Als eines der Leitthemen in der deutschen Nachkriegsliteratur sticht die faschistische Vergangenheit Deutschlands hervor. [...]
Schon die Tatsache, dass darüber in einem solchen Ausmass geschrieben wird, dass diese Bücher von einem Millionenpublikum im In- und Ausland gelesen werden, zeugt von der Aktualität des Themas, von dem Einfluss, den die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands auf die heutige Generation ausübt. Die Frage nach der Schuld belegt, wie sehr die Deutschen noch mitten in ihr stecken, wie stark sie sich über ihre Vergangenheit definieren.
Im Laufe der Jahrzehnte setzte die Literatur an verschiedensten Aspekten des Themas Schuldfrage und Vergangenheitsbewältigung an. Direkt nach dem Krieg, Ende der 40er Jahre, erschienen viele Landser-Romane, die Soldatentum und Kriegführung glorifizierten. Im scharfen Kontrast dazu schilderten Überlebende des Holocaust das schreckliche Geschehen im Nationalsozialismus. In den 50er und 60er Jahren wurde die faschistische Vergangenheit Deutschlands literarisch kaum thematisiert. Die beiden grossen ,,Ws" - Wiederaufbau und Wirtschaftswunder - beschäftigten die Nation zu sehr, um über die jüngste Geschichte nachdenken zu wollen. ,,Auf zu neuen Ufern!" hiess das Motto; die Schrecken der Nazizeit - und in vielen Fällen auch der eigene Anteil daran - sollten den Aufbau eines neuen Lebens nicht belasten. In den 60er bis 80ern erschien viel wissenschaftliche Literatur über den Holocaust selbst. Anfang der 80er Jahre schliesslich begannen sich die nachgeborenen Generationen mit der Schuld der Älteren auseinanderzusetzen. In Väter-Biografien wurde oft schonungslos mit dem Verhalten der Elterngeneration - sei es als Täter oder als Mitläufer - während des Krieges abgerechnet.
Bernhard Schlinks ,,Der Vorleser", der sich mit dem Umgang der zweiten Generation mit der Schuld der älteren Generation beschäftigt, lenkt den Blick auf eine neue Perspektive. Er behandelt die Frage, wie die Generation des Autors, geboren in den Kriegsjahren, und die Generation danach mit dem Holocaust und der Partizipation ihrer Rollenvorbilder darin umgehen können, welchen Einfluss die Schuld der Eltern und Grosseltern auf ihr eigenes Leben hat. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, dieses ,,Wie" zu definieren, sowie die Art und Möglichkeit der Vergangenheitsbewältigung, wie sie in ,,Der Vorleser" exemplifiziert wird, aufzuzeigen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Schuldfrage und Kollektivschuld
2.1. Karl Jaspers „Die Schuldfrage“
2.2. Daniel Goldhagens „Hitler’s Willing Executioners“
2.3. Schuld aus philosophisch-psychologischer Sicht
2.3.1. Die Entscheidungsfreiheit
2.3.2. Folgen der Schuld für das Individuum
2.4. Das Moment des Unvermeidlichen
3. Zur Schuldfrage in „Der Vorleser“
3.1.Hannas Schuld. .
3.1.1. Mögliche Gründe für Hannas Verbrechen
3.1.2. Hannas Umgang mit ihrer Schuld
3.1.3. Folgen der Umgangsweise Hannas mit ihrer Schuld
3.1.4. Hannas Analphabetismus in bezug auf ihre Schuld
3.1.5. Bedeutung der Literatur für Hannas Schuld
3.2. Michaels Schuld gegenüber Hanna
4. Generationenkonflikt und Mythos der „Gnade der späten Geburt“
5. Vergangenheitsbewältigung - „Sehnsucht nach Unmöglichem“?
6. Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als eines der Leitthemen in der deutschen Nachkriegsliteratur sticht die faschistische Vergangenheit Deutschlands hervor. In zahllosen Büchern wird versucht, Erinnerungs- und Trauerarbeit zu leisten, wird die Frage nach der Schuld an den Verbrechen des Nazi-Regimes und nach der Möglichkeit zur Aufarbeitung dieser historischen Last gestellt.
Schon die Tatsache, dass darüber in einem solchen Ausmass geschrieben wird, dass diese Bücher von einem Millionenpublikum im In- und Ausland gelesen werden, zeugt von der Aktualität des Themas, von dem Einfluss, den die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands auf die heutige Generation ausübt. Die Frage nach der Schuld belegt, wie sehr die Deutschen noch mitten in ihr stecken, wie stark sie sich über ihre Vergangenheit definieren.
