Wortbildung des Verbs im Wiener Dialekt


Diplomarbeit, 2004

87 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I EINLEITUNG
1 Zielsetzung
2 Theoretische Voraussetzungen
2.1 Dialekt
2.1.1 Definition
2.1.2 Wiener Dialekt
2.2 Wortbildung
2.2.1 Definition
2.2.2 Wortbildungsmorpheme
2.2.3 Wortbildungsarten
2.2.4 Verbale Wortbildungsmuster des Deutschen in historischer Entwicklung
3 Methodische Voraussetzungen
3.1 Korpus
3.2 Abgrenzung
3.2.1. Wortbildungskonstruktion vs. syntaktisches Gefüge
3.2.2 Sind Partikelverben Komposita oder Derivate?
3.3 Funktionen der verbalen Wortbildung
3.3.1 Syntaktische/grammatische Funktionen
3.3.2 Semantische Funktionen
3.3.3 Pragmatische Funktionen

II KORPUSANALYSE
1 Komposition mit Substantiven
2 Komposition mit Adjektiven
3 Komposition mit Verben
4 Komposition mit Partikeln
4.1 Trennbare Partikeln
4.2 Doppelförmige Partikeln
5 Präfigierung
6 Suffigierung

III MÖGLICHKEITEN UND FUNKTIONEN DER VERBALEN WORTBILDUNG IM WIENER DIALEKT
1 Allgemeine Ergebnisse
2 Partikelkomposition
2.1 Einfache trennbare Partikeln
2.2 Doppelförmige Partikeln
2.3 Orts- und Richtungsadverbien
2.3.1 Formale Besonderheiten zusammengesetzter Richtungsadverbien
2.3.2 Zusammengesetzte Richtungsadverbien als Verbpartikeln
3 Präfigierung
4 Suffigierung
5 Komposition mit Substantiven, Adjektiven, Verben
6 Präferierte Basisverben

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Index

Anhang

I. Einleitung

1 Zielsetzung

Unter Wortbildung verstehen wir die regelhafte Synthese neuer Wörter. Die Wortbildungslehre ist daher ein Bereich, der sowohl der Lexik als auch der Morphologie angehört.

Wortbildung stellt das wichtigste Mittel zur Wortschatzerweiterung einer Sprache dar: Die Wortfamilie um ein Simplizium kann über 500 Wörter fassen. Zusätzlich besteht die Möglichkeit der okkasionellen Wortbildung: Etwa ein Drittel aller Wortbildungskonstruktionen eines Zeitungstextes sind nicht im Wörterbuch verzeichnet.[1]

In der Dialektologie wird der Bereich der Wortbildung selten berücksichtigt, da Dialekt gegenüber Standardsprache als defizitäres Sprachsystem betrachtet wird. Dialekt weist eine geringere Ausstattung auf grammatischer Ebene auf: Der Wortschatz ist kleiner, die syntaktischen und morphologischen Möglichkeiten sind herabgesetzt, das Inventar an grammatischen Kategorien ist geringer.

Trotzdem erfüllt jeder Dialekt alle Anforderungen, die an ein funktionierendes Sprachsystem gestellt werden. Alles, was in Standardsprache ausgedrückt werden kann, kann auch in einem Dialekt ausgedrückt werden.

Unter Berücksichtigung semantischer und funktionalpragmatischer Aspekte erweist sich der Dialekt sogar als leistungsfähiger. Dialekt bietet mehr Möglichkeiten der semantischen Differenzierung als die Standardsprache.

"In der sprachlichen Beschreibung feinster Differenzierung des konkreten täglichen Lebens. z.B. den Sinnbezirken der Bewegung, der Emotionalität, der konkreten Sinneseindrücke, ist der noch voll ausgestattete Dialekt, wenn er darüberhinaus noch expansiv ist, der Hochsprache an Zahl und Nuancierung der Wörter überlegen."[2]

Es ist anzunehmen, dass die Wortbildung des Verbs hier eine wesentliche Rolle spielt.

In dieser Arbeit soll daher untersucht werden, welche Möglichkeiten der verbalen Wortbildung im Wiener Dialekt realisiert werden. Die Wortbildung der Verben im Wiener Dialekts soll formal erfasst und funktional interpretiert werden.

Als Quellen dienen ältere und neuere Wörterbücher zum Wiener Dialekt, sowie ein Text im Wiener Dialekt[3]. Aus diesem Text werden verbale Wortbildungsprodukte extrahiert und klassifiziert. Die Wörterbücher werden nach verbalen Wortbildungsmustern ausgeschöpft.

Das gewonnene Korpus wird unter Berücksichtigung vorhandener Literatur qualitativ und quantitativ ausgewertet.

