Taktiken und Strategien zur Lebensmittelbeschaffung in Notzeiten


Hausarbeit, 2000

33 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zur Ernährungssituation in den betrachteten Zeiträumen
2.1 Österreich: Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
2.2 Deutschland: Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit
2.3 Das „Dritte Reich“
2.4 Österreich: Erste Nachkriegsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg
2.5 Deutschland: Erste Nachkriegsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg
2.6 Gemeinsamkeiten

3. Ideologie: Verherrlichung des Wirtschaftens mit knappen Mitteln

4. Die verschiedenen Taktiken und Strategien zur Lebensmittelbeschaffung
4.1. Legale Strategien und Taktiken
4.1.1 „Ein Königreich für einen Schrebergarten“ Privater Anbau
4.1.2 „Wir lasen Ähren, die wurden ausgeklopft und die Körner in der Kaffeemühle gemahlen“ Sammeln von Wildprodukten, Ährenlesen u. ähnl.
4.1.3 „Hühner, Hasen, Kaninchen, Schweine etc.“ (Klein-)tierzucht in der Stadt
4.1.4 „Hunde und Katzen? ja, da hat’s wenige gegeben“ Überschreiten von Tabus
4.1.5 „wenn man Pech hatte, dann war die Milch schon verkauft, wenn man endlich rankam“ Taktiken beim Anstellen
4.1.6 „Einmal überhäuften die Russen mein Tablett mit Tomaten“ Lebensmittel von den Besatzungstruppen
4.1.7 „CARE-Pakete aber konnte man sich sogar schicken lassen“ Spendenaktionen u. ähnl.
4.2. Illegale Strategien und Taktiken
4.2.1 „Und auch Essigessenz wurde von der Landbevölkerung gerne genommen“ Hamstern
4.2.2 „Ähnlich wie heute in der Rauschgiftszene“ Einkaufen im Schwarzhandel - Tauschhandel
4.2.3 „Es wurde oft ein Schwein in einem hinteren Winkel aufgefüttert“ Schwarzschlachten, Schwarzbuttern u. ähnl.
4.2.4 „ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit“ Wilderei
4.2.5 „Bis zu den Knöcheln watete man in der Butter“ Plünderungen
4.2.6 „Erwischen durfte man sich natürlich nicht lassen“ Lebensmitteldiebstähle

5. Stadt versus Land

6. Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den Strategien zur Lebensmittelbeschaffung

7. Zusammenfassung

Quellen und Literatur

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist es, einen Einblick zu geben in die Art und Weise, wie sich Menschen in Österreich und Deutschland in den Hungerzeiten der Kriegs- und Nachkriegsjahre beider Weltkriege zusätzliche Nahrungsmittel verschafft haben. Eine solche Arbeit muß im gegebenen Zeitrahmen notwendigerweise bruchstückhaft bleiben. Wohl habe ich versucht, auch regionale und zeitliche Unterschiede aufzuzeigen, doch war es mir bei vielen Details nicht möglich, Parallelstellen aus anderen Gebieten oder Zeiträumen zu finden oder schlüssig zu behaupten, es hätte dies oder jenes eben dort oder damals nicht gegeben. Manche der angeschnittenen Themen böten sicherlich Stoff für eine Diplomarbeit. Worauf es mir ankam, war, die vielen Facetten aufzuzeigen, die Lebensmittelbeschaffung in Notzeiten annehmen kann, ebenso wie die Komplexität der Situationen, in denen diese Nahrungsbeschaffung geschah.

Die Unterlagen, die ich verwendet habe, sind sehr verschiedener Art. Es überwiegt die Sekundärliteratur - meist handelt es sich um Arbeiten zur Oral history, um Heimatforschung oder um zeitgeschichtliche Analysen - , doch habe ich auch einige Originalquellen einbezogen. Für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Nachkriegszeit konnte ich zusätzlich auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Ein solch breiter Zugang bietet den Vorteil, daß viele verschiedene Aspekte sichtbar werden. Als Nachteil ist jedoch anzusehen, daß die Art der Quelle nicht immer explizit deutlich gemacht werden kann, sondern Quellen verschiedener Art mehr oder minder auf eine Stufe gestellt werden müssen.

