Zur gesellschaftlichen Relevanz von Landgemeinschaften


Diplomarbeit, 2002

107 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

Einleitung

1. Arbeitshypothese

2. Definitionen
2.1. Definition „Landgemeinschaften“
2.2. Definition „Zukunftsfähigkeit“:
2.2.1 Zur Kritik des Begriffs der „Nachhaltigkeit“

3. Historische Entwicklung der Landgemeinschaften

4. Gegenwärtige Situation der Landgemeinschaften

5. Zustandsbeschreibung gesellschaftlicher Probleme
5.1. Ökonomie & Soziales
5.1.1 Entwicklung des Neoliberalismus
5.1.2 Auswirkungen des Neoliberalismus
5.1.3 Die Zinsdynamik
5.1.4 Wachstum
5.1.3 Weitere soziale Auswirkungen
5.2. Ökologie
5.3. Fazit

6. Untersuchung der Auswirkungen der Landgemeinschaften auf die Gesellschaft
6.1. Vorstellung der untersuchten Landgemeinschaften
6.1.1 Das Ökodorf Sieben Linden
6.1.2 ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung )
6.1.3 Kommune Niederkaufungen
6.2. Darstellung der Auswertungsergebnisse
6.2.1 Einfluss der Landgemeinschaften auf das nähere Umfeld
6.2.1.1 Das Dorf/die Region:
6.2.1.2 Besucher, Gleichgesinnte
6.2.2 Resonanz im Bereich Medien, Politik und Wissenschaft
6.2.2.1 Medien
6.2.2.2 Institutionalisierte Politik
6.2.2.4 Wissenschaft
6.2.3. Konkrete Projekte/Aktionen und politisches Engagement
6.2.4. Bekanntheitsgrad
6.2.5 Zusammenfassung

7. Schluss
7.1. Diskussion der Forschungsfragen
7.1.1 Bedarf die derzeitige gesellschaftliche Situation einer grundlegenden Veränderung?
7.1.2 Stellen Landgemeinschaften überhaupt sinnvolle Modelle fundamentaler Veränderungen dar?
7.1.3 Welche konkreten Auswirkungen & Resonanzen lassen sich in der Gesellschaft wiederfinden?
7.2. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang: Interviewleitfaden

Einleitung

Seit biblischen Zeiten warnen Menschen vor menschheitsbedrohenden Katastrophen. Apokalyptische Vorahnungen scheinen zu einer anthropologischen Konstante geworden zu sein. Seit den 70er Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen des Berichtes an den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (1972), haben diese Befürchtungen eine neue Qualität bekommen, denn sie werden nun u.a. von wissenschaftlicher Seite mit immer unleugbareren Fakten bestätigt. Die Menschheit scheint sich auf die globale Zerstörung der Lebensgrundlagen zuzubewegen.

In Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung, kam ich dazu, mich der Frage der Erhaltung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Lebensgrundlagen. zuzuwenden

Da auch Landgemeinschaften dieses Thema als zentrales Anliegen und das Ziel verfolgen - und in der Praxis erprobte Auswege aus dieser Entwicklung aufzeigen -, beschäftige ich mich seit 1994 mit solchen Projekten. 1999 habe ich mich dann dafür entschieden, in ein Landgemeinschaftsprojekt in Brandenburg mit einzusteigen. Aufgrund dieses Erfahrungshintergrundes hat sich meine Motivation entwickelt, mich mit der Frage zu beschäftigen, welche Relevanz die Landgemeinschaften für die Gesellschaft besitzen.

Man kann die gesellschaftliche Relevanz von Landgemeinschaften unter vielfältigen sozialen, ökonomischen, ökologischen, politischen und kulturellen Aspekten untersuchen. Da eine Untersuchung all dieser Aspekte den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde, habe ich mich entschlossen, meine Untersuchung auf die Bereiche zu konzentrieren, welche die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft betreffen, Entwicklungen in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und soziale Entwicklung.

In diesem Sinne werde ich in dieser Arbeit drei Aspekte gesellschaftlicher Relevanz von Landgemeinschaften unterscheiden. Die Relevanz von Landgemeinschaften muss sich daran bemessen lassen,

- ob sie notwendig sind: Ihre Relevanz bemisst sich u.a. daran, inwiefern es eine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine andere Lebensweise gibt.

® Bedarf die derzeitige gesellschaftliche Situation tatsächlich grundlegender Veränderungen?

- ob sie brauchbar sind: Auch die Frage, ob sie brauchbare Modelle für notwendige Veränderungen repräsentieren, beeinflusst ihre Relevanz.

® Stellen Landgemeinschaften zukunftsfähige Modelle zum derzeitigen gesellschaftlichen System dar?

- ob sie wirksam sind: Um gesellschaftlich relevant zu sein, bedarf es verändernder Auswirkungen.

® Welche Auswirkungen haben Landgemeinschaften auf die Gesellschaft? Welche Resonanzen lassen sich feststellen?

1. Arbeitshypothese

Gegenwärtig sind die Landgemeinschaften in ihren konkreten Auswirkungen gesamtgesellschaftlich nicht von besonderer Bedeutung. Da die Gesellschaft jedoch langfristig ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört, werden Landgemeinschaften als zukunftsfähige Alternative immer wichtiger werden.

2. Definitionen

2.1. Definition „Landgemeinschaften “

Es hat sich noch kein aussagekräftiger Oberbegriff für die vielfältigen Arten der Gemeinschaften herausgebildet. Meist belässt man es verallgemeinernd bei „Gemeinschaften“, „Kommunen“ oder man spricht von „Gemeinschaftsprojekten“.