Im Laufe der Jahrzehnte setzte die Literatur an verschiedensten Aspekten des Themas Schuldfrage und Vergangenheitsbewältigung an. Direkt nach dem Krieg, Ende der 40er Jahre, erschienen viele Landser-Romane, die Soldatentum und Kriegführung glorifizierten. Im scharfen Kontrast dazu schilderten Überlebende des Holocaust das schreckliche Geschehen im Nationalsozialismus. In den 50er und 60er Jahren wurde die faschistische Vergangenheit Deutschlands literarisch kaum thematisiert. Die beiden grossen „Ws“ - Wiederaufbau und Wirtschaftswunder - beschäftigten die Nation zu sehr, um über die jüngste Geschichte nachdenken zu wollen. „Auf zu neuen Ufern!“ hiess das Motto; die Schrecken der Nazizeit - und in vielen Fällen auch der eigene Anteil daran - sollten den Aufbau eines neuen Lebens nicht belasten. In den 60er bis 80ern erschien viel wissenschaftliche Literatur über den Holocaust selbst. Anfang der 80er Jahre schliesslich begannen sich die nachgeborenen Generationen mit der Schuld der Älteren auseinanderzusetzen. In Väter-Biografien wurde oft schonungslos mit dem Verhalten der Elterngeneration - sei es als Täter oder als Mitläufer - während des Krieges abgerechnet.
Bernhard Schlinks „Der Vorleser“, der sich mit dem Umgang der zweiten Generation mit der Schuld der älteren Generation beschäftigt, lenkt den Blick auf eine neue Perspektive. Er behandelt die Frage, wie die Generation des Autors, geboren in den Kriegsjahren, und die Generation danach mit dem Holocaust und der Partizipation ihrer Rollenvorbilder darin umgehen können, welchen Einfluss die Schuld der Eltern und Grosseltern auf ihr eigenes Leben hat. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, dieses „Wie“ zu definieren, sowie die Art und Möglichkeit der Vergangenheitsbewältigung, wie sie in „Der Vorleser“ exemplifiziert wird, aufzuzeigen.
2. Schuldfrage und Kollektivschuld
2.1. Karl Jaspers „Die Schuldfrage“
In seiner 1946 erschienenen Schrift „Die Schuldfrage“ setzte sich der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers mit der Frage von Schuld und Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander. Er stellt in diesem Zusammenhang vier Kategorien der Schuld auf. Aufgrund objektiv nachweisbarer Gesetzesverstösse entstehe die kriminelle Schuld. Politisch schuldig wird, wer durch seine Staatsbürgerschaft und durch seine Mitverantwortung, wie regiert wird, an Taten oder den Entscheidungen von Politikern beteiligt ist. Moralische Schuld trägt jeder, der ein Verbrechen begeht, auch wenn die Tat selber auf einen Befehl zurückzuführen ist. Die metaphysische Schuld schliesslich gründet in der Mitverantwortung für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt („Wenn ich nicht tue, was ich kann, um es zu verhindern, so bin ich mitschuldig.“, Jaspers 1979, S. 22). Instanzen zur Klärung der Schuldfrage sind bei krimineller Schuld die Gerichte, bei politischer Schuld die Gewalt und der Wille des Siegers bei Niederlage des eigenen Regimes -
d.h. Buße durch politische Machtlosigkeit -, bei moralischer Schuld das eigene Gewissen sowie bei metaphysischer Schuld Gott (vgl. ebd.,
S. 44ff).
Der Mensch befand sich Jaspers zufolge während der Herrschaft der Nationalsozialisten in einem - an den Antigone-Stoff erinnernden - Konflikt. Er war gefordert, die Menschenrechte zu wahren, gleichzeitig aber sah er sich hilflos gegenüber dem verbrecherischen Terror des Staates, der Unmenschlichkeit zum Gesetz erhoben hatte. Für Verbrechen des Staates sind die einzelnen Staatsbürger zwar politisch, nicht aber kriminell und moralisch schuldig (ebd., S. 22). Doch Jaspers schränkt diese Unausweichlichkeit der Schuldhaftigkeit, „die Schuld des Menschseins“ (ebd., S. 23) - „Es ist das Verhängnis jedes Menschen verstrickt zu sein in Machtverhältnisse, durch die er lebt.“ (ebd.) - wiederum ein:
„Das Unterlassen der Mitarbeit an der Strukturierung der Machtverhältnisse, am Kampfe um die Macht im Sinne des Dienstes für das Recht, ist eine politische Grundschuld, die zugleich eine moralische Schuld ist. Politische Schuld wird zur moralischen Schuld, wo durch die Macht der Sinn der Macht - die Verwirklichung des Rechtes, das Ethos und die Reinheit des eigenen Volkes - zerstört wird.“ (ebd.)