Was die Literatur betrifft, so sind Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg und seiner Nachkriegszeit weit häufiger vertreten als solche zum Ersten Weltkrieg. Dies hängt größtenteils damit zusammen, daß die relativ junge Methode der Oral history nur mehr wenige Personen erfassen konnte, die die Zeit des Ersten Weltkriegs bewußt miterlebt haben. Da die Gliederung meiner Arbeit nach Themen und nicht chronologisch erfolgt, habe ich mich bemüht, aus dem Zusammenhang ersichtlich zu machen, auf welche Zeit und welches Gebiet sich einzelne Feststellungen oder Beispiele beziehen. Auf jeden Fall ist dies aus dem Literaturverzeichnis ersichtlich.

2. Zur Ernährungssituation in den betrachteten Zeiträumen

In Anbetracht der verschiedenen Zeiträume, auf die sich diese Arbeit bezieht, und der großen lokalen Unterschiede (Österreich/Deutschland, Stadt/Land, Besatzungszonen usw.) ist es hier nicht möglich, genauer auf die Hintergründe einzugehen. Daher möchte ich nur einige kurze Angaben zur Ernährungssituation in den Kriegs- und Nachkriegszeiten machen.

2.1 Österreich: Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Bereits vor dem Krieg war Österreich bzw. die „im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder“ in bezug auf die Lebensmittelversorgung passiv. Es war durch eine Zollunion mit dem zweiten Teil der Doppelmonarchie, Ungarn, verbunden, aus dem u. a. ca. ein Drittel des Brotgetreides, aber auch andere wichtige Nahrungsmittel eingeführt wurden.[1] Die diesbezüglichen Verträge sahen wohl ein Recht Ungarns auf Ausfuhr, aber keine formelle Verpflichtung dazu vor.[2] Als daher Ungarn Anfang 1915 die Lieferung landwirtschaftlicher Produkte nach Österreich praktisch unterband, machten sich hier gravierende Versorgungsmängel bemerkbar. Bereits im April 1915 wurden Brotkarten eingeführt; nach und nach wurden alle wichtigen Lebensmittel rationiert.

Schon 1916 war die Versorgungslage in Österreich schlecht. 1917 wurden die Lebensmittelrationen extrem gekürzt, Ersatzstoffe vermehrt propagiert.[3] Hungersnot herrschte vor allem in den städtischen Ballungszentren, aber auch in abgelegenen Siedlungen der Gebirgsgegenden.[4] Im Jahr 1918 spitzten sich nach einer kurzfristigen Besserung im Juli Anfang Oktober die Verhältnisse immer mehr zu. Besonders in Wien brach die Lebensmittelversorgung zusammen.

Erschwert wurde die Bewirtschaftung u. a. durch fehlende oder mangelhafte Produktions-, Verbrauchs- und Bevölkerungsstatistiken sowie organisatorische Mängel. So wurden z. B. die Berechnungen aufgrund der Volkszählung von 1910 vorgenommen; die nächste Volkszählung im Jahre 1920 zeigte dann, daß in Wien um 300.000 Brotkarten zuviel ausgegeben worden waren.[5]

Deutschland half im Ersten Weltkrieg wiederholt Österreich bei der Lebensmittelversorgung aus, aber „die Verhandlungen mit den deutschen Regierungsstellen waren wiederholt höchst unerfreulich.[6] Dennoch bedauert auch Loewenfeld-Russ, von dem diese Aussage stammt, nach Kriegsende, daß die trostlose wirtschaftliche Lage „Rest“-Österreichs nicht durch einen Anschluß an Deutschland gemildert werden konnte. Erst 1920 besserte sich die Ernährungslage langsam. Die Rationalisierungsmaßnahmen wurden schrittweise aufgehoben.[7]

