Die Deutschstunde von Siegfried Lenz und ihre übersetzerische Behandlung im Translat von Jesús Ruiz unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Kunst und Landschaft


Diplomarbeit, 2003

99 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1 Die hermeneutische Interpretation von Texten
1.1 Den Ausgangstext verstehen
1.2 Die Anwendbarkeit der hermeneutischen Lehre auf die Übersetzung

2 Übersetzungsrelevante Analyse von Deutschstunde
2.1 Der Gesamteindruck
2.1.1 Textstruktur
2.1.2 Verbale Zeitebene
2.2 Die einzelnen Elemente
2.2.1 Über das semantische Gefüge
2.2.1.1 Zur Leitmotivik
2.2.2 Der Satzbau
2.2.2.1 Zur Syntax als konstitutiver Komponente des literarischen Stils
2.2.3 Die Lexik
2.2.3.1 Dialektale Elemente

3 Kunst und Landschaftsdarstellung in der Deutschstunde; der Gesamteindruck

4 Die Landschaftsdarstellung in der Deutschstunde; die einzelnen Elemente
4.1 Sprachliche Merkmale
4.1.1 Zur Form: Syntax und Lexik
4.1.1.1 Syntax
4.1.1.2 Lexik
4.1.2 Zum Inhalt: Semantik

5 Kunstdarstellung in der Deutschstunde; die einzelnen Elemente Seite
5.1 Sprachliche Merkmale
5.1.1 Zur Form: Syntax und Lexik
5.1.1.1 Syntax und Rhythmus
5.1.1.2 Lexik
5.1. 2 Zum Inhalt: Semantik

6 Übersetzungskritik als Interpretationshilfe
6.1 Zusammengehörigkeit zwischen Inhalt und Form
6.2 Lexikalische Auswahl als Entsprechung der semantischen Konnotation des Ganzen
6.3 Das einzelne Wort als semantischer Träger der Intention des Autors
6.4 Auslassungen und die Grenzen der Übersetzung
6.4.1 Die Gegensätzlichkeit von Kunst und Landschaft und das Spiel des Autors
6.5 Die Sprache der Farbe
6.5.1 Die Intention des Autors als Schlüssel für die Übersetzung von Numeri
6.5.2 Die Symbolik der Farben
6.6 Aspekte von Rhythmus und Klang

Schlußwort

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Ziel der vorliegenden Diplomarbeit ist es, die spanische Übersetzung von Jesús Ruiz[1] des Romans Deutschstunde[2] von Siegfried Lenz zu analysieren. Aufgrund des großen Umfangs des Gesamtwerkes und der Unmöglichkeit einer Gesamtkritik im Rahmen dieser Arbeit durchzuführen, wurden zwei bedeutende Aspekte des Romans, der Kunstbegriff und der Landschaftsbegriff ausgewählt, um auf diese näher einzugehen. Diese zwei Aspekte spielen innerhalb des Romans eine wichtige Rolle und in dieser Arbeit werden sie als roter Faden dienen, um uns bei der gesamten Analyse und Kritik der Übersetzung behilflich zu sein.

Es wird in dieser Diplomarbeit die Ansicht vertreten, daß man den Ausgangstext (AT), bevor man eine Übersetzung anfertigt, genau analysieren soll. Bei der Analyse sollte man sich der hermeneutischen Interpretation bedienen, die die wichtigsten Charakteristika des ATs ans Licht führt. Diese hermeneutische Auslegung ist unerläßlich, wenn es sich beim AT um einen literarischen Text (wie im Fall der Deutschstunde) handelt.

Daher werden im ersten Teil der Arbeit mit der Überschrift „Die hermeneutische Interpretation von Texten“ die Hauptmerkmale dieser Disziplin und ihre Anwendbarkeit auf die Übersetzung untersucht. Im ersten Teil der Arbeit wird also näher auf den Begriff der Hermeneutik und dessen Bezug auf die Interpretation von Texten eingegangen; Zunächst wird eine allgemeine Theorie erörtert, danach werden die Grundlagen und Schlußfolgerungen dieser Theorie im Hinblick auf die übersetzerische Tätigkeit untersucht.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird der gesamte Roman Deutschstunde unter Berücksichtigung der hermeneutischen Auslegung analysiert. Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Analyse, da sie nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, sondern um eine Darstellung der für eine spätere Kritik der Übersetzung relevantesten Merkmale des Romans. Die hermeneutische Interpretation von Texten im Hinblick auf die übersetzerische Tätigkeit wird angewandt, um die wichtigsten Merkmale des Werkes Deutschstunde aufzuzeigen. Zunächst bekommt der Leser einen Gesamteindruck des Romans, der später infolge der Analyse der Teile und ihrer wichtigsten sprachlichen Merkmale vervollständigt wird.

Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit werden die Aspekte Kunst und Landschaft in der Deutschstunde behandelt. Sie sind zwei Leitmotive, die in der gesamten Struktur des Romans eine entscheidende Rolle spielen. Die Analyse dieser Aspekte geschieht immer im Hinblick auf einer späteren Übersetzung. Bei der Auslegung dieser beiden Leitmotive wird auch die selbe Methode wie bei der Romananalyse angewandt: es wird zuerst über die Hauptmerkmale reflektiert, um später dessen bedeutsame linguistische Merkmale zu behandeln.

Im vierten und fünften Teil dieser Arbeit werden die Aspekte Kunst und Landschaft isoliert untersucht. Bei der Darstellung dieser Leitmotive werden insbesondere die sprachliche Form und Inhalt berücksichtigt und wie diese der Intention des Autors dienen.

