Die ethnische Persistenz der Roma am Beispiel der Vlach in den USA


Magisterarbeit, 2013

76 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Theoretischer Rahmen
1.1 Ethnizität als soziopolitisches Phänomen
1.2 Assimilierung als migrationspolitisches Phänomen

2 Historischer und ethnographischer Hintergrund
2.1 Herkunft und Typologisierung der Roma
2.2 Entstehung der Vlach in Südosteuropa
2.3 Grundzüge und soziale Organisation der Vlach
2.4 Auswanderung der Vlach in die USA

3 Mechanismen ethnischer Persistenz
3.1 Autonomes Sozial- und Rechtssystem der Vlach
3.1.1 Die Gerichtsbarkeit der Romaniya
3.1.2 Reinlichkeit als institutionalisierter Verhaltenskodex
3.2 Konservatismus
3.2.1 Gesellschaftliche Isolierung
3.2.2 Spracherhalt
3.2.3 Verweigerung des amerikanischen Bildungswesens
3.3 Erhalt der sozioökonomischen Souveränität
3.3.1 Wirtschaftliche Unabhängigkeit
3.3.2 Nomadentum
3.3.3 Nutzung öffentlicher Gelder

4 Analyse und Schlussbetrachtungen
4.1 Dimensionen des Kulturwandels
4.2 Bestimmung des Assimilierungsgrades der Vlach
4.3 Kontrollierter Akkulturationsprozess der Vlach

5 Schlusswort

Quellenverzeichnis

Appendix

Einleitung

Ethnische Minderheiten sind das Ergebnis soziopolitischer und historischer Entwicklungen. Dabei handelt es sich um Menschengruppen, die in einem größeren politischen Gefüge ein autonomes Identitätsbewusstsein ausbilden. Die Roma sind ein Beispiel dafür. Sie leben gegenwärtig fast auf der ganzen Welt, ihre gemeinsame Urquelle liegt dabei in Indien. Von dort spalteten sie sich im Zuge langer Wanderungen in kleinere Gruppen, bewohnten unterschiedliche Gebiete und nahmen als Folge neue charakteristische Züge an. Die Vlach, mit denen wir uns in dieser Arbeit vorrangig befassen werden, sind eine der vielen Gruppen, die im Zuge dieser Aufspaltung hervorgingen. Durch ihre Distinktivität wurden die Roma, welche vor allem europäische Länder bewohnen, zum Opfer von Diskriminierung, Verfolgung und sogar Völkermord. Was die Vlach von den anderen Gruppen jedoch unterscheidet, ist, dass sie ihre kulturelle Distinktivität und zugleich Gruppenidentität durch Sklavenhaltung erlangt hatten, die mehr als 500 Jahre andauern sollte. Ihre kulturelle Besonderheit liegt dabei nicht nur in der sprachlichen Entwicklung, sondern vor allem in ihrer durch die Knechtschaft geprägten Mentalität. Nach ihrer Befreiung wanderten viele Vlach Ende des 19. Jahrhunderts in die USA. Angetrieben durch die neugewonnene Freiheit und das Land, welches für sie vielversprechender zu sein schien, erhofften sie sich dort ein besseres Leben.

Diese Arbeit soll Aufschluss darüber geben, wie die Vlach in der neuen und ihnen fremden Welt, ihre Existenz bestreiten und dabei versuchen weiterhin als ethnische Minderheit zu bestehen. Dabei wird dargestellt, ob und wie sie sich im Laufe der Jahre (d. h. ab dem Zeitpunkt ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten von Amerika) verändert haben und wie sie es meistern in der modernen und industrialisierten Welt ihre Tradition beizubehalten und weiterhin als eigenständige, distinktive Gruppe fortzubestehen.

