Die dramaturgische Funktion der Fokalisation in Theodor Fontanes Kriminalnovelle "Unterm Birnbaum"


Seminararbeit, 2003

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Point of view oder Fokalisierung?
2.1. Das point of view-Modell
2.2. Das Fokalisierungsmodell nach Genette
2.3. Ein modifiziertes Fokalisierungsmodell nach Bal

3. Die Fokalisierung als Mittel der Spannungserzeugung

4. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Man kann sich in der Auseinadersetzung mit erzählenden Texten zwei grundlegende Fragen stellen. Erstens: Was wird erzählt? Und Zweitens: Wie wird erzählt?

Die erste Frage zielt auf die inhaltliche Dimension von Erzählungen, es geht um Handlung und Figuren. Die zweite Frage betrifft die Dimension der Darstellung. Es geht um die Art und Weise, wie die erzählte Welt dem Leser oder Hörer vermittelt wird. In welcher Reihenfolge werden Ereignisse berichtet? Wer erzählt? „Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?“[1] oder „Aus welcher Sicht wird erzählt?“[2] sind mögliche Fragestellungen, die sich auf den Vermittlungsaspekt beziehen.

In dieser Hausarbeit soll es um die Frage des „Wie“ gehen, um den Modus der „Darstellung“[3] von Inhalt, nicht um den Inhalt selbst. Genauer gesagt will ich mich intensiv mit der oben schon genannten Frage: „Aus welcher Sicht wird erzählt?“ befassen. Es geht also um „[d]as Problem der Perspektivierung des Erzählten“[4] oder um mit dem französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette zu sprechen um das Problem der Fokalisierung.

Eine Arbeit, die sich auf die Darstellung eines narratologischen Analysemodells zur Fokalisierung und eine daran anknüpfende Bestimmung von Fokalisierungstypen oder „‘ narrative situations’[5] in einem ausgesuchten Erzähltext beschränkt, ist kaum interessant. Die Auseinandersetzung mit dem Fokalisierungsproblem sollte über ein bloß deskriptives Vorgehen hinausreichen. Es muss nach der Funktion von Fokalisierung gefragt werden: Warum wählt der Erzähler einen bestimmten Fokalisierungstyp? Warum wechselt die Fokalisierung im Verlauf der Erzählung? Aus welchem Grund dominiert in einem bestimmten narrativen Text (eines bestimmten Autors/einer bestimmten Epoche) ein bestimmter Fokalisierungstyp? – Dies sind Fragen von Erkenntniswert.

Diesem Anspruch gemäß soll im Folgenden verfahren werden. Ich möchte klären, welche dramaturgische Funktion der Fokalisierung in Theodor Fontanes Kriminalnovelle „Unterm Birnbaum“[6] zukommt. Oder anders und direkt formuliert: Inwiefern wird die Fokalisierung als Mittel der Spannungserzeugung in „Unterm Birnbaum“ eingesetzt?

Bei der Bearbeitung dieser Fragestellung ist folgendes Vorgehen vorgesehen. Zunächst wende ich mich der theoretischen Frage zu, welches narratologische Analysemodell am ehesten in der Lage ist, das Problem des Blickwinkels oder der Perspektivierung zu klären und eine dementsprechend stimmige Typologie zu liefern. Hier stehen zwei Analysemodelle in Konkurrenz zueinander. Auf der einen Seite das ältere point of view-Modell und auf der anderen das neure Modell der Fokalisierung. Es ist notwendig sich für eines der beiden Modelle zu entscheiden. Meinen bisherigen Ausführungen ist leicht zu entnehmen, dass ich am Ende ein (modifiziertes) Fokalisierungsmodell[7] gewählt habe. Es bleibt aber immer noch die Frage des „Warum“? Das Problem „‘ Point of view ’ oder ‘ focalization ’?“[8] werde ich auf Grundlage des gleichnamigen Aufsatzes von Ansgar Nünning[9] behandeln.

Ist die Frage nach dem Analysemodell geklärt, werde ich (im Hinblick auf die zentrale Fragestellung) die gewonnen Erkenntnisse auf eine Textpassage aus Fontanes „Unterm Birnbaum“ anwenden. Ich werde zeigen, inwiefern der Erzähler mit Hilfe der Fokalisierung in der Lage ist strategisch Informationen zu streuen und so Spannung zu erzeugen.

2. Point of view oder Fokalisierung?

Die Erzählforschung blickt auf eine lange Tradition zurück, schon Platon und Aristoteles hatten theoretische Vorstellungen „über die Erschließung fiktiver oder auf die Realität bezogener [faktualer] Erzählverfahren und Erzählwerke“[10].

Von den frühen 1960er Jahren bis Ende der siebziger Jahre erlebte die Erzähltheorie (als Teilbereich der Erzählforschung) in der internationalen Literaturwissenschaft eine regelrechte Blütezeit. Die Erzähltheorie bzw. Narrativik[11] oder Narratologie ist im Besonderen durch sprachwissenschaftliche und strukturalistische Einflüsse[12] geprägt. Sie forscht in Erzähltexten[13] nach „Narrative[n] Strukturen, die hierarchisch aus narrativen Kategorien aufgebaut sind“[14] Oder einfacher ausgedrückt, „sie beschäftigt sich mit dem Wer und Wie des Erzählens. Die Frage der Erzählinstanz verbindet sich mit den Fragen danach, wie Erzähltexte gebaut sind, welche Erzählmuster sie aufweisen, welche erzähltechnischen Konstruktionen sie auszeichnen.“[15] Die Narratologie schließt also die inhaltliche Dimension aus ihren Betrachtungen aus und beschränkt sich auf die Vermittlungsdimension.

