Trauma und Gedächtnis in Toni Morrisons "Beloved"

Sklaverei - Identitätsproblematik - kollektive Traumabewältigung - Erinnerung und Verdrängung


Examensarbeit, 2006

71 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I Einleitung

II Trauma und Gedächtnis
1. Begriffsklärung
2. Psychologische Definition
3. Folgen von Traumata
4. Traumabewältigung
5. Kollektiver Umgang mit Trauma
6. Zusammenfassung

III Erinnerung und Verdrängung in Beloved
1. Die Auswirkungen der Sklaverei auf die Identität und die Namengebung
2. „Rememories“ individueller und kollektiver Traumata
2.1. Sethe: „beating back the past“
2.1.1. Mutter-Kind Symbiose
2.1.2. Beloved als Sethes traumatisches Symptom
2.1.3. Sethes Weg zur Heilung
2.2. Beloved als Figur und Symbol
2.3. Denvers Entwicklung einer unabhängigen Identität
2.4. Paul D: Verlust der Männlichkeit
2.5. Die Rolle und das Verhalten der Gemeinschaft im Rahmen des Kollektiv-Traumas
3. Die Grenzen der Sprache

IV Die narrative Technik der Autorin

V Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

I Einleitung

Für Toni Morrison ist „history […] what hurts“ (Peterson 2001: 1), denn die bislang immer noch nicht vollständig in das kulturelle Bewusstsein aufgenom- mene Geschichte der afroamerikanischen Minorität in Erinnerung zu rufen ist schmerzhaft. Das Problem der Ignoranz des heutigen amerikanischen Kollek- tivs gegenüber den Freveln der Vergangenheit löste in Morrison den Impuls aus, durch ihre historisch geprägten Romane die Geschichten zu erzählen, die in Vergessenheit zu geraten drohen. Diesen Konflikt der Erinnerung, den sie in ihrem 1987 erschienenen Roman thematisiert, drückt sie so aus:

[ Beloved ] is about something that the characters don’t want to remember, I don’t want to remember, black people don’t want to remember, white people don’t want to remember, I mean, it’s national amnesia. (Morrison zit. in: Bow- ers 1997: 228).

In Beloved ist die Geschichte der 1855 von der, ironischerweise „Sweet Home“ genannten, Plantage entflohenen Sklavin Sethe mit den Geschichten der ande- ren Figuren komplex verwoben. Die Gegenwart dieser Erzählung ist achtzehn Jahre nach ihrer Flucht von Kentucky in den freien Staat Ohio, wo sie bei ihrer Schwiegermutter Baby Suggs mit ihren vier Kindern ein zu Hause gefunden hat und wo sie von Paul D, dem Freund ihres Mannes Halle, welcher auf „Sweet Home zurückgeblieben und wahrscheinlich nicht überlebt hat, aufgesucht wird. Paul D tritt in Sethes Leben, um ihr Partner zu werden, als sie nur noch mit ih- rer achtzehnjährigen Tochter Denver das Haus bewohnt, das vom unruhigen Geist ihrer kurz nach der Flucht verstorbenen Tochter heimgesucht wird. Die Protagonisten sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Erinnerungen an ihre schmerzhafte Vergangenheit als Sklaven zu unterdrücken, was ihnen nicht ge- lingt.

Mit Beloved betont Morrison die Notwendigkeit, sich mit der traumatischen Geschichte auseinander zu setzen, um schließlich das persönliche und kollektive Selbstbild wieder herzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist jedoch nicht so einfach und kann sich nur allmählich durch die Zusammensetzung vieler einzelner Geschichten und Erinnerungen, die ebenfalls aus einzelnen Fragmenten bestehen, etablieren.

And so, of necessity, wounded histories are written as literature, or fiction, […] for only literature in our culture is allowed the narrative flexibility and the will- ing suspension of disbelief that are crucial to the telling of these histories (Peterson 2001: 7).

Ihre Literatur dient als eine vermittelnde Instanz zwischen vergangenem Trau- ma und gegenwärtiger Verdrängung dieses Traumas. Als afroamerikanische Schriftstellerin übernimmt Morrison einen Teil der Verantwortung, die sie ihrer persönlichen und kollektiven Vergangenheit gegenüber fühlt, indem sie die verschwiegenen Schrecken der Sklaverei wieder ans Tageslicht bringt. Sie strebt ein kollektives Heilen der psychischen Wunden historischer Traumata an, indem sie mit ihrer Fiktion den dazu notwendigen Verarbeitungsprozess anzu- treiben versucht. In dieser Weise beabsichtigt sie literarisch gegen die „Mecha- nismen einer verheerenden Rassenunterdrückung“ vorzugehen (Morrison 1996: 22-23).

Beloved ist ein literarisches Werk, das besonders an der Erinnerungsarbeit des diskreditierten historischen Gedächtnisses interessiert ist. Es legt dem Leser nahe, dass Geschichte nicht vergangen ist und eine bewusste Auseinanderset- zung und Beschäftigung mit ihr absolut notwendig für eine Verarbeitung und die Erweiterung des Identitätsgefühls ist, ganz besonders für die afroamerikani- sche Gesellschaft. Diese Auffassung vertritt auch der Psychoanalytiker Werner Bohleber:

[E]s bedarf abgesehen von einem emphatischen Zuhörer auch eines gesell- schaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit des traumatischen Ge- schehens und über dessen Verleugnung und Abwehr. Die Opfer sind gleichzei- tig Zeugen einer besonderen geschichtlichen Realität. Die Anerkennung von Verursachung und Schuld restituiert überhaupt erst den zwischenmenschlichen Rahmen und damit die Möglichkeit, das Trauma angemessen zu verstehen. Nur dadurch kann sich dann auch das erschütterte Selbst- und Weltverständnis wieder regenerieren. (2000: 823 f.).