Natürlich können sämtliche Lebensgemeinschaften und überhaupt alle Formen gemeinschaftlichen Handelns als Gemeinschaftsprojekte bezeichnet werden. Der Begriff der Landgemeinschaften hat sich allerdings speziell für den in meiner Untersuchung beschriebenen Typ durchgesetzt, so dass auch ich ihn in dieser Weise verwende

Die Bezeichnung „Kommune“ verallgemeinert einen bestimmten Typ von Landgemeinschaften (s.u.), der in den 70er Jahren vorherrschend war, mit dem sich aber mittlerweile immer weniger Landgemeinschaften identifizieren. Im englischsprachigen Raum hat sich der Begriff „intentional communities“[1] eingebürgert, was als „intentionale Gemeinschaften“ allmählich Eingang in den deutschsprachigen Diskurs findet.

Mit diesen Begriffen wird der Umstand bezeichnet, dass eine Gruppe von Menschen sich freiwillig entschieden hat, gemeinschaftlich eine Alternativ zum Mainstream existierende Lebensweise in der Stadt oder auf dem Land zu kreieren und zu leben. Sie entscheiden sich bewusst dafür, zusammenzuleben und tun dies nicht nur, weil es sich aufgrund kultureller Faktoren ergeben hat. Dadurch ergibt sich eine Abgrenzung beispielsweise zu den traditionellen Dorfgemeinschaften, die ansonsten nicht von Ökodörfern zu unterscheiden wären.

Das Gemeinschaftliche daran bezieht sich auf einen alltäglichen Lebensstil, bei dem relativ viel miteinander geteilt wird. Das erstreckt sich beispielsweise auf Mahlzeiten, Kinderbetreuung, soziales Leben, Ideen und Weltanschauungen bzw. Glaube und den Besitz von Geldmitteln, Gärten und Häusern. Dieses Miteinander-Teilen ist frei gewählt und geht über Gründe bloßer Praktikabilität oder Bequemlichkeit hinaus.

Am einen Ende des Spektrums finden sich Gruppen, welche die Gemeinschaft über eventuelle Untereinheiten (Familie, Wohngruppe) stellen und einen sehr hohen Grad an sozialer und ökonomischer Verbindlichkeit haben (z.B. gemeinsame Kasse). Der Unterschied zwischen Persönlichem und Gemeinschaftlichem löst sich hier tendenziell symbiotisch auf. Solche Gemeinschaften werden meistens als „Kommunen“ bezeichnet.

Im Unterschied dazu stehen Gruppen, die sich als Gemeinschaft sehen, aber in individuellen Haushalten oder weitgehend selbstbestimmten Wohngruppen bzw. Nachbarschaften leben und Entscheidungen subsidiär mit sowenig Mitgliedern wie nötig treffen (wobei die Institution des Gesamtplenums weiterhin existiert). Statt einer gemeinsamen Kasse gibt es die gemeinsame Finanzierung bestimmter Bereiche. Ein klarer Begriff für diese Gemeinschaften fehlt. Versuche von Autoren, dafür die Bezeichnung „kommunitäre Gemeinschaften“ einzuführen, haben sich bislang nicht durchgesetzt. Diese Gemeinschaften können Hunderte oder auch Tausende von Mitgliedern haben. Kommunen seien in der Regel mit weniger als 20 Mitgliedern viel kleiner, wie der Soziologe Bill Metcalf schreibt (vgl. Metcalf/Blömer 1996). Sehr große, als Kommune funktionierende Gruppen gäbe es selten und „nur mit Hilfe eines starken charismatischen Anführers und einem Glaubens- und Wertesystem, das die Gruppe über das Individuum stellt und aktive Gemeinschaftlichkeit belohnt“ (ebd. S.9).[2] Eine Ausnahme davon stellen z.B. die sozialistischen Kibbuzim dar, z.B. das Kibbuz Givat Brenner mit rund 2000 Mitgliedern. Den entscheidenden Grund für die „natürliche“ Größenbegrenzung von Kommunen sieht er in der sozialen Komplexität bzw. in der Unmöglichkeit, in einer solchen Gruppe enge persönliche Verbindungen zu einer Menge von Menschen aufzubauen und aufrecht zu erhalten.

Zwischen Kommunen und kommunitären Gemeinschaften gibt es unzählige Übergangsformen. Landgemeinschaften sind in diesem Spektrum nicht spezifisch verortet (lediglich geographisch).

Bei den religiösen bzw. spirituellen Gemeinschaften muss man differenzieren zwischen jenen, denen es primär um ihr eigenes Seelenheil geht und jenen, die letztlich eine Verbesserung der gesamten Gesellschaft im Sinn haben, wobei die Übergänge fließend sind.

Erstere haben zwar trotzdem die Gesellschaft in der Vergangenheit z.T. deutlich beeinflusst. Die größten und ältesten heutigen Gemeinschaften in Deutschland gehören zu diesem Bereich. Ich möchte sie hier jedoch ungeachtet ihrer Qualitäten vernachlässigen, ebenso wie Behindertendörfer und therapeutische Gemeinschaften (im engeren Sinne), da die zwangsläufig sozial unausgewogene Zusammensetzung und die eigene Zielsetzung von vornherein keine gesamtgesellschaftliche Perspektive beinhaltet.

2.2. Definition „Zukunftsfähigkeit“:

Ich verwende den Begriff „Zukunftsfähigkeit“ bzw. „zukunftsfähig“ analog zu der naturwissenschaftlichen Definition der Nachhaltigkeit. Sie orientiert sich an dem Kriterium der Bestandserhaltung eines Systems im Sinne einer Stoffstrombetrachtung. Demzufolge ist ein System dann nachhaltig, wenn infolge von Umsätzen nicht mehr Stoffe abfließen als zufließen (vgl. Fritz/Huber/Levi 1995). Damit ist die Voraussetzung für langfristige Stabilität gegeben.[3] Im gesellschaftspolitischen Nachhaltigkeitsdiskurs ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ jedoch auf eine Weise konnotiert, die ihn zur Bezeichnung von Stabilität im Sinne der Erhaltung der Lebensgrundlagen zweifelhaft macht.