Um zu verstehen, wer die Vlach überhaupt sind und nach welchen Prinzipien, sie ihren Bestand in der fremden Umgebung meistert, wird zunächst der Prozess ihrer Entstehung näher beleuchtet, da dieser die Grundlage ihres gegenwärtigen Verhaltensmusters bildet. Nachdem im ersten Teil der Arbeit essenzielle theoretische Begriffe erläutert werden, die das Werkzeug für die spätere Analyse dieser Arbeit bilden, wird darauffolgend auf den historischen Verlauf der Vlach, ihre grundlegenden Merkmale, sowie ihre Auswanderung in die USA eingegangen. Basierend auf dem vorgestellten elementaren Hintergrundwissen, wird anschließend im Hauptteil auf die Mechanismen der Vlach zum Erhalt ihrer ethnischen Persistenz eingegangen. Dabei wird zuallererst auf das autonome soziale und rechtliche System der Minderheit eingegangen, da es eine zentrale Komponente ihrer Weltanschauung ist und zudem gleichzeitig ihre kulturelle Stabilität sichert. Somit fungiert es als interner Mechanismus der ethnischen Persistenz. Als Antwort auf die potenzielle Gefahr der kulturellen Assimilierung[1] wird anschließend die Konservativität der Vlach hinsichtlich ihrer Abschottung von der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, ihres Spracherhalts, sowie ihrer Verweigerung des staatlichen Bildungswesens, dargestellt. Dabei handelt es sich zum einen um Faktoren, die gezielt den potenziellen ethnischen Assimilierungsprozess verhindern sollen, und zum anderen um Faktoren, die teilweise unintendiert von statten gehen. Als nächstes wird auf die sozioökonomische Souveränität der Vlach eingegangen. Hierbei werden Strategien der Vlach besprochen mit denen sie versuchen, die im amerikanischen System zu Verfügung stehenden Ressourcen auszunutzen, ohne dabei aber ihre Autonomie und Kultur zu gefährden. Zu diesem Zweck wird auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Vlach eingegangen, gefolgt von dem Nomadentum als weitere Strategie der Ressourcennutzung, sowie der Nutzung öffentlicher Gelder. Abschließend wird der Assimilierungsgrad der Vlach auf Basis eines drei-Phasen-Modells analysiert. Dabei zeigt sich, dass die Vlach in verschiedenen Dimensionen unterschiedliche starke Anpassungsgrade aufweisen.

1 Theoretischer Rahmen

1.1 Ethnizität als soziopolitisches Phänomen

Seit den 60er Jahren wird der Konzept der Ethnizität immer häufiger zur Beschreibung sozialer identitätsstiftender Phänomene zur Bildung und Abgrenzung von kulturell distinktiven Bevölkerungsgruppen verwendet; die Entstehung (Ethnogenese) und das Bestehen (Persistenz) ethnischer Gruppen stehen in der Migrationsforschung an vorderster Stelle (Heckmann 1992: 30f). Um die Persistenzmechanismen am Beispiel der Vlach untersuchen zu können, muss auf einige Aspekte und Phänomene der Ethnizität eingegangen werden, die später eine Rolle spielen werden: Die Formierung und der grundlegende Charakter ethnischer Gruppen wurden mit den Anfängen der Ethnizitätsforschung zum Gegenstand einer hitzigen Debatte. Einerseits gab es die Primordialisten, mit Clifford Geertz (1963) als dem wohl bekanntesten Vertreter, der die ethnische Gruppenbildung- und Zugehörigkeit auf die von Geburt an angeeigneten, objektiven und kulturellen Merkmale (z. B. Sprache, Religion, Abstammung) zurückführt. Andererseits vertraten die Situationalisten, mit Frederik Barth (1969) als Vertreter, die Meinung, ethnische Zugehörigkeit wäre das Resultat einer subjektiven und situativen ethnischen Formierung. Kriterien, welche über die Zu- oder Nichtzugehörigkeit entscheiden, könnten somit gegebenheitsabhängig bestimmt werden (Orywal/Hackstein 1993: 599). Die Konzeptionierung der Ethnizität als „naturgegebene“, stabile und abgrenzbare Entität vs. situationale und fluide Grenzziehung wurde gegenwärtig durch eine synthetische Vorstellung aufgelöst, welche die primordialen Charakteristika in Verbindung mit situationalen Gegebenheiten sieht (ebd.). Die Autoren Orywal und Hackstein (1993) als Befürworter des Ansatzes, definieren Ethnizität bzw. ethnische Gruppen somit folgendermaßen „Ethnizität ist der Prozess der ethnischen Abgrenzung in Form der Selbst- und Fremdzuschreibung spezifischer Traditionen“ (ebd. S. 599).2 Dabei handelt es sich (im Barthschen Sinne) um selektierte Traditionen, wie das Wertesystem, Verhaltens- und Wirtschaftsweisen, Ortsbezug oder die oben genannten Elemente wie Sprache, Religion oder Deszendenz, welche symbolische Konstituenten bilden und zusammen mit der Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte, eine kollektive Gruppenidentität erschaffen. Es sind Inhalte, die zum einen aus emischer Sicht der Gruppe,[2] den Bestandteil ihres Selbstverständnisses als separate Ethnie ausmachen, und zum anderen auf externen Zuschreibungen anderer Gruppen basieren. Dabei handelt es sich, wie die Autoren ergänzend sagen, um endogame Gruppen, was in Verbindung mit Deszendenz wiederum auf einen verwandschaftlich-primordialen Charakter zurückgreift (ebd. S. 598).