In der ganzen Arbeit werden verschiedene Themen analysiert. Hierbei wird, wie in einem hermeneutischen Zirkel, einen ständigen Vergleich zwischen dem Ganzen und den Teilen durchgeführt. Anhand dieses analytischen Vorgangs werden die roten Fäden dargestellt, die zu einer angemessenen Übersetzung führen sollen. Dafür werden auch Beispiele gegeben, die einer übersichtlichen Analyse dienen. Denn:

... es ist viel leichter, anhand konkreter Beispiele zu zeigen, wo die Grenzen der Übersetzung überschritten wurden, als eben diese Grenzen in abstracto verbindlich festzuschreiben.[3]

Im sechsten und letzten Teil dieser Arbeit wird anhand konkreter Beispiele der spanischen Übersetzung, eine Kritik der verschiedenen Passagen, die sich mit den Aspekten Kunst und Landschaft beschäftigen, ausgeübt. Diese Kritik soll zum einen zu einer praktischen Anwendung der theoretischen Reflexionen der vorangegangenen Kapitel anregen, und zum anderen als Interpretationshilfe des Romans und seiner Leitmotive Kunst und Landschaft dienen. In diesem Kapitel wird die hermeneutische Lehre für die Interpretation von Texten anhand konkreter Beispiele untermauert.

1 DIE HERMENEUTISCHE INTERPRETATION VON TEXTEN

Im ersten Kapitel dieser Diplomarbeit werden die theoretischen Grundlagen gelegt, an denen wir uns im Laufe der ganzen Arbeit orientieren wollen. Dies erfolgt in zwei Ansätzen: zum einen wird, unter dem Kapitel Den Ausgangstext verstehen, die allgemeine hermeneutische Lehre behandelt, was die Interpretation von Texten betrifft, zum anderen werden, unter Die Anwendbarkeit der hermeneutischen Lehre auf die Übersetzung, die zwei Disziplinen, Hermeneutik und Übersetzung, in einer gemeinsamen handlungsorientierten Theorie verbunden. Damit wird in dieser Arbeit die These vertreten, daß vor allem bei literarischen Texten, eine methodische hermeneutisch linguistisch orientierte Auslegung des Originals in der Ausgangssprache, die Voraussetzung ist, um eine adäquate Übersetzungsstrategie anzuwenden. Gleichzeitig wird aber auch diese Übersetungsstrategie nicht als festgelegtes Verfahren betrachtet, um es als universeller Methode für jede Übersetzung einzusetzen, sondern als Einstellung bzw. Haltung, die der Übersetzer einnehmen sollte, um seine persönliche, individuelle Übersetzung zu fertigen.

Diese Strategie ist also keine Lösung, die uns eine „richtige“ Übersetzung ermöglicht, sondern eher eine Reflexion über das Phänomen Übersetzen und seine Beziehung zum Verständnis eines literarischen Textes. Das Original ist das sine qua non der Übersetzung und nur durch seine genaue linguistische Untersuchung und hermeneutische Ausdeutung durch den Übersetzer werden die notwendigen Grundlagen für eine angemessene Übersetzung gesetzt.

1.1 Den Ausgangstext verstehen

Die Überschrift dieses Kapitels mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber in der Tat sind die meisten „Übersetzungsfehler“ reine Verständnisfehler des Übersetzers. Dies werden wir später im vierten Kapitel anhand konkreter Beispiele aufzeigen. Die hermeneutische Lehre, das wissenschaftliche Verfahren der Auslegung und Erklärung eines Textes oder eines Kunst- oder Musikwerks,[4] besagt, daß das Verstehen aus einem zirkelhaften Verhältnis von Ganzem und Teilen entsteht. Nach der hermeneutischen Lehre muß man also das Ganze und die Teile berücksichtigen, um das Verständnis von etwas zu erreichen. Wenn es um Texte geht, heißt das also: das Ganze ist der gesamte Text mit seiner semantischen Botschaft und die Teile sind die Struktur, die sich bis aus den kleinsten Bausteinen der Wörter zusammensetzt.

Im Kapitel über die Analyse der Deutschstunde, werden wir auf die Charakteristiken dieser Struktur eingehen. Zunächst muß ein Übersetzer den Ausgangstext wirklich bis ins kleinste Detail verstehen, bevor er an die Übersetzung herangeht. Dieses Verstehen entsteht aus dem Dialog mit dem Text, aus einer kreisenden Bewegung,[5] aus Fragen, die dem Text gestellt werden und die dieser beantwortet. Hier wird die Synonymie der Begriffe Verstehen und Interpretation deutlich: Indem man einen Text im Zuge der ersten Lektüre versteht, erfolgt eine Interpretaton, die nach weiteren, genaueren Lektüren verbessert wird.

Um das Verständnis eines Textes wirklich zu erreichen, muß man ihn in seine verschiedenen Teile zerlegen, d. h. analysieren, ohne dabei das Textganze aus den Augen zu verlieren.

Alle Einzelheiten eines Textes sind aus dem contextus, dem Zusammenhang, und aus dem einheitlichen Sinn, auf den das Ganze zielt, dem scopus, zu verstehen.[6]

Es kann also Teile ohne Ganzes geben, die keinen einheitlichen Sinn besitzen; es kann aber kein Ganzes ohne Sinn geben, denn das Ganze ist der Sinn, die Summe der Teile, die isoliert diesen einheitlichen Sinn nicht haben. Deswegen ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Das Ganze enthält den Sinn, die Botschaft des Textes, die Intention des Verfassers.

Ein Verständnis des Ganzen erreicht man, wenn man die Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen erkennt. Es handelt sich um den schon zuvor erwähnten inneren Dialog mit dem Text, eine wiederholte Rückkehr vom Ganzen zu den Teilen und umgekehrt. Dieses Verfahren ist eine Kunst, weil sie nicht als Anwendung von Regeln mechanisiert werden kann[7]. Der Dialog mit dem Text ist eine unendliche und kreisende Bewegung. Diese begleitet die Lektüre des Textes und nimmt währenddessen immer mehr Konzepte auf, die eine Art Spinnennetz bilden. Jedes Konzept hat einen bestimmten Platz in diesem Netz, und formt am Ende die Struktur des Ganzen. Der Übersetzer muß diese Beziehungsstruktur des Ausgangstextes erkennen und sie in den Zieltext übertragen, und dabei die Absicht des Autors erkennen, eine Absicht, die die ganze Struktur zusammenhält.

