Der 17. Juni 1953 - Hintergründe und Verlauf


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

39 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Literaturverzeichnis

Einführung

17. Juni 1953 - Hintergründe und Verlauf

I Hintergründe
1. Auf dem Weg in die Krise
1.1 Die Anfänge der DDR
1.2 Der planmäßige Aufbau des Sozialismus - Die 2. Parteikonferenz
1.3 Der Neue Kurs
1.4 Tribüne und RIAS

II Verlauf
2. Der Aufstand
2.1 17. Juni 1953 in der Großstadt
2.1.1 Ost-Berlin
2.1.2 Magdeburg
2.2 17. Juni 1953 auf dem Land
2.2.1 Bezirk Potsdam
2.2.2 Bezirk Frankfurt / Oder
2.2.3 Bezirk Cottbus

III Zusammenfassung
3. Fazit

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einführung

17. Juni 1953 - Hintergründe und Verlauf

Die Erhebungen rund um den 17. Juni 1953 zählen zu den bedeutendsten Ereignissen der deutschen Nachkriegsgeschichte und stellen eine tiefe Zäsur sowohl in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) als auch in der gesamtdeutschen Geschichte dar, gingen in diesen Tagen doch 500.000 bis eine Million Menschen auf die Straßen, forderten u.a. den Rücktritt der Regierung sowie freie und geheime Wahlen und entlarvten so die Mär vom Arbeiter-und-Bauern-Staat. Die vollkommen unvorbereitete und geschockte Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) stand dem kopflos gegenüber, vermutete gar der „Tag X“ sei angebrochen; und es gibt Grund zur Annahme, dass ihre Herrschaft an besagten Juni-Tagen beendet worden wäre, hätte nicht das sowjetische Militär auf Befehl Moskaus den Aufstand, zum Teil auch blutig, niedergeschlagen.

Im Rahmen dieser Arbeit gilt es, zwei Untersuchungsschwerpunkte, bezüglich der Ereignisse im Juni 1953, zu eruieren: Zum einen ist nach den Hintergründen des Aufstandes zu fragen; dabei steht im Mittelpunkt des Interesses, welche Ursachen und welcher Auslöser zu der Erhebung führten. Zum anderen ist nach seinem Verlauf zu fragen; dabei gilt es, ausgehend vom real-historischen Verlauf, seine Merkmale zu ergründen. Hierbei wird auf der einen Seite nach den Aufständischen gefragt. Wer waren sie? Was waren ihre Forderungen? Wie verhielten sie sich? Auf der anderen Seite gilt es zu klären, wie die Staats- und Sicherheitsorgane der DDR darauf reagierten. Um diese Merkmale griffig herausarbeiten zu können, bietet es sich an, eine regional vergleichende Perspektive einzunehmen. Dies soll in dieser Arbeit beispielhaft auf zwei Ebenen getan werden: Erstens anhand eines Vergleiches zwischen zwei Großstädten. Hierfür habe ich Berlin, die Hauptstadt der DDR und Magdeburg, das Zentrum des mitteldeutschen Industriegebiets, ausgewählt. Zweitens werde ich ausgehend davon, den Verlauf des Aufstandes auf dem Land betrachten, wofür ich die drei Bezirke des heutigen Landes Brandenburg, Potsdam, Frankfurt / Oder und Cottbus, ausgewählt habe.

Den Aufstand aus einer vergleichenden Perspektive heraus darzustellen, bietet zwei Möglichkeiten: Zum einen lassen sich allgemeine und überregionale Besonderheiten des Aufstandes herausfiltern, zum anderen ist es gleichzeitig möglich, regionale Einzelheiten zu kennzeichnen. Dies ist nötig, da die weltweite Sicht auf die Ereignisse am 17. Juni 1953, auch in der Retrospektive, insbesondere durch die Geschehnisse in Ost-Berlin geprägt wurde und sich deshalb ein verzerrtes Bild der Erhebung ergeben könnte.