Das Interesse der vorliegenden Arbeit liegt weniger darin, die physische Bruta- lität der Sklaverei darzustellen, als vielmehr hauptsächlich den in Morrisons Roman enthaltenen seelischen Missbrauch, die psychische Folter an den Indivi- duen und dem gesamten Kollektiv der Opfer auszuführen und sowohl die For- men als auch die Nachhaltigkeit der Auswirkungen einer solchen historischen Traumatisierung zu analysieren. Überdies untersucht diese Arbeit, wie Morri- sons Verfahren mit Geschichte dem Konzept der im Folgenden dargelegten Traumatheorie folgt.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen des psychologischen Traumas und der Rolle des Gedächtnisses. Dabei spannt dieser Teil einen Bogen von der Entstehung des Traumas über seine Folgen bis hin zu den Möglichkeiten der Heilung und berücksichtigt sowohl individuelle als auch kollektive Aspekte von Traumata.

Einleitend mit der Identitätsproblematik widmet sich Kapitel III der Trauma- Analyse ausgewählter Charaktere, anhand derer die vorangegangene Darstellung der allgemeinen Traumatheorie eine Konkretisierung erfährt. Auch hier werden persönliche traumatische Erfahrungen in Beziehung zum kollektiven Trauma gesetzt. Dieses Kapitel schließt mit der Ausführung des Problems, Traumatisches in Worte zu fassen, welches auch in den vorangehenden Untersuchungen der einzelnen Charaktere mehrmals erwähnt wird.

Bei der Lektüre dieses Kapitels ist zu beachten, dass das Interpretationsmuster Trauma - Symptom - Heilung der Erzählung zugrunde liegt, ohne dass die Romanfiguren sich ihrer Traumatisierung, ihrer Symptomatik und den Heilungsmöglichkeiten bewusst sind, denn „Traumatisierung schließt das Wissen vom Trauma aus“ (Laub 2000: 867).

In Kapitel IV wird die Frage aufgegriffen, wie die Autorin das Konzept des Traumas in der Erzählform der Geschichte repräsentiert, das heisst, wie der Text formal eine Mimesis von Trauma darstellt.

In der Schlussbetrachtung werden die gewonnenen Erkenntnisse kurz aufgegrif- fen und es wird ihre Bedeutung für die heutige afroamerikanische Gesellschaft reflektiert.

II Trauma und Gedächtnis

1. Begriffsklärung

Der Begriff „Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Verletzung“ oder „Wunde“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte Siegmund Freud „Trauma“ aus der Medizin in die Psychologie ein. In der Medizin bezeichnet der Begriff organische Verletzungen durch Fremdeinwirkungen, z.B. nach Unfällen. Da die Psychologie sich mit diesem Begriff aber auf seelische Verletzungen bezieht, ist hier von Psychotrauma die Rede.

Eine psychische Traumatisierung kann aufgrund der spezifischen Enkodierung im Gehirn niemals getrennt vom Gedächtnis betrachtet werden. Traumatische Erfahrungen wirken sich direkt auf das Gedächtnis aus und führen so zu ‚Gedächtnislücken’. Das Gedächtnis ist quasi ein mehrschichtiges verschachteltes Konstrukt für die Erinnerungen an die traumatische Situation, die möglichst unterhalb der Bewusstseinsebene abgespeichert werden.

Im Folgenden wird ein Überblick über dieses doch sehr umfangreiche Gebiet vermittelt. Das bedeutet, dass sich die Ausführungen zur Traumatheorie auf die für die Analyse des Romans wichtig erscheinenden Sachverhalte werden be- schränken müssen.

2. Psychologische Definition

Psychotraumata können sowohl in akuten als auch in langwierigen extremen Belastungssituationen entstehen, wie z.B. bei Kriegen und Katastrophen, Folter, Vergewaltigung, durch Misshandlungen in der Kindheit oder in Gefangenschaft und durch Erfahrung von Gewalt, wie es auch in der afroamerikanischen Skla- verei der Fall war. Die psychologischen Effekte der Sklaverei sind zwar schwierig zu messen, doch sehr schwerwiegend (vgl. Schwartz 2001: 411). Im Gegensatz zur Naturgewalt zerstört menschlich zugefügte Gewalt beim Opfer das Vertrauen in humane, emphatische Beziehungen - der Betroffene sieht so- wohl sich selbst als auch den Täter als entmenschlicht (vgl. Kopf 2005: 14). Gewalt wird wie folgt definiert:

Die Mittel der Gewalt reichen von der Drohung, einen Menschen körperlich zu verletzen oder zu töten, bis zu deren Ausführung. Auch die Verletzung des Freiraums eines Menschen, seiner Gefühle, seiner Rechte, seines Eigentums oder seines Rufes, zählen zu Gewalt (Herdiner-Lindner 1999: 13).