Es ist also ein Grundsatz, der ganz im Geiste des Rationalismus die Forderung ausspricht, allein durch Denken, durch Entwicklung der in den Begriffen eines Autors gelegenen Konsequenzen, zu Einsichten zu gelangen, die der eigentlichen Absicht des Autors entsprechen – Einsichten, die er teilen müßte, wenn er klar und deutlich genug gedacht hätte.[8]

Der Übersetzer muß also in seiner Rolle als Empfänger des Ausgangstextes (AT) und Sender des Zieltextes (ZT) weiter als der Autor des Originals gehen und alle Einzelheiten berücksichtigen.

Es ergibt sich dann eine Struktur, die nicht als Ganzes bezeichnet werden kann, denn dieses Ganze steht über der sprachlichen Struktur und ist mehr als die Summe der Teile. Die Struktur des Textes wäre somit nur das Ergebnis dieser Summe, während das Ganze die Absicht, die Intention des Autors beinhaltet. Die verschiedenen Teile formen die Struktur und halten sie zusammen. Sie können ersetzt werden. Dies darf mit dem Ganzen nicht geschehen, denn es ist der Geist dieser Struktur des Textes. Wenn aber diese Teile nicht ersetzt oder inadäquat ersetzt werden, bricht die Struktur zusammen.

Der Übersetzer hat die Aufgabe, die Struktur aufzulösen und wieder zusammenzusetzen ohne das Ganze, d. h. die Intention, zu beschädigen. Die semantische Bedeutung der verschiedenen Teile des Ganzen muß mit der semantischen Bedeutung des Ganzen übereinstimmen. Dies erfolgt mithilfe des stetigen Dialoges zwischen dem Ganzen und den Teilen, den der Übersetzer führt.

Ein ebenfalls zu berücksichtigender Faktor ist die Tatsache, daß oft die Form den Inhalt des Textes beeinflußt.

Dies ist oft in der Literatur der Fall, vor allem in der Dichtung, aber auch in der literarischen Prosa.

Besonders in der Dichtung, aber nicht nur dort, drückt sich der Sinn eines Textes nicht nur in semantisch-syntaktischen Stilfiguren, sondern auch im sprachlichen Klang aus.[9]

Man hat es also beim Verständnis eines Textes zum einen mit der Beziehung zwischen dem Ganzem und seinen Teilen zu tun, also mit einem allgemeinen Schema und zum anderen mit den jeweiligen Formen und Inhalten, was wiederum eine konkretere Annäherung an das Verständnis ermöglicht. Aus rein linguistischer Sicht wären diese Kategorien, was die Form betrifft, mit dem Begriff Stil und was den Inhalt betrifft mit dem Begriff Semantik, gleichzusetzen.

Die letztgenannte Kategorie findet man in einem Text auf alle Ebenen, d. h.

Text- Satz- , oder Wortsemantik, die den Inhalt des Textes bestimmt und zum einheitlichen Ganzen führen. Als stilistischer Kategorien sind bedeutsam : Syntax, Lexik, Rhythmus und Sprachklang. Das Entscheidende ist, die Beziehung zwischen den verschiedenen Ebenen und Elementen eines Textes zu erkennen. Diese Beziehungen formen die Struktur des Textes, die Teile, die das Ganze zusammenhalten. Der Übersetzer muß, nachdem er die Struktur des AT erkannt hat, die entsprechenden Lösungen in der Zielsprache (ZS) finden, damit eine Wiedergabe des AT ohne Beschädigung des Ganzen und seiner Struktur überhaupt möglich ist. Damit wird deutlich, daß das richtige Verständnis des AT der erste Schritt, die Grundvoraussetzung vor einer Übersetzung ist.

1. 2 Die Anwendbarkeit der hermeneutischen Lehre auf die Übersetzung

Rezeption und Produktion[10] sind die Begriffe, die die Aufgabe eines Übersetzers zusammenfassen. Er steht innerhalb eines kommunikativen Prozesses und empfängt eine Botschaft, die er dem Empfänger weiter vermitteln muß. Diese Botschaft soll möglichst authentisch übertragen werden. Die Aufgabe eines Übersetzers besteht also darin, keine Spuren seiner Arbeit zu hinterlassen. Er muß eine Kommunikation ermöglichen, die ohne ihn nicht möglich wäre und gleichzeitig seine Anwesenheit verbergen, um diese Kommunikation nicht zu stören.

Nach Radegundis Stolze gibt es drei Kategorien der Rezeption: Thematik, Semantik und Lexik. Die Thematik umfaßt den Bereich Textaufbau, d. h. also die Frage nach der Kohärenz, der Gliederung, der Situation des Textes und dem Vorverständnis des Übersetzers, das er besitzen muß, um den Text von Anfang an richtig einordnen zu können.

Die zweite Kategorie, die Semantik, umfaßt den Bereich der Bedeutungsanalyse des Textes und seiner Teile, d. h. die Frage nach Wortfeldern und ihren jeweiligen Denotationen, Konnotationen und Assoziationen.

Die Lexik umfaßt den Bereich der Bausteine, d. h. der Struktur des Textes, also die Frage nach den Wörtern, ihren Charakteristiken und Beziehungen untereinander.

Was die Produktion betrifft, benennt Stolze folgende Kategorien: Pragmatik und Stilistik. Die Pragmatik wird von der Zielgruppe bestimmt und die Stilistik ist die bewußte Auswahl eines Autors/Sprechers aus dem Zeichenpotential der Sprache,[11] also wie der Übersetzer den Stil des Originals wiedergibt.

Es ist deutlich, daß hier nicht von „Ziel“ oder „Funktion“ die Rede ist, sondern von dem Versuch einer Thematisierung des Übersetzens in zwei klar gegliederten Verfahren: zum einen das Verstehen des AT als Voraussetzung für das Handeln, und zum anderen das Formulieren, die Handlung bei der Anfertigung des ZT.