Die Feststellung der Frequenz der einzelnen verbalen Wortbildungsmuster und die funktionale Klassifikation des Korpus werden es ermöglichen, Antworten auf folgende Fragen zu finden: Welche Möglichkeiten der verbalen Wortbildung werden im Wiener Dialekt realisiert? Welche werden bevorzugt? Welche sind produktiv? Welche syntaktischen, semantischen und pragmatischen Funktionen erfüllt die verbale Wortbildung des Wiener Dialekts im Sprachsystem? Steht Effektivität (Differenzierung des Ausdrucks) oder Effizienz (Sprachökonomie) im Vordergrund? Gibt es bevorzugte semantische Klassen von Basisverben?

Zusätzlich wird auf die Etymologie einzelner Wortbildungsmuster eingegangen werden, da im Gegensatz zu anderen Teildisziplinen der Sprachwissenschaft in der Wortbildungslehre eine strenge Trennung zwischen synchroner und diachroner Betrachtungsweise kaum möglich ist. Zwar existieren regelhafte Wortbildungsschemata, nach denen neue Wörter gebildet werden können. Je länger aber Wortbildungsprodukte im Wortschatz bestehen, desto undurchsichtiger wird ihre Motivation bis hin zur völligen Lexikalisierung, sodass der heutige Sprecher viele alte Bildungen nicht mehr als solche erkennt. Eine rein synchrone Darstellung der Wortbildung im Wiener Dialekt wäre somit unvollständig. Es kann daher in dieser Arbeit, besonders bei alten, nicht mehr produktiven Mustern, nicht auf etymologische Darstellungen verzichtet werden. Eine rein diachrone Betrachtung ist andererseits ebenfalls unzureichend, da die Herkunft eines Wortes nicht unbedingt die heutige Verwendung erklärt.

2 Theoretische Voraussetzungen

2.1 Dialekt

2.1.1 Definition

Die Definition von Dialekt/Mundart[4] erfolgt durch Vergleich mit anderen Sprachebenen, bzw. durch Beschreibung der Sprecher.

Unter Dialekt versteht man die im Alltag gesprochene, private Sprache, die in Phonologie, Morphologie, Semantik und Pragmatik von der Standardsprache abweicht und lokal kleinsträumig begrenzt ist. Als Basisdialekt gilt der Dialekt, der von der lokal ansässigen, meist älteren, immobileren, bevorzugt ländlichen Bevölkerung untereinander gesprochen wird.

Dialekt ist ursprünglich die regional begrenzteste Sprache des Alltags. Heute genügt diese Definition nicht mehr. Innerhalb einer Region variiert die Sprache unter sozialen und kulturellen Einflüssen (Alter, soziale Schicht, Mobilität, Stadtnähe, Einflüsse durch Medien etc.), sodass die Sprachvarianten innerhalb einer Region heute besser nach sozialen Kriterien definiert werden. Der Dialekt wäre dann die Sprache der Arbeiter, Bauern und Personen mit geringerer Schulbildung. Doch auch dieses Kriterium ist nicht absolut gültig: In Abhängigkeit von der Redesituation sprechen auch einfache Leute Standardsprache, sowie höher Gebildete auch Dialekt sprechen. Auch in der Kunst ist der Dialekt, besonders das Wienerische, in den letzten Jahrzehnten wieder reizvoll geworden (siehe Film, Fernsehen, Musik und Kabarett).

2.1.2 Wiener Dialekt

Das Wienerische gehört zu den ostmittelbairischen Dialekten. Diese sind wie alle österreichischen Dialekte direkt auf das Mittelhochdeutsche zurückzuführen, während sich die neuhochdeutsche Schriftsprache unter ostmitteldeutschen Einflüssen entwickelte. Es sind daher im Wienerischen mittelhochdeutsche Wörter erhalten geblieben, die im Standarddeutschen verschwunden sind.

Als Stadtdialekt ist der Wiener Dialekt geprägt durch das höhere Maß an Fremdeinflüssen. Rotwelsch[5], Jiddisch, Tschechisch, Slowakisch, Türkisch, Französisch, Ungarisch, Italienisch und auch Lateinisch beeinflussten die Entwicklung des Wiener Dialekts.

Durch die höhere Mobilität von Stadtbewohnern ist auch der Einfluss der Verkehrssprache, bzw. Standardsprache auf den Dialekt ein größerer. So werden z.B. im Wiener Dialekt die Vokale geschlossener gesprochen als in anderen mittelbairischen Dialekten.[6]

Der seit dem 2. Weltkrieg in Wien gesprochene Dialekt wird als Jungwienerisch bezeichnet.

