Tibetische Medizin: Regionale Entwicklung, Anwendung und Wirkung von Heilpflanzen


Diplomarbeit, 2004

124 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ausgangsposition

3. Theoretische Grundlagen der tibetischen Medizin
3.1. Historischer Einblick
3.2. Basiswissen
3.2.1. Erste Wurzel: Status des Organismus
3.2.1.1. Erster Stamm: Gesunder Organismus
3.2.1.2. Zweiter Stamm: Kranker Organismus
3.2.2. Zweite Wurzel: Diagnose (Untersuchung)
3.2.2.1. Dritter Stamm: Beschauen
3.2.2.2. Vierter Stamm: Fühlen des Pulses
3.2.2.3. Fünfter Stamm: Fragen (Anamnese)
3.2.3. Dritte Wurzel: Therapie
3.2.3.1. Sechster Stamm: Ernährung
3.2.3.2. Siebter Stamm: Lebensweise
3.2.3.3. Achter Stamm: Arzneimittel
3.2.3.4. Neunter Stamm: äußere Heilmethoden
3.3. Aktuelle Anwendung

4. Untersuchung der Akzeptanz zur tibetischen Medizin
4.1. Zielsetzung
4.2. Auswahlregion
4.3. Methodisches Vorgehen
4.4. Resultate

5. Bedeutung von Heilpflanzen in der tibetischen Medizin
5.1. Theoretische Bedeutung
5.2. Praktische Bedeutung
5.3. Untersuchung ausgewählter Pflanzen
5.3.1. Begründung der Auswahl
5.3.2. Vorgehen bei der Untersuchung
5.3.3. Ergebnisse

6. Anwendung von Heilpflanzen bei Diabetes Mellitus II
6.1. Anwendung in der tibetischen Medizin
6.1.1. Krankheitsbild
6.1.2. Theoretische Verabreichung von A-ru 10
6.1.3. Therapie
6.2. Anwendung in der westlichen Medizin
6.2.1. Krankheitsbild
6.2.2. Theoretische Verabreichung von Heilpflanzen
6.2.3. Therapie
6.3. Ergebnisse

7. Schlussfolgerungen

8. Zusammenfassung und Abstract

9. Quellennachweis

9.1. Quellen- und Literaturverzeichnis

9.2. Informationen durch Gespräche

Anhang 1a: Fragebogen (deutsche Fassung)

Anhang 1b: Fragebogen (tibetische Fassung)

Anhang 1c: Fragebogen (tibetische Fassung ausgefüllt)

Anhang 2: Ergebnisdarstellung aus der Befragung

Anhang 3: Untersuchung ausgewählter Heilpflanzen

Anhang 4: Anwendung von Heilpflanzen bei Diabetes Mellitus II (tibetische Medizin)

Anhang 5: Anwendung von Heilpflanzen bei Diabetes Mellitus II (westliche Medizin)

Anhang 6: Das tibetische Alphabet

1. Einleitung

Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit Heilpflanzen in der Tibetischen Medizin, die zur Herstellung Tibetischer Arzneimittel (Medizinalprodukte) dienen und um die Regionalentwicklung in ländlichen und städtischen Gebieten in Sikkim.

Theoretische Grundlagen der Tibetischen Medizin stellen einen wichtigen inhaltlichen Teil dieser Diplomarbeit dar und werden unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung, Basiswissen und aktuellem Stand behandelt.

Eine Untersuchung über die Akzeptanz der Tibetischen Medizin in der indischen Region Sikkim soll geschlechts-, generations- und regional­spezifisch aufzeigen, wie die regionale Entwicklung und die Zukunftspers­pektiven der Anwendung und Nachfrage Tibetischer Medizinalpräparate durch das Leben im Exil beeinflusst werden. Die Einstellungen der Exil – Tibeter zur Tibetischen Medizin sollen dabei aufgezeigt werden.

Welche Bedeutungen Heilpflanzen in der Tibetischen Medizin haben, wird unter theoretischen und praktischen Gesichtspunkten vermittelt. Es werden exemplarische Heilpflanzen nach Erkennungszeichen, Funktionen und traditioneller Anwendung dokumentiert. Die Analyse nach verfügbaren Daten von Pflanzeninhaltsstoffen erfolgt als nächster Schritt. Im Anschluss wird die Übereinstimmung zwischen Anwendung dieser Heilpflanzen und deren Inhaltsstoffen, die zur Herstellung Tibetischer Medizinalpräparate dienen, überprüft und dokumentiert.

Der abschließende Teil dieser Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Anwendung von Heilpflanzen bei Diabetes mellitus II. Dabei wird zwischen Tibetischer und westlicher Medizin, bezogen auf das Krankheitsbild, theoretische Verabreichung von Heilpflanzen und Therapie mit dem Ziel, die Wirksamkeit des Tibetischen Medizinpräparates zu hinterfragen, unterschieden.

2. Ausgangsposition

Das Wissen über die Therapie mit Heilpflanzen ist nicht ausschließlich durch Bücher zu erlernen, sondern wird überwiegend durch mündliche und praktische Unterweisung durch den lehrenden Amchi an seine Schüler weitergegeben. Fragen nach der Stimmigkeit dieser mündlichen Informa­tionen traten deshalb schnell auf.

Dies gilt insbesondere für Bemerkungen, dass bestimmte Pflanzen dazu in der Lage sein sollen, Tumore aufzulösen oder universal Bakterien abtöten können. Bei der Recherche nach Wirksamkeitsbelegen wurde deutlich, dass die Tibetische Medizin im Bereich der Heilpflanzentherapie ein weitestgehend unerforschtes Themengebiet ist. Aktuelle pharmakologische Informationen über Heilpflanzen waren nur in sehr wenigen Fällen erhältlich. Naturwissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit Tibetischer Heilpflanzen bezogen auf ihre Anwendungsgebiete fehlen. Die richtige Anwendung der Heilpflanzen kennen die Amchis aus ihrer langen Erfahrung.

Ziel dieser Diplomarbeit ist es, die Wirksamkeit einer exemplarischen Tibetischen Heilpflanzenkombination, welche bei Diabetes mellitus II Anwendung findet, unter Berücksichtigung der regionalen Zukunfts­perspektiven der Tibetischen Medizin, wissenschaftlich zu hinterfragen.

Dabei handelt es sich um einen Annährungsversuch für eine Wirksam­keitsstudie. Um dieses Ziel zu erreichen, wird das Wissen von Ökotro­phologie, Medizin, Pharmazie, Botanik und Tibetischer Medizin mit­einander verknüpft. Diabetes Mellitus II ist im Westen eine der häufigsten ernährungsbedingten Krankheiten, so dass das Ergebnis dieser Arbeit auch im Westen von Bedeutung sein kann.