Der Übersetzer kann sich nicht mehr hinter eingeübten Strategien verschanzen, sondern muß sein eigenes Denken und Handeln reflektieren. Auch wenn seine Übersetzungslösungen im ersten Impuls intuitiv-kreativ erfolgen, muß er in der Lage sein, sie im nachhinein anhand linguistischer Kriterien zu begründen.[12]

Gerade aus diesem Grund wird das Verfahren von Stolze in dieser Arbeit auch nicht exakt befolgt. Wie schon erwähnt, ist das Verstehen eines Textes die unerläßliche Voraussetzung für das Übersetzen. Die Unterscheidung Stolzes zwischen „Verstehen“ und „Formulieren“ wird in der vorliegenden Arbeit in dieser Form nicht nachvollzogen. Die Gesamtidee und ein Teil der Terminologie scheinen uns adäquat, aber aufgrund der oben zitierten Passage, kann man eher folgende Ansicht vertreten:

Eine Didaktisierung des Übersetzungsprozesses im Sinne der Operationalisierung bestimmter Analysemethoden und Transferstrategien ist im hermeneutischen Denken, schon aufgrund der Individualität der Texte, ausgeschlossen.[13]

Man kann also behaupten, daß eine Übersetzung nicht besser ist, nur weil ein Übersetzer sie im Rahmen einer Theorie verteidigen kann bzw. wenn er alle seine Entscheidungen durch ein allgemeines Schema rechtfertigt. Der Versuch eine universelle Übersetzungsprozedur zu erstellen, bleibt bis zum heutigen Tag erfolglos und es liegt im Wesen der Übersetzung, aufgrund ihrer geistwissenschaftlichen Herkunft, daß es für immer so bleibt. Dies ist der Fall, da jede Übersetzung Auslegung eines Originals ist, sie ist immer die Vollendung der Auslegung.[14] Die Auslegung ist etwas Individuelles, das nicht verallgemeint werden kann oder darf. Dies führt uns wieder zur Hermeneutik. Da jede Übersetzung auf dem Verstehen eines Originals fußt, ist jeder Übersetzer ein Interpret, ein Ausleger dieses Originals und deshalb ist seine Interpretation entscheidender für das Ergebnis seiner Übersetzung als irgendeine Theorie. Daher muß man keinen Unterschied zwischen Verstehen und Formulieren machen, denn beide Handlungen gehören innerhalb der Auslegung des Übersetzers zusammen.

Vielleicht gibt es eine geringfügige Differenz zwischen beiden Handlungen, aber sie verschmelzt in der Gesamtheit eines einzelnen Verfahrens, das Verfahren des interpretierenden Verstehens durch den Dialog des Übersetzers mit dem Text.

Eine Übersetzung faßt das Resultat einer Auslegung zusammen. (...) Verstehen und Auslegen sind auf eine unlösliche Weise ineinander verschlungen.[15]

Man muß eine Übersetzung als das Ergebnis einer Auslegung, einer allgemeinen Interpretation betrachten, wo Verstehen und Formulieren Teile eines einheitlichen Ganzes sind. Genau wie beim hermeneutischen Zirkel ergeben sich die Teile aus dem Ganzen und das Ganze aus den Teilen. Der Prozeß des Übersetzens ist demzufolge eine einzige Handlung, bei der das Verstehen des AT und die Produktion des ZT zusammen gehören. Sie sind Teile eines Ganzen: die subjektive Interpretation eines Textes durch den Übersetzer.

Die Rechtfertigung einer Übersetzung, d. h. vor allem ihre Genauigkeit im Hinblick auf den AT, kann niemals objektiv vorgenommen werden, da es sich zum Glück um keine exakte Wissenschaft wie Mathematik oder Physik handelt. Sie bleibt letztendlich subjektiv und weist durchhaus rhetorische Elemente auf. Der Übersetzer kann zwar seine Interpretation mit vielen „wissenschaftlichen“ Begriffen schmücken, sie im Licht einer allgemeinen Theorie geistig erleuchten, aber sie bleibt dennoch Interpretation, also individuelles Verstehen. Verstehen im Sinne der Hermeneutik. Jede Theorie ist und bleibt somit der verständliche Versuch mit Hilfe der Rhetorik die eigene Meinung zu verteidigen.

Alle nämlich versuchen bis zu einem gewissen Grad, ein Argument einerseits zu hinterfragen, andererseits zu begründen, einerseits zu verteidigen, andererseits zu erschüttern.[16]

Die Beziehung zwischen Hermeneutik und Rhetorik wird auch von Gadamer erwähnt:

Texte sind immer Darstellung durch Kunst, wo nun das Reden Kunst ist, da ist es auch das Verstehen. Alle Rede und aller Text sind also grundsätzlich auf die Kunst des Verstehens, die Hermeneutik, verwiesen, und so erklärt sich die Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik.[17]

Die Tatsache, daß die Hermeneutik die Notwendigkeit der Rhetorik, also die Anwendung einer rein subjektiven Disziplin und auch die Beziehung beider Disziplinen zueinander anerkennt, während die sogenannten

Übersetzungstheorien dies hinter Begriffen wie interkulturelle Kommunikation oder Skopos[18] verstecken, spricht für die Richtigkeit der ersten Disziplin, die sich nicht davor scheut, die Subjektivität sowie die vermeintlichen und wirklichen Schwächen des Übersetzungsprozesses darzustellen und die so auch den Kern der Problematik trifft.

In der Hermeneutik wird das Thema der Kommunikation beleuchtet, in erster Linie der Ursprung derselben, das Verstehen. Die verschiedenen Übersetzungstheorien hingegen finden ihren Nährboden im leeren Raum zwischen AT und ZT, im Niemandsland und über das Verstehen als solches wird als etwas Selbstverständliches hinweggesehen.