Zu Recht wird hier die „implizite strukturelle Vielstimmigkeit des Textes“ (Bier 1998, S. 279) kritisiert. So ist dem Text auf die Frage nach der Existenz einer Kollektivschuld auch keine eindeutige Antwort zu entnehmen. Zwar könne ein Volk nie als Ganzes angeklagt werden, da Verbrecher immer nur der Einzelne sei. Es könne aber auch nie als Ganzes moralische Schuld tragen, da es keine allgemein verbindende Moral oder Unmoral eines ganzen Volkes gebe
(ebd., S. 28). „ Kollektivschuld eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb der Völker also kann es - ausser der politischen Haftung - nicht geben [Hervorhebungen im Original], weder als verbrecherische, noch als moralische, noch als metaphysische Schuld.“ (ebd., S. 29). Jaspers wehrt sich gegen Verurteilungen der Deutschen als schuldiges Volk per se, sieht die Schuld nicht ausschliesslich bei seiner Nation: „Sollen wir anerkennen, dass wir allein schuldig sind? Nein, sofern wir als Ganzes, als Volk, als dauernde Artung zu dem bösen Volk schlechthin gemacht werden - zu dem schuldigen Volk an sich. Gegen diese Weltmeinung können wir hinweisen auf Tatsachen.“ (ebd., S. 70). Verantwortlichkeit für begangene Verbrechen verjährt seiner Ansicht zwar nicht, doch auch das Aufrechnen mit Verbrechen anderer Völker, Staaten oder Zeiten sei nicht erlaubt, da in diesem Fall Richter gegenüber den anderen gespielt würde. Doch auch wenn es laut Jaspers die politische Kollektivschuld gibt, so sagt er:
„Aber die Haftung als solche trifft nicht die Seele.“ (ebd., S. 72)
Fasst man Jaspers Gedankengänge zusammen, so ergibt sich der Schluss, dass es - ausser bei klar feststellbaren Verbrechen, sei es gegen geltendes Recht, sei es gegen übergeordnete Normen des Menschen- oder Völkerrechts - keine „Schuld“ und keine „Anklage“ geben kann, sondern nur die Verantwortlichkeit aus der Tiefe des eigenen Gewissens heraus. Über dem Gewissen steht als höchste Instanz nur noch Gott als Richter über die metaphysische Schuld der Menschen.
„Jaspers Begriff der moralischen Kategorie folgt dem religiösen Schema: Schuld-Scham- Sühne-Versöhnung, und ist der Angelpunkt seiner Utopie der Umkehr. Die psychologischen Beobachtungen über die Deutschen, die sich an der Bereitschaft zu einer solchen Metanoia geradezu aufstellen lassen, machen den mentalitätsgeschichtlichen Dokumentationswert von Jaspers Schuldfrage aus. Die moralische Schuld gilt nur für sühnefähige Einzelne, die fähig sind, dem eigenen Gewissen Raum zu geben.“ (Bier 1998, S. 279)
„Die Schuldfrage“ setzt bei der Aufarbeitung der Vergangenheit ausschliesslich bei den Tätern an (vgl. ebd., S. 276). Trauerarbeit oder eine Auseinandersetzung mit der Verantwortung gegenüber den Opfern bleiben in Jaspers Schrift aussen vor.
2.2.Daniel Goldhagens „Hitler’s Willing Executioners“
Goldhagens provokative These lautet: Ein den Deutschen innewohnender, schon lange vor der Naziherrschaft existenter Antisemitismus wurde durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten staatlich legitimiert und führte so zur grausamen Judenverfolgung und - vernichtung: „[...] eliminationist antisemitism was a German cultural cognitive model that predated Nazi political power [...].“ (Goldhagen 1996, S. 399). Und weiter: „ The one explanation adequate to these tasks holds that a demonological antisemitism, of the virulent racial variety, was the common structure of the perpetrator’s cognition and of German
society in general.“ (ebd., S. 392). Der Nationalsozialismus war demnach nur der Funke, der das glimmende antisemitische Feuer zum Brennen brachte. Private Phantasien seien zum Kern der neuen Staatspolitik erhoben worden. Goldhagen spricht von „[...] the long- incubating, pervasive, virulent, racist, eliminationist antisemitism of German culture, [...].“ (ebd., S. 419). Das Thema des Völkermords habe alle Bereiche der deutschen Gesellschaft durchzogen. Sprache, Gefühle und Wahrnehmungsstrukturen seien durch die Vorstellung vom Genozid geprägt gewesen. Unter den geeigneten Umständen schliesslich metastasierte der
„ eliminationist antisemitism “ (ebd., S. 449) zu seiner bösartigsten, der Menschenleben auslöschenden Form, und gewöhnliche Deutsche wurden zu bereitwilligen Völkermördern (vgl ebd.).
„ The inescapable truth is that, regarding Jews, German political culture had evolved to the point where an enormous number of ordinary, representative Germans became - and most of the rest of their fellow Germans were fit to be - Hitler’s willing executioners.“ (ebd., S. 454)
Kurz gefasst: Goldhagen argumentiert, dass der Holocaust mehr ein typisch deutsches als ein für die Nazis typisches Phänomen war, an dem sich fast jeder beteiligte: „ Every perpetrator contributed to the program of extermination (this is a definitional matter), and very few opted out of such duties in the institutions which are known to have given them the choice.“ (ebd., S. 377).
[...]