In Asien hat die fernöstliche Medizin eine traditionelle Bedeutung. Das Interesse an alternativer, auch an Tibetischer Medizin, nimmt im Westen immer mehr zu. Dennoch herrscht in Europa eine vorwiegend kritische Einstellung zur Tibetischen Medizin vor, denn das Lern- und Nachweis­prinzip in Europa ist überwiegend (natur-)wissenschaftlich orientiert. Dabei spielt das Lernen durch Verstehen, im Gegensatz zum asiatischen Lernprinzip, eine große Rolle.

Um die Tibetische Heilkunde verstehen zu können, müssen zunächst die theoretischen Grundlagen studiert werden. Das Tibetische Medizinsystem wirkt auf Menschen, die im Westen aufgewachsen sind und dort leben, in den meisten Fällen befremdend. Ein Grundlagenverständnis trägt jedoch maßgeblich zum Verstehen der Anwendung von Heilpflanzen in der Tibetischen Medizin bei. Des Weiteren soll durch die schriftliche Dokumentation erreicht werden, das Wissens- und damit Einflussverluste in Nepal und Sikkim vermieden werden.

Das Land Tibet, in dem die Tibetische Medizin ihre Wurzeln hat, liegt heute in China. Bedingt durch den Einmarsch der Volksrepublik China in Tibet flohen circa 60.000 Tibeter ins Ausland. Besonders Indien, Bhutan und Nepal, Länder in denen die praktizierte Tibetische Medizin ebenfalls tiefe Wurzeln hat, nehmen seit circa 1959 eine Vielzahl von Flüchtlingen auf (THINGO RINPOCHE, NGA., 13.07.2003). In allen genannten Ländern wird die Tibetische Medizin heute weiter praktiziert.

Bedingt durch die Globalisierung haben die Einheimischen, und somit auch die Exil -Tibeter in Nepal und Sikkim heute Zugang zur westlichen, meist chemischen Form der Medizin. Diese findet aus verschiedenen Gründen ubiquitär mehr Anwendung, so dass die Tibetische Medizin vermutlich an Bedeutung verliert.

Amchis sind behandelnde Ärzte. Sie stellen traditionell ihre Medizinal­produkte eigenständig her und setzen diese individuell je nach Patient ein. Amchis verkaufen ihre Medizinalpräparate in der Regel nicht ohne vorangegangene Untersuchung und Diagnose. Dieser Umstand kann einerseits dazu führen, dass die Bevölkerung zu chemischen Arzneimitteln greift, da diese in vielen Ländern Asiens, unter anderem in Indien und Nepal, frei verkäuflich und in Apotheken, sowie teilweise auch auf Märkten einfach erhältlich sind. Andererseits kann dieser Umstand, regional betrachtet, zum möglichen Verlust von Wissen über die Tibetische Medizin führen. Deshalb stellt sich auch die Frage, welche Überlebenschancen die Tibetische Medizin im Exil überhaupt hat, da es nur noch wenige praktizierende und ausbildende Amchis in Sikkim gibt.

Die Einstellungen der im Exil lebenden Tibeter zur Tibetischen Medizin sind ebenfalls ein wesentlicher Aspekt, der maßgeblich zum Fortbestand der Tibetischen Medizin außerhalb Tibets beiträgt. Sollten die Exil – Tibeter das Fehlen von Inhaltsstoff- und Wirksamkeitsbelegen Tibetischer Medizinalprodukte als störend empfinden, so könnte dies dazu beitragen, dass die Tibetische Medizin an Einfluss verliert.

Tibetische Medizinalpräparate werden überwiegend aus Heilpflanzen hergestellt. Die Pflanzen besitzen bestimmte Eigenschaften, die auch eine Kontrolle für den theoretischen Einsatz sein können. Eine Pflanze die beispielsweise „wärmend“ wirken soll, kann in der Tibetischen Medizintheorie keinen Einsatz bei Fieber finden, da diese die Krankheit noch verstärken würde.

Eine systematische Dokumentation des heutigen Wissens über die Anwendung von ausgewählten Heilpflanzen soll dazu beitragen, einen Wissensverlust in dieser Region zu vermeiden, und stellt einen Ausgangs­punkt für weitere Forschungen dar.

Werden naturwissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit dieser Medizinalpräparate gefunden, könnten diese Belege Vertrauen in die Tibetische Medizin bei Abnehmern und interessierten Personen stärken. Andererseits könnten diese Materialien auch Vorteile in Regionen, in denen Tibetische Medizin praktiziert wird, für die Amchis und die Bevölkerung bringen.

Belege für die Übereinstimmung der Stimmigkeit zwischen der Anwendung und den Inhaltsstoffen ihrer Präparate können die Amchis zur Argumentation auch gegenüber westlichen Ärzten und/ oder konven­tionellen Arzneien verwenden. Damit könnte eine mögliche Rückläufigkeit der Nachfrage nach Tibetischen Medizinalpräparaten, durch die allgemein bessere Verfügbarkeit chemischer Arzneimittel, vermieden werden. Die Amchis hätten damit eine Möglichkeit zur Vorlage von Belegen bei potentiellen Abnehmern ihrer Präparate. Dadurch kann es für die Amchis, deren Hilfskräfte und gegebenenfalls Zulieferer zu einer Einkommens­verbesserung kommen und damit langfristig zu einer Verbesserung der Lebens­bedingungen in den ländlichen (Berg-)Regionen als auch in den Städten.

Diese Diplomarbeit soll eine Brücke zwischen Tibetischer und westlicher Medizin herstellen, um die Überlebenschancen der Tibetischen Medizin zu festigen.

Außerhalb der Regionen in denen Tibetische Medizin praktiziert wird, insbesondere in Deutschland, können möglicherweise verschiedene Berufsgruppen wie zum Beispiel Ärzte, Heilpraktiker, Pharmazeuten, Biologen und Ökotrophologen durch Publikationen der Informationen von dieser Diplomarbeit profitieren.

3. Theoretische Grundlagen der Tibetischen Medizin

Die Tibetische Medizin ist eine Erfahrungsmedizin, die als ganzheitlich bezeichnet werden kann. Natur und Umwelt des Hochgebirges haben die Tibetische Medizin geprägt. Eine besonders große Rolle spielen diese nach Tibetischer Auffassung bei der Krankheitsentstehung, aber auch bei Diagnostik und Therapie. Dieses Erfahrungswissen wurde schriftlich dokumentiert und bildet einen festen inhaltlichen Bestandteil während der Ausbildung zum Amchi. Diese dauert durchschnittlich 10 Jahre. Das Studium beginnt oft zwischen dem siebten und dem 12. Lebensjahr. Die Studenten besuchen deshalb in der Regel keine öffentliche Schule, sondern werden während ihrer Ausbildung zielorientiert unterrichtet. Das Erlernen der Tibetischen Schrift und Rechtschreibung ist dafür Grundlage. In den ersten acht Jahren des Studiums werden theoretische und praktische Inhalte der Tibetischen Medizin gelernt. Daraufhin folgen in der Regel zwei weitere Jahre praktische Unterweisungen als Assistenzarzt. Nach Abschluss des Studiums können die Amchis selbständig tätig werden. Heute arbeiten diese Mediziner meistens in eigenen Arztpraxen oder in Krankenhäusern. Vor der Kulturrevolution gab es in Tibet keine Krankenhäuser. Deshalb haben die Tibetischen Ärzte meistens Haus­besuche durchgeführt und Gegenstände zur Diagnostik, sowie eine kleine Apotheke stets bei sich geführt (THINGO RINPOCHE, NGA, 15.02.03).