Die Hermeneutik impliziert also einen beweglichen Begriff von Wahrheit, zu dem man tendieren muß und es wird die Ansicht vertreten, daß das Verständnis von etwas durch methodische Analyse zu erreichen ist. Es wird aber auch die Schwierigkeit des Erfolgs bei diesem Prozeß nicht außer Acht gelassen, man beschränkt sich darauf, das Problem richtig zu lokalisieren und zu behandeln. Die Hermeneutik zeigt also den richtigen Weg auf, die Richtung, in die man gehen muß, um die Lösung des Problems zu finden, aber diese Lösung an sich bleibt etwas Individuelles und Subjektives. In der Hermeneutik basiert die Übersetzung auf dem Verstehen und damit wird die Frage vom richtigen Verständnis des AT in dem Vordergrund gerückt. Sie ist somit Voraussetzung für eine angemessene Wiedergabe des AT in der Zielsprache, im Sinne der Aussage: Wer Texte übersetzt, muß sie zunächst verstehen.[19]

2 ÜBERSETZUNGSRELEVANTE ANALYSE VON DEUTSCHSTUNDE

Dieses Kapitel ist in zwei Teilen gegliedert: Zum einen wird das Ganze als eine Einheit untersucht, nachdem man nach der Lektüre des Romans einen ersten Eindruck bekommt, der immer intuitiv ist und der als eine verstehende Auslegung oder Interpretation bezeichnet werden kann. Zum anderen werden die unterschiedlichen linguistische Teile des Textes strukturiert, um sie mit der Interpretation des Ganzen als supralinguistische Einheit zu vergleichen. Dieser Prozeß ermöglicht es uns, den Roman durch den ständigen Vergleich zwischen dem Ganzen und seinen einzelnen Teilen auszulegen. Nach dieser systematischen Analyse der verschiedenen Charakteristika des Werkes hat der Übersetzer die Möglichkeit, die Problematik des Romans zu erkennen und so die angemessenen Entscheidungen bei der Fertigung des Zieltextes zu treffen. Das letzte werden wir anhand von Beispielen der Übersetzung von ZT1 näher untersuchen.

2.1 Der Gesamteindruck

Im vorangegangenen Kapitel wurden die theoretischen Grundlagen der Übersetzung beschrieben. Es wurde die Ansicht vertreten, daß bei einer adäquaten Übersetzung das Verstehen des AT als unerläßliche Voraussetzung gilt. Dieses Verstehen entsteht zum einen durch eine kritische Strukturierung oder Analyse und zum anderen durch eine Auslegung oder Interpretation; beide ergänzen sich und korrigieren einander.[20]

Diese zwei Handlungen verschmelzen im allgemeinen Verstehen, das aus dem zirkelhaften Verhältnis zwischen dem Ganzen und den einzelnen Teilen entsteht. Das Ganze hat in diesem Prozeß Vorrang, denn die Teile können nur aus dem Ganzen und in ihrer Beziehung zu ihm verstanden werden. Deswegen muß bei einer Textanalyse zunächst der gesamte Text als Einheit betrachtet werden, um seine Struktur zu erkennen und auch um die verschiedenen Teile in der Struktur zu lokalisieren. Diese müssen wiederum individuell interpretiert werden, allerdings ohne dabei den Blick auf das Ganze zu verlieren.

Man muß auch die Art und Weise, wie das Ganze und die Teile zueinander stehen, berücksichtigen, um dies später entsprechend in der ZS wiederzugeben. Zwei wesentliche Charakteristika dieser ersten Klassifizierung sind Form und Inhalt. Sowohl das Ganze als auch seine verschiedenen Teile besitzen Form und Inhalt; diese richtig zu erkennen ist dem Übersetzer eine unerläßliche Aufgabe, um den ersten Schritt zum Textverständnis zu vollziehen.

Das Ganze steht über der gesamten Struktur. Es weist eine allgemeine Form auf und besitzt einen semantischen Inhalt, der mit der Intention des Autors gleichzusetzen ist. Da das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, aufgrund der bereits erwähnten außersprachlichen Merkmale, ist die Intention des Autors zwischen der Realität der Leser und Übersetzer und der des Kunstwerks aufzufinden. Der Übersetzer muß sowohl die Intention als auch die zwei Kategorien des Ganzen, Form und Inhalt, erkennen und analysieren. Form und Inhalt müssen vom Übersetzer als „Diener“ der ursprünglichen Intention des Verfassers betrachtet und letztendlich als Stil bezeichnet werden.

Eine einheitliche und klare Definition von Stil gibt es in der Sprach- und Literaturwissenschaft nicht, doch könnte man die Definition von Stolze als zutreffend bezeichnen:

Stil ist die bewußte Auswahl eines Autors/Sprechers aus dem Zeichenpotential der Sprache.[21]

Der Übersetzer sollte in der Lage sein diese bewußte Auswahl des Autors erkennen, um dann in seiner Übersetzung eine adäquate Entsprechung zu finden. Der Stil eines Romans entspräche dann der Art und Weise, wie Form und Inhalt eines Ganzen bewußt aufgebaut sind. Hinter diesem bewußten Willen wäre die Intention des Autors zu erkennen.

Vom Großen bis hin zum Kleinen, vom Text bis hin zu den Syntagmen und Lexemen, ist die Strukturierung der Teile, die das Ganze formen (Abschnitte, Kapitel, Syntax und Lexik), zu analysieren. Sie haben auch ihre jeweilige Form und ihren einzigartigen semantischen Inhalt, eine Struktur, die sich bis in die kleinsten Komponenten wiederholt. Hier muß man auch die Kategorien Rhythmus und Klang als zwei wichtige Bestandteile erwähnen, die hauptsächlich bezüglich der Form, aber auch bezüglich des Inhalts, die verschiedenen Teile prägen und deshalb auch zum gesamten Stil dazugehören.

Dies ist auch, wie es später an konkreten Beispiele gezeigt wird, in der Deutschstunde von entscheidender Bedeutung.

Nach der Lektüre des Romans Deutschstunde, wird die Intention von Siegfried Lenz, nämlich das Nazi-Regime, sowie die Gesellschaft in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in Deutschland darzustellen und zu denunzieren, deutlich. Dabei beschränkt sich Siegfried Lenz auf die Beschreibung einer Provinz, eines kleinen Dorfes und benutzt dieses als Paradigma für die Gesamtsituation.