Wenn ich mich also jetzt der Frage der Perspektivierung zuwende, wenn ich mich frage, welchen Blickwinkel nimmt ein Erzähler ein um eine (fiktive) Welt zu vermitteln, dann befinde ich mich sozusagen im Zentrum dessen, was die Narratologie ausmacht.

Im Zuge des Booms der Erzähltheorie in den Jahren von 1960 bis etwa 1980 „kamen zahlreiche Termini und Systeme für die Analyse erzählender Texte auf, die eine schwer überschaubare Konkurrenz alternativer Methoden, Begriffe und Nomenklaturen entstehen ließen“[16]. Der Problembereich der Perspektivierung blieb von dieser Entwicklung nicht verschont. Zahlreiche Autoren machten Vorschläge, wie das Phänomen des Blickwinkels auf die erzählte Welt zu modellieren sei.[17] Die entscheidenden konkurrierenden Analysemodelle, die sich mit der Perspektivierung beschäftigen, sind einerseits das point of view-Modell und andererseits das Modell der Fokalisierung. Ich möchte beide Modelle beschreiben und vergleichen, um am Ende das leistungsfähigere Modell zur Beantwortung der zentralen Fragestellung heranziehen zu können.

2.1. Das point of view-Modell

Der point of view-Begriff ist eine „weithin akzeptierte[] Kategorie[] der Erzähltextanalyse“[18], das Konzept dient als wichtiges Hilfsmittel zur Untersuchung erzählerischer Vermittlung. Problematisch ist jedoch, dass „die Differenzierung verschiedener point of view-Typen oder Erzählsituationen zum Teil auf heterogenen Kriterien basiert, die eine einheitliche Systematik vermissen lassen.“[19]

[...]


[1] Martinez, Matias und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie.2., durchgesehene Auflage. München 2000, S. 20.

[2] Ebd. S. 63.

[3] Ebd. S. 21.

[4] Ebd. S. 63.

[5] Nünning, Ansgar: ‘ Point of view ’ oder ‘ focalization ’? Über einige Grundlagen und Kategorien konkurrierender Modelle der erzählerischen Vermittlung. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 23 (1990), S. 249-268.

[6] Erstmals erschienen im August und September 1885 in dem Familienjournal „Die Gartenlaube“.

[7] Als primäres Fokalisierungsmodell ist jenes von Genette zu bezeichnen, das später von mir favorisierte modifizierte Fokalisierungsmodell geht auf Mieke Bal zurück.

[8] Nünning 1990

[9] Nünning ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Gießen.

[10] Schönhaar, Rainer: Erzählforschung. In: Schweikle, Günter und Irmgard Schweikle (Hrsg.): Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart 1990, S.138.

[11] Die drei Begriffe werden synonym gebraucht. Wobei der Terminus Narrativik nur im deutschen Sprachraum üblich ist. Vgl. Nünning, Ansgar: Erzähltheorie. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 1998, S. 131 ff.

[12] Vgl. die Theorien Ferdinand de Saussures, Roman Jakobsons, Noam Chomsky u.a.

[13] Sie befasst sich also im engeren Sinne mit Erzählungen, verstanden als „[s]chriftliche oder mündliche Darstellungen einer Handlung“ (Martinez/Scheffel 2000: S. 188). Fasst man den Narratologiebegriff weiter, so schließt er beispielsweise auch Zeichensysteme wie Cartoons und Filme ein.

[14] Lauffer, Hartmut: Narrativik. In: Bußmann, Hadumod (Hrsg.): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2002, S.457.

[15] Online im Internet: http//staff-www.uni-marburg.de/~brandtw/narrativik.html (15.8.2003).

[16] Martinez/Scheffel 2000: S. 7.

[17] Vgl. die Theorien Franz Stanzls, Eberhart Lämmerts, Gérard Genettes u.a.

[18] Nünning 1990: S. 249.

[19] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die dramaturgische Funktion der Fokalisation in Theodor Fontanes Kriminalnovelle "Unterm Birnbaum"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Deutsches Institut)
Veranstaltung
Proseminar: Theodor Fontane
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
17
Katalognummer
V19725
ISBN (eBook)
9783638237789
ISBN (Buch)
9783638759076
Dateigröße
519 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Laut Dozent eine außergewöhnlich gute Arbeit (inhaltlich und formal einwandfrei). Die Arbeit befasst sich mit dem Problem der Perspektivierung/Fokalisierung in fiktionalen Texten. Es geht um den Modus (die Art und Weise, das "Wie") der erzählerischen Darstellung. Weitere Schlüsselbegriffe: Point of View, Fokalisierungsmodelle, (erzählerische Spannungserzeugung), Genette, Mieke Baal, Ansgar Nünning
Schlagworte
Funktion, Fokalisation, Theodor, Fontanes, Kriminalnovelle, Unterm, Birnbaum, Proseminar, Theodor, Fontane
Arbeit zitieren
Sven Soltau (Autor:in), 2003, Die dramaturgische Funktion der Fokalisation in Theodor Fontanes Kriminalnovelle "Unterm Birnbaum", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19725

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