Innerhalb des Wiener Dialekts variiert die Sprache je nach Alter und sozialer Schicht des Sprechers. Auch die Sprechsituation hat Einfluss auf die Wahl der Variante . Als „tiefster“ Dialekt gilt der Jargon, der sich vor allem durch phonetische und prosodische Merkmale vom Basisdialekt unterscheidet .

2.2 Wortbildung

2.2.1. Definition

Nach Naumann (2000) definieren wir Wortbildung nach formalen Kriterien als die regelhafte Synthese neuer Wörter aus einfachen Wörtern miteinander oder mit Wortbildungsmorphemen.

Wortbildungsprodukte sind sekundäre/komplexe Wörter, d.h. sie sind im Gegensatz zu primären Wörtern (Simplizia) morphosemantisch motiviert. Primäre Wörter sind morphosemantisch nicht motiviert, sondern arbiträr, d.h. es besteht kein erklärbares Verhältnis zwischen der Lautfolge und dem Bedeutungsinhalt. Der Grad der Motivation bei sekundären Wörtern ist verschieden und auch abhängig von der individuellen Einschätzung des Sprechers. Bei vielen Wortbildungsprodukten der Gegenwartssprache ist die semantische Motivation aus synchroner Sicht nicht mehr gegeben. Sie sind demotiviert/opak/idiomatisiert und werden von heutigen Sprechern als primäre Wörter eingestuft. Gleichzeitig gibt es Wörter, die als teilmotiviert/transparent bezeichnet werden. Als teilmotiviert gelten z.B. die Wortbildungskonstruktionen mit unikalen Morphemen. Als vollmotiviert/self explanatory werden Wortbildungsprodukte wie Schlafzimmer oder Haustür bezeichnet.

Bei den meisten Wortbildungsprodukten sind aber Strukturbedeutung und Gebrauchsbedeutung nicht ganz gleich, d.h. die Bedeutung des Wortbildungsproduktes ist nicht gleich der Summe der Bedeutungen der Konstituenten. Durch den Prozess der Wortbildung tritt semantische Veränderung ein, was bedeutet, dass es vollmotivierte Wortbildung eigentlich nicht gibt.

Die Grenze zwischen primären und sekundären Wörtern ist also fließend.

Wortbildung ist immer zugleich auch der Beginn der Lexikalisierung.[7]

2.2.2 Wortbildungsmorpheme

Die Konstituenten von Wortbildungsprodukten werden unterschieden in:

- lexikalische Morpheme/Kernmorpheme/Basismorpheme
- freie Morpheme mit Wort- und Satzgliedwert
- unikale Morpheme: unfreie Morpheme, die nur an ganz bestimmten Basiswörtern auftreten, z.B. Him-, Brom-, Sams-. Ihre Bedeutung ist synchron nicht mehr isolierbar. Diachron betrachtet sind es ehemalige freie Wörter. Bei Donalies (2002) und Fleischer/Barz (1995) sind auch – gess - in ver-gess-en und – hör - in ge-hör-en unikale Morpheme.
- Konfixe: gebundene Grundmorpheme, die nicht wortfähig sind, aber autosemantisch und im Gegensatz zu Affixen auch basisfähig sind; z.B. Schwieger-, Bio-, Öko-, Stief-. Im Gegensatz zu unikalen Morphemen sind Konfixe nicht an eine einzige Basis gebunden, sondern reihenbildend.
- Affixe/Formationsmorpheme sind unfreie, nicht wortfähige Wortbildungskonstituenten, die mit vielen Basiswörtern kombiniert werden. Sie können vor der Basis als Präfix oder nach der Basis als Suffix auftreten
- Partikelmorpheme/Präfixoide sind freie Morpheme, die wortbildend als Präfix auftreten, aber im finiten Satz vom Verb getrennt werden, wie Präpositionen (an-, auf -) oder Adverbien (hin -, los -).
- Affixoide/Halbaffixe: Als solche werden lexikalische Morpheme bezeichnet, wenn sie wie Affixe mit vielen Basiswörtern kombiniert werden. Morpheme wie Riesen-, -voll, –haltig, -würdig werden als Übergang zwischen Wort/Kompositionsglied und Affix aufgefasst.

Affixoide sind also Elemente, die

„[...] zuviel lexikalische Bedeutung haben, als dass sie guten Gewissens schon als Suffixe erklärt werden könnten, und andererseits als zu unselbständig gelten müssen, als dass man sie guten Gewissens unter die Komposita einordnen könnte.“[8]

Der Begriff Halbaffix, bzw. Affixoid ist umstritten. Laut Donalies (2002) unterscheiden sich Halbaffixe nicht von lexikalischen Morphemen. Auch diese können reihenbildend sein (vgl. Holz -). Affixoide sollten daher entweder als Wort oder als Affix betrachtet werden, je nachdem, ob die ursprüngliche Semantik im Wortbildungsprodukt erhalten ist oder nicht.