Das Streben nach Ganzheit und Objektivität[22] wird besonders dadurch deutlich, daß Siegfried Lenz einen kleinen Jungen als Erzähler der Geschichte auswählt, der eine schriftliche Strafarbeit über „die Freuden der Pflicht“ schreibt und im Zuge dessen Kindheitserinnerungen zur Zeit des Krieges aufdeckt.

Die Intention des Autors, den deutschen Charakter und seinen angeblichen Untertanengeist zu offenbaren, ist im ganzen Roman deutlich zu erkennen. Die im Roman dargestellte Beziehung zwischen Siggi, dem Erzähler, und seinem Vater, Jens Jepsen, dem Polizeiposten von Rugbüll, ist allegorisch mit der Beziehung des Schriftstellers zu seinem Land gleichzusetzen. Ziel ist die Suche nach der objektiven Beschreibung und Kritik dieser, zum Teil geschichtlichen, zum Teil soziologischen Situation, verborgen hinter dem subjektiven Blick des Erzählers. Siegfried Lenz benutzt zu diesem Zweck einen minimalistischen Stil, eine Detaillierung der Wirklichkeit,[23] die Ganzheit und Objektivität zum Ziel hat.

Diese Suche durchzieht die gesamte Struktur des Romans, die Kapitel sind voneinander unabhängig und bewegen sich zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es gibt auch wirklich keinen Schluß, keine „Auflösung“.

In der bewußten Anwendung einer parataktischen Syntax wird diese Suche nach einer Detaillierung der Realität ebenfalls deutlich. Die Sätze werden zur Summe einer Vielzahl von Wirklichkeitserscheinungen.[24]

Auf lexikalischer Ebene wird diese Absicht in Bezug auf die Bedeutung, die der Autor/Erzähler dem Adjektiv, dem stilistischen Instrument der Differenzierung[25] erteilt, deutlich. Die Wirklichkeit wird „seziert“, damit das Wesentliche, die Essenz dieser Realität „objektiv“ zum Vorschein kommt. Mithilfe dieser Erzählweise versucht Lenz die Geschehnisse durch detaillierte Beschreibungen zu entblößen.

Es geht ständig (...) um statische, präzis beobachtete Momente, nicht um kontinuierlichen, streng kausalen Geschehensablauf.[26]

Bei der Übersetzung muß man diesen Charakteristika auf semantischer, struktureller, syntaktischer und lexikalischer Ebene gerecht werden und dabei die Intention des Autors wie eine Art „Wegweiser“ im Auge behalten.

Im Kapitel über die Übersetzungskritik wird anhand von Beispielen deutlich, wie das in der Praxis Anwendung findet. Diese Betrachtungen verdeutlichen, daß der Kern des Romans systematisch analysiert werden muß, stufenweise von oben nach unten und wieder zurück, im ständigen Dialog mit dem Text, mit dem Ganzen und seinen Teilen, in einem hermeneutischen Zirkel, der das Verständnis von diesem Text ermöglicht. Dies wiederum ermöglicht eine gute Übersetzung: durch das richtige Verstehen des AT. Man kann das Ergebnis einer Übersetzung diskutieren, nicht aber den Prozeß, den der Übersetzer durchläuft, denn es gibt keine einheitliche Methode, die zum Erfolg führt und die einzige unerläßliche Voraussetzung ist das Verstehen des Originals.

Wie schon erwähnt ist die Analyse des Stils von großer Bedeutung, um die „richtigen“ Lösungen bei der Übersetzung in der Zielsprache zu treffen. Eine Definition von Stil wurde schon erötert, darüber hinaus kann man ergänzen, daß der Stil sich in Form und Inhalt wiederspiegelt, allerdings nicht nur auf passive Art und Weise. Der Stil bestimmt auch die semantische Bedeutung eines Textes, wie wir später anhand konkreter Beispiele sehen werden.

Stil ist so nicht etwas vom künstlerischen Text Ablösbares, nicht die Form und nicht der Inhalt, nicht der Gedanke und das Motiv, sondern dies alles in einem. Es kann daher auch nur insgesamt in der Interpretation, dem hermeneutischen Zirkel gemäß, in der wechselseitigen Zusammenschau des Ganzen mit den Teilen erfaßt werden, wobei vom ersten Eindruck, vom einfachen Gefühl, ausgegangen werden kann, das in der Interpretation verifiziert werden muß.[27]

Der Stil umfaßt also das gesamte künstlerische Werk von der Form bis hin zum Inhalt. Beide Charakteristika ergänzen und beeinflussen sich. Der Stil, im Sinne einer bewußten Auswahl des Autors unter allen Möglichkeiten, die eine Sprache anbietet, ist die Darstellung seiner Intention. Es ergibt sich somit eine Gleichsetzung von Autor und Stil.

Der Stil wird so nicht mehr als Einkleidung der Gedanken, sondern vielmehr als ihre Inkarnation und als Ausdruck der Seele empfunden.[28]

An diesem Punkt angelangt können wir festhalten, daß die werkimmanente oder hermeneutische Interpretation und die kommunikativ-pragmatischen Theorien hier ihre Gemeinsamkeit finden, d. h. zum einen werden (primär) die außersprachliche Handlungsintention des Autors zum anderen als Ergebnis die stilistische Formulierung seiner Intention in Einklang gebracht.

Eine Art des Interpretierens ist auf das Herausfinden der Absichten gerichtet, die eine Person mit einer Äußerung oder der Abfassung von Textbestandteilen verbunden hat; und dabei geht es zunächst um kommunikative Absichten oder (...) primäre Absichten.[29]

Die Analyse des Stils führt den Übersetzer zur Intention des Autors und diese wiederum zur Erklärung des Stils. Aus dieser makrostilistischen Analyse entsteht dann die Bedeutung des Ganzen, die dem Übersetzer in der mikrostilistischen Analyse der einzelnen Teile hilft. Die Intention des Autors ist also mit der Bedeutung derselben gleichzusetzen und nicht mit der Interpretation des Übersetzers.