2.2.1 Zur Kritik des Begriffs der „Nachhaltigkeit“

Der Begriff ist schon über 200 Jahre alt. Forstwirte bezeichneten so die Form des Wirtschaftens, bei der langfristig nicht mehr Holz geschlagen wird als wieder nachwächst. Damit ging aber auch die Entstehung einer „modernen“ Forstwirtschaft einher, in deren Folge die Wälder weiterhin verschwanden. Sie wurden ersetzt durch anfällige, monokulturelle, „besenreine“ Holzplantagen, auf denen großflächig dichtstehende gleichaltrige Bestände schnellwachsender Sorten (normalerweise Fichten) meist außerhalb ihrer natürlichen Verbreitungsgebiete angebaut wurden. Dauerhafte Maximalerträge waren Zweck dieser Nachhaltigkeit, die für die Waldökologie eine Katastrophe bedeutete. (vgl. Stern 1989)

Ebenso ambivalent ist das heutige Verständnis des Begriffs.

1987 wurde der Begriff wieder aktuell, als die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung im sogenannten Brundtland-Bericht „sustainable development“ (in der deutschen Fassung mit „dauerhaft“ übersetzt) als umwelt- und entwicklungspolitisches Konzept einführte.

Laut Definition geht es um eine Entwicklung, die „die Bedürfnisse der heutigen Menschen erfüllt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beschränken, ihre Bedürfnisse zu erfüllen“. Dabei wird weder zwischen den Bedürfnissen im Norden und Süden unterschieden, noch zwischen menschlichen Lebensnotwendigkeiten und dem Konsumverhalten, das im wesentlichen auf das Verbrauchsverhalten des Nordens ausgerichtet ist. Diese Definition ist somit in dieser Form gar nicht anwendbar, da sie in sich widersprüchlich ist, denn gerade die Bedürfnisse des Nordens lassen sich nicht erfüllen, ohne die Bedürfniserfüllung zukünftiger Generationen zu beschränken. Somit erlaubt diese Definition eine Auslegung, nach der weiterhin die Interessen der zukünftigen Generationen zugunsten der heutigen vernachlässigt werden können, ohne sich mangelndes Verantwortungsbewusstsein nachsagen lassen zu müssen. Möglicherweise war das die Voraussetzung dafür, dass dieser Begriff vor allem seit der Rio-Konferenz 1992 zu einer Lieblingsvokabel der Politiker geworden ist. Selbst die chemische Industrie oder der Bauernverband - der sich zur Zeit im Konflikt um die Ökologisierung der Landwirtschaft wieder als Verfechter der industriellen Landwirtschaft profiliert - nehmen schon ein „nachhaltiges Wirtschaften“ für sich in Anspruch.

„Normative Setzungen dieser Art sind selbst im globalen Raum konsensfähig, auch über die verschiedenen Kulturkreise, politischen Positionen und wissenschaftlichen Schulen hinweg – freilich nur solange, wie die ethischen Implikationen der Norm nicht expliziert werden müssen. (Altvater 1992: 224)

Die „nachhaltige Entwicklung“ im Verständnis der Agenda 21 beinhaltet auch Gen- und Atomtechnik (Kap 16.1, 22.1), eine weitere Liberalisierung des Handels (Kap.2.7) und zwingend weiteres (permanentes) Wirtschaftswachstum.

Für Wirtschaftsexperten, von welchen die Politiker die behauptete Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums übernommen haben, besitzt jedoch die Frage des Erhalts der Lebensgrundlagen keine Relevanz. Sie taucht nicht in ihrer Agenda auf (vgl. Kapitel Ökonomie).

In der Agenda 21 findet sich auch die Zieldefinition „in geringerem Maße auf die erschöpfbaren Ressourcen der Erde zurückgreifen und mit der Tragfähigkeit der Erde besser im Einklang stehen“ (Kap. 4.11). Worte wie „geringer“ und „besser“ zeigen an, dass es nur um eine womöglich gewissensberuhigende Minderung der Vernichtung der Lebensgrundlagen geht, nicht um ihre Beendigung.

Die Bundesregierung konkretisiert in ihrem Entwurf für die „Nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ 21 Indikatoren für eine „nachhaltige Entwicklung“, u.a. auch: Finanzierungssaldo des Staatssektors, Investitionsquote, Bruttoinlandprodukt, Private und öffentliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Zahl der Wohnungseinbruchsdiebstähle, Ganztagsbetreuungsangebote, Verhältnis der Bruttojahresverdienste von Frauen und Männern, Zufriedenheit mit der Gesundheit, Zahl der ausländischen Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss, Einfuhren der EU aus Entwicklungsländern.[4] Aus diesen Kriterien wird deutlich, wie flexibel und vieldeutig der Begriff der Nachhaltigkeit angewendet wird..

Im politischen Diskurs sind „Nachhaltige Entwicklung“ bzw. „Nachhaltigkeit“ also unscharfe Begriffe, die inhaltlich primär mit einer kurz- bis mittelfristig ausgelegten Politik gefüllt werden, die sich am Leitbild eines modernisierten Industriekapitalismus orientiert.

Aus diesen Gründen halte ich es für notwendig, einen anderen Begriff zu verwenden, wenn man eine Politik beschreiben will, die tatsächlich auf langfristige Überlebensfähigkeit ausgerichtet ist. In der Verwendung des Begriffes „Zukunftsfähigkeit“ sehe ich eine eindeutigere Alternative.

