Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim und Georg Simmel im Vergleich


Hausarbeit, 2014

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim

2. Der Gesellschaftsbegriff bei Georg Simmel

3. Vergleich der Gesellschaftsbegriffe

Fazit

Literaturverzeichnis

Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich

Einleitung

Häufig wird die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft bezeichnet (Balog 1999: 66). Obwohl Gesellschaft damit einen wichtigen Untersuchungs- gegenstand der Soziologie darstellt, besteht bis heute innerhalb der Disziplin keine gemeinsame Auffassung darüber, was Gesellschaft überhaupt ist. Dies geht z.B. aus einer Definition des Gesellschaftsbegriffes hervor, die Niklas Luhmann in einem Soziologielexikon vorgenommen hat: "Gesellschaft, ist das jeweils umfassendste System menschlichen Zusammenlebens. Über weitere einschränkende Merkmale besteht kein Einverständnis" (Luhmann 1978: 235). Mit der vorliegenden Hausarbeit soll überprüft werden, inwiefern Luhmann mit seiner Aussage, dass über weitere einschränkende Merkmale des Gesellschaftsbegriffs innerhalb der Soziologie kein Einverständnis besteht, recht behält, wenn der Gesellschaftsbegriff von zwei Klassikern der Soziologie, Émile Durkheim und Georg Simmel, miteinander verglichen wird. Der Vergleich dieser beiden Klassiker, die neben Max Weber und Ferdinand Tönnies zu den Gründern der modernen Soziologie gehören (Rammstedt 1988: 8), bietet sich an, weil beide jeweils den Versuch unternommen haben, die Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin zu gründen. Darüber hinaus standen Durkheim und Simmel zeitweise in Beziehung miteinander, weil sie gemeinsam an der soziologischen Zeitschrift "Année Sociologique" gearbeitet haben (Rammstedt 1997). Diese Zusammenarbeit gibt Grund zu der Annahme, dass Gemeinsamkeiten zwischen Durkheim und Simmel bestanden, die sich unter Umständen beim jeweiligen Gesellschaftsbegriff auffinden lassen. Somit lautet die zentrale Fragestellung der Arbeit: Welche gemeinsamen Merkmale weisen die Gesellschaftsbegriffe von Émile Durkheim und Georg Simmel auf?

Diese Frage soll in drei Arbeitsschritten beantwortet werden. Somit gliedert sich die Arbeit in drei Kapitel. Zunächst wird im ersten Kapitel der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim beschrieben. Woraufhin der Gesellschaftsbegriff von Georg Simmel im zweiten Kapitel der Arbeit vorgestellt wird. Darauf aufbauend werden die Gemeinsamkeiten der Gesellschaftsbegriffe Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich 1 von Durkheim und Simmel im dritten Kapitel über einen Vergleich aufgezeigt. Schließlich werden die Vergleichsergebnisse im Fazit zusammengefasst, um die Fragestellung der Arbeit zu beantworten.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es der begrenzte Rahmen der Arbeit erforderlich macht, Einschränkungen im Bezug auf die Auswahl und Berücksichtigung der relevanten Literatur vorzunehmen. Somit kann die vorliegende Hausarbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

1. Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim

Émile Durkheim (1858 - 1917) war einer der bedeutendsten französischen Soziologen der letzten Generation vor dem Ersten Weltkrieg und hat im erheblichen Maße dazu beigetragen, die Soziologie als Wissenschaft in Frankreich zu etablieren (Rosa/Strecker/Kottmann 2007: 67). Durkheim erhielt durch seine Arbeiten, zu denen u.a. „Die Regeln der soziologischen Methode“ (1895) und „Der Selbstmord“ (1897) gehören, internationale Anerkennung, vor allem in den USA (Mikl-Horke 2011: 75). Des Weiteren gründete er im Jahre 1898 die Zeitschrift "Année Sociologique", an der er zeitweise mit Simmel zusammengearbeitet hat (Rammstedt 1997: 444). Durkheim versteht die Soziologie als positive, rationale und empirische Wissenschaft von den sozialen Phänomenen bzw. von den sozialen Tatsachen (Müller/Schmid 1992: 483). Es ist vor allem die Frage, wie sozialer Zusammenhalt und gesellschaftliche Ordnung möglich ist, auf die er sich bei seiner Forschung über die sozialen Tatsachen konzentriert (Rosa/Strecker/Kottmann 2007: 68). Da soziale Tatsachen für Durkheim von zentraler Bedeutung und eng mit Gesellschaft und damit mit Durkheims Gesellschaftsbegriff verknüpft sind, werden sich die nachfolgenden Erläuterungen über seinen Gesellschaftsbegriff neben anderen Arbeiten vor allem auf sein Werk „Die Regeln der soziologischen Methode“ stützen, in welchem Durkheim soziale Tatsachen erklärt.

Für Durkheim ist die Gesellschaft ein psychisches Wesen sui generis, also ein Wesen eigener Art, das sich nicht auf andere Arten zurückführen oder Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich 2 reduzieren lässt (Durkheim 1984: 112 und 116)1. Die Gesellschaft entsteht durch die Synthese von Individuen, die in Beziehung zueinander treten und aktiv aufeinander einwirken (Durkheim 1967: 150). "Indem sie zusammentreten, sich durchdringen und verschmelzen, bringen die individuellen Psychen ein neues, wenn man will psychisches Wesen hervor" (Durkheim 1965: 187). Somit handelt es sich bei der Gesellschaft nicht um ein Kunstprodukt, das von den Menschen erdacht ist und durch einen Vertrag zustande kommt, sondern um eine „Naturtatsache“, die aus einer Gesamtheit von assoziierten Individuen hervorgeht (ebd.: 202).

Allerdings ist die Gesellschaft "nicht bloß eine Summe von Individuen", sondern "ein Ding anderer Art, dessen Eigenschaften von denen der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, verschieden sind" (ebd.: 187). In diesem Zusammenhang spricht Durkheim von der Gesellschaft als ein Produkt, "das alles, was zu seiner Bildung beigetragen hat, an Reichtum, Komplexität und Wirkkraft übersteigt" (Durkheim 1967: 157). Aber auch im Raum sowie in der Zeit überschreitet die Gesellschaft das Individuum (Durkheim 1965: 186). Das heißt, dass die Gesellschaft dem Individuum u.a. zeitlich vorausgeht und somit in gewisser Weise außerhalb des Individuums existiert (Durkheim 1967: 73).

Obwohl die Gesellschaft außerhalb des Individuums existiert, ist sie jedoch gleichzeitig ein Teil von ihm (Durkheim 1984: 123). Durkheim versteht den Menschen als Doppelwesen, das ein individuelles und ein soziales Wesen hat (Durkheim 1981a: 37). Dieses soziale Wesen wird dem Menschen anerzogen. Das heißt, es ist die Erziehung, die die Gesellschaft zu einem Teil des Individuums macht (Durkheim 1984: 123). Darüber hinaus ist es u.a. auch die Erziehung, durch die die Gesellschaft Zwang auf das Individuum ausübt. "Die ganze Erziehung [besteht] in einer ununterbrochenen Bemühung, dem Kinde eine gewisse Art zu sehen, zu fühlen und zu handeln aufzuerlegen, zu der es spontan nicht gekommen wäre" (Durkheim 1965: 108).

Der Grund dafür, dass das Individuum spontan nicht von selbst auf diese gewisse Art des Fühlens, Handelns und Sehens kommen kann, liegt darin, dass Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich 3 diese Art von der Gesellschaft, also von assoziierten und nicht von isolierten Individuen, hervorgebracht wird oder wurde (Durkheim 1965: 188). Diese Arten des Fühlens, Handelns und Denkens, die von der Gesellschaft hervorgebracht und dem Individuum anerzogen werden, existieren ebenfalls außerhalb des Individuums. Darüber hinaus sind sie "mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht" (ebd.: 106). Das heißt, dass auch diese Arten des Fühlens, Denkens und Handelns Zwang auf die Individuen ausüben.