Im Falle der afroamerikanischen Sklaverei führte die Ausübung von Gewalt in jeder erdenklichen Form nicht nur zur Zerstörung menschlicher Würde, sondern auch zur Zersplitterung der psychischen Strukturen der Opfer, was in gravierenden Traumatisierungen resultierte.

Es ist wichtig, bei der Definition des Begriffes „Trauma“ auch dessen Entste- hungsprozess, den traumatischen Zustand an sich sowie die pathologischen Veränderungen beim Traumatisierten und die Möglichkeiten einer Heilung zu berücksichtigen. Nach Laplanche und Pontalis definiert sich ein Trauma als ein Ereignis im Leben eines Menschen, das durch ein intensives Erleben und die Unfähigkeit des Menschen, adäquat darauf zu reagieren, geprägt ist (vgl. La- planche & Pontalis 1998). Trauma ist also ein Vorgang, bei dem eine negative Erfahrung in der äußeren Realität eine Person dermaßen überfordert, dass die psychische innere Organisation der Person außer Funktion gesetzt wird und sie mit den spezifischen Folgen dieser Erfahrung belastet wird (Bohleber 2000: 829). Das Gefühl der Ohnmacht, des totalen Ausgeliefertseins spielt eine große Rolle bei der Entstehung des Traumas.

Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wo das Opfer von einer überwälti- genden Macht hilflos gemacht wird. [...] Traumatische Ereignisse sind nicht deshalb außergewöhnlich, weil sie selten sind, sondern weil sie die normalen Anpassungsstrategien des Menschen überfordern (Herman 2003: 53).

Grundsätzlich ist das menschliche Gehirn in der Lage, hohe psychische und physische Belastungen zu verarbeiten. Doch anders als bei gewöhnlicher Bela- stung gehen traumatische Erfahrungen immer mit Empfindungen extremer Hilf- losigkeit und großer Angst einher, oft auch mit Todesangst (vgl. Herman 2003: 54). Die betroffene Person fühlt, wie sich die Situation ihrer Kontrolle entzieht und ihr nur noch die Entscheidung zum Kampf oder zur Flucht bleibt. Das Un- vermögen, sich zu einem dieser natürlichen Reaktionsweisen zu entschließen, weil ein effektives Handeln aufgrund der ausweglosen Situation nicht möglich ist oder scheint, ruft eine Art Lähmungssituation hervor, auch numbing genannt, in der das Opfer innerlich erstarrt und sich vom Geschehen distanziert. „Das Selbstverteidigungssystem des Menschen [ist] überfordert und bricht im Chaos zusammen.“ (Herman 2003: 54). Das Versagen des Reizschutzes bei einem solchen Diskrepanzerlebnis - zwischen großer Bedrohung und Handlungsun- möglichkeit - verursacht das traumatische Phänomen.

Doch Todesangst war für versklavte Westafrikaner unter den Umständen ihrer traumatischen Erfahrungen teilweise erträglicher als das tragische Bewusstsein „einer ewigen Verbannung“; ihr Schmerz über die Zerstörung ihrer Familien- strukturen, ihrer Gefühle der Menschlichkeit und „die erdrückende Ahnung endloser, ungemildeter Knechtschaft“ (Loth 1981: 125) führte bei vielen wäh- rend der unvorstellbar grausamen atlantischen Überfahrt und auf amerikani- schen Plantagen zu Selbstmord und nicht selten auch zu Abtreibung und Infan- tizid (vgl. Schwartz 2001: 411).

Der Realitätsbezug von Gewaltopfern wird vom Folterer zerstört, indem dieser durch die Demonstration seiner Allmacht den Opfern seine eigene Realität auf- zwingt. In Bezug auf die Sklaverei beschreiben Jobling et al. diese Heterono- mie als „exercise of a malevolent alien will against a person in a position of humiliation to the exclusion of all other claims and relations. The slave is a walking atrocity living in the shadow of another’s will without respect and without choice in any respect“ (Jobling et al. 1998: 1). Doch die folgenschwere Erfahrung, die sich im Trauma fortsetzt, ist „nicht Schmerz, sondern Überwäl- tigung“ (Kopf 2005: 30). Das Bewusstwerden über die eigene schutzlose Zer- störbarkeit übersteigt die Grenze des Erträglichen und erschüttert das Selbst- und Weltverständnis des Opfers dauerhaft. Es entsteht ein „Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen“ (Herman 2003: 9). Diesen Konflikt bezeichnet Herman als die zentrale Dialektik des Psychotraumas. Das Überleben des psychischen Selbst wird dem Opfer durch die Entfremdung von dem schrecklichen Ereignis ermöglicht, indem er das Ereignis innerhalb seiner psychischen Struktur nicht als ein Teil persönlicher Erfahrung registriert.

„Dissoziation, bewusste Unterdrückung von Gedanken, Bagatellisierung und manchmal direkte Verleugnung helfen, die unerträgliche Wahrheit dennoch zu ertragen.“ (Herman 2003: 124). Durch den dissoziativen Prozess zerfallen zu- sammenhängende Handlungs- und Denkabläufe unkontrolliert in Einzelteile. Der Strom des Bewusstseins wird unterbrochen und die integrative Funktion des Bewusstseins blockiert. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung der Außen- welt, der eigenen Person, der Gefühle und die Erinnerung abgespalten werden und die Abspeicherung der traumatischen Erfahrung im Gedächtnis sich in au- ßergewöhnlicher Weise vollzieht; die Erfahrung wird nicht vergessen, sondern von der Ebene der bewussten Wahrnehmung getrennt. Dem Opfer sind wichtige Erinnerungen zur eigenen Geschichte nicht mehr bewusst zugänglich. Dieses Phänomen der Bewusstseinsfragmentierung wird als dissoziative Amnesie be- zeichnet und ist eine der zahlreichen Dissoziationsstörungen, auf die aber hier nicht weiter eingegangen werden soll (vgl. Nathan 2000: 3-4).