In Tibet war es üblich, dass die nachfolgenden Generationen den gleichen Beruf wie die vorangegangenen erlernten. So entstanden Amchi Dynastien. Das medizinische Wissen wurde auf diese Weise innerhalb der Familien, später auch in klösterlichen Kreisen von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Heute können sowohl begabte und interessierte Jungen als auch Mädchen den Beruf des Amchis erlernen (THINGO RINPOCHE, NGA, 15.02.2003).

3.1. Historischer Einblick

Der Begriff Amchi hat sich aus der Bon Zeit in Tibet vor mehr als 2000 Jahren entwickelt. In der Tibetischen Sprache beginnen eine Vielzahl von Kosewörtern mit dem Buchstaben A wie zum Beispiel Ama (Mutter), Apa (Vater) oder Ame (Großvater, Dorf ältester, Schamane). Das Wort Ame hat sich im Laufe der Zeit in der Aussprache zu Amye entwickelt, welches die gleiche Bedeutung hat. Das Wort Dje (tibetisch) bedeutet: Herr, König und kann auch bedeuten: Herr der Lebensverlängerung, womit Arzt gemeint ist. Aus diesen Begriffen leitet sich eine Koseform für „Heiler“ ab: Amdje. Der Begriff Amdje ist heute noch teilweise gebräuchlich. Überwiegend wird das Wort aber Amchi für Arzt, Heiler oder der (weise) Älteste ausgesprochen und gebraucht (THINGO RINPOCHE, NGA., 19.11.04).

Praktiziert wird die Tibetische Medizin seit über 2000 Jahren. Eine schriftliche Niederlegung der Tibetischen Medizin erfolgte vermutlich erst im 8. Jahrhundert durch den großen Tibetischen Arzt YuthogYontenGonpo dem Ersten, welcher bis heute als Reinkarnation des Medizinbuddhas verehrt wird. YuthogYontenGonpo der Zweite hat etwa 100 Jahre später gelebt und ist ebenfalls ein berühmter Amchi.

YuthogYontenGonpo der Erste soll einen systematischen Leitfaden über die Tibetische Medizin erstellt haben.

Das Buch trägt den Namen rGyudbźi und ist bis heute das wichtigste Werk für das Studium der Tibetischen Medizin. Die Übersetzung des Titels lautet: Vier Tantras (vier Leitfäden) (THINGO RINPOCHE, NGA., 30.07.02).

Aus der Biographie von Yuthog Yonten Gonpo dem Ersten geht hervor, dass sich dieser mit einem indischem Heilkundigen über das praktizierte Wissen der Tibetischen Medizin ausgetauscht hat. In diesem Austausch betont Yuthog Yonten Gonpo der Erste, dass in Tibet Medizin nach Schang-Schung Tradition, Bon Tradition und Tibetischer Tradition praktiziert wird. Nach Schang-Schung und Tibetischer Tradition sind keine schriftlichen Werke aus dieser Zeit bekannt, wohl aber nach Bon Tradition (vgl. Khro – ru – tze – rNam – gyi – gSung – rTsom 2002, S. 26/ 27).

Abb. 1: YutogYontenGonpo der Erste

Quelle: Essen, G.-W., Thingo, T.T., 1989, S. 34

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Seine Ausbildung als Amchi erhielt Yutog Yonten Gonpo der Erste wahrscheinlich durch Pre – buddistische Bon Lehrmeister. Deshalb ist einerseits anzunehmen, dass Yuthog Yontan Gonpo der Erste eine Zusammenfassung und Systematisierung des bereits vorhandenen Wissens vorgenommen hat. Vermutet wird ebenfalls, dass dieser eine Erweiterung des Wissens durch den indischen Heilkundigen erlangte und dieses schriftlich in dem heute bekannten rGyudbźi niedergelegt hat.

Dieses Buch enthält insgesamt vier Tantras

- Wurzel-Tantra
- Erklärungs-Tantra
- Unterweisungs-Tantra
- Schluss-Tantra

Dieses schriftliche Werk aus dem 8. Jahrhundert dient bis heute als Grundlage des Studiums der Tibetischen Medizin. Die Studenten lernen das Buch, das über 800 Seiten umfasst, während ihres Studiums in der Regel auswendig. Der erste Leitfaden des Buches, das Wurzel-Tantra trägt maßgeblich zum theoretischen Grundlagenverständnis der Tibetischen Medizin bei und soll deshalb vermittelt werden. Abweichende Quellen könnten möglicherweise einen unvollständigen oder falschen Inhalt wiedergeben.

3.2. Basiswissen

Das System der Tibetischen Medizin im Buche rGyudbźi, wird im Wurzel-Tantra durch ein Gleichnis dargestellt; dem Tibetischen Medizin-Baum. Dieser zeigt durch seine insgesamt drei Wurzeln -ganz allgemein-, neun Stämme, 47 Zweige und 224 Blätter -sehr speziell- einen deutlichen Aufbau vom Allgemeinen zum Speziellen (s. Abb. 2, S. 9). Die drei Wurzeln stehen symbolisch für den Status des Organismus, die Diagnose und die Therapie. Das Charakteristikum dieser Heilkunde, die Drei-Teilung, ist deutlich und durch­gehend erkennbar.

Aus der ersten Wurzel wachsen zwei Stämme, aus diesen drei Zweige. Aus den drei Zweigen entspringen insgesamt 25 Blätter. Aus der zweiten Wurzel wachsen drei Stämme, mit insgesamt acht Zweigen und 38 Blättern. Aus der dritten Wurzel, wachsen vier Stämme, aus diesen 27 Zweige, mit insgesamt 98 Blättern (vgl. FINCKH, 1997, S. 9).

Aufgrund der hohen Komplexität des Medizin-Baumes und aus Übersicht­lichkeitsgründen werden im weiteren Verlauf nach Benennung der Wurzeln die jeweiligen Stämme, mit deren zugehörigen Zweigen und Blättern genannt. Dabei sollen die Zweige und besonders die Blätter näher erklärt werden, da sie maßgeblich zum Verstehen beitragen. Die Blätter werden in Reihenfolge genannt (Blatt 1-224). Deren Anzahl wird in Klammern jeweils nach Nennung des Blattes hinzugefügt.

Abb. 2: Darstellung des Tibetischen Medizin-Baums (vereinfacht)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2.1. Erste Wurzel: Status des Organismus

Die erste Wurzel steht stellvertretend für den „Ist-Zustand“ des Organismus. Ihre Bedeutung kann auch als Status des Organismus oder Grundlage der Krankheiten übersetzt werden.