Diese Arten des Denkens, Handelns und Fühlens bezeichnet Durkheim auch als soziale Phänomene bzw. soziale Tatsachen (ebd.: 100 und 114). Zu diesen sozialen Tatsachen gehören z.B. Ästhetik, Moral, Ökonomie, Recht und Religion (Durkheim 1967: 156). Würde man sich die Gesellschaft als einen Organismus oder Körper vorstellen, so wären die sozialen Tatsachen bzw. sozialen Phänomene die Organe des Körpers, die für ihn nützliche Funktionen erfüllen (Durkheim 1981b: 123). "Die Funktion eines sozialen Phänomens kann nicht anders als sozial sein, d.h. sie besteht in der Erzeugung von Wirkungen, die sozial nützlich sind" (Durkheim 1965: 193). Beispielsweise erfüllt die Moral als soziale Tatsache u.a. die Funktion, das Verhalten der Individuen zu regulieren (Durkheim 1984: 81).

Des Weiteren wirken die sozialen Tatsachen auch zusammen, wodurch sie "die Gesellschaft mit sich selbst und mit der Umwelt in Harmonie [setzen]" (Durkheim 1965: 182). Dieses "in Harmonie setzen" bezieht sich auf den sozialen Zusammenhalt. Für Durkheim sind es die sozialen Tatsachen der Moral und des Rechts, die diesen Zusammenhalt bewirken. "Recht und Moral sind die Gesamtheit der Bande, die uns untereinander und mit der Gesellschaft verbinden, die aus einer Masse von Individuen ein kohärentes Aggregat werden lassen" (Durkheim 1992: 468).

Recht und Moral sind jedoch nicht überall auf der Welt identisch, weil sie unterschiedliche Formen annehmen können. Das heißt, dass die sozialen Tatsachen variieren. Und zwar variieren sie mit der Form der Assoziation der Individuen, d.h. mit der "Art und Weise, wie die grundlegenden Bestandteile der Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich 4 Gesellschaft gruppiert sind" (Durkheim 1965: 194)2.

Die Tatsache, dass die Assoziation der Individuen unterschiedliche Formen annehmen kann, deutet darauf hin, dass es verschiedene Typen von Gesellschaften gibt. In diesem Zusammenhang spricht Durkheim davon, dass es "'Gesellschaften' gibt, die sich in Gattungen und Arten einteilen lassen, ähnlich wie bei den Gewächsen und Tieren" (Durkheim 1981: 35). Bei den verschiedenen Gesellschaftsgattungen oder -typen und deren Entwicklung geht Durkheim davon aus, dass "jeder höhere Typus durch eine Wiederholung von Gesellschaften des gleichen Typus, nämlich des nächst niedrigeren gebildet wird" (Durkheim 1965: 172). Des Weiteren nimmt mit jedem höheren Typus das soziale Volumen, also die Gesamtzahl der Individuen einer Gesellschaft, und die dynamische Dichte, verstanden als die Anzahl der Individuen, die nahe genug in Kontakt zueinanderstehen, um wechselseitig auf sich einwirken zu können, zu (Durkheim 1992: 318ff)3.

Grundsätzlich unterscheidet Durkheim zwei große Typen von Gesellschaften, von denen gegenwärtige als auch vergangene Gesellschaften nur Variationen sind (Durkheim 1981b: 54). Dabei handelt es sich um die unorganisierten oder primitiven Gesellschaften und um die organisierten oder modernen Gesellschaften (ebd.: 54ff). Bei den unorganisierten Gesellschaften sind die Individuen "[entweder] linear aneinandergereiht wie die Ringe eines Ringelwurms [oder] ineinander verschachtelt" (Durkheim 1992: 237)4. Hingegen sind die Individuen bei den organisierten Gesellschaften "einander bei- und untergeordnet, und dies rund um ein Zentralorgan, das auf den Rest des Organismus eine regulierende Wirkung ausübt" (ebd.). Wie bereits erwähnt, variieren die sozialen Tatsachen mit der Form der Assoziation der Individuen und damit mit der Gesellschaftsgattung. Und so kommt es schließlich, dass die Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim & Georg Simmel im Vergleich 5 soziale Tatsache des Rechts bei den unorganisierten Gesellschaften die Form des repressiven bzw. strafenden Rechts und bei den organisierten Gesellschaften die Form des restitutiven bzw. ausgleichenden Rechts annimmt (Durkheim 1992: 201).