Die Bedeutung dessen, was wir sagen und schreiben, läßt sich also keineswegs mit unserer Intention gleichzusetzen. Die Bedeutung entsteht vielmehr erst an dem Punkt, wo unsere Äußerungen von jeweiligen Kommunikationspartnern interpretiert werden.[30]

Wenn dies so wäre, hätte die Intention des Senders keinerlei Bedeutung. Wichtig wäre nur die Interpretation des Empfängers, welche innerhalb eines kommunikativen Prozesses entsteht. Somit würde keine wirkliche Kommunikation entstehen, denn die Intention des Senders impliziert schon die Interpretation des Empfängers und bestimmt sie, nicht aber umgekehrt.

Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit die Ansicht vertreten, daß die Intention des Senders und die Bedeutung des kommunikativen Prozesses für den Empfängers Teil eines einheitlichen Ganzen sind, dessen Ursprung und Erklärung beim Sender zu finden ist.

Es ist eine Tatsache, daß es genauso viele Interpretationen wie Texte gibt, denn Interpretation ist etwas Individuelles. Man sollte aber dies nicht verwechseln, d. h. die Suche nach der „wahren“ Bedeutung eines Textes durch systematische Analyse und Interpretation aufgeben. Man sollte sich aber im klaren darüber sein, daß die Interpretation des Empfängers nur Mittel zum Zweck ist und nicht das Ziel.

Die Interpretation nähert uns der Wahrheit an, aber sie ist nicht die Wahrheit. Die Übereinstimmung von Interpretation und Bedeutung ist deswegen unlogisch, da sie dem Empfänger eine wichtigere Rolle zuschreibt als dem Sender. Das stimmt logischerweise nicht. Alles hat den Anschein eines Versuchs, dem Übersetzer eine größere Bedeutung beizumessen als er in Wirklichkeit hat und seine Rolle als Vermittler eines Kommunikationsprozesses zu vergessen. Dies passiert oft mit Aussagen wie der obigen oder auch der folgenden:

Der Ausgangstext steht nicht als dem obersten Primat der Translation zum Ausdruck, sondern das intendierte Ziel am Beginn des Translationprozesses.[31]

Dem Übersetzer wird zuviel Bedeutung beigemessen und es wird nicht den wahren Zweck der Kommunikation, d. h. den Willen eines Senders, eine Botschaft auf eine bestimmte Art und Weise und mit einem von ihm bestimmten Inhalt zu übermitteln, befriedigt. Deswegen ist festzuhalten, daß es vor allem bei künstlerischen Werken die wichtigste Aufgabe eines Übersetzers ist, den Ausgangstext zu respektieren und seine Intention so wenig wie möglich zu verändern. Dies wird erreicht, indem man ihn durch die Interpretation versteht und nicht umgekehrt; d. h. ihn durch das Verstehen interpretiert.

2.1.1 Textstruktur

Die Struktur des Romans Deutschstunde wird dem Ganzen untergeordnet. Sie gehört größtenteils in die allgemeine Kategorie der Form, aber trotz alledem steckt hinter der Auswahl einer bestimmten strukturellen Gliederung eine semantische Intention des Schriftstellers und deswegen werden wir sie analysieren.

Die Deutschstunde ist in 20 Kapitel gegliedert. Jedes Kapitel hat einen individuellen Titel, wodurch jedes als geschlossene Einheiten betrachtet werden können. Dies wird durch den Verlauf der erzählten Zeit und die Handlung innerhalb der Kapitel unterstützt. Es gibt nämlich einen bestimmten Zeitablauf: Von der Gegenwart Siggis in der Strafanstalt, während er seine Erinnerungen niederschreibt, werden durch den Erzähler Zeitsprünge in die Vergangenheit gemacht, die oft ohne allzu deutlichen Übergang erfolgen. Der Leser befindet sich also zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart des Erzählers. Eine allgemeine Zeitstruktur Anfang – Entwicklung – Schluß läßt sich aber trotzdem erkennen:

Niederschrift der Strafarbeit durch Siggi. – Erinnerungen Siggis an die Rugbüller Vergangenheit und die Konflikte zwischen seinem Vater Jens Jepsen und dem expressionistischen Maler Max Nansen. – Entlassung Siggis nach Beendigung der Strafarbeit.

Im Laufe der Lektüre erfährt der Leser warum Siggi in die Strafanstalt eingewiesen wurde. Als Folge des Konflikts zwischen seinem Vater und Max Ludwig Nansen wird er „psychisch krank“ und raubt Gemälde, um sie in Sicherheit zu bringen.[32]

Diese narrative Struktur Anfang – Entwicklung – Lösung bleibt am Ende offen, denn es gibt keinen sicheren Beweis,[33] daß Siggi durch die Niederschrift der Strafarbeit von seiner Krankheit „geheilt“ ist.

Die erzählerischen Sprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit wie auch die formale Struktur dienen zur Intention des Schriftstellers.

Durch diese Zeitbehandlung innerhalb des Romans wird der Inhalt ergänzt und vervollständigt. Das Spiel Gegenwart – Vergangenheit und der von Siggi erstellte Parallelismus zwischen beiden Zeitperioden dient der pragmatischen Intention von Siegfried Lenz, seine soziologische Kritik nicht nur auf die Nazizeit zu beschränken. Er versucht ein Gefühl der Zeitlosigkeit zu vermitteln und die ganze deutsche Gesellschaft in diese Kritik einzuschließen.

Diese Zeitsprünge decken sich nicht mit der Gliederung der Kapitel. Dieses Spiel Gegenwart - Vergangenheit findet auch innerhalb der Kapitel statt.