Aus der ersten Wurzel wachsen zwei Stämme, 12 Zweige und 88 Blätter.

3.2.1.1. Erster Stamm: Gesunder Organismus

Aus dem 1. Stamm wachsen 3 Zweige, die insgesamt 25 Blätter haben.

1.Zweig mit 15 Blättern: Grundlagen der Krankheiten
2.Zweig mit sieben Blättern: Grundstoffe des Körpers
3.Zweig mit drei Blättern: Unreinheiten

Aus dem 1. Stamm wachsen außerdem zwei Blüten, die für Gesundheit und langes Leben stehen, sowie drei Früchte, welche symbolisch Religion, Wohlstand und Glück entsprechen (vgl. FINCKH, 1975, S. 70).

1.Zweig mit 15 Blättern: Grundlagen der Krankheiten

Die Grundlagen der Krankheiten sind nach Tibetischer Auffassung Wind, Galle und Schleim. In der Tibetischen Medizin werden diese drei Grundlagen der Krankheiten oft mit dem Wort „Humore“ übersetzt. Da es für den Begriff Humore keine eindeutige Übersetzung in eine europäische Sprache gibt, wurden Synonyme wie Krankheitsgrundlagen eingeführt.

Grundsätzlich sind die drei Humore nicht mit Krankheiten gleichzusetzen. Sie befinden sich in jedem gesunden Organismus im Gleichgewicht und haben spezifische Aufgaben (s. Tab. 1, S. 11). In einem gesunden Organismus befinden sich die drei Humore mit den Grundstoffen des Körpers, zum Beispiel Blut und Knochen, sowie den Unreinheiten wie Kot und Urin, in einem ausgeglichenen Verhältnis.

Je nachdem, ob sich die drei Dinge: (Grundlagen der) Krankheiten, Grundstoffe des Körpers und Unreinheiten verändert haben oder nicht, bewirken sie eine Zerstörung oder eine Gesunderhaltung des Körpers (vgl. FINCKH 1975, S. 61-63).

Jeder Grundlage der Krankheiten (Wind, Galle, Schleim) werden fünf Blätter zugeordnet, aus denen sich die Zahl 15 ergibt (15 Blätter) (s. Tab. 1, S. 11).

Tabelle 1: Aufgaben der Humore im Organismus

Quelle: eigene Darstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aus den drei Grundlagen der Krankheiten wird interpretiert, dass die fünf Arten des Windes für die Festigkeit im Körper zuständig sind, da der Wind als Grundstoff des Körpers den Knochen entspricht (s. Tab. 2, S. 17) (vgl. FINCHKH 1975, S. 75).

Die Galle ist für die Produktion von Körpersäften zuständig. Nach Tibetischer Auffassung entsteht aus den Körpersäften (Chylus) Blut, welches als Grundstoff des Körpers dem Humore Galle entspricht (s. Tab. 2, S. 17) (vgl. FINCHKH 1975, S. 70/ 75).

Die fünf Arten des Schleims haben demnach die Aufgabe der Verbindung. Diese entsprechen den Grundstoffen des Körpers: Chylus, Fleisch, Fett, Mark und Sperma (s. Tab. 2, S. 17) (vgl. FINCHKH 1975, S. 75).

2.Zweig mit sieben Blättern: Grundstoffe des Körpers

Die Grundstoffe des Körpers werden durch sieben Blätter symbolisiert:

1. Chylus (Körpersaft) (16)
2. Blut (17)
3. Fleisch (18)
4. Fett (19)
5. Knochen (20)
6. Mark (21)
7. Samen (22)

Der Chylus wird in Blut umgewandelt. Blut reichert die verschiedenen Teile des Körpers an und entwickelt sich zu Fleisch. Fleisch entwickelt sich zu Fett, welches sich zu den Knochen weiterentwickelt. Die Knochen entwickeln sich weiter zu Mark, welches zu Samen beim Mann und zu „innerem Sekret“ bei der Frau transformiert wird (vgl. FINCHKH 1975, S. 70). So erfolgt die Entstehung des Körpers.

3.Zweig mit drei Blättern: Unreinheiten

Die drei Unreinheiten des Körpers können auch als Ausscheidungen bezeichnet werden:

1. Kot (23)
2. Urin (24) und
3. Schweiß (25)

Zwei Blüten und drei Früchte aus Stamm 1

Wenn die zwei Blüten, die für Gesundheit und langes Leben stehen, das heißt ohne Krankheit und langlebig leuchten, dann reifen diese zwei Blüten zu den drei Früchten: Religion (Glaube), Wohlstand und Glück heran (vgl. FINCKH, 1975, S. 70).

3.2.1.2. Zweiter Stamm: Kranker Organismus

Krankheiten können nach Tibetischer Auffassung sowohl primäre als auch sekundäre Ursachen haben. Durch den 2. Stamm werden die Grundlagen der Krankheitsursachen beschrieben. Aus dem 2. Stamm wachsen neun Zweige, die insgesamt 63 Blätter haben.

4.Zweig mit drei Blättern: Erzeugende (primäre) Krankheitsursachen
5.Zweig mit vier Blättern: Mitwirkende (sekundäre) Krankheitsursachen
6.Zweig mit sechs Blättern: Einfallstore
7.Zweig mit drei Blättern: Plätze (Ausgangsorte/ Sitze)
8.Zweig mit 15 Blättern: Wege der Zirkulation
9.Zweig mit neun Blättern: Alter, Ort und Zeit
10.Zweig mit neun Blättern: Frucht (Ergebnis)
11.Zweig mit 12 Blättern: Entgegengesetzte Ursachen
12.Zweig mit zwei Blättern: Prinzipien

4.Zweig mit drei Blättern: Erzeugende (primäre) Krankheitsursachen

Die drei erzeugenden Krankheitsursachen sind:

1. Begierde (26), die sich auf Wind bezieht. Sie entwickelt sich zu Windkrankheiten. Die Windkrankheit, deren primäre Ursache die Begierde ist, wird durch das Streben nach Besitz und dessen Vermehrung, beziehungsweise die Gier nach Macht ausgelöst.
2. Hass (27), welcher sich auf Galle bezieht, wird zu Gallekrankheiten.
Hass kann viele Ursachen haben. Dabei spielen Aggressionen immer eine Rolle. Die persönliche Begierde kann nicht befriedigt werden, so dass Neid oder Hass gegenüber anderen Personen, die beispielsweise erfolgreicher sind als man selbst ist, entsteht. Durch Hass entstehen deshalb Gallekrankheiten.
3. Verblendung (28), die sich auf Schleim bezieht. Diese wird zu Schleim­krankheiten. Die Verblendung, die zu Schleimkrankheiten führt, kann auch als Egoismus bezeichnet werden. Damit ist die Orientierung am persönlichen Erfolg gemeint (THINGO RINPOCHE, NGA., 17.08.2003).