2.2 Deutschland: Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit

Obwohl im Vergleich zu Österreich die Ernährungslage in Deutschland besser war, kam es auch hier zu schweren Versorgungsproblemen. Gravierend war vor allem die Blockade der Nordsee durch Großbritannien. Eine Fehlentscheidung der Regierung im Frühjahr 1915 zur Zwangsabschlachtung der Schweine (als „Schweinemord“ bekannt) verschärfte die Situation nur noch.[8] Im Winter 1916/17 kam es zu einem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung; der Winter blieb als „Rübenwinter“ in Erinnerung. Die extreme Situation dauerte bis zum Sommer 1917, dann entspannte sich die Lage etwas, doch herrschte auch in Deutschland in der Folge in fast allen Städten ein Zustand dauernder Unterversorgung, der erst gegen 1920 abflaute.[9]

2.3 Das „Dritte Reich“

In Deutschland war schon im Herbst 1934 die Einfuhr von Konsumgütern zugunsten des Imports von rüstungswichtigen Rohstoffen drastisch gekürzt worden. Am 12. 1. 1936 fand der erste „Eintopfsonntag“ statt (der erste solche Sonntag in der „Ostmark“ war der 9. Oktober 1938[10] ).

Im September 1939 wurden für die wichtigen Verbrauchsgüter Karten eingeführt, Fett war aber schon vor Kriegsbeginn rationiert worden. Die Verbraucherkategorien der Selbstversorger und Teilselbstversorger wurden geschaffen. Gleichzeitig trat die Kriegswirtschaftsverordnung in Kraft, deren Artikel 1, § 1, in der Fassung von 1942 lautete: „Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseiteschafft oder zurückhält..., wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden.“[11] Dazu kam eine „Verordnung gegen Volksschädlinge“, die u. a. die Todesstrafe für Plünderung vorsah.[12] Die „Verbrauchsrege-lungs-Strafverordnung“ setzte die Strafen für „Abgabe oder Bezug bezugsbeschränkter Erzeugnisse ohne Bezugsberechtigung“ (d. h. jede Form von Schwarzhandel) fest.[13]

Der Bevölkerung wurde u. a. durch Schriften die Regelung der Versorgung nahezubringen versucht, wobei meist nicht versäumt wurde, darauf hinzuweisen, daß sich die wirtschaftliche Katastrophe aus dem Ersten Weltkrieg unter den Bedingungen des Nationalsozialismus nicht wiederholen würde.[14]

Den Bauern gegenüber versuchte das nationalsozialistische Regime ein Gleichgewicht zwischen Zwang, Prämiensystem und Lob herzustellen, wodurch erreicht wurde, daß das Ablieferungs- und Kontrollsystem lange Zeit relativ gut funktionierte. Auf diese Weise und durch Abziehen von Lebensmitteln aus den besetzten Gebieten konnte erreicht werden, daß bis gegen Ende 1944 keine Hungerkatastrophe auftrat.[15] Mit dem Zusammenbruch der „Dritten Reiches“ kam es dann auch zum wirtschaftlichen Zusammenbruch.

2.4 Österreich: Erste Nachkriegsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Ernährungssituation war nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes katastrophal, wenn es auch große regionale Unterschiede gab. Besonders schlecht war die Lage außer in Wien in den Gebieten von Wiener Neustadt, Hainfeld, St. Pölten, in den Tälern des Voralpengebiets und im westlichen Wienerwald.[16] Erst im September 1945 konnten täglich 1550 Kalorien ausgegeben werden, eine Zahl, die bald darauf wieder auf 1200 sank. Ende 1946 kam man wieder im ganzen Bundesgebiet auf 1550 Kalorien. Die schlechte Ernte des Jahres 1946 und der extrem kalte Winter 1946/47 mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung brachten eine neue Verschärfung.[17]

Nur mit Hilfe von seiten der Besatzungsmächte und aus dem neutralen Ausland (siehe das be-treffende Kapitel in dieser Arbeit) konnte die Bevölkerung die ersten Nachkriegsjahre über-stehen. Dann besserte sich die Situation zusehends, aber erst im Sommer 1953 wurden die Lebensmittelkarten in Österreich abgeschafft.