Die Verdrängung von traumatischen Erinnerungen zeichnet sich also als ein Bewältigungsmechanismus von überwältigenden Konflikten aus und kann un- terschiedlich tief sein, da das menschliche Bewusstein sich nicht lediglich in das Unbewusste und das Bewusste unterteilt. Es gibt unterschiedliche Ebenen des Bewusstseins. Eine „Somatisierung findet erst dann statt, wenn andere Be- wältigungsmöglichkeiten des Individuums versagen“ (Nathan 2000: 7). Das heißt, dass mit steigendem Erfolg der Verdrängung von traumatischen Motiven die psychische Reizbarkeit durch eben diese Motive zwar sinkt, das Auftreten von somatischen Erscheinungen dagegen aber immer stärker wird. Wird die schlimme Erfahrung nicht vollständig verdrängt, kommt es „zu einer Zerlegung der traumatischen Erinnerung in einzelne, für das Individuum erträgliche Seg- mente“ (Nathan 2000: 22).

Erinnerungen an die traumatische Situation sind überwiegend sensorisch im assoziativen Gedächtnis gespeichert, denn im Moment der Wahrnehmung des traumatisierenden Ereignisses befindet sich das Individuum in höchster psychi- scher Anspannung und Erregung. Im affektiven Erstarrungszustand werden Hormone ausgeschüttet, die das Schmerzempfinden ausschalten[1]. Dabei werden Rezeptoren der linken Gehirnhemisphäre, in der das autobiographische Ge- dächtnis zeitliche und räumliche Abläufe der Ereignisse speichert, gehemmt; auch linguistische Pfade sind davon betroffen. Durch die Ausschüttung be- stimmter Hormone wird das assoziative Gedächtnis in der rechten Hemisphäre viel stärker aktiviert und die normalerweise enge Zusammenarbeit zwischen beiden Gedächtnissystemen ist unterbrochen. Die Kodierung der Erfahrung vollzieht sich hauptsächlich über das assoziative Gedächtnis, die das Gehirn eher für sensorische, emotionale und visuelle Perzeption nutzt. Dabei werden alle Sinneswahrnehmungen und Emotionen viel enger miteinander verknüpft. So kommt es dazu, dass die Erfahrung im assoziativen Gedächtnis als „ein nichtsymbolischer, unflexibler und unveränderbarer Inhalt traumatischer Erin- nerung“ (Bohleber 2000: 806) weiterwirkt und durch das Misslingen der zeitli- chen und räumlichen Einordnung derealisiert wird, das bedeutet, dass sie nicht in die persönliche Vergangenheit integriert wird. Zugleich bewirkt die Raum- und Zeitlosigkeit der Erinnerung die fortlaufende Auslösung von Angstgefüh- len, sobald traumatische Reize wahrgenommen werden, da Reizmotive nicht der Vergangenheit zugeordnet werden können.

Traumatisierte Menschen sind meistens trotz ihres Traumas dazu fähig, ihr Leben fortzusetzen, indem sie ihre Erinnerungen an die traumatischen Ereignisse weitestgehend aus ihrem Bewusstsein verbannen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erlebnisse keine Spuren hinterlassen haben. Eine Vielschichtigkeit von Symptomen nimmt den Betroffenen in hohem Maße in Anspruch und kennzeichnet somit den traumatischen Prozess. Im folgenden Kapitel werden einige wichtige Symptome von Traumata erläutert, die für das Verständnis der in Kapitel III erfolgenden Untersuchungen sinnvoll sind.

3. Folgen von Traumata

Es wird zwischen der akuten Reaktion auf das traumatische Ereignis, wie Herz- rasen, Angst, Fluchtbedürfnis, Schockreaktion, und der posttraumatischen Bela- stungsstörung (PTBS) unterschieden, welche durch eine langanhaltende Sym- ptomatik in einer Kombination von psychischen und organischen Belastungen gekennzeichnet ist. Symptome können aber auch nach einer Latenzzeit ausbre- chen. Dori Laub schildert das Nachwirken eines traumatischen Ereignisses wie folgt:

Traumatisierte Überlebende leben nicht mit Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern mit einem Erlebnis, das nicht völlig verarbeitet werden konnte und deshalb nicht abgeschlossen ist und kein Ende hat. Es ragt in die Gegenwart hinein und ist in jeder Hinsicht in ihr präsent (2000: 77).

Die Gegenwart des Traumatisierten wird von der Realität der erlebten Erfah- rung trotz, oder gerade wegen der Ausschaltung der Erinnerungen daran aus dem Bewusstsein, in Form verschiedener Symptome beeinträchtigt, deren Ausmaß von der Vulnerabilität der Person zum Zeitpunkt des Erlebnisses ab- hängt. Diese haben eine Bandbreite von Übererregungserscheinungen über In- trusionen bis hin zur Konstriktion. Zur Symptomatik traumatisierter Kinder können auch Identitätsstörungen und Aggressionen zählen (vgl. Walter 1995: 64).