Bereits unmittelbar nach der Erhebung begann ihre intensive Aufarbeitung, welche zu einigen bis heute gültigen Beschreibungen und Bewertungen führte. Diese wurden später immer wieder nachgezeichnet, teilweise aber auch übermalt, vor allem nach dem sich die Quellenlage 1990 durch die Öffnung des Schriftguts der SED-Apparate enorm verbessert hatte. Zum 50. Jahrestag des Aufstandes 2003 kam es dann zu einem regelrechten Veröffentlichungsboom, sodass heute ein kaum noch zu überblickendes Schriftgut zum Thema 17. Juni vorliegt und das Thema dementsprechend gut erforscht ist.[1] In diesem Zusammenhang entstand beispielsweise auch Kowalczuks Überblickswerk „17. Juni 1953 - Volksaufstand in der DDR. Ursachen - Abläufe - Folgen“, auf welches ich mich im Verlauf der Arbeit mehrmals beziehen werde. Ebenso verhält es sich mit dem Sammelband „Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953“ von Engelmann und Kowalczuk. Als Primärquellen dienten allen voran formale Quellen, wie Dokumente und Beschlüsse der Parteitage, aber auch Dokumente der Tagungen des Zentralkomitees (ZK) der SED, Berichte der Polizei sowie Gesetze und Statistiken. Darüber hinaus fanden auch Zeitzeugen- und Radioberichte Verwendung.

Meine Arbeit wird sich im Anschluss an diese Einführung in drei Teile gliedern: Zunächst werde ich im ersten Kapitel die Hintergründe des Aufstandes darstellen: Angefangen bei der ersten Landtagswahl 1946 in den fünf Ländern der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und Ost-Berlin bis zur Verkündung des „Neuen Kurses“ am 9. Juni 1953 werde ich drei Etappen anbieten, die nachvollziehbar darstellen sollen, weshalb am 17. Juni 1953 über eine halbe Million DDR-Bürger auf die Straßen gingen, woraus sich ihre Forderungen ergaben und was schlussendlich der Auslöser für die Massenproteste war. Daran anschließend werde ich im zweiten Kapitel den Verlauf des Aufstandes rekonstruieren: Zunächst beleuchte ich nacheinander die beiden Großstädte Ost-Berlin und Magdeburg. Das Kapitel schließen werde ich mit der Darstellung des Aufstandes in den Bezirken Potsdam, Frankfurt / Oder und Cottbus. Letztlich werde ich im dritten Kapitel die gesammelten Erkenntnisse zusammentragen, um die eingangs gestellten Fragen zu beantworten.

I Hintergründe

1. Auf dem Weg in die Krise

Wie bei jedem bedeutenden historischen Ereignis ergeben sich auch die Ursachen des Juni-Aufstandes aus einem ganzen Bündel von politischen, ökonomischen und sozialen Ursachen, wie bereits Kowalczuk, Mitter und Wolle festhielten: „Der offene Widerstand großer Teile der DDR-Bevölkerung war Teil eines Prozesses, dessen Charakter insgesamt nur durch die Analyse des gesamten Zeitraumes bewertet werden kann.“[2] Hieran setzt meine Arbeit an. Aus methodischen und inhaltlichen Gründen bietet es sich an, die Analyse der Ursachen in drei zeitliche Etappen zu gliedern. Zunächst die erste von 1946 bis zur 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952; sodann die zweite bis zum Frühjahr 1953; zuletzt die dritte bis zur Verkündung des „Neuen Kurses“ am 9. Juni 1953. Abschließend gilt es aus der Konsequenz der herausgearbeiteten Ursachen, den Auslöser der Aufstände darzustellen.

1.1 Die Anfänge der DDR

Die DDR, bzw. bis 1949 die SBZ, war von Beginn an tiefgreifenden Strukturveränderungen unterworfen. Dazu gehört vordergründig die zielbewusste Errichtung eines politischen Systems, welches dem Schein nach zwar ein Mehr-Parteien-System war. Tatsächlich jedoch schimmerten bereits frühzeitig diktatorische Tendenzen durch; so wurden schon in den ersten Nachkriegsjahren sowohl bürgerliche Freiheiten als auch politische Grundrechte ausgehöhlt und teilweise gänzlich aufgehoben.[3]

