Die 'Logik der Gesten' im Nibelungenlied


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Am Anfang war die Geste

2 Zu einer «Gestikologie» des Nibelungenliedes
2.1 Höfisch reglementierte Gesten
2.1.1 Die Geste der milte
2.1.2 Der Gruß als höfisches Ritual
2.1.3 Das Gedränge in Kriegs- und in Friedenszeiten
2.2 Gesten der Gefühlsäußerung
2.2.1 Funktionen des Weinens
2.2.2 Die «Topoisierung» unwillkürlicher Gesten
2.2.3 Kriemhilts Träume
2.3 Das Verlassen des höfischen Weges
2.3.1 Ursachen des Untergangs
2.3.2 Antizipation des Untergangs
2.3.3 Mechanismen des Untergangs

3 Einige abschließende Gedanken

4 Literaturverzeichnis

1 Am Anfang war die Geste

Am Anfang jeglicher menschlicher Kommunikation stand die Geste. Bevor der Mensch zur Sprache kam, verfügte er schon über einen Fundus an Gesten, mit denen er sich in seiner ganzen Persönlichkeit der Umwelt begreiflich machen konnte. Auch wenn Verständigung mittels Sprache und Schrift heutzutage, zumindestens in Mitteleuropa, gestische Ausdrucks-weisen mehr und mehr überformt und ins Unbewußte verdrängt hat, ist es doch unbestritten, dass Körpersprache wesentlich zum Gelingen einer erfolgreichen kommunikativen Handlung beiträgt. Wenn uns jemand mit freundlichen Worten, aber einer abweisenden Körperhaltung entgegentritt, werden wir uns schwertun, dem Inhalt seiner Worte Glauben zu schenken. Erst wenn Rede und Gestus einer Person miteinander übereinstimmen, wirkt ihr Auftreten authentisch und glaubwürdig. Gestik ist diejenige Ausdrucksform des Menschen, über die sich sein ganzes Sein und Wesen vermittelt. Es ist die spezifische Art und Weise seines „aktiven In-der-Welt-Seins“[1].

Dieser Tage ist mir ein Buch in die Hände gefallen, welches sich mit den spezifischen Idiomen der türkischen Gastarbeiterkinder aus zweiter und dritter Generation befaßt. Auch hier wird betont, dass Habitus und Sprache einer Person als Möglichkeit der kulturellen Identifikation gleichrangig nebeneinander stehen. Das gilt gleichermaßen für jede andere Subkultur, wie auch generell für jede Art von Gestik in Bezug auf ihre identitätsbildende Funktion innerhalb eines Kulturkreises. Die Geste ist ja gerade auch Mittlerin und Trägerin grundlegender kulturspezifischer Merkmale: Über die Bedeutung der erhobenen Hand beim Schwur müssen wir zum Beispiel genauso wenig diskutieren wie über die des oft sehr kreatürlich wirkenden Siegesgeschreis beim Fußball. Das setzt voraus, dass wir über bestimmte «Codes» verfügen, mit deren Hilfe wir in der Lage sind, die Bedeutungen von Gesten aufzudecken. Dabei sind wir „auf eine empirische, intuitive Lektüre der Welt der Gesten, jener um uns her kodifizierten Welt, eingeschränkt“[2], die eben auf solch tradierten Kulturmodellen beruht. Das gilt vor allem auch für die Kultur des Mittelalters, die gelegentlich sogar als eine „Kultur der Geste“[3] bezeichnet worden ist. Dies könnte in der „Unzulänglichkeit des Schriftlichen“[4] begründet liegen, denn in der Feudalgesellschaft des Mittelalters war Lesen und Schreiben ja bekanntermaßen fast ausschließlich dem Klerus vorbehalten. So erhalten das gesprochene Wort und die sichtbare Geste einen wesentlich höheren Stellenwert als die Schrift. Dies spiegelt sich in besonderem Maße in der Darstellung von Gesten in mittelalterlicher Kunst und Literatur wieder. Hier wird deutlich, in welcher Form Gesten sowohl durch ihre normativen Eigenschaften als auch durch den ihnen innewohnenden Symbolcharakter innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft zur Wirkung gelangen.