“Nachhaltigkeit“ benutze ich im Folgenden daher nur im Zusammenhang mit „nachhaltiger Regionalentwicklung“, da dieses ein feststehender Ausdruck geworden ist.

3. Historische Entwicklung der Landgemeinschaften

Die moderne säkulare Geschichte der Landgemeinschaften hatte ihre konkreten Anfänge in den USA, die ja auch für religiöse Gemeinschaften aller Art ideale Freiräume bot. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich dort die ersten Gemeinschaften auf der Grundlage sozialer Utopien mit dem Anspruch, eine menschengerechte Gesellschaftsform populär zu machen. Vor allen Dingen deutsche, französische und englische Auswanderer brachten soziale Ideale mit in die USA.

Die Sozialutopisten wie Charles Fourier, Robert Owen und Charles Saint-Simon formulierten Sozialphilosophien und gründeten Gemeinschaften zur Umsetzung und Bekanntmachung ihrer Ideen. 1869 haben schätzungsweise 60 solcher utopisch-sozialistischen Gemeinschaften existiert („History of American Socialism“, John Humphrey Jones). Die Vorteile für Gemeinschaftsgründungen dieser Art lagen in der Verfügbarkeit von großen Mengen billigen Landes, in weitgehender politischer Freiheit und in der Möglichkeit, sich von der industrialisierten Welt zurückzuziehen.

In den Jahren 1825 bis 1830 gründete Robert Owen die ersten Kommunen zur Umsetzung seiner sozialen Theorie. Anfang des 19. Jahrhunderts begann Owen die soziale Sanierung eines völlig desolaten Industriedorfes in Schottland und erlangte später dank seiner Erfolge Bekanntheit in ganz Europa. Über seine Ergebnisse kam er zu dem Schluss, dass ein „gleicher Grad der Sittlichkeit und des Glücks die Gleichheit aller materiellen Lebensbedingungen voraussetzt“ (Utopische Kommunen in den USA, H. Morris).

Owen entwickelte sich zum Kommunisten mit dem Anspruch, sein Modell zu einem gesamtgesellschaftlichen Versuch zu machen. Als wahrhafter Utopist wandte er sich an das Wohlwollen der Reichen und unterbreitete seine Pläne sogar dem Zar Nikolaus von Russland und dem Aachener Fürstenkongress von 1818, allerdings ohne Erfolg. Da er in den USA bessere Möglichkeiten für das Umsetzen seiner Ideen sah, hielt er Vorträge vor dem Repräsentantenhaus in Washington und initiierte mehrere große kommunistische Gemeinschaften mit bis zu 1000 Menschen aus allen europäischen Ländern. Am bekanntesten wurde „New Harmony“. Dort gab es erstmals in den USA einen Kindergarten und eine freie und gemischtgeschlechtliche Schule. Männer und Frauen waren gleichberechtigt an Entscheidungen beteiligt, Sklaven wurden freigekauft und gleichberechtigt integriert. Produktionsmittel und Geld wurden gemeinsam verwaltet.

Die Bewegung, die durch die Schriften von Charles Fourier ins Leben gerufen wurde („ Neue Industrielle Welt“, „Falsche Industrie und ihr Gegenmittel, die natürliche anziehende Industrie“) erlangte ebenfalls nationale Bedeutung in den USA. Fourier war kein erklärter Kommunist; er stellte göttliche Gesetzmäßigkeiten von Harmonie und Freiheit in das Zentrum seiner Philosophie.

„Das allgemeine Gedeihen und Glück der Menschheit ist nur eine Begleiterscheinung der universellen Harmonie seines Systems, nicht dessen erstes Ziel. Gott schuf das All nach einem einheitlichen und harmonischen Plane“, so Fourier (Linse 1983: 16). Daher gäbe es „einen harmonischen Zusammenhang zwischen allem was besteht, zwischen organischem und unorganischem Stoff, zwischen Menschen und Gott, zwischen Menschen und Erdball, zwischen Erdball und Universum. Als Gott den Menschen mit gewissen Trieben und Leidenschaften ausstattete, hatte er die freie und ungehemmte Ausübung dieser Triebe und Leidenschaften im Auge und nicht ihre Unterdrückung. Daher sind alle menschlichen Leidenschaften berechtigt und nützlich, und ideal ist derjenige Zustand der Gesellschaft, der ihren Mitgliedern ungehinderte Gelegenheit zu ihrer Befriedigung bietet“ (ebd.:16). Marx und Engels kritisierten die Ideen von Fourier, Owen und ähnlicher Frühsozialisten als „irrealen Utopismus“, weil sie an den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen vorbeigingen (Demele 1979: 19).

Der Ursprung der „Alternativbewegung“ der Jahrhundertwende in Deutschland lag in der Kombination des Sozialutopismus mit der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts. Mit dem zunehmenden Einfluss der Industrialisierung auf Individuum und Gesellschaft kam bereits die Sorge um naturzerstörerische Konsequenzen hinzu. Die romantische Sehnsucht nach einem Leben in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen und den eigenen Gefühlen, das urchristliche Ideal sozialer und wirtschaftlicher Gemeinschaft und die Abwendung von „seelenloser Mechanisierung und egoistischem Geschäftsgeist“ (Demele 1979: 41) fand ihren Ausdruck in zahlreichen meist vegetarisch-lebensreformerischen Gemeinschaften. Es gab auch mehr sozialistisch ausgerichtete Gemeinschaften, die sich an Proudhon, Kropotkin und Landauer orientierten. Sie hatten die Ideen der Frühsozialisten weiterentwickelt, indem sie bspw. ein größeres Gewicht auf die Notwendigkeit der Veränderung des Bewusstseins legten. Dabei ging es letztlich immer um eine Veränderung der gesamten Gesellschaft. „Wir wollen Vorausgehende sein, wir wollen uns in Bewegung setzen und durch unsere Bewegung wollen wir die Massen bewegen“ (Gustav Landauer: Entstaatlichung - Für eine herrschaftslose Gesellschaft. Westbevern 1976: 50).