Auch für Naumann (2000) ist der Begriff obsolet:

Der Ansatz von Affixoiden spiegelt aber eher den älteren Forschungsstand wieder. Nach den Arbeiten von u.a. Höhle (1982), Schmidt (1987), Schippan (1987) ist man geneigt, die Termini "Halbaffix" bzw. "Affixoid" wieder aufzugeben und entsprechende Wortbildungen entweder als Komposita oder als Derivation zu interpretieren.[9]

Motsch (1999) und der Duden 4 (1998) halten aber am Begriff fest. Beide zählen auch die Partikelmorpheme in der verbalen Wortbildung zu den Halbaffixen.

- Ablaut : Der geregelte Lautwechsel in verwandten Wurzeln kann zur Wortbildung verwendet werden und ist deshalb als Wortbildungsmorphem zu betrachten.[10]

2.2.3 Wortbildungsarten

Nach strukturellen und morphologischen Merkmalen werden folgende Wortbildungsarten unterschieden:

Komposition ist definiert als eine Struktur aus zwei oder mehr lexikalischen Morphemen.

Unter dem Begriff Derivation/Ableitung werden folgende Wortbildungsarten zusammengefasst:

- explizite Derivation als eine Struktur aus lexikalischen Morphemen und Wortbildungsaffixen.
- implizite Derivation: Ableitungen ohne Affix durch Stammalternation, z.B. fallen-fällen.
- Konversion: Wortbildung ohne phonetische Veränderung, z.B. substantivierte Verba (Lachen) oder Adjektiva (das Gute).

Der Begriff ist umstritten. Der Duden 4 (1998) und Eichinger (2000) siedeln Konversion im Grenzbereich zwischen Wortbildung und grammatischer Formenbildung an, da der Wortartwechsel im Vordergrund steht.

- Reduktion: Kurzwortbildung ohne Wortartänderung.
- Rückbildung/Pseudokomposition: Derivation, bei der das Produkt kürzer ist als das Ausgangswort, z.B notlanden von Notlandung. Als Produkte einer Suffixtilgung erscheinen diese Bildungen jedoch nur in historischer Betrachtung. Aus synchroner Sicht ist Rückbildung nicht zu erkennen, daher ist laut Donalies (2002) die gesonderte Betrachtung von Rückbildung nicht notwendig

2.2.4 Verbale Wortbildungsmuster des Deutschen in historischer Entwicklung

Die ältesten Wortbildungsmuster des deutschen Verbs sind die Präfigierung und die Suffigierung, die bis ins Althochdeutsche zurückverfolgbar sind.

Die Komposition von Verben mit einfachen Partikeln erscheint erstmals im Mittelhochdeutschen. Die ältesten Partikelkompositionen verhalten sich heute wie präfigierte Verben. Es sind dies die untrennbaren Formen der doppelförmigen Partikelverben. Die meisten der heute verwendeten Partikeln erscheinen jedoch im Mittelhochdeutschen noch als vom Verb getrennte Adverbien. Erst im Frühneuhochdeutschen beginnt die Partikel-Verb-Komposition produktiv zu werden und erreicht ihren Höhepunkt im 18./19.Jahrhundert.

Die Komposition von Verben mit zusammengesetzten Adverbien stellt das jüngste verbale Wortbildungsmuster des Deutschen dar. Erst im 17./18.Jahrhundert findet man Belege für solche Komposita.

Die Komposition von Verben mit Substantiven, Adjektiven und Verben bleibt zu allen Zeiten sehr beschränkt.

3 Methodische Voraussetzungen

3.1 Korpus

Als primäre Quelle diente ein literarischer Text in Wiener Mundart:

Teuschl, Wolfgang (20017): Da Jesus & seine Hawara. Das Neue Testament im Wiener Dialekt. 1.Auflage 1971. 7. und erweiterte Aufl. Wien/Purkersdorf: Schwarzer

Das Werk ist eine Übertragung des Markus-Evangeliums ins Wienerische und enthält gleichzeitig den Bibeltext in Standardsprache. Ein Hörbuch, gesprochen von Willy Resetarits, ist dieser Auflage beigepackt.

Obwohl genügend Lexika für den Wiener Dialekt existieren, wurde dennoch ein Text zur Korpusgewinnung herangezogen. Dies aus zwei Gründen:

Informationen über die Produktivität einzelner Wortbildungsmuster können aus Lexika nur bedingt gewonnen werden.