In der vorliegenden Arbeit werde ich mich darauf beschränken, repräsentative Gesten des Nibelungenliedes zu benennen und den Versuch einer Systematisierung zu unternehmen. Dabei geht es mir vor allem um die jeweiligen Beweggründe, die sich hinter dieser oder jener Geste verbergen. Das Nibelungenlied enthält eine ganze Anzahl von Gesten, die dem damaligen Rezipienten wohl so geläufig waren, dass eine nähere Definition derselben im Text nicht nötig war. Nichtsdestoweniger entsteht beim modernen Leser in Bezug auf einige bestimmte gestische Darstellungsmodi Unverständnis und Erklärungsbedarf, da solche Ausdrucksweisen heutzutage entweder überhaupt nicht mehr gegenwärtig sind oder sich die ihnen zugrundeliegende Semantik verschoben hat. Ich möchte die Unterschiede und die eventuellen Übereinstimmungen zu Heute herausarbeiten und somit sowohl auf die Besonderheiten als auch auf die universellen Merkmale der nibelungischen Gestik eingehen. Besondere Inspriration und wichtige Anregung habe ich dabei in Bezug auf Gesten allgemein bei Vilém Flusser, auf Gesten im Mittelalter bei Jean-Claude Schmitt und konkret auf Gesten im Nibelungenlied bei Jan-Dirk Müller erfahren.

2 Zu einer «Gestikologie» des Nibelungenliedes

Bekanntermaßen sind Interaktionen zwischen Menschen permanent der Gefahr ausgesetzt, Missverständnissen zu unterliegen. In der Realität gelten Interaktionen erst dann als erfolg-reich, wenn sie ungestört ablaufen können. Literarisch gesetzte Handlungsmuster dagegen zeigen ihre bedeutungstragende Struktur aber nicht nur im harmonischen Vollzug, sondern besonders auch in den Störungen der jeweiligen Interaktionen. Nicht die Gleichförmigkeiten des Verhaltens erzeugen Spannung im dramatischen Aufbau einer Erzählung, sondern deren Brüche und Ambivalenzen. Diese scheinen auf den mittelalterlichen Erzähler (oder auf das Erzählerkollektiv) eine genauso große Faszination ausgeübt zu haben wie auf die modernen Rezipienten. Die Handlungsfelder für ungestörte beziehungsweise gestörte Interaktionen bieten in der Regel vom Menschen geschaffene Rituale an, die ein hohes Maß an gesellschaftsbindenden Elementen garantieren und eine Katalysatorfunktion in Bezug auf ein friedliches Miteinander übernehmen, indem sie helfen, Aggressionen abzubauen. Ist ein solches Ritual gestört, kann ein geregelter Umgang innerhalb der Gesellschaft nicht mehr gewährleistet werden. Das System wird in seinen Grundfesten erschüttert. Gerade im Mittel-alter sind Rituale geprägt durch symbolträchtige Handlungen der Menschen, die sich in streng reglementierten Gesten ausdrücken und deren Bedeutung allgemein bekannt ist.

Die Gestik des Nibelungenliedes erhält in den meisten Fällen ihre tiefe Signifikanz gerade durch die Symbolkraft der ihr eigenen Aussagen. Die Akteure machen wahrhaft große Gesten, die von ihnen selbst und von den anderen beteiligten Personen auch als solche wahrgenommen werden und verstanden werden sollen. Jean-Claude Schmitt hat diese Handlungen unter dem Begriff gestus zusammengefaßt[5]. Es geht hierbei um „Bewegungen und Haltungen“[6] des Körpers, die in der Regel noch eine Zusatzbedeutung erhalten; Schmitt betont, dass diese Gesten in mittelalterlichen Texten meistens als ein „Verweis auf eine Norm (ist diese oder jene Geste «unpassend»), auf eine gesellschaftliche Wertvorstellung (soweit die Geste vom sozialen Rang des Betreffenden zeugt) oder auf einen bestimmten Modus des Gestischen verwendet (es gibt ein «Idealmaß» für die Geste)“[7] wird.