Übererregungen versetzen Menschen aufgrund der eben dargestellten Zeitlosigkeit des Traumas in einen Zustand der permanenten Wachsamkeit, als ob die Gefahr sich jederzeit wiederholen könnte. Es können Schlafstörungen, Konzentrationsmängel und Nervositätszustände zeitweise vorkommen oder permanente Belastungen darstellen. Sich ungewollt aufdrängende intrusive Symptome lassen den Traumatisierten die mit dem traumatischen Ereignis ver- bundenen Affekte wiedererleben und tauchen in Form von jahrelangen, unver- änderten Alpträumen, sich unkontrolliert aus dem Unterbewusstsein durchset- zenden Flashbacks und Erinnerungsfragmenten auf. Dabei kommt es vor, dass die betroffene Person zwar intensive Gefühle empfindet, sich aber nicht an das mit ihnen verbundene Ereignis erinnert. Dieser Wiederholungszwang ist ein Phänomen, „bei dem die traumatische Erfahrung durch den Betroffenen auf- grund mangelnder expliziter Erinnerung an das Trauma unbewusst immer wie- der reinszeniert wird“ (Nathan 2000: 26).

„Konstriktion“ bezeichnet das Rückzugsverhalten, mit dem Gedanken, Orte und Situationen, die mit dem traumatischen Ereignis in irgendeiner Verbindung stehen und als bedrohlich empfunden werden, absolut vermieden werden (vgl. Peltzer 1995 b: 14). Durch den konstriktiven Prozess wird auch eine emotionale Distanz, sogar eine Gleichgültigkeit gegenüber traumatischen Erinnerungen aufgebaut; es kann sein, dass der Traumatisierte sich zwar an jedes Detail erin- nert, jedoch nichts dabei empfindet. Apathien, eingeschränkte Sinneswahrneh- mungen und sogar das Ausfallen von Sinnesorganen können auf Konstrikti- onsprozesse zurückgeführt werden. Die Widersprüchlichkeit konstriktiver Symptome liegt darin, dass sie einerseits als Schutzmechanismus dienen, indem sie ein primäres Überleben der Psyche ermöglichen, andererseits aber dem Traumatisierten eher schaden, da eine Integration der traumatischen Erfahrung in das Bewusstsein verhindert und somit einer Aufarbeitung und Heilung entgegengewirkt wird (vgl. Kopf 2005: 37).

Das Psychotrauma kann mit soviel Angst und anderen Unlustgefühlen begleitet gewesen sein, daß das Sich-Wieder-Erinnern an das Psychotrauma dieselben starken Angst- und Unlustgefühle wieder hervorruft. Man wird danach auf ver- schiedener Weise versuchen, Gefühle von Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung und Schreckreaktionen zu vermeiden oder zu unterdrücken (Van Trommel 1995: 41-42).

Da intrusive Symptome immer wieder den Leidensdruck des Traumatisierten durch die von van Trommel erwähnten Unlustgefühle vergegenwärtigen, ver- sucht der Betroffene ständig, unwillentliche Konfrontationen abzublocken. Je- doch verschlimmert dieser zum eigenen Schutz gewählte Ausweg das post- traumatische Syndrom aus oben erwähnten Gründen; die Symptombildung wird somit auf die somatische Ebene gedrängt (vgl. Peltzer 1995 b: 16; 26). Psycho- somatische Störungen jeglicher Art entstehen zumeist durch den Mechanismus der Verdrängung. Auch führt „der Versuch, ein Wiedererleben des Traumas zu vermeiden, [...] sehr oft zu einer Einengung des Bewußtseins, einem Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und zu emotionaler Verarmung“ (Herman 2003: 65).

Im Kontext einer Traumatisierung durch Entwurzelung aus der Heimat und nachfolgender Gefangenschaft - wie es bei der afroamerikanischen Sklaverei der Fall war, die die Bewohner Westafrikas nicht nur aus ihrer Heimat, sondern auch aus einer ihnen vorstellbaren Welt herausgerissen hat - stellt „die kulturel- le Verlusterfahrung“ einen wichtigen Aspekt der Traumafolgen dar; den „Ver- lust der sozialen Strukturen, kulturellen Werte und Selbstidentität“ (Peltzer 1995 a: 213).

Häufige Folgen von Traumata aufgrund von Gewalttaten sind auch Schuldge- fühle, die bei den Opfern entstehen. Durch die Überzeugung der eigenen Mit- schuld am Geschehenen bekommen die Opfer das Gefühl, nicht ganz ausgelie- fert gewesen zu sein - denn wer ‚schuld’ ist, hat Einfluss auf das Geschehen - und wenden ihre Aggressionen gegen den Täter schließlich gegen sich selbst. Laut Herdina-Lindner diene dies der Angstbewältigung (vgl. 1999: 106). Mar- tina Kopf erklärt, dass Symptome keine Erinnerung dar[stellen]. Im gleichen Maß, wie im Symptom die Ge- schichte des Traumas zum Ausdruck kommt, wird sie darin unterdrückt. Die Symptome sind gewissermaßen Platzhalter, sie stehen an Stelle von etwas Anderem. Sie stehen an Stelle einer nichtmöglichen Vorstellung und einer nichtmöglichen Erzählung. Sie stehen für etwas ein, das nicht vorgestellt, nicht gesagt, und nicht empfunden werden kann und dennoch oder vielmehr gerade deswegen nicht vergessen werden kann (2005: 36).