Das erste einschneidende Ereignis ist diesbezüglich die Landtagswahl von 1946 in den fünf Ländern der SBZ und Ost-Berlin. Sie brachte der SED nicht die von ihr erwartete Mehrheit, mit der Konsequenz, dass sich die SED bis zum Ende der DDR nie mehr einer freien und geheimen Wahl des Volkes stellte. Die Folgen dessen sollten sich nicht zuletzt in den Juni-Aufständen zeigen. Als ein zweites elementares Ereignis sind die Wahlen zum 3. Deutschen Volkskongress am 15. und 16. Mai 1949 zu nennen, bot doch die Kandidatenliste den Wählern schon keinerlei Entscheidungsmöglichkeiten mehr zwischen verschiedenen Parteien. Aus diesem 3. Deutschen Volkskongress ging 14 Tage nach der Wahl der Volksrat hervor, welcher sich seinerseits am 7. Oktober 1949 in Ost-Berlin als provisorische Volkskammer konstituierte und mit der Inkraftsetzung der Verfassung der DDR die Gründung des zweiten deutschen Staates vollzog. Das sich hieraus ergebende eindeutige Demokratiedefizit haftete als „Geburtsmakel“ an der noch jungen DDR und ist deshalb ebenso als ein entscheidender Ausgangspunkt für die Aufstände im Juni 1953 aufzuführen. Darüber hinaus wurden weitere Grundrechte missachtet, was einen ebenso nachhaltigen Einfluss haben sollte. Exemplarisch hierfür können zum einen die Missachtung der Verfassungsartikel 126 bis 138 genannt werden, welche eigentlich justizielle Grundrechte gewährleisten sollten. Deren Missachtung erlaubte der SED die Politisierung von Recht und Gesetz und somit die Instrumentalisierung der Justiz. Die Folge dessen waren unzählige politische Häftlinge. Zum anderen kann in diesem Zusammenhang die Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) genannt werden, welches als Überwachungs- und Unterdrückungsinstrument die Ziele der SED durchsetzte.[4]

Diese erste Etappe, auf dem Weg hin zu den Aufständen im Juni 1953, zeichnete sich zusammenfassend durch die Errichtung der Parteidiktatur der SED ohne eine demokratische Legitimität, die Einschränkung der Grundrechte sowie die Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit zur Instrumentalisierung der Justiz aus, getragen von einem Überwachungs- und Unterdrückungsapparat.[5]

1.2 Der planmäßige Aufbau des Sozialismus - Die 2. Parteikonferenz

Die wichtigste Frage in der DDR, nämlich die nach der Macht, war bis 1952 geklärt. Sowohl die Polizei als auch der Geheimdienst und die Rechtsprechung standen im Dienst der SED; das Bildungs- und Medienwesen war ebenso instrumentalisiert und die Schlüsselindustrien waren verstaatlicht worden. Vor diesem Hintergrund sah die SED-Führung den Zeitpunkt gekommen, ihre Ziele offen und offensiv zu propagieren. An diesem Punkt läutet die 2. Parteikonferenz der SED vom 9. bis 12. Juli 1952 die zweite Etappe auf dem Weg hin zum 17. Juni 1953 - auf dem Weg in die Krise - ein: „ In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft und aus anderen Kreisen der Werktätigen, hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird.“[6]

Der von Moskau abgesegnete „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ hatte gravierende Folgen für die gesamte Gesellschaft, welche an dieser Stelle dargestellt werden sollen: Zunächst wurden die bestehenden fünf Länder der DDR aufgelöst und durch 14 uneigenständige Bezirke (bzw. 15 mit Ost-Berlin) ersetzt. Die einzelnen Bezirksleitungen wurden von der SED ohne demokratische Legitimation eingesetzt. Hinter dieser Maßnahme standen vordergründig Zentralisierungsabsichten, zur besseren Durchsetzung der neuen Politik.[7]