5.Zweig mit vier Blättern: Mitwirkende (sekundäre) Krankheits­ursachen

Neben den primären Krankheitsursachen: Begierde, Hass und Ver­blendung gibt es vier sekundäre Krankheitsursachen.

1. Zeit (29), welche zum Beispiel die Inkubationszeit meint.
2. Böse Geister (Dämonen) (30) werden als sekundäre Krankheitsursache
benannt, wenn medizinisch unerklärliche Symptome auftreten. Mit bösen Geistern können auch Depressionen oder ähnliches gemeint sein.
3. Nahrung (31), kann durch übermäßigen Verzehr von beispielsweise fettiger Nahrung zu ernährungsbedingten Krankheiten führen.
4. Verhalten (32), wie übermäßiger Stress, kann eine mitwirkende Krankheitsursache sein.

Wenn die drei primären Krankheitsursachen aus dem Gleichgewicht geraten, können ein oder mehrere Humore in diesem Zusammenhang zunehmen oder abnehmen. Durch die vier sekundären Krankheitsursachen können Krankheiten in den Körper eintreten (vgl. FINCKH 1975, S. 65).

6.Zweig mit sechs Blättern: Einfallstore

Unter Einfallstore sind die Eingänge beziehungsweise das Eindringen der Krankheiten in den Organismus zu verstehen. Insgesamt gibt es sechs Einfallstore.

1. Haut (33)
2. Fleisch (34)
3. Gefäße, Adern, Nerven (35)
4. Knochen (36)
5. Vollorgane (37) (s. Tab. 2, S. 17)
6. Hohlorgane (38) (s. Tab. 2, S. 17)

Die sechs Einfallstore haben folgende Funktionen: In der Haut zerstreuen sich die Krankheiten. Im Fleisch breiten sie sich aus. In den Gefäßen, Adern und Nerven kreisen die Krankheiten und setzten sich in den Knochen fest. Die Krankheiten steigen in die Vollorgane zum Beispiel Milz und Leber hinab. In den Hohlorganen zum Beispiel Dickdarm und Dünndarm sammeln sich die Krankheiten.

Ausgehend von diesen sechs Einfallstoren nehmen alle Krankheiten ihren Anfang (vgl. FINCHKH 1975, S. 72).

7.Zweig mit drei Blättern: Plätze (Ausgangsorte/ Sitze)

Je nachdem durch welche primäre Ursache eine Krankheit ausgelöst wird, wird dieser ein bestimmter Platz im Körper zugeordnet.

1. oberer Sitz (39) ausgelöst durch Schleim
2. mittlerer Sitz (40) ausgelöst durch Galle
3. unterer Sitz (41) ausgelöst durch Wind

Im oberen Teil des Körpers nehmen durch Schleim hervorgerufene Krank­heiten ihren Anfang. Sie befinden sich im Gehirn.

Durch Galle hervorgerufene Krankheiten beginnen im mittleren Teil des Körpers. Sie haben ihren Sitz im Zwerchfell.

Krankheiten, die im Anfangsstadium durch Wind hervorgerufen wurden, haben ihren Sitz im Oberschenkel und in der Hüfte. Sie sind im unteren Teil des Körpers situiert (vgl. FINCKH 1975, S. 73).

8.Zweig mit 15 Blättern: Wege der Zirkulation

Wind, Galle und Schleim werden an dieser Stelle mit fünf „Abteilungen“ des Körpers in Verbindung gebracht. Die fünf Abteilungen sind übergeordnete Köperbestandteile und Körperausscheidungen, welche die Körperzusammensetzung nach bestimmten Einteilungen erklären.

Je nach Zuordnung werden zum Beispiel Organe wie Magen und Harnblase, die einem Humore zugeordnet sind, in einem Blatt zusammen­gefasst. Zuerst sollen die fünf Abteilungen genannt werden. Im Anschluss werden den Abteilungen die Blätter zugeordnet. Im dritten Schritt werden die unterschiedlichen Wege, durch welche die fünf Abteilungen zirkulieren aufgeführt. Zusammenfassend wird der 5. Zweig in tabellarischer Form wiedergegeben (s. Tab. 2, S. 17).

Fünf Abteilungen mit Zuordnung der Blätter

1. Grundstoffe des Körpers (s. S. 12) sind Knochen (42), Blut (47), Chylus (52), Fleisch (52), Fett (52), Mark (52) und Samen (52).
2. Unreinheiten (s. S. 12) sind Schweiß (48), Kot (53) und Urin (53).
3. Sinnesorgane sind Ohren (43), Tastsinn (44), Augen (49), Nase (54) und Zunge (54).
4. Vollorgane sind Herz (45), Leber (50), Lungen, Milz und Nieren (55).
5. Hohlorgane sind Dickdarm (46), Gallenblase und Dünndarm (51), Magen, Harnblase (56), sowie Samenblase und Gebärmutter.

Zirkulationswege

Die 15 Wege der Zirkulation, in denen sich die Krankheiten bewegen, sind beherrscht durch die fünf Abteilungen. Die Abteilungen sind der Zirkulation also übergeordnet. Die Wege der Zirkulation werden als Kanäle bezeich­net. Die Knochen, das Blut und so weiter sind auch als Zirkulationskanäle oder Zirkulationswege zu verstehen. Wind, Galle und Schleim haben je fünf verschiedene Wege der Zirkulation (vgl. FINCKH 1975, S. 74/ 75).

Wind zirkuliert durch:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Galle zirkuliert durch:

1. Blut 4. Leber
2. Schweiß 5. Gallenblase, Dünndarm
3. Auge

Schleim zirkuliert durch:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: 15 Wege der Zirkulation: Der Zusammenhang zwischen den Humore und den fünf Abteilungen

Quelle: eigene Darstellung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. Zweig: Alter, Ort und Zeit mit neun Blättern

Alter, Ort und Zeit beeinflussen die Krankheitsentstehung. Auch geben sie eine Richtung an, die für die Diagnosestellung wichtig sein kann.

Alter

Ein alter Mensch (57) leidet vorwiegend an Windkrankheiten.

Der jugendliche Mensch (58) leidet vorwiegend an Gallekrankheiten und ein Kind (59) leidet in erster Linie unter Schleimkrankheiten.

Ort

In aromatisch-windigen und kalten (60) Gegenden herrschen Wind­krank­heiten vor.

In trockenen und heißen (61) Gebieten herrschen Gallekrankheiten vor.

In feuchten und fetten (62) Gegenden (mit hoher Luftfeuchtigkeit) herrschen Schleimkrankheiten vor.

Zeit

In der Regenzeit, dem Sommer, am frühen Abend (nachmittags) und bei Morgengrauen (63) treten Windkrankheiten auf.

Im Herbst, am Mittag und um Mitternacht (64) treten Gallekrankheiten auf.

Im Frühling, während der Dämmerung und am Morgen (65) treten Schleim­krankheiten auf (vgl. FINCKH 1975, S. 76).