Semantische Klassifikation von Verben ist, besonders im Dialekt, nicht möglich ohne Berücksichtigung des Kontexts.

Die Verwendung eines literarischen Textes birgt aber auch das Risiko von Neologismen. Es wurden deshalb die erhaltenen Belege mit Hilfe von Lexika zur Wiener Mundart kontrolliert.

Wolfgang Teuschl bedient sich einer Transskription, die möglichst ohne diakritische Zeichen auskommt. Der Dialekt wird so für Laien leicht lesbar. Phonetische Differenzierung der Vokale bleibt dabei auf der Strecke. Für eine Analyse der Wortbildung ist der Text allerdings durchaus geeignet.

In vorliegender Arbeit werden die Beispiele so wiedergegeben, wie sie bei Teuschl erscheinen.

Aus Teuschls Text wurden verbale Wortbildungsprodukte extrahiert. Aus der Definition für Wortbildung nach Naumann (2000)[11] ergibt sich, dass implizite Derivation, Reduktion, Rückbildung und einfache Konversion in dieser Arbeit nicht behandelt werden. In das Korpus aufgenommen wurden daher nur additive verbale Wortbildungsprodukte. Flektierte Formen wurden dabei in lexematische überführt. Nicht analysiert wurden substantivierte Verben und attributiv oder adverbial verwendete Partizipien. Die ermittelten Belege sind in ihrer infiniten Form im Anhang ausgewiesen, alphabetisch geordnet und mit der Angabe des ersten Auftretens im Text versehen. Homonyme wurden als verschiedene Einträge gewertet und mit Indices unterschieden.

3.2 Abgrenzung

3.2.1 Wortbildungskonstruktion vs. syntaktisches Gefüge

Wortbildungsprodukte müssen abgegrenzt werden von Wortgruppen. Die Abgrenzung von syntaktischen Gefügen erfolgt traditionellerweise unter Berücksichtigung der Schreibung. Die Ortografie als Grundlage für die Definition von Wortbildungsprodukten heranzuziehen, ist aber problematisch. Hier können sich Differenzen ergeben, vgl. z.B. radfahren als Wortbildungsprodukt vs. Rad fahren. Letzteres würde durch die neue amtliche Schreibregelung aus der Untersuchung herausfallen. Andererseits wird von manchen Autoren angezweifelt, ob alles, was zusammengeschrieben wird, auch ein Wortbildungsprodukt ist[12].

Da für diese Arbeit ein Text zur Korpusgewinnung herangezogen wird, wo Verbkomposita hauptsächlich in finiter Form und daher getrennt erscheinen, musste von mir oft entschieden werden, ob es sich im Einzelfall um eine Wortbildungskonstruktion handelt, oder um ein syntaktisches Gefüge.

Aber auch dort, wo die Kompositionsteile im Satz aufeinanderfolgen, ergaben sich Schwierigkeiten durch Teuschls inkonsequente Schreibweise. So schreibt er z.B. haam kuman getrennt, haamschdampan aber zusammen.

Im Zweifelsfall wurden Wörterbücher zur Entscheidung herangezogen.

3.2.2 Sind Partikelverben Komposita oder Derivate?

Die Verbindung von Verben mit Adverben oder Präpositionen nimmt in der Wortbildung eine Sonderstellung ein. Die Zuordnung zu Komposition oder Derivation ist nicht eindeutig möglich. Die Sprachwissenschaft ist diesbezüglich geteilter Meinung. Bei Henzen (1965), Kühnold/Wellmann (1973) und Naumann (2000) wird diese Wortbildungsart als Komposition definiert. Der Duden 4 (1998) bezeichnet sie als Zusammenrückung und damit als Übergang zwischen Komposition und Derivation, ebenso Eichinger (2000). Für Motsch (1999) sind Verbpartikel Halbaffixe, Partikelverben somit Derivate.

Grund für diese Uneinigkeit ist die Tatsache, dass es keine einheitliche Definition für Affixe gibt. Ich fasse hier zusammen welche Anforderungen an Affixe gestellt werden, um sie von lexikalischen Morphemen abzugrenzen. Wortbildungsaffixe sind:

- unfrei
- nicht wortfähig
- nicht satzgliedfähig
- nicht basisfähig, d.h. sie können nicht Basis eines Wortbildungsproduktes sein
- entkonkretisiert
- dürfen nicht semantisches Hauptgewicht der Wortbildungskonstruktion tragen
- tragen keine autosemantische Bedeutung, können aber die Basis semantisch modifizieren.