Die neue Leitlinie sah des Weiteren den Ausbau der Schwerindustrie vor, welcher sich gut am Beispiel der Stahlerzeugung verdeutlichen lässt: 1946 wurden in der DDR noch 150.000 Tonnen Stahl erzeugt; 1953 waren es bereits 2,1 Millionen Tonnen. Allerdings geschah dieser Aufbau auf Kosten der Leicht- und Konsumindustrie, was insbesondere zu Lebensmittelengpässen und Versorgungsproblemen führte. Viele Güter des täglichen Bedarfs waren Mangelware und auch qualitativ unbefriedigend. Wer qualitativ bessere oder zumindest nicht rationierte Lebensmittel wollte und brauchte, musste diese in Läden der Handelsorganisation (HO) kaufen; doch bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 310 Mark (im Jahr 1952) waren deren Preise für die meisten Arbeiter unerschwinglich. Ein Kilogramm Zucker kostete seinerzeit beispielsweise 12 Mark, ein Kilogramm Butter gar 24 Mark.[8] Die Folge dieser Politik war Unzufriedenheit in der Bevölkerung, welche an dieser Stelle stellvertretend durch zwei Magdeburger Arbeiter verdeutlicht werden soll: „Ich arbeite am Schmelzofen bei 600 Grad Celsius und mit Gift. Ich gehe mit 280 Mark nach Hause. Wenn man keine Messerspitze Fett im Hause hat und im Betrieb nur einen halben Liter Magermilch bekommt, wo soll da die Kraft herkommen.“ Ein zweiter Arbeiter äußerte sich ähnlich: „Ich kann mir denken, wie es den Kollegen zu Mute ist, die ihren Frauen monatlich 250 Mark auf den Tisch legen können, und die Ehefrauen, als so genannte Finanzminister, sollten nun alles bestreiten. Wie soll eine Frau in der Lage sein, außer den verteuerten Lebensmitteln in der HO, denn mit den Lebensmittelkarten kommt sie ja nur bis zum 15. des Monats aus, auch noch Kleidungsstücke und dergleichen [zu] kaufen?“[9]

Die mangelhafte Versorgungssituation spitzte sich ferner durch die Kollektivierung der Landwirtschaft zu. Diese sah die Bildung landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG) vor, welche, Ulbrichts Argumentation folgend, der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus auf dem Lande dienen sollten. Damit einher ging die Erhöhung der Pflichtabgaben der Bauern, welche Tausende, insbesondere Großbauern, in den Ruin und damit in die ungewollten LPG trieb. Der Widerstand der Bauern gegen diese Zwangsmaßnahmen wurde einerseits durch Enteignungen, anderseits durch Verhaftungen gebrochen; so kam es etwa zwischen August 1952 und Januar 1953 zu über 1.250 politisch motivierten Verfahren gegen Bauern mit zum Teil hohen und abschreckenden Zuchthausstrafen.[10]

Neben den Bauern rückten besonders die Kirchen ins Visier der SED. Der „Kirchenkampf“ war der Tatsache geschuldet, dass die Kirchen die einzig verbliebenen nicht-staatlichen Großorganisationen der DDR waren. Dabei wandte sich insbesondere die evangelische Kirche öfter gegen die SED und wurde so zum Klassenfeind. Ziel der staatlichen Repressionen wurde allen voran die Junge Gemeinde. Sie war die Jugendorganisation der evangelischen Kirche und bot ihren über 125.000 Mitgliedern im Rahmen ihrer binnenkirchlichen Autonomie einen ideologiefreien Raum, welcher der SED-Führung ein Dorn im Auge war. So mussten die Mitglieder der Jungen Gemeinde in ihrem Alltag zunehmend Repressionen über sich ergehen lassen: Oberschüler, welche sich zur Jungen Gemeinde bekannten, wurden der Schule verwiesen; Lehrer die sie unterstützen, wurden direkt mit entlassen. Ferner kam es an Universitäten zu Relegationen von Mitgliedern evangelischer Studentengemeinden. In öffentlichen Schauprozessen wurde Mitgliedern der Jungen Gemeinde mit gefälschten Beweisen staatsfeindliches Verhalten nachgewiesen, um die Junge Gemeinde auf diesem Weg als westliche Spionage- und Sabotageorganisation zu entlarven. Der Höhepunkt wurde schließlich erreicht, als die Junge Gemeinde am 28. April 1953 zur verbotenen Organisation erklärt wurde. Bis Ende Mai 1953 wurden schließlich viele Jugendliche und mehr als 70 Theologen verhaftet. Das Zeichen der Jungen Gemeinde, das Kugelkreuz, wurde indes zum Symbol des Widerstands.[11]

Überhaupt umfasste der „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ auch „die Rechtsprechung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik [...]“[12], wodurch einerseits die Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt endgültig aufgehoben und die Rechtsprechung politisiert wurde, und anderseits der Ausbau des Repressions- und Terrorapparates vorangetrieben wurde. Das MfS entwickelte sich vollends zum „Schild und Schwert“ der SED und horchte, auf der Suche nach Widerständlern, die Bevölkerung regelrecht aus. Die Folge dessen war ein sprunghaftes Ansteigen von Verhaftungen und Verurteilungen; zehntausende Bürger, von einigen tausend „Inoffiziellen Mitarbeitern“ des MfS bespitzelt, verschwanden unter zwielichtigen Gründen in Zuchthäusern. Die Willkür reichte soweit, dass auf Bagatelldelikte und sogar auf politische Witze mehrjährige Zuchthausstrafen standen und Arbeiter aufgrund von Betriebsunfällen der Sabotage überführt wurden. Im März 1953 gab es 66.400 politische Häftlinge.[13]