10.Zweig mit neun Blättern: Das Ergebnis/ die Frucht

Mit dem Ergebnis, beziehungsweise der Frucht, aus den Krankheiten ist langfristig gesehen der Tod gemeint. Das Verscheiden kann neun unterschiedliche Ursachen haben.

1. Die drei Leben sind vollendet (66), wenn eine Person beispielsweise an Altersschwäche, eines natürlichen Todes stirbt.

Mit den drei Leben sind biologische Zeit, sowie Taten und Verdienste des Lebens gemeint.

2. Das Zusammentreffen von Hitze (zum Beispiel eine Fieberkrankheit) und Kälte (zum Beispiel eine Lungenentzündung) verhindert die notwendige Behandlung, so dass die Person stirbt (67).
3. Trotz der Notwendigkeit die Arzneimittelgabe zu ändern, wird an der bisherigen Behandlung mit gleichen Arzneimitteln (68) festgehalten, so dass der Patient stirbt. Hier handelt es sich beispielsweise um das Verschulden des Amchis, falls dieser die Behandlung nicht ändert.
4. Durch Waffen sind lebenswichtige Organe verletzt, so dass der Patient behandlungsunfähig ist (69).
5. Eine Behandlung der Windkrankheit ist nicht mehr möglich, weil die Krankheit bereits zu weit fortgeschritten ist, beziehungsweise eine rechtzeitige Diagnose und Behandlung nicht erfolgte (70).
6. Führt die Hitze-Krankheit (Gallekrankheit) zum Tode, können als Ursachen, ebenso wie bei der Windkrankheit, eine Behandlungs­unfähigkeit durch den zu weit fortgeschrittenen Krankheitsverlauf, genannt werden. Die Möglichkeit, dass der rechtzeitige Diagnose- und Behandlungszeitpunkt überschritten wurde (71), besteht ebenfalls.
7. Eine zum Tode führende Kälte-Krankheit (Schleimkrankheit) wurde ebenso wie die Wind- oder Gallekrankheit nicht rechtzeitig dia­gnos­tiziert und therapiert. Außerdem kann sich die Kälte-Krankheit derart manifestiert haben, dass eine Behandlung nicht mehr möglich ist (72).
8. Obwohl der Zeitpunkt für eine rechtzeitige Behandlung noch nicht überschritten wurde, reagiert der Patient negativ auf die Therapie. Dieser kann die medizinische Behandlung nicht ertragen (73), weil Unverträglichkeiten wie Allergien auftreten.
9. Der Patient leidet unter nicht behandlungsfähigen, psychischen Störungen, beziehungsweise unter starken Verfolgungen von Dämonen (74) (vgl. FINCKH 1975, S. 77), so dass diese (Verfolgungen) tödliche Folgen haben (THINGO RINPOCHE, NGA., 02.03.2004).

11.Zweig mit 12 Blättern: Entgegengesetzte Ursachen (Nebeneffekte)

Wind-, Galle- und Schleimkrankheiten sind nicht als statisch zu verstehen. Es besteht die Möglichkeit, dass im Falle der Linderung eines Humore ein anderer dadurch zunimmt. Außerdem kann durch erfolglose Behandlung des einen Krankheitstypus zusätzlich ein anderer aufsteigen.

Gemeint sind folgende 12 Möglichkeiten:

1. Galle nimmt zu durch die Verringerung des Windes (75).
2. Schleim nimmt durch die Verringerung des Windes zu (76).
3. Galle nimmt durch erfolglose Behandlung von Wind zu (77).
4. Schleim nimmt durch die erfolglose Behandlung des Windes zu (78).
5. Wind nimmt durch die Linderung von Galle zu (79).
6. Schleim nimmt durch die Linderung von Galle zu (80).
7. Wind nimmt durch die erfolglose Behandlung von Wind zu (81).
8. Schleim nimmt durch die erfolglose Behandlung von Wind zu (82).
9. Wind nimmt durch die Abnahme von Schleim zu (83).
10. Galle nimmt durch die Abnahme von Schleim zu (84).
11. Wind nimmt durch die erfolglose Behandlung von Schleim zu (85).
12. Galle nimmt durch die erfolglose Behandlung von Schleim zu (86) (vgl.

DONDEN 1986, S. 32).

12.Zweig mit zwei Blättern: Prinzipien

Alle Krankheiten können auf Kälte (87) und Hitze (88) zurückgeführt werden.

Wind und Schleim sind kalt und haben eine Affinität zum Wasser. Aus den Humore Wind und Schleim entstehen alle Kältekrankheiten.

Galle ist heiß und hat eine Ähnlichkeit mit Feuer. Aus dem Humore Galle entsteht die Hitzekrankheit (vgl. FINCKH 1997, S. 13).

Kälte und Hitze werden auch als Potenzen/ Kräfte bezeichnet. Bei einer Krankheit, wird die Potenz bei der Verabreichung von Mono­präparaten in entgegengesetzter Richtung zur Krankheit eingesetzt. Kälte wird einer Hitzekrankheit entgegengebracht. Hitze wird einer Kältekrankheit ent­gegengebracht. Zusätzlich gibt es eine neutrale Potenz. Diese wird sowohl bei Hitze- als auch bei Kältekrankheiten eingesetzt.

3.2.2. Zweite Wurzel: Diagnose (Untersuchung)

Die zweite Wurzel steht stellvertretend für die Diagnose. Aus dieser Wurzel wachsen drei Stämme, die für das Beschauen, Fühlen des Pulses und Fragenstellen stehen. Aus den drei Stämmen wachsen acht Zweige und 38 Blätter.

3.2.2.1. Dritter Stamm: Beschauen

Aus dem dritten Stamm wachsen zwei Zweige, die insgesamt sechs Blätter haben.

13.Zweig mit drei Blättern: Beschauen der Zunge

14.Zweig mit drei Blättern: Bauschauen des Urins

13.Zweig mit drei Blättern: Beschauen der Zunge

Die drei Blätter stehen stellvertretend für Wind-, Galle- und Schleim.

Leidet ein Person an einer Windkrankheit (89), so ist dessen Zunge rot, etwas trocken und weist kleine Beulen am Rand der Zunge auf.

Die Zunge einer Person, die an einer Gallekrankheit (90) leidet, ist mit gelben Belag überzogen. Außerdem hat die Person einen bitteren Geschmack im Mund.

Die Zunge bei einer Schleimkrankheit (91) ist mit grauem und klebrigem Belag überzogen (vgl. DONDEN 1997, S. 130).

14.Zweig mit drei Blättern: Beschauen des Urins

Auch hier stehen die drei Blätter stellvertretend für die drei Humore: Wind, Galle und Schleim.

Leidet der Patient an der Windkrankheit (92), so weist dessen Urin große Blasen auf und ist klar wie Wasser. Der Urin hat keinen spezifischen Geruch.

Der Urin während der Gallekrankheit (93) hat eine rötlich-gelbe Farbe. Der Urin ist stark dampfend und hat einen starken, manchmal beißenden Geruch.