Reihenbildung ist kein Kriterium für die Zuordnung zu Affixen. Reihenbildend sind auch manche Wörter und Konfixe, vgl. z. B. die vielen Komposita, die mit Holz - beginnen.

Für eine Zuordnung von Partikelverben zur Komposition spricht: Trennbare Verbpartikeln sind wortfähig und basisfähig wie Lexeme, haben autosemantische Bedeutung und tragen Akzent.

Für eine Zuordnung zu Derivation spricht, dass Partikeln als Kompositionsglieder nicht alle Bedingungen für lexikalische Morpheme erfüllen: Als Präposition sind sie nicht satzgliedwertig. Allerdings sind auch Konfixe weder wortfähig noch satzgliedfähig. Trotzdem bilden sie Komposita.

Weiters haben Partikeln teilweise eine andere Bedeutung als die gleichlautenden Präpositionen und Adverbien. Dagegen ist einzuwenden, dass auch Kompositionsteile oft semantisch entkonkretisiert sind.

Motsch (1999) argumentiert:

- Auch untrennbare Präfixe gehen sprachhistorisch auf Präpositionen oder Adverbien zurück.
- Es besteht bei Partikeln oft keine direkte lexikalische Verwandschaft mit den jeweiligen Präpositionen oder Adverbien
- Es gibt auch denominale und deadjektivische Partikelverben

Er kommt zu dem Schluss: Partikeln sind Affixe.

In der vorliegenden Arbeit werden Partikelverben als Komposita behandelt werden. Historisch gesehen sind Verbkomposita mit Partikeln älter als solche mit Substantiven. Dies begründet ausreichend die Tatsache, dass die semantische Motivation nicht mehr so transparent wie bei neueren Wortbildungsmustern. Verben mit doppelförmigen Partikeln werden ebenfalls als Komposita betrachtet, obwohl die untrennbaren Bildungen den präfigierten Verben nahestehen.

Als Derivate gelten hier nur Verben mit untrennbaren Präfixen und Suffixen.

3.3 Funktionen der verbalen Wortbildung

In dieser Arbeit werden die aus dem Korpus erhaltenen Belege hinsichtlich ihrer Funktionen klassifiziert werden.

Für die additive Wortbildung von Verben sind semantische, syntaktische und pragmatische Funktionen relevant. Folgende Kriterien werden hier zur Anwendung kommen:

3.3.1 Syntaktische/grammatische Funktionen

- Transposition
Der Wortartwechsel als Funktion derivationeller Wortbildung betrifft desubstantivische und deadjektivische Verben.

- Valenzänderung
Präfixe und Partikeln können die Anzahl und Qualität der Aktanten eines Basisverbs verändern.

- Transitivierung: Aus einem intransitiven Verb wird ein transitives.
- Objektverschiebung: Vorhandene Aktanten der Bais verändern sich bezüglich ihrer Qualität.
- Präpositionaltilgung : Präpositionen werden eingespart, indem ein Präpositionalobjekt obsolet wird
- Argumentsättigung: Ganze Aktanten werden eingespart.

Durch Präpositionaltilgung und Argumentsättigung tragen präfigierte Verben zur Vereinfachung syntaktischer Strukturen bei. Syntaktische Modifikation hat somit vielfach eine ökonomische Funktion.

- Satzklammer
Verbkomposita stellen einen Sonderfall der Wortbildung dar, da die Kompositionsteile in den meisten Fällen syntaktisch trennbar sind.
In solchen Kompositionen liegt der Wortakzent auf dem ersten Glied (fréisprechen). Aufgrund der syntaktischen und morphologischen Trennbarkeit vieler Verbkomposita wird diese Wortbildungsart auch als Pseudokomposition[13] bezeichnet.
Durch ihre Trennbarkeit im finiten Zustand bieten diese Verben neben Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen eine dritte Möglichkeit zur Bildung der deutschen Satzklammer.
Die Satzklammer teilt den Satz in Vorfeld, Mittelfeld und fakultatives Nachfeld, wodurch sie zur Thema-Rhema-Ordnung eines Textes beiträgt. Die grammatische Funktion des Verbs wird so an erster oder zweiter Stelle im Satz präsent, während der bedeutungstragende infinite Verbteil erst am Satzende auftritt. Prinzipell ist so der Effekt eines Spannungsaufbaus gegeben. Ob dies aber auf Verbkomposita zutrifft, ist fraglich. Wenn Verbpartikeln ans Satzende fallen, bedeutet das nämlich nicht unbedingt einen Spannungsaufbau des Satzes, da der Hörer in vielen Fällen die Partikel schon vorher ergänzt, vgl. z.B. den Satz Der Schüler trägt ein Gedicht ... vor.