Neben der Verwaltungsreform, dem Ausbau der Schwerindustrie, der Umgestaltung des bäuerlichen Mittelstandes, dem Kirchenkampf und der Steigerung von Repression und Disziplinierung sah die neue politische Linie noch zwei weitere Maßnahmen vor. Zum einen wurde die Militarisierung forciert, wofür allein von Sommer 1952 bis zu den Juni-Aufständen des nächstes Jahres zwei Milliarden Mark ausgegeben wurden. Die Kasernierte Volkspolizei wuchs daraufhin bis Mitte 1953 auf 113.000 Mann. Die nötigen finanziellen Mittel für dieses Unternehmen wurden insbesondere durch die Herabsenkung der Renten sowie durch Steuererhöhungen geschaffen.[14] Zum anderen wurde ein „totaler sozialer Krieg“[15] gegen Selbstständige, private Unternehmen und das Bildungsbürgertum geführt. In diesem Zusammenhang wurde etwa zwei Millionen Menschen aus politisch-ideologischen und sozialen Gründen die Lebensmittelkarte entzogen, was die Menschen zwang, ihre Lebensmittel in den vollkommen überteuerten HO-Läden zu erwerben.[16] Soll also die Politik der SED nach der 2. Parteikonferenz zusammengefasst umschrieben werden, kann dies getrost mit den Worten Engelmanns und Kowalczuks geschehen, welche von einem „stalinistische[n] Generalangriff gegen die Gesellschaft“[17] sprechen.

Die Massenbegeisterung über den „Aufbau des Sozialismus“ fand demnach ausschließlich in der SED-Propaganda statt. Tatsächlich waren die Folgen der neuen Politik für die Bevölkerung, wie dargestellt, drastisch. Inszenierte Massenaufmärsche und ideologische Kampagnen konnten jedoch nicht über eine Politik und Justiz der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung hinwegtäuschen. Zudem fiel durch die Mangelversorgung sowie die Zerstörung der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen das ohnehin niedrige Lebensniveau immer weiter. Die allgemeine Unzufriedenheit im Land war regelrecht spürbar. Der letzte und einzige Ausweg für viele war die Bundesrepublik Deutschland, was sich im Aufkommen einer bis dahin nie dagewesenen Fluchtwelle widerspiegelt. Allein im ersten Halbjahr 1953 flohen 226.000 Menschen aus allen sozialen Schichten gen Westen, wodurch nicht zuletzt die Wirtschaft zusätzlich belastet wurde. Der Versuch der SED, diese Welle durch Sperrzonen, stärkere und teilweise schikanöse Grenz- und Verkehrskontrollen einzudämmen, blieb weitestgehend erfolglos. Darüber hinaus kam es dann seit dem Spätherbst 1952 punktuell zu ersten Streiks, die „wie Wetterleuchten ein aufziehendes Gewitter anzeigten.“[18]

1.3 Der Neue Kurs

Der „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ hatte im Frühjahr 1953 schließlich seine Grenzen erreicht: Sowohl die wirtschaftlichen Möglichkeiten als auch die Geduld der Bevölkerung waren erschöpft. Allein im März 1953 flüchteten 31.000 Menschen aus der DDR. Die Symptome politischer und ökonomischer Krisen sowie insbesondere der kontinuierliche Strom an Flüchtlingen, veranlasste die Sowjetunion zu handeln, hatte sie doch im Gegensatz zur SED-Führung erkannt, dass der DDR bei der Fortführung ihrer Politik zeitnahe ein Kollaps drohte. Zunächst jedoch wurde die krisenhafte Entwicklung lediglich in den Sitzungen des sowjetischen Ministerrates thematisiert.[19]