2.5 Deutschland: Erste Nachkriegsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg

In Westdeutschland hatte sich die Versorgung der Bevölkerung seit dem Frühjahr 1946 insbesondere in den städtischen Ballungszentren auf einem extrem niedrigen Stand, nämlich zum Teil auf wenig mehr als 1000 Kalorien, eingependelt. Es kam zu massenhaften Hungerprotesten. Da die Ernährungssituation in der britisch besetzten Zone besonders schlecht war, wurden am 1. 1. 1947 die amerikanische und britische Zone zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet („Bizone“) zusammengeschlossen. Die Ernährung der Bevölkerung konnte nur durch Hilfsaktionen vor allem der Amerikaner aufrechterhalten werden. In der Bundesrepublik brachte die Währungsreform vom 20. 6. 1948 die Lebensmittel wieder auf den Markt, in Berlin verschärfte sich jedoch die Situation während der Berliner Blockade 1948/49. Der entscheidende Durchbruch in der Lebensmittelversorgung kam in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1950. Am 1. 1. 1950 wurden die Lebensmittelmarken mit Ausnahme von Zucker aufgehoben.[18]

In der sowjetischen Zone Deutschlands war die Hungersnot ebenfalls groß. Die Sowjets konnten - ebenso wie die Briten - aus eigener Kraftanstrengung nur wenig Nahrungsmittelhilfe geben. Das System der Lebensmittelverteilung wurde den sowjetischen Verhältnissen angeglichen, doch trotz dieser Umstrukturierungen lebte hier die „Rationengesellschaft“ der unmittelbaren Nachkriegszeit in der späteren DDR fort. Schlangestehen, Kompensationsgeschäfte, Hochpreismärkte und minderwertige Produkte beherrschten weiterhin den Alltag.[19] Die Zwangswirtschaft der Kriegsjahre ging in die sozialistische Planwirtschaft über.

2.6 Gemeinsamkeiten

Trotz aller Unterschiede der Lebensmittelversorgung im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie der Situation in Österreich und Deutschland war doch beiden Perioden gemeinsam, daß es - zumindest während längerer Zeiträume - vor allem in den städtischen und Industriegebieten offiziell wesentlich weniger zu essen gab, als zur Lebenserhaltung notwendig ist. Während im Ersten Weltkrieg die ausgesprochene Hungerzeit schon bald begann, trat sie im Zweiten Weltkrieg, als man aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gelernt hatte, infolge der sofort einsetzenden Rationierung von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern erst mit dem nahenden Zusammenbruch Nazideutschlands ein, um dann über Jahre hinaus anzudauern.

Diese völlig ungenügende Lebensmittelversorgung zwang die einzelnen, sich auf die eine oder andere Weise zusätzliche Lebensmittel für sich und ihre Familie zu beschaffen. In einer in der Literatur oft zitierten Abhandlung, die sich auf den Ersten Weltkrieg bezieht, heißt es: „Es ist ein Irrtum, daß sich die Menschen an das Hungern gewöhnen können ... Ohne Rucksackverkehr und ohne Schleichhandel wäre bei den herrschenden offiziellen Ernährungszuständen Wien längst ausgestorben. Wenn der Wiener nicht tot ist, so ist damit der Beweis erbracht, daß er entweder selbst hamstert oder sich von Schleichhändlern seine Nahrung ergänzen läßt.“[20] Daß die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weniger dramatisch war, zeigt u. a. die Tatsache, daß der Generaldirektor der UNRRA im Mai 1946 erklärte, Österreich zähle zu jenen Ländern der Welt, die dem Niveau des Hungertodes am nächsten seien.[21]