3.3.2. Semantische Funktionen

Die semantische Determination der Basis ist die wichtigste Motivation für die verbale Wortbildung. Die folgende Liste gibt die häufigsten semantischen Funktionen verbaler Wortbildung an, ist jedoch keineswegs ausreichend für eine Klassifikation aller sekundären Verben.

- aktionale Abstufung
Präfixe und Partikeln differenzieren den Verlauf der vom Basisverb ausgedrückten Handlung. Sie weisen auf Beginn oder Abschluss der Tätigkeit hin und ermöglichen eine Abstufung des zeitlichen Geschehens auf verschiedene Weise:
Ingressive/inchoative Funktion: Das plötzliche Eintreten des vom Basisverb ausgedrückten Geschehens wird markiert.

Egressive/terminative/perfektive Funktion: Die Beendigung des vom Basisverbs ausgedrückten Geschehens wird angezeigt.

Resultative Funktion: Die Beendigung des Geschehens mit einem Ergebnis wird angezeigt. Diese Modifikation ist zugleich egressiv.

- räumliche Einordnung des Geschehens/lokale Modifikation

Dimensionale Funktion: Angaben zu Lage (Ortsadverbien) und Richtung (Richtungsadverbien) des Geschehens werden im Verb ausgedrückt.

Relationale Funktion: Subjekte oder Objekte werden in Beziehung zum Geschehen gesetzt.

Dynamische Funktion: Die Bewegung eines Subjekts oder Objekts ohne Ziel- oder Richtungsangabe wird ausgedrückt.

- temporale Einordnung des Geschehens: Das Geschehen wird in eine Beziehung zu einem Vorher oder Nachher gesetzt.

- modale Spezifizierungen: Die Art des Geschehens wird differenziert.

Reversative Modifikation: Die Umkehrung des Basisgeschehens wird angezeigt.

Negation: Das Basisgeschehen wird verneint.

Semantische Modifikation „falsch“: Das Basisgeschehen wird falsch oder schlecht ausgeführt.

Semantische Modifikation „anders“

Semantische Modifikation „offen“

u.v.a.

- Intensivierung: Ein semantischer Inhalt des Basisverbs wird bestätigt. Wenn Bedeutungsmerkmale von Verben verlorengehen, sich „abnutzen", kann Präfigierung, bzw. Komposition mit Partikeln notwendig werden.
- ornative Funktion: Etwas von der Basis Benanntes wird dem Objekt hinzugefügt. Diese Funktion betrifft nur desubstantivische Verbbildungen.
- Objektfokussierung: Dieser Begriff umfasst jene Verbbildungen, in denen Objekte stärker in Bezug zur Tätigkeit des Basisverbs gesetzt werden, im Sinne von „auf etwas einwirken“. Objektfokussierung geht einher mit syntaktischer Modifikation, kann als solche aufgefasst werden, nämlich als eine Intensivierung der Transitivität des Basisverbs.
- emotionale Bewertungen des Basisgeschehens: Partikeln und Affixe können pejorativ wirken oder auch Intimität ausdrücken.
- iterative Funktion: Das Geschehen der Basis wird wiederholt durchgeführt.

Klassifikation von Wortbildungskonstruktionen nach semantischen Kriterien ist aus mehreren Gründen schwierig: Semantische Zuordnung ist immer kontextabhängig und oft auch abhängig von individueller Einschätzung. Weiters ist metaphorische, bzw. abstrakte Verwendung semantischer Inhalte in der Wortbildung allgegenwärtig, wodurch die ursprüngliche Bedeutung der Wortbildungskonstituenten verschleiert wird und bis zur Idiomatisierung des Wortbildungsproduktes führen kann. Der Versuch einer semantischen Klassifikation bleibt daher immer unvollständig und ist letztlich als willkürlich zu betrachten.

In dieser Arbeit wird bei der semantischen Klassifikation metaphorisch-abstrakter Gebrauch von Partikeln und Affixen berücksichtigt, soweit er noch kenntlich ist. So wird zum Beispiel dem Verb bei-bringa eine lokal-relationale Bedeutungskomponente zugestanden, auch wenn das, was jemandem beigebracht wird, etwas Abstraktes ist, etwa eine Fähigkeit oder eine Information.