Um 1920 gab es rund 100 Landgemeinschaften, meist hierarchisch strukturiert. Anarchistisch-sozialistische, lebensreformerische und anthroposophische Gemeinschaften erprobten die Erneuerung aller Lebensbereiche vom Tanz über die Sexualität, die Ökonomie, die Rechtschreibung bis zur Kleidung und der Ernährung. Was sie miteinander teilten, war ihr Bedürfnis nach einer kollektiven Lebensweise, nach dem „Geist der Gemeinschaft“[5].

Von den Nationalsozialisten wurden dann die Sehnsüchte mancher dieser Gruppen in Verbindung mit dem faschistischen Gedankengut pervertiert und vereinnahmt. Die anderen, sich in dieser Zeit entwickelnden lebensreformerischen Gemeinschaftsmodelle, waren größtenteils entweder mit der Weltwirtschaftskrise zerfallen, scheiterten an sozialen Konflikten[6] oder wurden von den Nationalsozialisten zerschlagen. In der linken Literatur wird die damalige romantische Irrationalität häufig zum Wegbereiter des Faschismus erklärt.

Das Jahr 1967, das Jahr der außerparlamentarischen Opposition und subkultureller Initiativen, war der Beginn nicht nur der Stadtguerillabewegung, sondern auch der Beginn der Neubelebung eines Bewusstseins, in dem das Eigene und das Kollektive nicht mehr Anderen zur Fremdbestimmung überlassen werden sollte. Diesen Ideen von „Befreiung von äußeren und inneren Zwängen“ und vom Konkretisieren von Utopien folgte eine neue Welle von Kommune-Experimenten, deren Grundstein bereits 1966 mit der Gründung der K1 in Berlin gelegt wurde.

Ihr Ziel war die Überwindung der Privatsphäre als Merkmal des verabscheuten Bürgertums, die gemeinsame Durchführung politischer Aktionen und die Abschaffung von Privateigentum und monogamer Beziehungen. Die Kommunardinnen der K1 lebten spontan und lustbetont, doch als das Interesse der geschockten Öffentlichkeit nachließ und die Interviewhonorare, mit denen sie sich finanzierten, weniger wurden, zerbrach die Gruppe nach kurzer Zeit, ohne jemals zu einem inneren Zusammenhalt gefunden zu haben. So wurden sie zwar nicht glücklich, aber immerhin berühmt als Pioniere der Entstehung alternativer Lebenszusammenhänge, deren Praxis kein Vorbild sein konnte, die aber neue Perspektiven zugänglich machten. In abgewandelter Form wurde die Idee der Wohngemeinschaft seither zur bestimmenden Lebensform im studentischen Bereich.

In jener Zeit lieferten die Werke von Wilhelm Reich und Erich Fromm die psychoanalytischen Demaskierungen des „Kleinbürgers“ und gaben Erklärungen für eigene Verhaltens- und Sexualprobleme, die als Neurosen identifiziert wurden. Mit Reichs Schriften diagnostizierte man 2faschistoide Gesellschaftsstrukturen“.

Wissenschaftlich untermauert wurde die Suche nach Alternativen durch die „Frankfurter Schule“, die die marxistische Gesellschaftstheorie mit der Psychoanalyse verband (vgl. Groß 1977). Das trug zu zwei auseinanderdriftenden Auffassungen der Lebenspraxis der „Neuen Linken“ bei:

Einerseits Widerstand, für welchen die individuellen Situationen der Akteure nicht relevant sind, da das zu Verändernde „oben“ ist. Andererseits das subjektive Befreiungskonzept, d.h. Weltveränderung durch Selbstveränderung, politische Aktionen müssen Spaß machen, das Private ist politisch. Es war mit anderen Worten der Konflikt zwischen den Philosophien „das Sein verändert das Bewusstsein“ und „das Bewusstsein verändert das Sein“.

„Selbstveränderer“ wie die K1 wurden nicht nur unpolitischer Nabelschau bezichtigt, sondern oft auch faschistoider Tendenzen, wenn Spiritualität mit ins Spiel kam, während umgekehrt der Vorwurf lautete, dass die patriarchalen bürgerlichen Strukturen in den Köpfen die konventionellen zwischenmenschlichen und politischen Strukturen nur reproduzieren könne.

Der Sprung von der Stadt aufs Land wurde zunächst von der amerikanischen Hippie-Bewegung vorgelebt. Ab 1965 gründeten sich dort zahlreiche Landkommunen, die sich vor allem von der westlichen Zivilisation mit ihrem Konkurrenz-, Leistungs- und Konsumzwang lösen wollten und großen Wert auf Spiritualität und eine emotionale Beziehung zu Mutter Erde legten. Marcuses Schlagwort von der „Grossen Verweigerung“ wurde oft benutzt, um die grundsätzliche Dissidenz mit dem kapitalistischen System auszudrücken.

Nicht zuletzt durch den Internationalismus der neuen sozialen Bewegungen kam es bald auch in der BRD zu ähnlichen Projekten. Die ersten Vertreter einer Aussteigergesinnung traten um 1968/69 auf, als einige 68er wegen einem als trost- und perspektivlos empfundenen Leben in der Stadt aber auch aus antikapitalistischer Überzeugung die Konsequenz zogen, die großen Städte zu verlassen, ein vorindustrielles Landleben zu propagieren und Landkommunen zu gründen. Ihr Ideal war eine alternative, chemielose, kleinbäuerliche Landwirtschaft, die auf einem Selbstversorgungssystem beruht und auf das Maschinenwesen der letzten 150 Jahre so weit wie möglich verzichtet.