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es viele Angaben darüber, wie hoch die Kalorienmenge der offiziell zugeteilten Lebensmittel an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeitpunkten war. Die extremsten Zahlen bewegen sich zwischen 350 und 900 Kalorien. So waren es z. B. in Wiener Neustadt im August 1945 497 Kalorien,[22] in Essen Anfang 1947 740 Kalorien.[23] Diese Werte machen nur ungefähr ein Fünftel bis ein Drittel dessen aus, was nach heutiger Auffassung ein Erwachsener (ohne Schwerarbeit) benötigt.[24] Aber auch der Wert, den Österreich in den besten Zeiten der Jahre 1945 und 1946 erreichte, nämlich 1550 Kalorien, deckte noch immer bei weitem nicht den Bedarf der ausgehungerten Bevölkerung. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (1919) gibt Loewenfeld-Russ eine tägliche Kalorienzahl von 1271 für Österreich an[25] ; Roerkohl nennt für den „Rübenwinter“ 1916/17 in Deutschland 1150 Kalorien.[26] Von der Kalorienzahl abgesehen waren auch bestimmte Lebensmittel oft äußerst knapp bemessen. 1917 gab es in Wien z. B. eine Zuteilung von wöchentlich nur 40 g Fett pro Person.[27]

Es war also fast jeder gezwungen, sich auf irgendeine Weise zusätzliche Nahrung zu verschaffen, schon um den dringenden Lebensbedarf zu decken. Ein weiteres Bedürfnis nach zusätzlichen Lebensmittelquellen entstand aus dem Wunsch, etwas Abwechslung in den eintönigen Speiseplan zu bringen.

Die Last dieser zusätzlichen Nahrungsbeschaffung lag in erster Linie bei den Frauen; in hohem Maße daran beteiligt waren jedoch auch Kinder und Jugendliche (siehe das betreffende Kapitel). Die Männer waren großteils an der Front oder in Kriegsgefangenschaft.

3. Ideologie: Verherrlichung des Wirtschaftens mit knappen Mitteln

Auch bei Aufbesserung der Ernährung mit Hilfe legaler, teilweise sogar offiziell geförderter Methoden der zusätzlichen Nahrungsbeschaffung war es nur in seltenen Fällen möglich, damit das Auslangen zu finden. Um die Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht zu groß werden zu lassen, waren die (Haus-)Frauen in beiden Weltkriegen Adressatinnen massiver ideologischer Einflußversuche.[28] Die Art der Argumentation war dabei in den beiden Perioden ähnlich, und rationale Elemente wurden mit stark emotional gefärbten verbunden.

Die Tätigkeit zu Hause - an der „Heimatfront“ bzw. der „inneren Front“ - wurde in Parallele gesetzt zum Kampf der Soldaten an der Front. Mut, Entbehrungen, Beitrag zum Sieg usw. wurden verglichen, der Einsatz zu Hause als Pflicht der Dankbarkeit den Kämpfenden gegenüber dargestellt. Die propagandistische Literatur bis hin zu den Kochbüchern ist voll von Kriegsmetaphern wie Waffen, Kampf, Aufrüstung oder Schützengräben. „Gas sparen heißt Waffen schmieden“[29], der Kochlöffel ist die „Waffe“[30] oder der „Marschallstab“[31] der Frauen. Die bevorzugte Metapher im Zweiten Weltkrieg war die der Schlacht: es wurde nicht nur von der „Erzeugungsschlacht“ der Bauern, mit der „der deutsche Bauer zum Soldaten geworden“[32] ist, und von der „Erhaltungsschlacht“ der Hausfrauen gesprochen, sondern man verwendete das Wort auch je nach konkreter Situation in verschiedenen Varianten. So hebt z. B. Buresch-Riebe die Leistung der „Landfrau“ bei der „Milcherfassungsschlacht“ hervor.[33] In den Kochbüchern erhielten Speisen, die den beschränkten Möglichkeit der Zeit angepaßt waren, heroische Namen.

