutter es so wollte.” (S. 192). Durch Billies Auftreten rückt für Kurt die Sexualität wieder in den Vordergrund, nur dieses Mal übernimmt Billie die Rolle der Geliebten.[55] Bei der bereits erwähnten Friedhofs-Episode „flüchtet” Kurt zu Lydia, nur sie und nicht Billie kann ihm jetzt die geforderte Wärme und Geborgenheit geben. Dies sind ebenfalls asexuelle, mütterliche Eigenschaften.[56] Zur „vollständigen Mutter” wird Lydia durch die Rettung des Mädchens Ada.[57] Nun nimmt sie ihre Rolle als Mutter lediglich gegenüber dem Kind wahr, was Kurt eifersüchtig macht, er projiziert nämlich beide Elternrollen auf Lydia und sieht sich selbst als Kind: „Wer war hier Kind? Ich war hier Kind.” (S. 256)[58] und möchte die Rolle Lydias als Mutter für ihn nicht aufgeben.

Kurt und Billie kommen sich ebenfalls körperlich näher. Kurz vor Billies Abreise beschließt Lydia, dass Billie diese Nacht bei ihr schlafe und Kurt „in der Kemenate” (S. 240) übernachten solle (ebd.). Diese liegt direkt neben dem Zimmer der beiden Frauen. Sie versuchen, ein Rätsel zu lösen, und Kurt schreit durch die offene Tür die Antworten ins Nebenzimmer. Unter dem Vorwand, den beiden beim Rätsellösen helfen zu wollen, betritt Kurt das Zimmer (S. 241 ).[59] Lydia fordert Kurt auf, zu ihr ins Bett zu kommen und wenig später, Billie einen Kuss zu geben (S. 242). Hier bleibt es jedoch nicht bei dem Kuss - sie haben Geschlechtsverkehr zu dritt . Auch in diesem Moment bleibt die Rollenverteilung zunächst aufrecht erhalten: Lydia als Mutter, Billie als Geliebte. Den ersten Kuss mit Billie empfindet Kurt voller Begierde: „Erst ließ sie mich nur gewähren, dann war es, wie wenn sie aus mir tränke” (S. 243), den zweiten mit Lydia als „wie eine Heimkehr aus fremden Ländern” (ebd.). Bei Billie steht also wieder Kurts zu befriedigender Trieb im Vordergrund, bei Lydia mütterliche Eigenschaften wie Geborgenheit und Wärme.[60] Im Laufe des Akts verschmelzen die beiden Rollen allerdings zu einer: Frau (S. 243).

Lydia ist für Kurt ebenso ein „Freund” (S. 154). Dies wird besonders deutlich, als Karlchen zu Besuch ist, hier empfindet Kurt überwiegend freundschaftliche Gefühle. Schon kurz nach Karlchens Ankunft „badet[e]” er „in einer tiefen Badewanne von Freundschaft” (S. 197). Zwar werden diese Gefühle anfangs durch Karlchen ausgelöst, doch wird Lydia ausdrücklich in den Freundschaftsbund mit einbezogen. Die beiden Freunde sprechen eine Privatsprache, in die sich Lydia problemlos einfindet:[61]

[...] und sprachen unter uns einen Cable-Code, der vieles abkürzte. Die Prinzessin fand sich überrraschend schnell darein - es war ja auch nichts Geheimnisvolles, es wareben nur die Übereinstimmung in den Grundfragen des Daseins. (S. 198)

Kurt begründet hier das Verstehen und Anwenden der Privatsprache damit, dass sich die Sprecher dieser Sprache unereinander in ihren Grundauffassungen gleichen. Lydia kann die Sprache also nur „erlernen”, weil sie Kurt ähnlich ist. Und gerade deswegen wird sie ebenfalls als „Freund” anerkannt, denn wenig später erklärt Kurt:[62] Jakopp war der andre (sic!) [der andere sehr gute Freund von Kurt, Anm. d. Verf., J. H.]-wir waren drei. Mit der Prinzessin vier. (S. 199) Lydia sieht sich ebenfalls als Freund an, denn sie nennt Kurt „Fritzchen”. Diesen Spitznamen hatte Karlchen Kurt gegeben. Mit der Übernahme des Spitznamens demonstriert sie, ebenfalls in den Kreis der Freunde zu gehören.[63]