Um 1970 entstanden so einige landwirtschaftliche Kooperativen, in denen neben dem anarchischen Ausleben der Gefühle und der Sexualität auch die bäuerliche Arbeit eine große Rolle spielte, was sich in damaligen Alternativblättern mit Namen wie „Der grüne Zweig“, „Kompost und Humus“, „Sanfter Weg“ und „Middle Earth“ ausdrückte. In diesen Kommunen wollte man nach den Erfahrungen des technisierten Großstadtlebens wieder „ganzheitlich“ leben, wieder in der Natur aufgehen und autark sein. Maximale Selbstverwirklichung stand im Vordergrund. Auf eine politische oder erzieherische Wirkung nach außen kam es weniger an (vgl. Demele 1979: 55).

Doch häufig hielt die Idee von der romantischen Idylle auf dem Land der Realität nicht stand, da sich das „einfache Leben“ bald als das harte Leben entpuppte, zumindest was die körperliche Arbeit betraf. Viele Kommunen scheiterten an gruppendynamischen Prozessen, manche an der fehlenden Akzeptanz der Bevölkerung. Bei den meisten machte sich die Unerfahrenheit in landwirtschaftlichen Fragen negativ bemerkbar bzw. fehlte die ökonomische Perspektive völlig. Dennoch gaben manche Kommunen nicht gleich wieder auf und einige versuchten, mit anderen Siedlergruppen ein auf Tauschhandel basierendes Netzwerk zu schaffen, auf das sie in Notzeiten zurückgreifen konnten.

Trotz der anfänglichen Widrigkeiten entwickelte sich um die Mitte der siebziger Jahre doch so etwas wie ein „grünes Leben“ auf genossenschaftlicher Basis. Am langlebigsten erwiesen sich dabei die Projekte, die sich in Stadtnähe befanden und sich nicht völlig in der Alternativökonomie des eigenen Betriebes isolierten, sondern auch einen menschlichen und kulturellen Kontakt zur städtischen Gegenwelt aufrecht erhielten (vgl. Jarchow/Klugmann 1980). In dieser Zeit erschienen relativ viele Bücher zum Thema Landleben bzw. Landkommunen, doch es ging meistens nur um alternative Konzepte des menschlichen Zusammenlebens, kaum um spezifisch ökologische Aspekte. Es war viel von sozialer Erneuerung oder neuer Lebensqualität die Rede, die Frage ökologisch angepasster Lebensweisen war noch wenig in der Diskussion.

Dementsprechend konzentrierten sich einige der damaligen Kommunen auf zum Teil sehr radikale soziale Experimente, wie z.B. die von Otto Mühl 1972 gegründete und straff geführte berüchtigte AAO („Aktionsanalytische Organisation)“, deren Mitglieder versuchten, ohne Privateigentum, ohne Zweierbeziehungen und ohne technische Geräte auszukommen. Mühls extreme therapeutische Methode der Aktionsanalyse sollte die Befreiung des Individuums fördern. Neben Mühls Lieblingsthemen „scheißen, pissen, kotzen, ficken“ bestand sie aus Schlägen und Schreien bis hin zum rituellen symbolischen Elternmord und sollte der Bewältigung der in der Sozialisation erfahrenen Schädigungen dienen. Mühl nutzte gruppendynamische Prozesse (z.B. Konformitätsdruck), um sich an die Spitze einer Hierarchie zu setzen. Bald war durch bloßen sozialen Druck ein totalitäres System entstanden. Die Kommune zerbrach erst 1990, als Mühl wegen „Unzucht mit Minderjährigen“ zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde (vgl. Brumann 1998).

Im Gesamten waren die Gemeinschaften jedoch - im Gegensatz zu den meisten Vorkriegsgemeinschaften – nur sehr selten hierarchisch strukturiert.[7] Das in der Szene viel diskutierte Beispiel der AAO erfüllte zumindest insofern seinen Zweck, als es die Sensibilität für die Gefahr von Herrschaftsstrukturen in Gemeinschaften schärfte.

4. Gegenwärtige Situation der Landgemeinschaften

Es spricht nicht viel dafür, die Nachkriegs-Landgemeinschaften in eine Traditionslinie mit den Gemeinschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu stellen.

Die heutigen Gemeinschaften entstanden bzw. entstehen vor einem ganz anderen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrund. Es gibt nur selten eine Auseinandersetzung mit den Vorläufern oder deren Utopien bzw. Theorien. Auch beziehen sie sich in ihren Selbstdarstellungen nicht auf ihre damaligen Vorgänger. Auch spielt materielle Not für die Mitgliedschaft keine Rolle mehr.

Der gegenwärtige Pluralismus und Liberalismus erfordert für die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft keinen sozialen Ausstieg aus der Gesellschaft mehr. Anders leben ist mittlerweile ein fester, oft staatlich geförderter Bestandteil westlicher Gesellschaften geworden. Die staatliche Politik sowie das gesellschaftliche Klima sind nicht mehr so konservativ, repressiv und inhuman. Es hat entsprechend den politischen Lagern auch in den Gemeinschaftsprojekten eine Bewegung zum Gemäßigteren hin stattgefunden. Die Gemeinschaften sind mittlerweile ideologisch meist nicht mehr so fundamentalistisch bzw. sektiererisch ausgerichtet.

Übereinstimmungen zu den Vorkriegs-Landgemeinschaften sind trotzdem unverkennbar. Eine engagierte Suche nach werteorientierten, menschengerechteren Lebensweisen, als Reaktion insbesondere auf die Erfahrung der Lebensrealität der großen Städte, die schon damals Ausgangspunkt der Kritik war, führt m.E. fast zwangsläufig in ähnliche Richtungen. Das zentrale Charakteristikum dabei ist das kollektive, kooperative Element.