Zwei Beispiele zur Argumentationsweise: In einem „Kriegs-Kochbuch“ aus dem Jahr 1915 heißt es: „Unsere Feinde wollen uns aushungern ... Wie unsere tapferen Krieger, unbekümmert um das persönliche Geschick, ihr Leben für uns, die Daheimgebliebenen, in die Schanze schlagen, genau so opferfreudig und zielbewußt müssen wir dazu beitragen, daß uns auch in der wirtschaftlichen Kriegsführung der Sieg beschieden werde ...“[34] 1941 schreibt Ilse Buresch-Riebe: „Während Söhne, Gatten, Väter und Brüder ... schon ganz dem Anspruch des kommenden Kampfes hingegeben sind, müssen die Frauen ihr Herz mit Stolz und Stärke wappnen...“[35] Hier ist zuerst von Trennung und Abschied die Rede, gleich darauf jedoch von der zu erbringenden Leistung im „wehrhaften Haushalt“.

Um hier Unterschiede zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg herauszuarbeiten, wäre eine genaue Untersuchung einer größeren Anzahl von Quellen aus beiden Kriegen nötig. Einen Unterschied zeigt B. Ulrich in seiner Analyse deutscher Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg auf: Die Aufrechnung der Nöte in der Heimat mit den Schrecken der Front ergab nur dort Sinn, wo - wie im Ersten Weltkrieg in Deutschland - die Heimat nicht ebenfalls von Bomben oder Kriegsereignissen verheert wurde. Ulrich zitiert dazu einen fast buchhalterisch wirkenden fiktiven inneren Monolog, den eine Hausfrau während des Wartens in der Schlange mit sich selber führt, aus einem „Wochenbrevier einer tapferen Hausfrau“ (1917): „3/4 Stunden Mehl angestanden, schadet nichts. Im Schützengraben stehen sie noch länger [...]. Keine Marmelade mehr gekriegt, nachdem man sich kalte Füße gestanden - ob das Wasser im Schützengraben da in Flandern wohl noch bis ans Knie reicht? [...] Fast zwei Stunden Käse angestanden - immer noch besser, als daß der Feind im Lande steht!“[36] Der Ausdruck „moralische Erpressung“, den Ulrich in diesem Zusammenhang gebraucht, trifft den Kern der Sache.

4. Die verschiedenen Taktiken und Strategien zur Lebensmittelbeschaffung

Die Methoden, die Menschen in Notzeiten angewendet haben, um sich Nahrung zu verschaffen, sind sehr vielfältig. Will man dabei „Strategien“ (im Sinne von „langfristiger Grundsatzplanung“[37] ) von „Taktiken“ (im Sinne von „auf genauen Überlegungen im Hinblick auf Zweckmäßigkeit und Erfolg beruhendem planmäßigen Vorgehen“[38] ) unterscheiden, so findet man hier beides. Der Erwerb eines Stück Bodens, um darauf Gemüse oder Tabak anzubauen, wäre zu den Strategien zu zählen; das Vorgehen beim Anstellen, um eine bestimmte Ware zu erhalten, könnte man den Taktiken zurechnen.

Ich habe eine grobe Einteilung in legale und illegale Methoden der Nahrungsmittelbeschaffung versucht. Die Übergänge sind jedoch je nach Situation teilweise fließend. Auch harmlose Tätigkeiten konnten leicht illegal werden, wenn man eine der vielen Vorschriften übertrat. So durften z. B. Beeren nur zu bestimmten Zeiten gepflückt werden und/oder man benötigte einen Sammelschein, der Anbau von Tabakpflanzen im Schrebergarten oder auf dem Balkon mußte gemeldet werden usw. Auf grobe Vergehen standen hohe Strafen. So konnte z. B. das Schwarzschlachten in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft mit dem Tod bestraft werden.