Bei der Schleimkrankheit (94) ist der Urin milchig-weiß und weist nur wenig Dampf und Geruch auf (vgl. FINCKH 1985, S. 38/ 39).

3.2.2.2. Vierter Stamm: Fühlen des Pulses

Aus dem vierten Stamm wachsen drei Zweige, die insgesamt drei Blätter haben.

15.Zweig mit einem Blatt: Wind Puls

16.Zweig mit einem Blatt: Galle Puls

17.Zweig mit einem Blatt: Schleim Puls

15.Zweig mit einem Blatt: Wind Puls

Der Pulsschlag einer Person mit einer Windkrankheit (95) ist partiell extrem stark und sofort spürbar und im nächsten Moment aussetzend (vgl. DONDEN 1997, S. 95). Zuweilen ist der Wind Puls auch stockend.

16.Zweig mit einem Blatt: Galle Puls

Der Galle Puls (96) ist sehr schnell, gleichzeitig eilig und fein schlagend.

17.Zweig mit einem Blatt: Schleim Puls

Der Schleim Puls (97) ist schwach zu fühlen. Der Pulsschlag ist zudem sehr langsam (vgl. FINCKH 1985, S. 42/ 43).

3.2.2.3. Fünfter Stamm: Fragen (Anamnese)

Aus dem fünften Stamm wachsen drei Zweige, die insgesamt 29 Blätter haben.

18.Zweig mit drei Blättern: Auslösende Ursachen

19.Zweig mit 23 Blättern: Krankheitszeichen

20.Zweig mit drei Blättern: Krankheitslindernde Nahrung

Das besondere an dem fünften Stamm, der Anamnese, ist die Vernetzung von den drei Zweigen durch ihre Blätter.

Beispiel: Blatt 98 steht symbolisch für das Fragen nach auslösenden Ursachen der Windkrankheit aus Zweig 18. Die Krankheitszeichen aus dem 19. Zweig sind in diesem Fall für den Wind fortlaufend. Deshalb trägt das Blatt, welches für die auslösende Ursachen der Gallekrankheit aus Zweig 18 steht nicht die Zahl 99, sondern die Zahl 109.

18.Zweig mit drei Blättern: Auslösende Ursachen

Um die auslösenden Ursachen herauszufinden, werden Fragen zur Ernährung und zum Verhalten/ Lebensweise an den Patienten gestellt.

Bei Verdacht auf Windkrankheit (98) wird der Patient nach dem Verzehr von rauer (grober) Nahrung und nach Aufenthalten in kühlen, windigen Gegenden befragt. Des Weiteren wird er/ sie nach vorausgegangenen Fastenkuren befragt, da diese ebenfalls eine Windkrankheit auslösen kann. Starker Tee (allgemein), Ziegen- und Schweinefleisch sind Beispiele für raue Lebensmittel.

Bei der Befragung nach auslösenden Ursachen der Gallekrankheit (109), wird nach strengen, auch scharfen Lebensmitteln gefragt. Beispiele für strenge Lebensmittel sind starkes und/ oder altes Bier. Für ein heißes Lebensmittel ist Chili beispielhaft zu nennen.

Außerdem wird nach Aufenthalten in heißen Gegenden oder langem Sitzen in der Sonne gefragt.

Auslösende Ursachen für Schleim (116) können Lebensmittel, die sehr fettig sind, wie Murmeltierfleisch, oder Hülsenfrüchte wie Bohnen und Erbsen, sein. Die Beantwortung der Frage nach Sitzen oder Liegen in nassen oder feuchten Gebieten, gibt einen zusätzlichen Hinweis für krankheitsauslösende Ursachen (THINGO RINPOCHE, NGA., 10.08.2003).

19.Zweig mit 23 Blättern: Krankheitszeichen (Symptome)

Deuten die auslösenden Ursachen auf eine Windkrankheit hin, so werden dem Patienten neun weitere Fragen gestellt.

1. Müssen Sie häufig gähnen, schaudern Sie oft (99)?
2. Haben Sie in der letzten Zeit häufig das Gefühl sich viel strecken zu müssen (100)?
3. Leiden Sie häufig unter Kälteschauern (101)?
4. Leiden Sie in der letzten Zeit unter Schmerzen in der Hüfte und den Oberschenkeln?

Schmerzen Ihre Knochen und Gelenke allgemein (102)?

5. Leiden Sie zudem an Schmerzen, die generell nicht lokalisierbar sind, oder an einem „umherwandernden“ Schmerz (103)?
6. Müssen Sie (auch) bei leerem Magen erbrechen (104)?
7. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Sinnesorgane teilweise nicht richtig arbeiten (105)? Sehen Sie beispielsweise manchmal etwas ver­schwommen?
8. Fühlen Sie sich gelegentlich ruhelos? Können Sie sich schlecht auf eine bestimmte Sache konzentrieren? Hatten Sie schon immer einen eher „stürmischen“ Charakter (106)?
9. Leiden Sie ganz allgemein vermehrt unter Schmerzen, wenn Sie hungrig sind (107) (vgl. DONDEN 1986, S. 106/ 107)?

Deuten die Krankheitszeichen auf Galle hin, werden folgende fünf Fragen gestellt.

1. Haben Sie unabhängig von dem was Sie essen, einen bitteren Geschmack im Mund (110)?
2. Leiden Sie partiell unter Kopfschmerzen (111)?
3. Haben Sie das Gefühl, dass sich oft eine intensive Hitze in Ihrem Körper ausbreitet, oder haben Sie oft Fieber (112)?
4. Leiden Sie häufig oberhalb der Taille, also im oberen Teil des Körpers unter Schmerzen (113)?
5. Haben Sie Magenschmerzen nach den Mahlzeiten (114) (vgl. DONDEN

1986, S. 107)?

Deutet die Beantwortung der Fragen nach auslösenden Ursachen auf Schleim hin, werden folgende Fragen gestellt.

1. Leiden Sie unter Appetitlosigkeit (117)?
2. Fühlt sich Ihr Magen oft „aufgeblasen“ an (118)?
3. Haben Sie häufig einen sauren Geschmack im Mund (119)?
4. Müssen Sie häufig aufstoßen (120)?
5. Leiden Sie unabhängig von dem was Sie essen an Verdauungs­störungen (121)?
6. Müssen Sie sich häufig übergeben (122)?
7. Haben Sie das Gefühl, dass egal was Sie essen, alles geschmacklos ist (123)?
8. Frieren Sie häufig innerlich, und ist Ihre Haut auch äußerlich kalt? Leiden Sie unter messbar geringer Körpertemperatur (124)?
9. Fühlen Sie sich nach dem Essen häufig krank (125)?