Somit lässt sich im Bezug auf den Gesellschaftsbegriff bei Durkheim zusammenfassend festhalten, dass Durkheim Gesellschaft als psychisches Wesen sui generis versteht, das aus der Synthese von sich wechselseitig beeinflussenden Individuen bzw. aus deren Assoziation als Naturtatsache hervorgeht. Gesellschaft ist dabei nicht nur eine Summe von Individuen, sondern sie hat Eigenschaften, die sie von den Individuen unterscheidet. Sie übersteigt das Individuum und existiert deshalb in gewisser Weise außerhalb des Individuums. Gleichzeitig wird sie jedoch durch die Erziehung zu einem Teil des Individuums. Darüber hinaus übt die Gesellschaft u.a. durch die Erziehung Zwang auf das Individuum aus, weil dem Individuum bestimmte Arten des Denkens, Handelns und Fühlens anerzogen werden (soziale Tatsachen), die wiederum Zwang ausüben und die in ihrem Zusammenwirken die Individuen dahin gehend beeinflussen, dass sozialer Zusammenhalt bewirkt wird. Schließlich unterscheidet Durkheim verschiedene Gesellschaftstypen, da die Assoziation von Individuen unterschiedliche Formen annehmen kann. Jeder höhere Gesellschaftstypus geht dabei aus einer Wiederholung des nächst niederen Typus hervor und unterscheidet sich deshalb von ihm hinsichtlich seines Volumens aber auch hinsichtlich seiner Dichte. Somit gibt es bei Durkheim nicht die Gesellschaft, sondern Gesellschaften.

2. Der Gesellschaftsbegriff bei Georg Simmel

Obwohl sich Georg Simmel (1858 - 1918) selbst nicht als Soziologe, sondern als Wissenschaftler bezeichnet hätte, ist er einer der Mitbegründer der Sozio- logie. In den 90iger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte er für seine Arbeit internationale Anerkennung.

[...]


1 An anderer Stelle spricht Durkheim auch von der Gesellschaft als Realität oder Wirklichkeit sui generis (Durkheim 1981a: 36f).

2 Auch die Form der Assoziation der Individuen, verstanden als Arten des Kollektivseins, sind für Durkheim soziale Tatsachen morphologischer Ordnung (Durkheim 1965: 113).

3 Durkheim sieht die Aufgabe eines bestimmten Teils der Soziologie darin, sich mit Arten und Gattungen von Gesellschaft zu befasst. Diesen Teil bezeichnet er als soziale Morphologie (Durkheim 1965: 169).

4 Der Einfachheit halber wird hier von Individuen gesprochen. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht nur um Individuen, sondern auch um soziale Aggregate also z.B. um "Gruppen" von Individuen.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim und Georg Simmel im Vergleich
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Sozialwissenschaften)
Veranstaltung
Soziologie der Gesellschaft
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
23
Katalognummer
V276129
ISBN (eBook)
9783656689256
ISBN (Buch)
9783656689249
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Georg Simmel, Gesellschaft, Individuum, Durkheim, Gesellschaftsbegriff, Zwang, soziale Tatsache, Institution, Wechselwirkung, Assoziation, Formen der Vergesellschaftung, Vergesellschaftung, sui generis
Arbeit zitieren
Andreas Filko (Autor:in), 2014, Der Gesellschaftsbegriff bei Émile Durkheim und Georg Simmel im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276129

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