Die Ethnische Gruppenbildung kann dabei durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden. Staatliche Umverteilung von Ressourcen auf sozioökonomischer oder politischer Ebene oder Urbanisierung, angetrieben durch das demographische Wachstum, können die Entstehung von Ethnien hervorrufen. Das gemeinsame Zugehörigkeitsbewusstsein dient dabei als Abgrenzungsmechanismus gegenüber anderen Gruppierungen. Das ethnische Bewusstsein und die Stärke der kollektiven Gruppenidentität kann unter bestimmten Umständen mit der Zeit somit entweder an Bedeutung gewinnen oder auch verlieren (ebd. S. 600ff).

Die Variabilität der Ethnizität kann schließlich unterschiedliche Ausprägungen und Funktionen annehmen. So kann Solidarität und das gemeinsame Zugehörigkeitsgefühl in Situationen verstärkt werden, in denen das Wohl oder gar das Bestehen gefährdet ist (z. B. durch Diskriminierung oder ethnische Extermination), wodurch die ethnische Gruppe eine Funktion des internen Abwehrmechanismus annehmen kann (Cashmore 1984: 89). Wie Bell (1975) in seinem Beitrag zur Ethnicity and Social Change erwähnt, können ethnische Gruppen als Folge soziopolitischer oder ökonomischer Benachteiligungen entstehen: „Ethnicity is one response [...] of disadvantaged groups, to break up of older, and historically fused social and cultural, political and economic dominance structures“ (Bell 1975: 172). Zudem können minoritäre Gruppen zum Zweck der eigenen Interessenvertretung in der Mehrheitsgesellschaft durch ethnische Mobilisierung in Erscheinung treten (ebd.). Modernisierung und der soeben von Orywal und Hackstein angeführte, gesellschaftliche Wandel, können jedoch nicht nur zur Ethnogenese führen, sondern auch zur Auflösung einer ethnischen Gruppe (ebd. S. 143).[3]

1.2 Assimilierung als migrationspolitisches Phänomen

Die Fluidität ethnischer Gruppen birgt die Gefahr zum externen politischen Instrument dominanter Gesellschaften zu werden. Da die USA den vorwiegenden örtlichen Bezugsrahmen der Arbeit bilden, wird nun kurz auf die migrationspolitische Situation des Landes eingegangen, sowie ihre Vorstellung des kulturellen Zusammenlebens.

Die Vereinigten Staaten, welche sich ab dem 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung allmählich zur wirtschaftlichen Weltmacht etablierten, lockten dadurch viele europäische und später asiatische oder lateinamerikanische Zuwanderer. Die einst auf anglo-säschsischen Vorfahren basierende Gesellschaft der Vereinigten Staaten, wurde durch die Masseneinwanderung distinktiver ethnischer Gruppen zu einer kulturell heterogenen Bevölkerung. Die Zuwanderung wurde schnell zum Interessensobjekt der amerikanischen Migrationsforschung und der Politik. Im Fokus standen die Anpassungsprozesse der eingewanderten Minoritäten an die Kultur der USA (Aumüler 2009: 44). Aus Schutz vor der kulturellen Vielfalt, welche den möglichen Verlust der noch relativ jungen protestantischen anglo-amerikanischen Kultur zufolge haben könnte, entstanden im 20. Jahrhundert drei sozio- politische Leitgedanken, welche Milton Gordon in seiner Monographie Assimilation in American Life wie folgt zusammenfasst:

[...] the „Anglo conformity“ theory demanded the complete renunciation of the immigrant's ancestral culture in favor of the behavior and values of the Anglo-Saxon core group; the „melting pot“ idea envisaged a biological merger of the Anglo-Saxon peoples with other immigrant groups and a blending [...] into a new indigenous American type; and „cultural pluralism“ postulated the preservation of communal life and significant portions of the culture of the later immigrant groups within the context of American citizenship and political and economic integration into American society. (1964: 85)