20.Zweig mit drei Blättern: Krankheitslindernde Nahrung

Obwohl der 20. Zweig „Krankheitslinderung“ der Diagnoseform Befragung untergeordnet ist, werden keine Fragen an den Patienten gerichtet. Es werden allgemeine Informationen und Empfehlungen zur Linderung der Krankheit, durch Austausch von Lebensmitteln und Verhaltensveränder­ung, vom Amchi an den Patienten gegeben. Die Informationen zur Lebens- und Verhaltensveränderung werden mit je einem Blatt zusammengefasst.

Leidet der Patient an Wind, sollte dieser Lebensmittel mit hohem Fettanteil und hoher Energiedichte (108), wie Nüsse oder Bratkartoffeln, verzehren. Außerdem wird dem Patienten geraten, kalte Orte zu meiden und warme zu bevorzugen (108).

Um die Galle zu lindern wird empfohlen, kalte und bittere Lebensmittel (115) wie Reis (kaltes Lebensmittel) und Spinat (bitteres Lebensmittel), zu verzehren. Der Patient, sollte warme Orte meiden und kühle bevorzugen. Es wird dem Patienten außerdem empfohlen, sich weniger warm zu kleiden (115).

Leidet die kranke Person an Schleim, sollte diese leichte, warme, raue und leicht verdauliche Lebensmittel (126) wie Hühnerfleisch verzehren und sich an warmen Orten aufhalten (126) (vgl. DONDEN 1997, S. 107/ 108).

3.2.3. Dritte Wurzel: Therapie

Die dritte Wurzel steht stellvertretend für die Therapie. Aus der dritten Wurzel wachsen vier Stämme, die für Ernährung, Lebensweise, Arzneimittel und äußere Heilmethoden stehen.

Insgesamt wachsen aus den vier Stämmen 27 Zweige und 98 Blätter.

3.2.3.1. Sechster Stamm: Ernährung

Aus dem sechsten Stamm wachsen sechs Zweige, die insgesamt 35 Blätter haben.

21.Zweig mit 10 Blättern: Lebensmittel bei Wind
22.Zweig mit vier Blättern: Getränke bei Wind
23.Zweig mit neun Blättern: Lebensmittel bei Galle
24.Zweig mit drei Blättern: Getränke bei Galle
25.Zweig mit sechs Blättern: Lebensmittel bei Schleim
26.Zweig mit drei Blättern: Getränke bei Schleim

21.Zweig mit 10 Blättern: Lebensmittel bei Wind

Die Ernährung einer an Wind leidenden Person sollte auf Lebensmittel mit heißer Potenz umgestellt werden. Es werden 10 Lebensmittel mit heißer Potenz empfohlen.

1. Pferdefleisch (127)
2. Eselfleisch (128)
3. Murmeltierfleisch (129)
4. ein Jahr altes Fleisch (130)
5. „großes Fleisch“ (131)

Dieses ist Fleisch vom Menschen (wird in der Praxis nicht verwendet), Ochsen, Pferd, Hund und Elefant

6. Sesamöl (132)
7. ein Jahr alte Butter (133)
8. Rohzucker (134)
9. Knoblauch (135)
10. Zwiebeln (136)

22.Zweig mit vier Blättern: Getränke bei Wind

Ebenso wie die Speisen, sollten auch die Getränke bei Wind eine heiße Potenz haben. Empfohlen werden zwei Getränke und zwei Suppen.

1. warme bis heiße Milch (137)
2. Karotten-Zwiebelsuppe (138)
3. Rohzucker-Extrakt (139)
4. Knochen-Suppe (140), zum Beispiel aus ausgekochten Hühnerknochen (vgl. FINCKH 1985, S. 70)

23.Zweig mit neun Blättern: Lebensmittel bei Galle

Die Ernährung einer an Galle leidenden Person, sollte auf Nahrungsmittel mit kalter/ kühler Potenz umgestellt werden. Hierzu werden neun Lebensmittelempfehlungen mit kalter Potenz gegeben.

1. Joghurt aus Kuh- oder Ziegenmilch (141)
2. Molke von Kuh- oder Ziegenmilch (142)
3. frische Butter (143)
4. Wildfleisch (144)

[...]

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Tibetische Medizin: Regionale Entwicklung, Anwendung und Wirkung von Heilpflanzen
Hochschule
Hochschule Osnabrück
Veranstaltung
Medizin, Ernährungswissenschaft / Ökotrophologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
124
Katalognummer
V193759
ISBN (eBook)
9783656188636
ISBN (Buch)
9783656189138
Dateigröße
1312 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Diplomarbeit entstand aufgrund umfangreicher Recherchen zur Tibetischen Medizin in Nordindien und Nepal. Die Autorin gibt in ihrer Arbeit Basiswissen zur Tibetischen Medizin weiter und geht zudem auf die Herstellung von tibetischen Arzneimitteln sowie auf ausgewählte tibetische Heilpflanzen ein. Dabei beleuchtet Sie Chancen und Grenzen des Medizinsystems, Meinungen zur Tibetischen Medizin von Tibetern selbst und den Einsatz eines traditionellen tibetischen Arzneimittels bei Diabetes mellitus II. Diese Diplomarbeit liefert einmalige Hintergrundinformationen zur Tibetischen Medizin.
Schlagworte
Tibetische Medizin, tibetische Heilpflanzen, Heilpflanzen bei Diabetes mellitus, Tibetische Medizin Sikkim, Tibetische Medizin Nepal, Tibetische Medizin Basiswissen, Tibetische Medizin A-ru 10, Diabetes Tibetische Medizin, Diabetes mellitus Tibetische Medizin, Tig-ta, sTag-ma, lDum-gur-gum, sPen-nag, bTzod, Shu-mgan, Sug-smel-chug-ba, A-ru-ra, Swertia chirata, Rhododendron prezewalskii, Carthamus tinctorius, Potentilla arbuscula, Oroxylum indicum, Rubia cordifolia, Symplocus paniculata, Elettaria cardamomum, Terminalia chebula, Bohnenhülsen, Phaseoli pericarpium, Phaseolus vulgaris, Geißrautenkraut, Galegae herba, Galega officinalis, Heidelbeerblätter, Myrtilli folium, Vaccinium myrtillus, Zimt, Cinnamomum aromaticum, Nadine Berling Tibetische Medizin, Nadine Berling-Aumann Tibetische Medizin, Nadine Berling tibetische Heilpflanzen, Nadine Berling-Aumann tibetische Heilpflanzen, Diabetes mellitus, Aru 10 Diabetes mellitus, A-ru 10 Diabetes mellitus, Regionalentwicklung Tibetische Medizin, Regionalentwicklung Sikkim, Regionalentwicklung Nordindien, Tibetische Heilpflanzen Wirksamkeit, Herstellung tibetische Arzneimittel, Herstellung tibetische Medizinialprodukte, Grundlagen Tibetische Medizin, Tibetische Medizin Praxis, Tibetische Medizin Theorie
Arbeit zitieren
Nadine Berling-Aumann (Autor:in), 2004, Tibetische Medizin: Regionale Entwicklung, Anwendung und Wirkung von Heilpflanzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193759

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