2.1.2 Verbale Zeitebene

Im ersten Kapitel Die Strafarbeit befinden wir uns in der erzählerischen Gegenwart: Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben lautet der erste Satz. Der Erzähler Siggi spricht weiter in Perfektform, was dem Leser ein Gefühl von Unmittelbarkeit verleiht. Später wechselt der Erzähler im ganzen Roman zwischen Präsensform und Präteritum.

Im ersten Kapitel findet man z. B. diesen Wechsel zwischen den Zeiten: ..., hat mich zur Strafarbeit eingeschlossen. Obwohl ich fast einen Tag so sitze, ...[34] oder auch: ... konnte mir niemand anderes erscheinen als mein Vater Jens Ole Jepsen.[35] Diese Struktur wird jedoch nicht fest beibehalten. Der Erzähler Siggi bleibt immer präsent und verwendet willkürlich Präteritum- und Präsensform, obwohl er die Vergangenheit ins Gedächtnis ruft, wie beispielweise: aber sie dürfen mir nicht abhanden kommen hinterm Deich, (...) ich muß sie im Auge behalten, (...), falls sie sich umsahen, nur zu bücken brauchte.[36]

Siegfried Lenz benutzt diese formale und zeitliche Struktur im Roman, um dem Leser ein Gefühl der Zeitlosigkeit zu vermitteln. Für ihn ist der Stoff, der dahinter steckt, wichtiger als eine lineare Handlung. Für ihn ist es nicht wichtig „eine“ Geschichte zu erzählen, sondern „die“ Geschichte. Ebenso möchte er die Verhaltensweisen einer Gesellschaft schildern. Er wählt deshalb bewußt diese Form der Zeitbehandlung, um seine Intention zu verdeutlichen. Diese Kombination von Form und Inhalt bilden seinen persönlichen Stil.

[...]


[1] Siegfried Lenz, Lección de alemán. Spanische Übersetzung aus dem Deutschen von Jesús Ruiz (Barcelona: Luís de Caralt Ed., 1973). Nachfolgend zitiert als ZT1 und Seitenangabe.

[2] Siegfried Lenz, Deutschstunde (Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, 1968). Nachfolgend zitiert als AT und Seitenangabe.

[3] Jörn Albrecht, Literarische Übersetzung (Darmstadt: Wiss. Buchgess. , 1998), S. 244. (Hervorhebung im Original). Nachfolgend zitiert als: Albrecht und Seitenangabe.

[4] Duden. Deutsches Universal Wörterbuch.

[5] Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1990), S. 195. Nachfolgend zitiert als: Gadamer und Seitenangabe.

[6] Gadamer, S. 179. (Hervorhebung im Original).

[7] Gadamer, S. 193.

[8] Gadamer, S. 198 ( Meine Hervorhebung )

[9] Radegundis Stolze, Hermeneutisches Übersetzen (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1992), S. 240. Nachfolgend zitiert als: Stolze und Seitenangabe.

[10] Siehe: Stolze, S. 89-231

[11] Radegundis Stolze, Übersetzungstheorien (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2001), S. 244. Nachfolgend zitiert als: Stolze Übt. und Seitenangabe.

[12] Stolze, Übt. S. 240.

[13] Stolze, Übt. S. 239.

[14] Gadamer, S. 388.

[15] Gadamer, S. 402.

[16] Aristoteles, Rhetorik (Stuttgart: Reclam, 1999), S. 7. Nachfolgend zitiert als Aristoteles und Seitenangabe.

[17] Gadamer, S. 192.

[18] S. Hans J. Vermeer, Die Welt, in der wir übersetzen. Drei translatorische Überlegungen zu Realität, Vergleich und Prozeß. (Heidelberg: TEXTconTEXT, 1996).

[19] Fritz Paepcke, Im Übersetzen leben. Übersetzen und Textvergleich. (Tübingen: Narr Verlag, 1986), S. 104.

[20] Siehe: Radegundis Stolze, Sprachphilosophie (Hermeneutik) in Handbuch Translation (Tübingen: Stauffenburg-Velag, 1999), S. 117. Nachfolgend zitiert als: Handbuch Translation und Seitenangabe.

[21] Stolze, Übt. S. 244. (Meine Hervorhebung)

[22] Theo Elm, Deutschstunde (Engagement und Realimus im Gegenwartsroman) (München: Wilhelm Fink Verlag, 1974), S. 58. Nachfolgend zitiert als Elm und Seitenangabe.

[23] Elm, S. 55.

[24] Elm, S. 60.

[25] Elm, S. 61.

[26] Elm, S. 75.

[27] Bernhard Sowinski, Stilistik (Stuttgart: Metzler, 1999), S. 31. Nachfolgend zitiert als Sowinski und Seitenangabe.

[28] Sowinski, S. 21.

[29] Axel Bühler Überlegungen zum Verhältnis von Interpretation und Übersetzung in Übersetzung : Sprache und Interpretation (Frankfurt a. M. : Peter Lang, 2000), S. 11.

[30] Hans G. Hönig/Paul Kußmaul, Strategie der Übersetzung (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1982), S: 23.

[31] Dilek Dizdar, Skopostheorie in Handbuch Translation, S. 104.

[32] AT, S. 399.

[33] Der letzte Satz des Romans: ..., weil jeder das Gefühl haben wird, gewonnen zu haben. ist in diesem Sinne eindeutig. Anm. des V.

[34] AT , S. 7.

[35] Ebenda, S. 10.

[36] Ebd., S. 42.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Die Deutschstunde von Siegfried Lenz und ihre übersetzerische Behandlung im Translat von Jesús Ruiz unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Kunst und Landschaft
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
99
Katalognummer
V19919
ISBN (eBook)
9783638239462
Dateigröße
832 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutschstunde, Siegfried, Lenz, Behandlung, Translat, Jesús, Ruiz, Berücksichtigung, Aspekte, Kunst, Landschaft
Arbeit zitieren
Vicente Berezo (Autor:in), 2003, Die Deutschstunde von Siegfried Lenz und ihre übersetzerische Behandlung im Translat von Jesús Ruiz unter besonderer Berücksichtigung der Aspekte Kunst und Landschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19919

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