Diesen Interaktionen ist ein ganz spezifisches Tempo zu eigen, welches den Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers nur einen sehr geringen Aktionsradius zugesteht. Gesten, welche die Würde und den Status einer Person ausdrücken, werden langsam und gemessen ausgeführt. Dies entspricht der Glaubenseinstellung und christlich geprägten Weltanschauung jener Zeit, in der prinzipiell allen Bewegungen des Körpers eine sehr pejorative Bedeutung zugemessen wurde:

„So verquickt sich in der Ideologie des Christentums der Argwohn, der bereits auf der Mobilität ruht, mit der Verächtlichmachung des Körpers, und beides verstärkt das von vornherein abfällige Urteil über die Gesten. Dies muß man sich vergegenwärtigen, um die mittelalterlichen Riten zu verstehen, bei denen ja die Zurschaustellung der Reglosigkeit, das Hieratische, die Ostentation der Leiber und rituellen Gegenstände, der langsame feierliche Gang Attribute der Macht und Insignien des Heiligen sind: etwa eines Bischofs, eines Königs oder des Papstes.“[8]

Die Gesten des Nibelungenliedes zeichnen sich selten durch hohe Mobilität ins sich selbst, beziehungsweise durch schnellen Wechsel der Interaktionen zwischen einzelnen Personen aus, obwohl es auch in diesem Punkt Ausnahmen gibt, auf die ich noch zu sprechen komme. Jan-Dirk Müller weist in Bezug sowohl auf das Erzähltempo, als auch auf die Geschwindig-keit der erzählten Vorgänge im Nibelungenlied, auf einen interessanten Zusammenhang zwischen einer sichtbaren Beschleunigung des Geschehens und der im zweiten Teil sich kontinuierlich steigernden Katastrophe hin.[9] Schmitt hebt besonders hervor, dass dem gestus, der angemessenen Bewegung des Körpers, der Begriff der gesticulatio entgegengestellt werden kann. Während der gestus eine durch die Vernunft gesteuerte Handlung bezeichnet,

in der Geist und Körper eine Einheit bilden, wird die gesticulatio durchweg negativ bewertet, da sie der Unvernunft der Seele entspringt und „als ausschweifend und regellos, als eitel und lasterhaft wahrgenommen“[10] wird. Maßloses Gestikulieren ist dörperhaft, also unhöfisch, möglicherweise sogar noch satanischen Ursprungs.

Zusätzlich zu diesen sich dialektisch aufeinander beziehenden Termini besteht noch eine dritte Form, die weder der Logik des gestus noch der Unvernunft der gesticulatio zugeordnet werden kann. Schmitt nennt diese Handlungsweisen gesta und übersetzt dies mit „Tun und Treiben“[11]. Er fasst unter diesem Begriff „solche Gesten zusammen, die sich entsprechend der Tradition des Mittelalters gegen die Vernunft des gestus zu sperren scheinen, werden sie doch nicht so sehr gedacht als vielmehr agiert (was die Passivform von gesta erklärt)“ und sie „haben mehr kollektiven als individuellen Charakter (weswegen auch der Plural von Bedeutung ist) [...].“[12] Will man nun diese Terminologie auf die Gesten des Nibelungenliedes übertragen, stößt man auf einige sehr interessante Entsprechungen. Formen der gesticulatio finden sich zwar nicht im Text – dies wäre im Epos auch denkbar fehlplaziert –, desto häufiger aber gibt es Beschreibungen, die in den Rahmen der gesta gehören. Bei meiner Analyse der Gestik des Nibelungenliedes werde ich diese Überlegungen mit einbeziehen und sie mit meinen eigenen Ergebnissen in Beziehung setzen. Dabei wird sich eben auch dort zeigen, dass die meisten Gesten eingebunden sind in ein vielschichtiges System von ritualisierten Verhaltensweisen, die sowohl in ihrer erfolgreichen Durchführung als auch in ihren Brüchen eine wichtige bedeutungstragende Funktion inner-halb der höfischen Welt des Nibelungenliedes einnehmen.[13] Ich werde unterscheiden zwischen solchen, deren Konstruktion sich eindeutig im Rahmen bestimmter vom Hofzere-moniell geforderter Verhaltensmuster bewegt, die unter Umständen nichts anderes darstellen als höfische „Routine“[14], und zwischen solchen, die gerade nicht konventionell verwendet werden. Sie werden von den Figuren bewusst und gänzlich aus eigener Motivation heraus vollzogen, um einen Sachverhalt oder eine persönliche Befindlichkeit und dergleichen zu «inszenieren». Diese Verhaltensweisen können sich auch gerade dadurch auszeichnen, dass sie ein bestimmtes Hofzeremoniell brechen, für die eigenen Zwecke ausnützen oder pervertieren.