4. Traumabewältigung

Wie bereits dargelegt, findet die Abspeicherung traumatischer Erinnerungen aufgrund neuronaler Prozesse im Gedächtnis, die durch extremen psychischen Stress ausgelöst werden, nicht als verbale, chronologische Erzählung statt und kann somit auch nicht innerhalb der persönlichen Lebensgeschichte integriert werden. Die Erfahrung wird zwar registriert, aber nicht in einer repräsentativen Weise. Bohleber führt diese Unsagbarkeit des Traumas auf den „Verlust des emphatischen inneren Anderen“ zurück:

Es [das Trauma] kann nicht in ein Narrativ eingebunden werden. [...] Erst in Gegenwart eines emphatischen Zuhörers können Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und die Geschichte bezeugt werden. Durch die Erzählung wird Distanz geschaffen. Das traumatische Ereignis und Erleben wird zum Zeugnis, und damit ein Stück weit reexternalisiert (2000: 821).

Eine Verarbeitung des Traumas kann dann erfolgen, wenn eine symbolische (verbale) Repräsentation des Geschehens in Form einer kohärenten, sinnvollen Geschichte möglich wird und die Realität von der Phantasie getrennt wird. Die Voraussetzung dafür ist die Verankerung der zeit- und raumlosen traumatischen Affekte in der Vergangenheit des Betroffenen. Dadurch wird die Restrukturie- rung des autobiographischen Gedächtnisses erreicht und die Chronologie des Geschehens mit dem assoziativen Gedächtnis verbunden. Durch den Prozess der Historisierung kann der Betroffene seine Angstgefühle somit in die Vergan- genheit verorten und sich endlich seine Lebensgeschichte erarbeiten, indem er nun das Trauma erinnern und erfassen kann. Wenn eine Verbalisierung nicht erreicht, sondern das Schweigen aufrecht erhalten wird, vergrößert sich das Ausmaß psychosomatischer Störungen. Findet der Betroffene jedoch sprachli- chen Ausdruck für seine Geschichte, verringern sich somatische Symptome (vgl. Nathan 2000: 37).

Mit unsagbar ist gemeint, dass traumatische Ereignisse zu schrecklich sind und zu irreal scheinen, als dass sie in Worte gefasst werden könnten. Etwas Unvor- stellbares ist gleichermaßen etwas Unbeschreibbares. Doch für eine Heilung von den Folgen des Traumas ist das Aussprechen und das Beschreiben der schrecklichen Erinnerungen unabdingbar. „Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen“ (Herman 2003: 9). Eine in Frag- mente zerstückelte Erzählung des Geschehens ist eine Art Ausweg aus der von Judith Herman definierten zentralen Dialektik des Traumas; einerseits die Wahrheit zu sagen, andererseits Stillschweigen zu wahren (vgl. 2003: 9). Die vorerst chaotischen Erinnerungsfragmente müssen durch die Rekonstrukti- onsarbeit einen chronologischen Sinnzusammenhang erhalten, in einem Gefü- ge, in der nicht allein das traumatische Geschehen sondern auch die Reaktion des Betroffenen und die der ihm nahestehenden Menschen erfasst werden muss (vgl. Herman 2003: 249).

Die Psychoanalyse erwähnt neben der Heilungsmöglichkeit durch einen Er- zählprozess die Möglichkeit einer Traumabewältigung bzw. eines ‚Anrollens’ des Genesungsprozesses durch eine Wiederholung der traumatischen Erfahrung als Erinnerung, Alptraum, oder eine erneute reale Erfahrung ähnlicher Ge- schehnisse mit dem gemeinsamen Auftritt der mit der ursprünglichen Erfahrung gekoppelten intensiven Gefühle. Ein wiederholtes Durchleben der emotionalen Intensität und ihr Transfer auf eine neu inszenierte Situation könne eine thera- peutische, kathartische Wirkung haben (vgl. Laplanche & Pontalis 1998: 550- 559). Auch Eagletons Ansicht entspricht dieser These: „[the] transferential pro- cess […] allow[s] her problems to be ‘worked through’ into consciousness, and by dissolving the transference relation at the right moment” wird es der trauma- tisierten Person möglich, von ihrem Trauma zu genesen (1995: 160). Holdereg- ger bezweifelt jedoch die Effektivität einer Wiederholung in Bezug auf den Heilungsprozess und behauptet, dass „diese Art von Wiederholung aber nicht zu einer wirklichen Überwindung des Traumas führen kann“ (1993: 8). Herman äußert sich zu diesem Thema wie folgt: „Das Wiedererleben bietet vielleicht die Gelegenheit, das Trauma zu bewältigen, doch die meisten Opfer warten nicht bewußt darauf und sind auch nicht froh darüber. Vielmehr haben sie große Angst davor“ (2003: 65). Der Skepsis dieser Bewältigungsmöglichkeit gegen- über ist zuzustimmen, da zum Beispiel - betrachtet man zur Konkretisierung die Traumatisierten der Sklaverei oder des Holocausts - ähnlich ablaufende reale Wiederholungserlebnisse kaum vorstellbar, nicht möglich, und vor allem nicht duldbar sind. Außerdem besteht bei einem situationsgemäß unerwartet auftretenden Wiederholungserlebnis die Gefahr einer erneuten Überwältigung und Retraumatisierung.