Allerdings fühlt sich Kurt manchmal von seinen Freunden ausgeschlossen, und zwar sowohl von Lydia und Karlchen, als auch von Lydia und Billie. Lydia und Karlchen unterhalten sich auf Plattdeutsch und isolieren so Kurt (S. 202). Kurt versteht das Niederdeutsche zwar, fühlt sich jedoch nicht so stark damit verbunden wie Lydia oder Karlchen, für die es die Heimatsprache darstellt. In der für Kurt nicht gänzlich vertrauten Mundart erzählt Lydia Karlchen, dass ihr Chef sie verführen wollte (ebd.). Das hatte sie ihrem Partner zuvor nicht erzählt (ebd.). Hier wird Kurt also zum einen aufgrund seiner Herkunft, zum anderen aufgrund seiner Unwissenheit bezüglich Lydias Privatleben, ausgeschlossen. Lydia und Karlchen verstehen sich von Anfang an sehr gut: „das Ganze [Heraushebung im Original] wurde nicht recht ernst genommen. Und ich schon gar nicht.“ (S. 197).

[...]


[1] Kästner, Erich: Der tägliche Kram. Chansons und Prosa 1945- 1949. Zürich 1948, S. 84.

[2] Vgl. u. a. Huber-Nienhaus, Susanne: Glücklose Liebe. DasVerhältnis der Geschlechter im Spiegel der Liebesgedichte von Erich Kästner und Kurt Tucholsky. Stuttgart 2004. Huber-Nienhaus beschäftigt sich mit Tucholskys Geschlechterverständnis, wofür sie einige Gedichte Tucholskys analysiert. Sie stellt ebenfalls heraus, dass lediglich der „politische Tucholsky“ in literaturwissenschaftlichen Arbeiten behandelt wird (ebd., S. 7). / Mayer, Dieter: „Das Einfachste sagen, das Allereinfachste“. Anmerkungen zu Kurt Tucholskys Poetik des Gedichts. In: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik. Band 4. Hrsg. von Sabina Becker. St. Ingbert 1998. Mayer merkte bereits im Jahr 1998 an, dass die Lyrik Tucholskys, obwohl sie ein Viertel der von ihm veröffentlichten Texte ausmacht, bisher nicht untersucht worden ist (ebd., S. 144).

[3] Vgl. Übleis, Gabriele: Tucholsky und die Frauen. München 1987.

[4] Erotomanie ist eine krankhafte Steigerung des Sexualtriebs.

[5] Vgl. u. a. Hepp, Michael: Kurt Tucholsky. Biografische Annäherungen. Reinbek 1993 / Übleis, Gabriele: Tucholsky und die Frauen. München 1987 / Zwerenz, Gerhard: Kurt Tucholsky. Biographie eines guten Deutschen. München 1979. Hepp weitet den Einfluss von Tucholskys Mutter auf sein Leben noch aus und gibt den Anstoß, Tucholskys Verhalten als Symptome des von Dan Kiley näher erläuterten „Peter-Pan-Syndroms“ zu sehen (ebd. S. 34, 390). Zwerenz' Erläuterungen sind indes mit Vorsicht zu genießen - sieht er seine Biografie doch als „detektivisch-reportierend“ (ebd., S. 295) an, in der er „Hypothesen auf[...]stellen, Erörterungen [...] eskalieren [und] ungesicherte Aussagen [...] wagen“ (ebd.) kann. Auch belegt Zwerenz keines seiner zahlreichen Zitate mit einer Quellenangabe. Dabei ist er sich bewusst, dass sein „Tucholsky-Porträt immer noch verbesserungsbedürftig“ (ebd.) ist.

[6] Im Folgenden: Rheinsberg. Bei der Quellenangabe von Zitaten wird Rheinsberg verkürzt mit Rh angegeben. Zitiert wird nach Tucholsky, Kurt: Rheinsberg. In: ders. Gesamtausgabe in 21 Bänden. Texte und Briefe. Herausgegeben von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker. Band 1: Texte 1907 - 1913. Hrsg. von Bärbel Boldt, Dirk Grathoff und Michael Hepp. Reinbek 1997. Bezugnahmen auf den Kommentar des Romans werden verkürzt mit „Kommentar zu Rh“ angegeben. Im Folgenden wird die Gesamtausgabe mit GA abgekürzt und lediglich der Band der GA als Quelle angegeben, aus dem zitiert wird.