Hier lassen sich zwei Dimensionen, die Gemeinschaftsprojekte und ihre Mitglieder wesentlich auszeichnen, unterscheiden:

Zum einen kennzeichnet sie – als Projekte - die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben, die Suche nach anderen, „mitwelt“-verträglicheren Lebensweisen. Deshalb probieren sie neue Leitideen aus, die sich von den Ausrichtungen und Verfahrensweisen herkömmlicher Lebensstile oder Gesellschaftsordnungen deutlich unterscheiden. Um Visionen und Strategien für andere Lebensweisen zu verwirklichen, suchen und beschreiten sie alternativ-innovative Wege, die häufig in gleich mehreren Hinsichten die gewohnten Verhältnisse transzendieren.

Zum anderen - als Gemeinschaften - charakterisiert sie der Wunsch nach einem Leben in lebendiger Gemeinschaft mit anderen, eine Suche nach Lebensformen, die der Beziehung und dem Miteinander mit Menschen, auch mit Tieren und Pflanzen, einen besonderen Wert geben. Im praktischen Alltag integrieren Gemeinschaftsmitglieder daher häufig zentrale Lebensbereiche in ihr Gemeinschaftsleben: vielfach essen, wohnen und arbeiten sie zusammen.

War die erste Generation der Nachkriegslandgemeinschaften (bis etwa Mitte der Achtziger) noch relativ klar weltanschaulich ausdifferenziert (Anarchospontis, Sozialisten, Ökos, Hippies, Anthroposophen, Christen, New Age-Spirituelle), so ist die jetzige Generation nicht mehr so deutlich gegeneinander abzugrenzen. Man trifft sich auf gemeinsamen Veranstaltungen und vernetzt sich lagerübergreifend, auch über Medien („Eurotopia“, Internet) und man lernt voneinander (z.B. Soziales Forum (s.u.), Radikale Therapie, „Sabbatical“).

Für ihre bewusste Entscheidung, nicht herkömmlich in der Gesellschaft zu leben, sondern ein Leben in einer Gemeinschaft zu wählen, die an bestimmten Leitideen orientiert ist, gibt es bei den Mitgliedern eine Vielzahl von Motivationen.

Während einige das Anliegen haben, möglichst unabhängig zu sein von gewöhnlichen, als defizitär empfundenen Lebensstilen und dem herrschenden Gesellschaftssystem, dominiert bei den anderen der Wunsch, auf diese Einfluss zu nehmen und sie prägend zu verändern. Andere wiederum suchen Gemeinschaftsprojekte hauptsächlich wegen der erweiterten Spielräume für eine individuelle Lebensgestaltung und persönliche Selbstentfaltung auf. Für wieder andere hingegen sind die Möglichkeiten für ein innigeres und erfüllteres soziales Zusammensein ausschlaggebend, die sie als wichtig empfinden, um die eigene Persönlichkeit entwickeln zu können. Gewöhnlich finden sich Anteile aller dieser Motivationen bei den Mitgliedern. Sie alle verbindet das Bedürfnis danach, mit anderen in Gemeinschaft zu leben und „das Bestreben nach einer Integration von sozialen und ökologischen Zielen“[8] (Eurotopia 2000: 345).

Der Gemeinschaftsprojekte-Aktivist und -Theoretiker Dieter Halbach schreibt über das heutige Gemeinschaftverständnis:

„Bisher wurden Gemeinschaften aufgrund von Tradition, kollektiver Anpassung, Ideologie und Identifikation aufgebaut. Die eigene Familie, Stammesorganisation, Nation, Partei , Fußballmannschaft oder auch politische und spirituelle Vision wurde zum kollektiven Mutterbauch, die „anderen“ draußen zum Feindbild, vor dem man sich gemeinsam schützen musste. Diese vorbewusste Gemeinschaftsform ist somit Ursache für alle Formen des gesellschaftlichen Krieges.

Erst wir „Kinder von Marx und Coca Cola, Internet und östlicher Weisheit“ sind so frei von dem Gewicht traditioneller Kulturen und verdreht genug durch den globalen Supermarkt unbegrenzter Ideale und grenzenloser Illusionen, dass wir eine umfassende Identität suchen können.

Dieser neue Gemeinschaftsansatz ist planetarisch und bezieht alle Lebewesen mit ein. Er gründet auf dem freien und veränderbaren Willen seiner Mitglieder. Er ist ein Raum für Selbsterkenntnis und persönliche Entwicklung. Seine Strukturen gleichen dem Systembild der Ökologie: Jeder Einzelne ist sowohl ein Ganzes als auch Teil eines größeren Ganzen. Neue Gemeinschaften sind weder strukturlose Haufen noch hierarchische Kollektive. Sie sind sowohl „ganzheitlich“ als auch „individualistisch“ und verbinden Chaos, egalitäre Kommunikation und geschichtete komplexe Ordnung. Ihre Vernetzungen machen nicht Halt an der eigenen Gruppengrenze, sondern beziehen bewusst andere Gruppen mit ein“ (Eurotopia 2000: 24).

Bei einem Vergleich der Landgemeinschaften wird deutlich, dass - bei allen sonstigen Unterschieden zwischen den Gemeinschaften - Übereinstimmung darin besteht, dass kollektive Strukturen mit kooperativen Beziehungen (in auffallendem Widerspruch zur eigenen Sozialisation) als notwendig empfunden werden. Das kommt beispielsweise auch in der Erklärung zum Selbstverständnis des „Come Together“-Netzwerkes[9] zum Ausdruck.