2.1 Höfisch reglementierte Gesten

2.1.1 Die Geste der milte

Die Geste des Gebens, aber auch des Annehmens einer Gabe nimmt breiten Raum ein. Ganz im Sinne einer Gabelogik[15] wird darauf Wert gelegt, Herrschaftspositionen zu konstituieren und soziale Machtgefüge zu affirmieren. Es geht dabei um eine Frage der êre, denn wer sein Gut großzügig verteilt, für unsere Begriffe sogar verschwenderisch damit umgeht, besitzt die Tugend der milte, die einen Adeligen vor einem Mitglied eines anderen Standes in besonderem Maße auszeichnet und Darstellungsmodus eines vorbildlichen Herrschers ist[16]. Bei Sîfrits Schwertleite verteilen Sigmunt und Sigelint großzügig Geschenke, ohne einen Unterschied zwischen Fremden und Gefolgsleuten zu machen:

Von der hôchgezîte man möhte wunder sagen.

Sigmunt unde Siglint die mohten wol bejagen

Mit guote michel êre; des teilte vil ir hant.

Des sach man vil der vremden zuo ze in rîten in daz lant.

(Vs. 29)

Gaben sind idealerweise ungerichtet und nicht berechnend auf Gegenleistung abgestimmt und sie stellen befriedete Beziehungen zu fremden Gruppen her, zum Beispiel, indem Abgesandte anderer Höfe mit Geschenken überhäuft werden. Generell erhält die Vergabe von Botenlohn einen besonderen Status innerhalb dieses sehr hierarchisch geprägten Gefüges. Im Text werden solche Situationen häufig und ausführlich geschildert. Nach dem erfolgreichen Sieg über die Sachsen schickt Gernot Boten nach Worms, um diese frohe Kunde überbringen zu lassen. Nachdem ein Bote Kriemhild über die Ereignisse infor-miert hat, heißt es:

Dô sprach diu minneclîche: „du hâst mir wol geseit.

du solt haben dar umbe ze miete rîchiu kleit

und zehen marc von golde, die heize ich dir tragen.“

des mac man solhiu mære rîchen frouwen gerne sagen.

(Vs. 242)

Jan-Dirk Müller unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen echter milte und der Zahlung von miete oder lôn. Echte „milte“ ist geprägt von Freigiebigkeit und Absichtslosig-keit, sowohl in Bezug auf einen bestimmten Zweck, als auch in Bezug auf eine bestimmte Person. miete oder lôn hingegen empfängt derjenige, der beauftragt wurde, eine konkrete Leistung zu erbringen.[17] Doch vor dem Horizont der totalen ökonomischen Abhängigkeit der Untertanen von der Mildtätigkeit des Herrschers, der sie in Ermangelung eines ausgereiften Lohnsystems auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, erscheint mir diese Unterscheidung nur insofern relevant zu sein, als dass innerhalb einer ungerichteten Gabe die Macht und Willkür des Herrschenden nur umso deutlicher zutage tritt und dadurch eine noch ausgeprägtere Selbsterhöhung der eigenen höfischen Tugenden ermöglicht werden kann. Die zugrundeliegende Struktur der Geste, das Ritual des Beschenkens, bleibt dabei unangetastet.

Nachdem Sîfrit für Gunther Prünhilde zur Frau gewonnen hat, schickt sie selbst Boten aus, um diese Nachricht verbreiten zu lassen. In diesem Fall ist sie diejenige, welche die Boten auf das Prächtigste ausstatten lässt, um durch sie ihre hohe Stellung in der Öffentlichkeit repräsentieren zu lassen:

Dô hiez si boten rîten allenthalben dan.

unt hiez in geben allen rîch unt hêrlîch gewant.

(Vs. 476, 1+4)

Doch zu diesem Zeitpunkt hat sie ihre einstige Macht schon längst eingebüßt. Ihr Königreich, einschließlich ihrer Person, ist in Gunthers Machtbereich übergegangen. Das zeigt sich auch daran, dass ihre Fähigkeit, milte zu üben, stark beschnitten wird. Nicht umsonst kritisiert sie Dancwart, der in ihrem Auftrag bei ihrem Abschied von Îsenstein noch einmal ihre und die Untertanen Gunthers beschenken soll. Er geht aber so großzügig mit ihrem Gut um, dass sie befürchten muß, am Schluß ohne Habe dazustehen.