3.3.3. Pragmatische Funktionen

- funktionalpragmatische Funktionen
Für die Klassifikation bestimmter Verbpartikel sind semantische Kriterien nicht ausreichend, weil deren Bedeutung von außersprachlichen Faktoren, insbesonders von der Sprecherperspektive, abhängig ist. Der Standpunkt des Sprechers, bzw. der Standpunkt, an dem sich der Sprecher in seiner Vorstellung befindet (Deixis am Phantasma), wird für das Geschehen des Basisverbs relevant. Orts- und Richtungsadverbien, die mit Verben kombiniert werden, haben daher aus funktionalpragmatischer Sicht lokaldeiktische Funktion.
- pragmatisch-stilistische Funktion
Nach Voigt (1992) ist diese Funktion in Verben wie ver-bleiben, ver-spüren und er-retten gegeben.

Alle Funktionen der Wortbildung lassen sich auf zwei miteinander konkurrierende Tendenzen im Sprachsystem zurückführen: Effizienz und Effektivität.

Einerseits soll der sprachliche Ausdruck effizient sein, also ökonomisch, d.h.möglichst kurz. Diese Funktion erfüllen jene Wortbildungsprodukte, die der syntaktischen Modifikation, insbesonders der Präpositionaltilgung und der Argumentsättigung, dienen. Gleichzeitig besteht die Tendenz, den sprachlichen Ausdruck effektiv zu gestalten, d.h. möglichst eindeutig und semantisch differenziert. Dies geschieht auf Wortbildungsebene mittels semantischer Modifikation und Transposition.

II Korpusanalyse

Im folgenden Abschnitt werden die verbalen Wortbildungsmuster, die im Quellentext erscheinen, dargestellt.

Dafür werden die Belege des Korpus morphologisch segmentiert und nach Wortbildungsmustern geordnet. Insgesamt konnten auf diese Weise nach den obengenannten Kriterien 563 verschiedene Belege gewonnen werden. Diese lieferten 583 Beispiele für verbale Wortbildung.

Innerhalb der Gruppen Komposition mit trennbaren Partikeln, Komposition mit doppelförmigen Partikeln, Präfigierung und Suffigierung erscheinen die Partikeln und Affixe nach der Häufigkeit ihrer Verwendung.[14]

Die einzelnen Wortbildungsmuster werden mittels aktueller und historischer Lexika überprüft, hinsichtlich ihrer Herkunft beschrieben und hinsichtlich ihrer Funktion klassifiziert.

1 Komposition mit Substantiven

Bei den meisten Verben, die mit Substantiven beginnen, handelt es sich um Konversion aus zusammengesetzten Substantiven. Die echte Komposition von Verben mit Substantiven ist selten. Die Abgrenzung erfolgt etymologisch.

Schon im Mittelhochdeutschen finden wir Konversion von zusammengesetzten Substantiven (z.B. heimleiten von heim-leite) häufiger als echte Komposition wie z.B. hals-slagen, hant-halten. Auch in den Wörterbüchern zum Wiener Dialekt finden sich nur wenige echte Substantivkomposita wie z.B. bretz´n-reiß´n und radlschlåg´n.[15]

In unserem Korpus erscheint in dieser Gruppe nur ein einziges sehr altes , untrennbares Kompositum, nämlich tschin-nogln. Es handelt sich laut Hornung (1998) um eine auf das Mittelhochdeutsche zurückgehende Wortbildung aus schin (Schiene), das anlautverhärtet mit nagelen kombiniert wird. Das Verb wird heute bedeutungserweitert für „hart arbeiten“ verwendet.

[...]


[1] Duden 4 (1998). S.409

[2] Löffler (1983) S.455

[3] Teuschl, Wolfgang (2001): Da Jesus & seine Hawara.

[4] Bei Niebaum/Macha (1999) sind die Begriffe synonym.

[5] d.i. Sprache mittelalterlicher Vagabunden: deutsch, durchsetzt mit Jiddisch und Zigeunersprache

[6] Auf weitere lautliche Besonderheiten des Wienerischen wird hier nicht eingegangen, da sie für diese Arbeit nicht relevant sind.

[7] Naumann (2000) S.39

[8] Eichinger (2000).S.157

[9] Naumann (2000) S.50

[10] s.u. implizite Derivation

[11] Naumann (2000) S.2

[12] Donalies (2002) und Eichinger (2000)

[13] nach Duden 4 (1998)

[14] alphabetische Liste der Partiklen und Affixe im Anhang

[15] in Petrikovits (1986)

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Details

Titel
Wortbildung des Verbs im Wiener Dialekt
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
87
Katalognummer
V27212
ISBN (eBook)
9783638293204
ISBN (Buch)
9783656238911
Dateigröße
792 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wortbildung, Verbs, Wiener, Dialekt
Arbeit zitieren
Christine Lindengrün (Autor:in), 2004, Wortbildung des Verbs im Wiener Dialekt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27212

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