Währenddessen hielt die SED stoisch an ihrer politischen Linie fest und spitzte die angespannte Situation Ende Mai durch die „Erhöhung, der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen, um durchschnittlich mindestens 10 Prozent“[20] zu. Dieser Beschluss bedeutete für die Arbeiter reale Lohneinbußen zwischen 20 und 40 Prozent, was die Unzufriedenheit und Wut weiter wachsen ließ. An dieser Stelle griff die sowjetische Führung ein und bestellte Generalsekretär Walter Ulbricht, Ministerpräsident Otto Grotewohl und das Mitglied des Politbüros Fred Oelßner zwischen dem 2. und 4. Juni nach Moskau.[21]

Vor Ort bekam die SED-Abordnung „Hinweise“ zur Überwindung der Krise: Diese sahen eine verstärkte Rücksichtnahme auf die Einstellung der Bauern zur Zwangskollektivierung vor, womit u.a. auch das zeitweise Aussetzen neuer Zwangskollektivierungen gemeint war. Vielmehr sollten gar die individuellen bäuerlichen Wirtschaften gestärkt und unterstützt werden. Des Weiteren sahen die sowjetischen „Hinweise“ die Förderung von Privatkapital und -unternehmen vor. Ferner wurde den anwesenden SED-Mitgliedern nahegelegt, den Fünfjahresplan der Volkswirtschaft, unter stärkerer Berücksichtigung der Konsumgüterproduktion, zu ändern. Damit verbunden war die Abkehr von der Dominanz der Schwerindustrie. Weiterhin sollten politische Justizurteile überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Schließlich wurde empfohlen, den Kampf gegen die Kirche einzustellen sowie ihre freie Arbeit zu gewährleisten. Zudem sicherte Moskau zum einen wirtschaftliche Unterstützung sowie zum anderen die Lieferung von Lebensmitteln zu. Die SED-Delegation, welche auf die harte Kritik nicht eingestellt war, reagierte überrascht und verängstigt, zumal die Moskauer Führung deutlich gemacht hatte, dass sie eine schnelle, vorbehaltlose und unbedingte Ausführung aller Vorgaben erwarte. Noch in Moskau wurden erste Schritte eingeleitet. Die SED-Führung veranlasste die Einstellung aller Schriften über die 2. Parteikonferenz und der Propaganda für die Bildung der LPG. Schließlich kehrten Ulbricht, Grotewohl und Oelnßer völlig konsterniert zurück in die DDR.[22]

„Der Aufbau des Sozialismus schien vertagt“[23], stattdessen wurde am 9. Juni der „Neue Kurs“ veröffentlicht.[24] Darin gestand die SED ausdrücklich Fehler in ihrer Politik ein: „Das Politbüro des ZK der SED ging davon aus, daß seitens der SED und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern begangen wurden [...].“ Weiter wurde versprochen „[...] die Lebenshaltung der Arbeiter, Bauern, der Intelligenz, der Handwerker und der übrigen Schichten des Mittelstandes [durch Korrekturen] zu verbessern.“ Dazu zählte u.a. die Zusage zur gesteigerten Erzeugung von Waren des Massenbedarfs sowie die Aussetzung der Zwangserhebung rückständiger Steuern. Ferner wurde die Rückgabe von beschlagnahmtem Eigentum gewährt. Ein weiteres Eingeständnis an die Bevölkerung war die Rücknahme der Preiserhöhungen und die Rückgabe der Lebensmittelkarten. Zudem sicherte Grotewohl der evangelischen Kirche in einem Gespräch zu, die Diffamierungen und Verfolgungen einzustellen sowie die Staatsleistungen an die Kirche wieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang wurden auch der Schule verwiesene Schüler sowie entlassene Lehrer zum Unterricht bzw. zum Schuldienst zugelassen. Alles in allem war der „Neue Kurs“ ein Eingeständnis, sowohl der UdSSR als auch der DDR, dass der „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ und die damit einhergehende ideologische Offensive nicht nur gescheitert war, sondern das Land und mit ihm seine Bürger in eine tiefe Krise gestürzt hatten.[25]

[...]


[1] Ritter, Gerhard A., Der „17. Juni 1953“. Eine historische Ortsbestimmung, S. 16, in Engelmann, Robert / Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.), Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953, Göttingen 2005, S.16-44; Engelmann / Kowalczuk (2005), S. 7; Eisenfeld, Bernd / Kowalczuk, Ilko-Sascha / Neubert, Erhart, Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Bremen 2004, S. 30.