„Er gît so rîche gâbe, jâ wænet des der degen,

ich habe gesant nâch tôde: ich wils noch lenger pflegen

ouch trûwe ichz wol verswenden, daz mir mîn vater lie.“

(Vs. 518, 1-3)

„Völlige Verausgabung bedeutet Tod durch Auslöschung der sozialen Existenz.“[18] Prünhilts Sorge um ihr Gut wird mit Lachen von Gunthers und Hagens Seite quittiert, denn sie ist be-siegt und entmachtet worden und nun auf die Freigiebigkeit ihres zukünftigen Ehemanns angewiesen.

Als Boten aus Worms in Xanten auftauchen, um Kriemhilt und Sîfrit zum Fest einzuladen, werden sie neun Tage fürstlich bewirtet, bevor sie wieder nach Hause reiten dürfen und noch dazu großzügig beschenkt, so wie es dem Stand eines so mächtigen Fürsten, wie Sîfrit einer ist, entspricht.

Si mousen dâ belîben devollen niun tage.

des heten endeclîchen die snellen ritter klage,

daz si niht wider solden rîten in ir lant.

(Vs. 757, 1-3)

Sîfrit unt Kriemhilt, alsô wir hœren sagen,

sô vil den boten gâben daz ez niht mohten tragen

ir mœre heim ze lande; er waz ein rîcher man.

(Vs. 764, 1-3)

Innerhalb einer feudalen Gesellschaftsstruktur wird es immer Menschen geben, die in der Lage sind, Güter auszuteilen und dadurch Abhängigkeiten zu schaffen, die andere wiederum in die Situation versetzen, diese Gaben aus Gründen des materiellen Wohls auf der einen und als Zeichen der Anerkennung von Herrschaftsansprüchen auf der anderen Seite, untertänigst zu akzeptieren. Das ist denn wohl auch das Wesen dieser Geste, im Ritual des Schenkens die alten Herrschaftsmechanismen zu konservieren. Die Wirksamkeit und Gültigkeit in ihrer Funktion als Trägerin gesellschaftskonstituierender Merkmale zeigt sich denn gerade auch in einer Verkehrung der sonst dargestellten Machtverhältnisse. In dem folgenden Beispiel setzen zwei Gleichgestellte, zwischen denen das Demonstrieren von milte prinzipiell keine soziopolitische Dimension einnimmt, eine solches Botenlohn-Ritual in Szene. Die strikte Einhaltung der geforderten Verhaltensweisen gibt Aufschluß über den konkreten rituellen Ablauf solcher Situationen und die Reflexion der handelnden Personen über ihre zugrundeliegende Funktion weist auf den ihr innewohnenden normativen Charakter hin. Gunther bittet nach dem Sieg über Prünhilt Sîfrit, selbst als Bote nach Worms zu fahren, um den Hof davon in Kenntnis zu setzen. Er lehnt zuerst ab, weil solch ein niedriger Dienst für ihn als hohen Adeligen nicht in Frage kommt. Erst als Gunther sêre vlêhén [19] beginnt, läßt er sich umstimmen und reist nach Worms. Nachdem Sîfrit, wohl eher im Scherz, den Botenlohn von Kriemhilt eingefordert hat, antwortet sie ihm:

„[...] mir wære niht ze leid,

ob ich ze botenmiete iu solde gében mîn gólt.

dar zuo sît ir ze rîche [...]“

(Vs. 556, 2-4)

Da Sîfrit trotzdem auf einem Botenlohn besteht, läßt sie ihm 24 mit Edelsteinen besetzte Armreifen bringen, die er aber nicht behält, sondern sie Kriemhilts nächsten Vertrauten weiterverschenkt, deren Status es eher entspricht, Gaben anzunehmen:

Vier unt zweinzec bouge mit gesteine guot

die gap si im ze miete. sô stuont des heldes muot,

er woldes niht behalten: er gab ez sâ zehant

ir næhstem ingesinde, die er ze kemenâten vant.