[7] Im Folgenden: Schloß Gripsholm. Hier wird bei der Quellenangabe SG angegeben, zitiert wird nach Tucholsky, Kurt: Schloß Gripsholm. In: gA Band 14: Texte 1931. Hrsg. von Sabina Becker. Reinbek 1998. Bezugnahmen auf den Kommentar werden mit„Kommentar zu SG“ angegeben.

[8] Ob Rheinsberg tatsächlich als Roman zu bezeichnen ist, ist fraglich. In der Gesamtausgabe umfasst das Werk lediglich 30 Seiten. Für eine Kurzgeschichte jedoch erscheint Rheinsberg, nicht nur wegen seiner Länge, zu umfangreich. Da diese Fragestellung für die vorliegende Arbeit unerheblich ist, wird Rheinsberg im Folgenden stets als Roman bezeichnet.

[9] Grenville, Bryan P.: Kurt Tucholsky. München 1983, S. 115.

[10] Hepp, S. 67.

[11] Kommentar zu Rh, S. 505.

[12] Tucholsky, Kurt: Rheinsberg. In: GA Band 5: Texte 1921 - 1922. Hrsg. von Roland und Elfriede Links. Reinbek 1999, S. 204.

[13] Grathoff, Dirk: Kurt Tucholskys „Rheinsberg“: Die Inszenierung der Idylle im Rekurs auf Theodor Fontane und Heinrich Mann. In: Monatshefte 88, Nr. 2 (1996), S. 197-216, hier: S. 201.

[14] Nave-Herz, Rosemarie: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland. Hannover 1997, S. 23.

[15] Grathoff, S. 214.

[16] Ebd., S. 202.

[17] Ernst Leisi hat hierzu den Begriff der „Privatsprache“ gebildet. Vgl. Leisi, Ernst: Paar und Sprache. Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Heidelberg 1978. Mit dem Anwenden dieser „Privatsprache“ kennzeichnet der Sprecher die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich mithilfe der Sprache von außen abgrenzt (ebd., S. 36). Interessant hierbei ist die Ambivalenz im Gebrauch des Vornamens des Partners: Der geliebte Name wird einerseits in Rinden geschnitzt, doch beim direkten Gespräch vermieden (ebd., S. 24). Wolfgang und Claire benutzen oft den Vornamen des anderen zur Gesprächseröffnung, bedienen sich aber auch Kosenamen (z. B. „Jungchen“ S. 98, „Hulle-Pulle“ S. 98, „mein Affgen“ S. 102, „liebes Weib“ S. 102 etc.). Wolfgang spricht den Umgang mit Vornamen geliebter Menschen ein Mal direkt an, als er Claire bezichtigt, in der Universität nicht aufzupassen, weil sie „Herzen mit meinen Initialenin die Bänke[...] schneide[t]“ (S. 111).

[18] Köhn, Lothar: Tucholsky-von Rheinsberg aus. Literarische Moderne und politisches Engagement. In: ders.: Literatur­Geschichte. Beiträge zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Münster 2000, S. 217.

[19] Diese Namensgebung ist wohl als politischer Seitenhieb zu verstehen. Léon Gambetta war ein Gegner der Monarchie, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts das allgemeine Wahlrecht und die Verwirklichung bürgerlicher Freiheitsrechte forderte. Vgl. Hepp, S. 69.

[20] Der Monismus war die „Popularphilosophie der Jahrhundertwende“ (Riedel, Wolfgang: „Homo Natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin / New York 1996, S. 78). Er wurde von dem Naturwissenschaftler Ernst Haeckel begründet. Haeckel entwickelte eine „gemeinverständliche natürliche Schöpfungsgeschichte“ (ebd.) mit darwinistischen Einflüssen, die der Grundstein für die deutsche Evolutionstheorie, als auch eine „Philosophie für die Welt“ (ebd., S. 77) darstellen sollte.

[21] Berna-Simons, Lilian: Weibliche Identität und Sexualität. Das Bild der Weiblichkeit im 19. Jahrhundert und in Sigmund Freud. Frankfurtam Main 1984, S. 141.

[22] Ebd.

[23] Ebd.

[24] Grathoff, S. 198.

[25] Ebd.

[26] Ebd., S. 211. Hierzu zählt unter anderem die bereits zitierte Stelle, als Claire Wolfgangs Magenschmerzen als Cholera diagnostiziert (S. 103), sowie das Sprachspiel Claires an sich, dass ja schon ihre Eigenschaft als Medizinstudentin unglaubwürdig macht (S. 97).