[2] Kowalczuk, Ilko-Sascha / Mitter, Armin / Wolle, Stefan (Hrsg.), Der Tag X. 17. Juni 1953. Die „innere Staatsgründung“ der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1996, S. 17.

[3] Fricke, Karl Wilhelm., „17. Juni 1953“ - Vorgeschichte und Verlauf, S. 45, in: Engelmann / Kowalczuk (2005), S. 45-57.

[4] Ebd., S. 46f.

[5] Ritter (2005), S. 21; Kowalczuk, Ilko-Sascha, 17.6.1953 - Volksaufstand in der DDR. Ursachen - Abläufe - Folgen, Bremen 2003, S. 28, 38.

[6] Protokoll der Verhandlungen der 2. Parteikonferenz der SED, 9. bis 12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Ost-Berlin 1952, S. 58.

[7] Kowalczuk (2003), S. 42.

[8] Ebd., S. 47.

[9] Beide Zit. nach: Kowalczuk (2003), S. 47.

[10] Mitter, Armin, „Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt, jetzt aber streiken wir Bauern.“ Die Bauern und der Sozialismus, S. 83f., in: Kowalczuk / Mitter / Wolle (1996), S. 75-128; Fricke (2005), S. 49; Kowalczuk (2003), S. 55f.; Kotsch, Detlef, Das Land Brandenburg zwischen Auflösung und Wiederbegründung. Politik, Wirtschaft und soziale Verhältnisse in den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus in der DDR (1952 bis 1990), Berlin 2001, S. 360.

[11] SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/259, Bl. 27-32; Fricke (2005), S. 50f.; Ritter (2005), S. 23; Kowalczuk (2003), S. 58f.; Ueberschär, Ellen, Entkirchlichung und Verkirchlichung. Die evangelische Jugendarbeit in der DDR in den 1950er Jahren, S. 71, in: Friedrich, Norbert / Jähnichen Traugott (Hrsg.), Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in der Nachkriegszeit, Münster 2002, S. 63-74.

[12] Gesetz über die Verfassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Oktober 1952, Ost-Berlin 1952, §2

[13] Fricke (2005), S. 48, 52; Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 31; Kowalczuk (2003), S. 48-51, 54.

[14] Fricke (2005), S. 48f.; Ritter (2005), S. 21f.; Kowalczuk (2003), S. 42, 47.

[15] Die Bezeichnung geht auf folgenden Titel zurück: Werkentin, Falco, Der totale soziale Krieg. Auswirkungen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2002, S. 23-54.

[16] Fricke (2005), S. 50f.; Kowalczuk (2003), S. 58f.

[17] Engelmann / Kowalczuk (2005), S. 8.

[18] Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 32; Ritter (2005), S. 23, 26; Kowalczuk (2003), S. 33f., 60; Fricke (2005), S. 50f.; Kotsch (2001), S. 360.

[19] Ritter (2005), S. 24; Kowalczuk (2003), S. 81; Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 32; Fricke (2005), S. 52f.

[20] Dokumente der SED, Band IV, Ost-Berlin 1954, S. 411-414. Zit. nach: Fricke (2005), S. 52.

[21] Fricke (2005), S. 52: Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 32; Ritter (2005), S. 24f.

[22] SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/286, Bl. 21-26; Schittly, Dagmar, Zwischen Regie und Regime. Die Filmpolitik der SED im Spiegel der DEFA-Produktionen, Berlin 2002, S. 70f.; Kowalczuk (2003), S. 87-89; Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 32.

[23] Fricke (2005), S. 53.

[24] Dokumente der SED, Band IV, Ost-Berlin 1954, S. 428-431.

[25] Dokumente der SED, Band IV, Ost-Berlin 1954, S. 428-431; Kowalczuk (2003), S. 92; Ritter (2005), S. 24; Eisenfeld / Kowalczuk / Neubert (2004), S. 33.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Der 17. Juni 1953 - Hintergründe und Verlauf
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
39
Katalognummer
V204567
ISBN (eBook)
9783656312642
ISBN (Buch)
9783656312963
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
17. Juni 1953, DDR, Volksaufstand, Berlin, Magdeburg, 1953, 1952, 2. Parteikonferenz, SED, Cottbus, Frankfurt/Oder, Potsdam, Ost-Berlin, 17. Juni
Arbeit zitieren
Eric Richter (Autor:in), 2012, Der 17. Juni 1953 - Hintergründe und Verlauf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/204567

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