(Vs. 558)

Welche Rolle übernimmt hier Sîfrit? Es ist ein Spiel, was er da vollführt. Er soll den Boten machen, also will er auch nach der bestehenden Konvention seinen Lohn dafür erhalten. Na-türlich geht es aber – weil nicht standesgemäß – überhaupt nicht, diesen Lohn wirklich anzunehmen. Also stellt er, indem er sie zu dieser Gabe nötigt, genauso Kriemhilts milte auf die Probe, die ja wiederum ihre eigene hohe Position bestätigt, wie auch seine eigene êre unter Beweis, indem er den Schmuck gleich weiterverschenkt. Sîfrit und Kriemhilt sind in diesem Sinne durchaus gleichgestellt, so dass einer standesgemäßen Verbindung der beiden nichts im Wege steht. Doch diese Begründung reicht zu einem echten Verständis dieser Szene nicht aus; wirkt sie doch eher skurril, als in irgendeiner Art und Weise normativ. Vielleicht hat das mittelalterliche Publikum über die in ihren Augen möglicherweise absurde Situation sogar herzlich gelacht[20]. Der Text lässt außerdem vollkommen ungeklärt, weshalb Gunther so ausdrücklich und unter Zuhilfenahme so drastischer Mittel wie flehentlichen Bittens darauf besteht, Sîfrit höchstpersönlich nach Worms zu schicken. Vielleicht stellt sich dieser Konflikt als erstes sichtbares Zeichen der Störung in der Beziehung zwischen den beiden Helden heraus. Im Besonderen dadurch, weil unter Anderem diese konsequente Weiterführung der Dienstmannlüge zu Prünhilts Missverständnis über Sîfrits Rolle am Wormser Hof beiträgt. Jan-Dirk Müller spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zusammenbruch höfischer Virtualisierung“. Damit ist gemeint, dass durch den Betrug auf Isenstein der „Code höfischen Verhaltens“ ausser Kraft gesetzt worden ist. Nach Beendigung dieser aventiure soll die „normale ständische Ordnung“ wieder in Geltung gebracht werden und Sîfrit ist nach seiner anfänglichen Weigerung auch nur noch ein einziges Mal bereit, „sie zugunsten der Minne zu suspendieren“[21], indem er sich auf diesen Botendienst einlässt.

Im ganzen Nibelungenlied gibt es nur eine einzige Person, der nicht nachgewiesen werden kann, dass sie das Ritual des Gebens in irgendeiner Form missbraucht oder entfremdet: Den marcgrâven Rüedegêr von Bechelâren. Er stellt das Idealbild des milteclîchen Fürsten dar, der gibt, ohne zu rechnen. Er beschenkt die Burgonden, die in ihrem Rang eigentlich über ihm stehen, aus reinster edelster Freundschaft und sie, die ja sonst ausschließlich selbst austeilen, nehmen die Gaben überhaupt nur in Anbetracht der großen Freundschaft zu Rüedegêr an:

Allez daz der gâbe von in wart genomen,

in ir deheines hende wære ir niht bekomen,

wan durch des wirtes liebe, derz in sô schône bôt.

(Vs. 1704, 1-3)

Selbst als er, hart von Etzel und Kriemhilt bedrängt, sich zwischen Lehns- und Freundestreue entscheiden muss, wird er als vater aller tugende (Vs. 2202) gerühmt, weil er, ohne zu zögern, obwohl ihm daraus selbst später in der Schlacht ein Nachteil entsteht, freigiebig seinen Schild an Hagen verschenkt:

„nu lône iu got von himele, vil edel Rüedegêr!

ez wirt iuwer gelîche deheiner nimmer mêr,

der ellenden recken sô hêrliche gebe.

got sol daz gebieten daz iuwer tugent immer lebe.“

(Vs. 2199)

Hagen wiederum gebietet, wenige Augenblicke zuvor, den Kriegern Einhalt, die schon auf-einander losstürzen wollen, um Rüedegêr um diese Gabe zu bitten. Vielleicht, weil er um Rüedegêrs höfische Vorbildlichkeit weiß, durch dieses Mittel einen Weg zu finden hofft, sich aus einer kämpferischen Konfrontation mit ihm, der gegenseitigen Freundschaft wegen, heraushalten zu können. Hagen macht dadurch „das Unmögliche möglich: den Feindeskampf zu akzeptieren und die Freundestreue zu halten, im Feindeskampf die Freundestreue zu bestätigen“[22].