Die Bewältigungsmethode durch eine narrative Verarbeitung ist für den Betrof- fenen ohne Unterstützung eines Zuhörers nicht möglich. Das Opfer braucht Hilfe, um seine Erinnerungsbruchstücke zusammenzusetzen und seine Ge- schichte zu rekonstruieren. Dabei ist das Gefühl der Sicherheit und Zugehörig- keit, das durch das soziale Netz vermittelt werden muss, und die Wiederherstel- lung sozialer und emphatischer Beziehungen wesentlich. Die schützende und stärkende Fürsorge der Nahestehenden ist nötig, damit Erinnerungen an die traumatische Realität auch im Bewusstsein des Traumatisierten bleiben und nicht wieder, wegen der überwältigenden Effekte, verdrängt werden. Das zer- störte Selbstgefühl des Opfers „kann nur so wieder aufgebaut werden, wie es ursprünglich entstanden ist: in der Beziehung zu anderen Menschen“ (Herman 2003: 90). Eine Genesung schließt die Notwendigkeit der Wiederherstellung des positiven Selbstbildes ein, besonders, wenn das Opfer von Schuldgefühlen belastet ist:

Das Opfer braucht Hilfe bei den Bemühungen, seine Schamgefühle zu über- winden und das eigene Verhalten fair zu beurteilen. [...]Ein realistisches Urteil verringert Gefühle von Schuld und Erniedrigung. [...][und erfordert] genaue Kenntnisse über die furchtbaren Umstände des traumatischen Ereignisses und die übliche Spannbreite der Opferreaktionen. Außerdem muss man über das moralische Dilemma angesichts stark eingeschränkter Wahlmöglichkeiten Be- scheid wissen (Herman 2003: 96)…

...wenn die Umstände des Traumas das Opfer zu einem unmoralischen Verhalten gezwungen haben.

Die Phase der Traumaverarbeitung ist ein langjähriger, oft auch lebenslanger Prozess einer abwechselnd abgewehrten und bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Der Erfolg oder das Misslingen der Verarbeitung hängen nicht unwesentlich davon ab, ob der Betroffene weiteren Belastungen ausgesetzt ist oder aber die schützende Unterstützung durch andere Menschen erfährt.

5. Kollektiver Umgang mit Trauma

Trauma wird dann als ein kulturelles oder kollektives Phänomen bezeichnet, wenn Mitglieder einer Kollektivität Subjekt schrecklicher institutioneller oder politischer Ereignisse oder Demütigungen werden, welche unauslöschliche Prä- gungen auf ihr Gruppenbewusstsein hinterlassen, „marking their memories fo- rever“ (Alexander 2004: 1), wie eben am Beispiel der ursprünglich aus Afrika stammenden Sklaven und ihren Nachfahren deutlich wird. Die individuellen Traumatisierungen schließen sich zu einem von allen geteilten Trauma zusam- men. Jedoch kann das Konzept des individuellen Traumas nicht eins zu eins auf die kollektive Ebene übertragen werden. Aufgrund ihrer kulturellen oder kol- lektiven Betroffenheit stärken Mitglieder einer Gruppe ihre solidarischen Be- ziehungen, indem sie das Leid des Anderen teilen. Da der Einzelne seine eigene Geschichte in eine gemeinsam erfahrene Geschichte einbetten kann, fühlt er sich nicht allein und ein Weiterexistieren wird innerhalb dieses emphatischen Kollektivs möglich. Umgekehrt kann es auch passieren, dass die Erwartungen des Kollektivs hinsichtlich des Umgangs mit dem Trauma das Leid eines Mit- glieds verschlimmern, indem sie auf dessen ungewöhnliche Reaktionen Sank- tionen verhängen und diesen vielleicht sogar direkt oder indirekt von der Grup- pe ausschließen. Ihre eigene Traumatisierung hindert soziale Gruppen auch daran, das Trauma Anderer als existent zu erkennen. „By denying the reality of others’ suffering […] people often project the responsibility for their own suf- fering on these others. By refusing to participate in […] the process of trauma creation, social groups restrict solidarity leaving others to suffer alone” (Alex- ander 2004: 1). Kai Erikson beschreibt das kollektive Trauma folgendermaßen:

By collective trauma […] I mean a blow to the basic tissues of social life that damages the bonds attaching people together and impairs the prevailing sense of communality. The collective trauma works its way slowly and even insidi- ously into the awareness of those who suffer from it, so it does not have the quality of suddenness normally associated with “trauma”. But it is a form of shock all the same, a gradual realization that the community no longer exists as an effective source of support and that an important part of the self has disap- peared. […] ”we” no longer exist as a connected pair or as linked cells in a lar- ger communal body (1976: 154).

Werden kulturelle Mechanismen zerstört, die für einen konstruktiven, gemein- schaftlichen Bewältigungsprozess eine Grundlage bilden, wird das Leid und die Trauer privatisiert. Diese Mechanismen können Rituale, Zeremonien und ande- re gesellschaftliche Handlungsweisen sein. Ein durch menschliche Gewalt her- beigeführtes traumatisches Erlebnis erzeugt großes Misstrauen im Individuum gegenüber der restlichen Menschheit, auch gegenüber der eigenen Gruppe, und beschädigt somit die persönliche Integrität. Doch die Folgen einer traumati- schen Einwirkung auf eine Gruppe kann nicht vom Einzelnen bewältigt werden. Auch David Beckers Einschätzung entspricht dieser These: „wenn das, was krank ist, nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftliche Realität ist, dann [...] [muss] aus individuellem Leid [...] kollektives Leid werden, und vielleicht folgt dann irgendwann einmal kollektive Gesundung“ (1995: 99). Das soziale Netz ist Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung. Die Zerstörung dieser Grundlage erschüttert auch das Selbstbild. Für die Rekonstruktion eines positiven Selbstgefühls ist die Wiederherstellung des schützenden sozialen Net- zes notwendig, welches das „Grundgefühl von Sicherheit“ für das Individuum mit sich bringt. (Herman 2003: 92).