[27] Vgl. u. a. die Gedichte Tucholskys Confessio, in: GA Band 9: Texte 1927. Hrsg. von Gisela Enzmann-Kraiker, Ute Maack und Renke Siems. Reinbek 1998, S. 241 ff. / Der andere Mann, in: GA Band 13: Texte 1930. Hrsg. von Sascha Kiefer. Reinbek 2003, S. 414 f. / Ehekrach, in: GA Band 10: Texte 1928. Hrsg. von Ute Maack. Reinbek 2001, S. 68 ff. / Mikrokosmos, in: GA Band 4: Texte 1920. Hrsg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger. Reinbek 1996, S. 205 f. / Sehnsucht nach der Sehnsucht, In: GA Band 3: Texte 1919. Hrsg. von Stefan Ahrens, Antje Bonitz und Ian King. Reinbek 1999, S. 149 f. / Wiemansmacht, in: Tucholsky, Kurt: Gedichte. Hrsg. von Mary Gerold­Tucholsky. Reinbek 1983, S. 788. Die Gedichte Confessio, Ehekrach und Mikrokosmos werden auf den Seiten 40 ff. näher behandelt. Für eine umfassende Analyse zu Sehnsucht nach der Sehnsucht und Mikrokosmos vgl. Huber-Nienhaus, besonders S. 51 ff und S. 83 ff..

[28] Kommentar zu Rh, S. 514.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

[33] Tucholsky, Kurt: „Rheinsberg“. In: GA Band 5, S. 207.

[34] Kommentar zu Rh, S. 514.

[35] Mann, Heinrich: Im Schlaraffenland. Berlin 1977, S. 95 f.

[36] Ebd., S. 91.

[37] Ebd., S. 322.

[38] Ebd., S. 324 ff.

[39] Ebd., S. 329.

[40] Hepp, S. 65 f.

[41] Kommentar zu SG, S. 552.

[42] Ebd., S. 581.

[43] Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4. Band. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten (1914-1949). München 2003, S. 237.

[44] Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit. Frankfurt am Main 1986, S. 176.

[45] Ebd.

[46] Lydia vermeidet also, im Gegensatz zu Kurt, die Verwendung des richtigen Namens des Partners im alltäglichen Sprachgebrauch. Ob sie den korrekten Namen „Peters“ durch „in-die-Rinden-schnitzen“ u. ä. weiter gebraucht, wenn Kurt es nicht bemerkt, wird im Roman nicht erwähnt. Leisi stellt in seiner Abhandlung dar, dass man mit dem Besitz eines Namens Gewalt über ein Wesen gewinnt, und belegt dies unter anderem mit Adam, der im alten Testament Macht über die Tiere erlangt, indem er ihnen Namen gibt (ebd., S. 27). Die Tatsache, dass in der Beziehung lediglich Lydia und nicht auch Kurt dem Partner einen neuen Namen gibt, bestätigt Lydias Rolle als Mutter für Kurt, die nachfolgend näher erörtert wird.

[47] In dem man im Übrigen nicht übernachten kann und es höchstwahrscheinlich auch nie konnte. (Schmeichel­Falkenberg, Beate: Lisa Matthias und Gertrude Meyer - Bausteine zu ihrer Biographie. In: Schweden - das ist ja ein langes Land! Kurt Tucholsky in Schweden. Hrsg. von Michael Hepp und Roland Links. Oldenburg 1994, S. 44).

[48] Erwentraut, Kirsten: „Auch hier: Es geht nicht ohne Freud.“ Tucholskys „Schloß Gripsholm“ - „eine kleine Sommergeschichte“? In: Schweden - das ist ja ein langes Land! Kurt Tucholsky in Schweden. Hrsg. von Michael Hepp und Roland Links. Oldenburg 1994, S. 161 f., 177.

[49] Wiegmann, Hermann: Die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005, S. 23.

[50] Erwentraut, S. 161.

[51] Ebd., S. 162.

[52] Dass es hier bei diesem Kuss bleibt, wird von Delabar damit begründet, dass die Befreiung des Kindes Adas aus dem Heim die Protagonisten davon „ablenkt“, weiter zu gehen. Erst nachdem der Plan zur Rettung des Mädchens feststeht, kann die Dreiecksbeziehung weiter ausgebaut werden. Zu diesem Zeitpunkt ist allerdings nicht mehr Karlchen, sondern schon Billie zu Besuch. Vgl. Delabar, Walter: Eine kleine Liebesgeschichte. Kurt Tucholskys Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte. In: Kurt Tucholsky. Das literarische und publizistische Werk. Hrsg. von Sabina Becker und Ute Maack. Darmstadt 2002, S. 131 f.