„Nu lône ich iu der gâbe, vil edel Rüedegêr,

daz nimmer iuch gerüeret in strîte hie mîn hant,

(Vs. 2201, 1+3)

Dieser Tausch von materiellem in ideologischen Wert scheint mir ein besonders schönes Symbol dafür zu sein, dass es auch mitten im brutalsten Kampf die Möglichkeit gibt, ver-söhnlich miteinander umzugehen. Antithetisch dazu steht Kriemhilt, die sich im Verlaufe der Geschichte von der milteclîchen edlen Herrscherin zur (vermeintlich) grausamen Rächerin[23] verwandelt, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht, indem sie die Geste des Gebens für ihre Zwecke instrumentalisiert und ver-kehrt, bis hin zu ihremVersprechen, diejenigen reich zu belohnen, die ihr helfen, die Burgon-den zu vernichten. Während der Fahrt nach Ungarn scheint noch alles in bester höfischer Harmonie zu sein. Bei einer Rast in Bechelâren gibt sie, ganz nach höfischem Brauch, aus vollen Händen. Auch nach der Ankunft bei Etzel macht sie große Geschenke, scheinbar aus uneigennützigster milte heraus. An ihrer Hochzeit verteilt so großzügig Geschenke, dass alle ob dieser Freigiebigkeit in großes Staunen geraten:

Si kunte sich mit gâbe dem der si nie gesach.

vil maneger dar under zuo den gesten sprach:

„wir wânden daz frou Kriemhilt niht guotes möhte hân:

nu ist hie mit ir gâbe vil manec wunder getân.“

(Vs. 1366)

[...]


[1] Vilém Flusser, S. 223

[2] Ebd., S. 10

[3] Jaques Le Goff, La Civilisation de l’Occident médiéval, Paris 1964, S. 440. Zit. n. Jean-Claude Schmitt, S. 16

[4] Schmitt, S. 16

[5] Er greift dabei auf Kategorisierungen für Gesten zurück, die schon im Mittelalter maßgeblich waren.

[6] Jean-Claude Schmitt, S. 28

[7] Ebd.

[8] Schmitt, S. 30

[9] Müller, S. 384

[10] Schmitt, S. 31

[11] Ebd., S. 32

[12] Ebd., S. 32. Der Begriff der Individualität scheint mir bezüglich des Nibelungenlied allerdings eher problematisch beziehungsweise erklärungsbedürftig zu sein, da es dem Epos in der Regel darum geht, die Allgemeingültigkeit der Handlungsweisen der Menschen, nicht die persönlichen Beweggründe eines Einzelnen, darzustellen und darüber einen Konsens im gesellschaftlichen Umgang miteinander zu finden.

[13] Vgl. dazu Jan-Dirk Müller, S. 345 ff.

[14] Ebd., S. 346

[15] Vgl. dazu Marcel Mauss, S. 145-279

[16] Vgl. dazu auch Müller, S. 348

[17] Müller, S. 348

[18] Müller, S. 349

[19] Siehe dazu auch das Kapitel über die Funktionen des Weinens

[20] Es ist dies aber nicht das „Lachen des Volkes“ im Bachtinschen Sinne mit seiner parodierenden und zersetzenden Wirkung auf das Epos, sondern meines Erachtens eher zu verstehen als kathartisches Moment. Vgl. dazu M. Bachtin: Epos und Roman, S. 485

[21] Müller, S. 414

[22] Wapnewski, zit. nach Helmut Brackert, S. 268

[23] So wird es jedenfalls im Text dargestellt. Über die besondere Rolle Kriemhilts könnte man eine eigene Arbeit schreiben, weshalb ich diesen Punkt hier unberücksichtigt lasse.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Die 'Logik der Gesten' im Nibelungenlied
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Ältere deutsche Literatur)
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
37
Katalognummer
V28123
ISBN (eBook)
9783638299992
Dateigröße
673 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Logik, Gesten, Nibelungenlied
Arbeit zitieren
Hadwig-Maria Kuhn (Autor:in), 1999, Die 'Logik der Gesten' im Nibelungenlied, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28123

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