Ein weiterer Aspekt der Folgebelastungen von Überlebenden einer kollektiven traumatischen Erfahrung ist der Konflikt des Überlebens. Traumatisierte ent- wickeln Schuldgefühle gegenüber denen, die das Ereignis nicht überlebt haben, zum einen, weil sie sich vorwerfen, Nahestehende verraten zu haben, indem sie selbst überlebten, zum anderen, weil sie im Rahmen der stark gestörten Bewäl- tigungsmechanismen nicht den Tribut einer kollektiven Trauerarbeit zollen kön- nen. „Die Schuldgefühle sind besonders schwerwiegend, wenn das Opfer das Leiden oder Sterben anderer mit ansehen mußte. Zu wissen, daß andere ein schlimmeres Schicksal erdulden mußten, von dem man selbst verschont blieb, belastet das Gewissen stark“ (Herman 2003: 81). Eltern, die ihre Kinder nicht beschützen konnten, leiden z.B. unter starken Selbstvorwürfen und dem Gefühl, als Beschützer versagt zu haben. Neben dem Schuldempfinden ist Scham ein weiterer Belastungsfaktor, besonders bei Gewaltopfern. Schamgefühle entste- hen aufgrund der eigenen Unfähigkeit, sich im Moment des schrecklichen Erei- gnisses dem Täter gegenüber zur Wehr zu setzen. Die Ohnmacht, die persönli- che Demütigung zu verhindern, wird nicht allein auf den mächtigeren Täter zurückgeführt, sondern verursacht Beschämung und Selbsthass bei den Opfern. Wie auf individueller Ebene wird auch auf kollektiver Ebene die schreckliche Realität verleugnet und verdrängt (vgl. Herman 2003: 10). So ist der Prozess der kollektiven Bewältigung durch gemeinschaftliche Trauer und Erinnerungs- arbeit auch wesentlich für den Abbau dieses Überlebenden- und Schamkomple- xes. Findet keine entsprechende öffentliche Aufarbeitung und Bewältigung statt, finden sich die Spuren der schwerwiegenden psychischen Verwundung über Generationen hinweg im kollektiven Gedächtnis wieder und prägen das Selbst- und Weltbild der betroffenen Gruppe.

Das kollektive Gedächtnis fasst alle individuellen Erinnerungen sowie indivi- duelles historisches Wissen zusammen und stellt damit eine kohärente Konti- nuität der persönlichen und gemeinsamen Geschichte auf. Die individuelle Ge- schichte kann nicht getrennt von der kollektiven betrachtet werden, da norma- lerweise jede individuelle Geschichte innerhalb eines sozialen Netzes eingebet- tet ist. Es wird zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis unter- schieden: das kommunikative Gedächtnis [meint] den Zeitraum, in dem Angehörige der Generation, die die relevanten Ereignisse selbst erlebten, noch am Leben sind. Durch das kulturelle Gedächtnis werden dagegen Erinnerungen als Symboli- sierungen überliefert, in denen der sinnhafte Erfahrungsgehalt - oder dessen nachträgliche Bedeutungsgebung durch die Nachgeborenen eine andere Gestalt gefunden hat.[2]

[...]


[1] Stressbedingte Ausschüttung von Hormonen wie Opiate und Endorphine, welche Morphin ähnliche Substanzen sind, aktivieren das Schmerzunterdrückungssystem. (Vgl. hierzu Schmidt & Schaible 1997: 245).

[2] http://www.bpb.de/themen/6FU9UY,0,0,Begriffe_und_Definitionen.html (13.06.2006).

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Trauma und Gedächtnis in Toni Morrisons "Beloved"
Untertitel
Sklaverei - Identitätsproblematik - kollektive Traumabewältigung - Erinnerung und Verdrängung
Hochschule
Universität zu Köln  (Englisches Seminar - Philosophikum)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
71
Katalognummer
V187925
ISBN (eBook)
9783656115144
ISBN (Buch)
9783656115816
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die vorliegende erste Examensarbeit wurde sprachlich und inhaltlich für einwandfrei Befunden und mit 1,0 bewertet. Diese Version hat leider einen Fehler in der Seitennummerierung, sie ist um zwei Seiten verschoben. Diese Arbeit ist eine psychologische und psychoanalytische Analyse von Teilaspekten des Romans Beloved und enthält eigene Erkenntnisse und Ergebnisse.
Schlagworte
Afro-Amerikanishe Sklaverei, Beloved, Toni Morrison, Kollektivtrauma, Identiät, Verdrängung, Erinnerung, Aufarbeitung, Narrative Technik, Trauma, Gedächtnis
Arbeit zitieren
Kader Aki (Autor:in), 2006, Trauma und Gedächtnis in Toni Morrisons "Beloved", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187925

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