[...]


[1] H. Loewenfeld-Russ, 1919, S.7-9

[2] H. Loewenfeld-Russ, 1986, S.34

[3] H. Stammhammer, 1996, S.33

[4] N. Stadler, 1994, S.5

[5] H. Loewenfeld-Russ, 1986, S.228

[6] a.a.O., S.86

[7] A. Weisgram, 1969, S.195

[8] A. Roerkohl, 1991, S.33

[9] M.H. Geyer, 1994, S.320; A. Roerkohl, 1991, S.321

[10] J. Stammhammer, 1996, S.84

[11] H. Dombrowski (Hrsg.), 1942, S.38 - vgl. a. A. Schröder (Hrsg.), 1940, S.55, wo im Kommentar auf die Todesstrafe besonders hingewiesen wird.

[12] H. Dombrowski (Hrsg.), 1942, S.41

[13] a.a.O., S.44ff.

[14] vgl. z. B. E.F. Baer, 1940; W. Hahn, 1939; ohne Autor, 1939

[15] Meine Darstellung in diesem Abschnitt folgt im wesentlichen G. Corni/H. Gies, 1997

[16] M. Baumgartner, 1994, S.151

[17] nach B. Bolognese-Leuchtenmüller in C. Federspiel, 1985, S.223

[18] s. G.J. Trittel, 1994; P. Erker, 1990 und 1994; R. Gries, 1991, S.331-335

[19] R. Gries, 1991, S.327

[20] Gärtner, nach H. Loewenfeld-Russ, 1986, S.224-225

[21] K. Vocelka, o.J., S.16

[22] B. Binder-Pölzgutter, 1995, Bd.1, S.65

[23] F. Grube/G. Richter, 1979, S.31

[24] Das „Große Gesundheitslexikon“ (Reitner) von 1987 gibt an: ca. 2900 Kal. für Männer, ca. 2100 Kal. für Frauen

[25] H. Loewenfeld-Russ, 1919, S.11

[26] A. Roerkohl, 1991, S.321

[27] J. Stammhammer, 1996, S.33

[28] vgl. auch A. Roerkohl, 1991, S.179-194

[29] R. Horbelt/S. Spindler, 1986, S.17, ohne Quellenangabe

[30] Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink 1937 nach B. Bab, 1994, S.69

[31] R. Horbelt/S. Spindler, 1986, S.15, ohne Quellenangabe

[32] S. Hainzl, 1939, S.22

[33] I. Buresch-Riebe, 1941, S.21

[34] G. Urban, 1915, S.3

[35] I. Buresch-Riebe, 1941, S. 9

[36] B. Ulrich, 1997, S.159

[37] Brockhaus Enzyklopädie, 1993, 21.Band, S.306

[38] a.a.O., S.593

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Taktiken und Strategien zur Lebensmittelbeschaffung in Notzeiten
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Zeitgeschichte)
Veranstaltung
Arbeitsgemeinschaft 'Hunger ist ein schlechter Koch' (Mangelküche im 20. Jahrhundert)
Note
1
Autor
Jahr
2000
Seiten
33
Katalognummer
V17782
ISBN (eBook)
9783638222662
ISBN (Buch)
9783638682152
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand. Entspricht 47 Seiten bei normaler Formatierung.
Schlagworte
Taktiken, Strategien, Lebensmittelbeschaffung, Notzeiten, Arbeitsgemeinschaft, Koch“, Jahrhundert)
Arbeit zitieren
Ilsemarie Walter (Autor:in), 2000, Taktiken und Strategien zur Lebensmittelbeschaffung in Notzeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17782

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