[53] Erwentraut, S. 156.

[54] Anzeichen hierfür finden sich bereits sehr früh, schon in der ersten Nacht im Schloß Gripsholm. Erwentraut hat dies in ihrer oben aufgeführten Abhandlung eindrucksvoll nachgewiesen. Sie belegt ihre Erkenntnisse mit denen der Freudschen Psychoanalyse, respektive der Freudschen Traumdeutung, vgl. Erwentraut, insbesondere S. 161 ff.

[55] Ebd., S. 157.

[56] Ebd., S. 157.

[57] Ebd., S. 166.

[58] Ebd., S. 158.

[59] Dies kann tatsächlich als Vorwand gesehen werden. Kurt war zuvor bereits im Zimmer der Frauen gewesen. Als er es verlassen sollte, weil die beiden Freundinnen schlafen wollten, verließ er das Zimmer nur widerwillig (S. 240). Hier empfand Kurt bereits eine große erotische Anziehung zu Billie und gab Lydia einen „bedauernden Kuß (sic!)“ (S. 241).

[60] Erwentraut belegt die beibehaltene Rollenverteilung zusätzlich mit Lydias Redegestus, der überwiegend aus mütterlich anmutenden Imperativen besteht (ebd., S. 158). Außerdem bezeichnet Lydia ihren Partner kurz zuvor als „mein[en] Sohn“ (ebd., S. 157). Dass es zwischen Kurt und ihr trotz der Rolle Lydias als Mutter zum Geschlechtsverkehr kommt, begründet Erwentraut mit der „Erfüllung des ödipalen Inzestwunsches“ (ebd., S. 164).

[61] Kurt und Lydia teilen demnach drei Privatsprachen: Zum einen wird dem Partner ein neuer Name gegeben. Die zweite Privatsprache stellt Kurts erfundenes Schwedisch dar, das Lydia sofort nach Kurts Erfindung übernimmt (S. 163). Diese Privatsprache wird jedoch nicht durchgängig beibehalten. Die dritte ist der von Karlchen und Kurt erfundene Cable-Code (S. 198), der allerdings nur in dieser einen Szene angewandt wird.

[62] Erwentraut stellt heraus, dass Kurt die Rollen „Geliebte“ und „Freund“ strikt trennt. So läuft Kurt auch nicht Gefahr, seine Partnerin wegen seiner Freunde zu vernachlässigen: „[...] und ich verriet die Frau nicht an den Mann, wie ich es fast immer getan hatte; denn wenn ein Mann da war, mit dem es etwas zu erzählen gab, dann ließ (sic!) ich die Frau liegen [...].“ (S. 203). Für ihn sind die Begriffe „Frau“ und „Freund“ also unvereinbar. Auch bezeichnet er Lydia und Billie als „Mann“ (S. 165, 229), Erwentraut, S. 176. Diese Vermännlichung kann als der Wunsch Kurts gesehen werden, seinen Trieben zu entgehen. Lydia wird von Kurt, wie soeben ausgeführt, aufgrund ihres Status' als Freund vermännlicht. Die Vermännlichung Billies erfolgt wegen der sexuellen Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübt. Er möchte so seinen wachsenden erotischen Impulsen Billie gegenüber entgehen.

[63] Erwentraut, S. 176.

Excerpt out of 72 pages

Details

Title
"Sie war mir alles in einem - Geliebte, komische Oper, Mutter und Freund."
Subtitle
Das Frauenbild in Kurt Tucholskys Prosa und ausgewählter Lyrik
College
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Deutsche Literatur)
Grade
2,0
Author
Year
2011
Pages
72
Catalog Number
V175140
ISBN (eBook)
9783640960415
ISBN (Book)
9783640961016
File size
1033 KB
Language
German
Keywords
Tucholsky, Frau, Frauenbild, Weimarer Republik, Schloss Gripsholm, Rheinsberg, Gedichte, Lyrik
Quote paper
Bachelor of Arts Julia Hans (Author), 2011, "Sie war mir alles in einem - Geliebte, komische Oper, Mutter und Freund.", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175140

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