Unter der Überschrift „Gemeinschaftsmodelle als Entwicklungsmodelle für eine zukunftsfähige Gesellschaft“ heißt es:

„Die gegenwärtige Umweltkrise ist für uns untrennbar verbunden mit der sich zuspitzenden Zerstörung sozialer Bezüge. Die Umweltkrise ist somit auch eine Inweltkrise. Sie hängt zusammen mit der wachsenden Isolation der Menschen untereinander und von der Natur und mit dem Mangel an erlebbarer Verantwortung und sinngebender Tätigkeit. (...) Der prozesshafte, ganzheitliche und kooperationsbetonte Charakter gemeinschaftlichen Lebens ist für uns der Kern einer anpassungsfähigen natur- und menschengemäßen Lebensweise, die sich nicht an Gewinn- und Konsummaximierung orientiert“ (eurotopia 2000: 345).

Eine antikapitalistische Grundhaltung ist für alle Gemeinschaften selbstverständlich. Das Konkurrenzprinzip wird zugunsten einer solidarischen Ausrichtung abgelehnt. Übereinstimmungen bestehen auch in der großen Bedeutung von Mitsprache und gemeinsamem Eigentum, wobei letzteres abnimmt und z.T. auf wenig mehr als den Grundbesitz beschränkt ist. In der Regel besteht der Anspruch, die Spaltung des Lebens in Arbeit und Freizeit aufzuheben, indem man selbstbestimmte, gemeinsame und sinnvolle Arbeit leistet. Gewöhnlich gibt es jedoch ein derartiges Übermaß an Arbeit, dass in Selbstdarstellungen von Mitgliedern meistens darüber geklagt wird.

Was die Häufigkeit der Gemeinschaften anbelangt, ist festzustellen, dass es - laut FIC - noch nie so viele Gemeinschaften wie heute gegeben hat. Das aktuelle europäische Gemeinschaftsverzeichnis („eurotopia-Projekteverzeichnis) weist 333 Gemeinschaften aus, davon 107 in Deutschland (mit über 2300 Mitgliedern). Die Dunkelziffer ist schwer zu schätzen, dürfte aber viel höher liegen. Der Informationsleiter des Fellowship For Intentional Communities-Netzwerks (FIC), dessen Verzeichnis über 627 amerikanische Gemeinschaften aufführt, schätzt die Dunkelziffer auf das 10fache.

Ein Mitarbeiter von Eurotopia schätzt die Anzahl der Gemeinschaften, die nicht im eurotopia-Verzeichnis auftauchen, auf mindestens das Doppelte. Dies deutet nebenbei auf ein Problem für die politische Relevanz hin, nämlich mangelnde Vernetzung (viele Gemeinschaften wollen aber auch gar nicht veröffentlicht werden). Die Zahlen des FIC für Japan: 250, für Australien und Neuseeland: 200. Israel hat in Relation zur Einwohnerzahl die meisten Gemeinschaften (1998: 267 Kibbutzim mit 115.500 Mitgliedern), an zweiter Stelle steht Deutschland.

Rund 1/3 der Projekte im europäischen Projekteverzeichnis befinden sich in Deutschland und damit mit großem Abstand die meisten in Europa. Einen Boom an Neugründungen gab es durch den Anschluss der DDR in den Neunzigern. Durch einen entscheidenden Vorteil bei der schwierigsten Gründungshürde für neue Projekte – die Kosten für einen Standort – wurde dies möglich.

5. Zustandsbeschreibung gesellschaftlicher Probleme

Um die Frage nach der Notwendigkeit von grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen beantworten zu können, soll im Folgenden zunächst einmal skizziert werden, ob bzw. inwiefern gesellschaftliche Probleme eine solche Notwendigkeit begründen.

Ich werde mich dabei im Folgenden auf die drei Bereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales konzentrieren. Ausführungen zur Rolle der Politik und des gesellschaftlichen Bewusstsein können aus pragmatischen Gründen lediglich oberflächlich angedeutet werden. Eine tiefergehende Analyse wäre zwar wünschenswert, würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

5.1. Ökonomie & Soziales

“It seems like it makes sense to open up other people's markets so we can sell our products around the world.” George W. Bush

[...]


[1] Ausgehend von der Umbenennung des größten US-Netzwerks für Gemeinschaftsprojekte von "Inter-Community Exchange in "Fellowship of Intentional Communities" in 1986

[2] Die größte derartige Gemeinschaft im Eurotopia-Projekteverzeichnis ist die „Ecopolis Tiberkul“ in Russland mit 3000 Mitgliedern, die von dem christlich orientierten Führer Vissarion geleitet wird.

[3] Dieses Verständnis von Stabilität schließt Entwicklung und qualitatives Wachstum nicht aus.

[4] http://www.dialog-nachhaltigkeit.de/html/infos.htm, 09.12.2001

[5] Demele 1979: 40

[6] meistens gründeten die Probleme in der Unfähigkeit, den eigenen hohen Idealen zu entsprechen

[7] zumindest nicht formell

[8] Aus der gemeinsamen Erklärung des Come Together Netzwerkes

[9] Ein Netzwerk von rund 40 deutschen Gemeinschaften, die sich seit 1994 jeden Sommer treffen

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Zur gesellschaftlichen Relevanz von Landgemeinschaften
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Erziehungswissenschaftliches Institut)
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
107
Katalognummer
V175532
ISBN (eBook)
9783640965434
ISBN (Buch)
9783640965625
Dateigröße
815 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kulturelle Evolution, transition town, Landkommune, Ökodorf, ZEGG, Kommune Niederkaufungen
Arbeit zitieren
Bijan Fatemi (Autor:in), 2002, Zur gesellschaftlichen Relevanz von Landgemeinschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175532

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