Während die angelsächsische Konformität auf die komplette kulturelle Verschmelzung neuer zugewanderter Gruppen zielte, beinhaltete die Vorstellung des melting pot eine Amalgamation (genetische Vermischung).[4] Der kulturelle Pluralismus welcher Antwort auf die in der Mitte des 20. Jahrhunderts aufgetreten Tendenzen des „ethnic revival“ war, sah eine politische und wirtschaftliche Integration der Minderheiten vor, wobei ihre grundlegenden kulturellen Eigenheiten respektiert werden sollten. Dennoch auch wenn die Ideologie nicht so explizit war, wie die anderen Ansätze, so Gordon, hatte es durch den integralen Prozess, unterschwellig das gleiche Ziel, eine neue gemeinsame amerikanische Einheitsgesellschaft zu erschaffen (ebd. S. 86f).[5] Das Assimilations-Paradigma der USA soll in den letzten Jahren (durch sozioökonomischen Wandel des Landes) in den Hintergrund getreten sein (Aumüller 2009: 102). Nemeth (2002: 5) zufolge ist die Idee des kulturellen Pluralismus in den USA auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weitläufig vertreten, denn das Fehlen einer offiziellen Assimilationspolitik bedeutet nicht zwangsläufig den Verlust der amerikanischen Mentalität und der gewollten kulturellen Einflussnahme.

Vor dem Hintergrund der Einwanderungsbewegung, wie auch der historischen Gegebenheiten des frühen 20. Jahrhunderts (andauernde Kolonialzeit), hatte man versucht die durch den Kulturkontakt entstandenen Prozesse zu erklären: Dabei sprach man von den Konzepten Akkulturation und Assimilierung, die die sozio-kulturellen Angleichungsprozesse bestimmten (ebd. S. 42f). Die erste einflussreiche Arbeit zu Akkulturation lieferten die Autoren Redfield und Linton et al. (1936). Es handelte sich um eine „technische“ Deskription des Phänomens, in der Kontakt-Situationen, Funktionen und psychologische Faktoren des Kulturkontaktes beschrieben wurden, mit dem Endergebnis, dass es sich bei der durch den Kulturkontakt hervorgerufenen Akkulturation um „changes in the original cultural patterns of either of both groups“ handle (ebd. S. 149). Das Konzept der Assimilierung definierten die Autoren Park und Burgess (1921: 735) als Fusionsprozess distinktiver kultureller Gruppen verstanden mit dem Endprodukt einer gemeinsamen Einheitsgesellschaft: „incorporated in a common cultural life“. In beiden Fällen wurde die Akkulturation als direkte Folge des kulturellen Kontaktes gesehen, mit der Assimilierung als finalem Stadium der vollständigen Angleichung. Beide Ansätze waren in ihren Erklärungen jedoch relativ allgemein gehalten. Die Definition von Park und Burgess (aus den soziologischen Reihen der Chicago-Schule stammend) bewegte sich zudem in dem Wahrnehmungshorizont der damaligen Vorstellung der kulturellen Verschmelzung (Aumüller 2009: 49ff). Ralph Beals, ebenfalls früher Ethnizitätsforscher, kritisierte die Herangehensweise vieler Sozialwissenschaftler: sie seien zu technizistisch, verallgemeinernd und würden die emische Sicht der jeweiligen Gruppe vernachlässigen (Beals 1951: 3ff.).

Angetrieben durch die ethnische Revitalisierungsbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte Gordon (1964) versucht ein Bindeglied zwischen den früheren Assimilations-Ansätzen und den neuen Tendenzen des kulturellen Pluralismus zu schaffen (Aumüller 2009: 58). Sein Modell basiert auf sieben Variablen der Assimilierung, von denen die erste, Akkulturation, definiert als „Change of cultural patterns to those of host society“, eine direkte Folge des Kulturkontaktes war (Gordon 1964: 71). Andere Variablen wie das Fehlen von Vorurteilen oder Diskriminierung (ebd.) deuten auf die von Beals kritisierte Betrachtung aus der Sicht der Kerngesellschaft („core society“) und fehlende Inbezugnahme psychologischer interner Aspekte zugewanderter Gruppen. Als nächste Variable nennt Gordon den Eintritt in offizielle Klubs, Vereine oder Institutionen der Aufnahmegesellschaft (ebd.), wodurch er von einer gesellschaftlichen Partizipation der Minderheiten ausgeht. Marginale ethnische Gruppen, wie es durch ihre Isolierung und Distinktivität im Falle der Vlach ist, werden somit nicht mit einbezogen.

Die meisten europäischen Zuwanderer, waren der angelsächsischen Bevölkerung Amerikas, in Bezug auf kulturelle Inhalte und soziale Klasse (Mittelschicht) ähnlich. Um in dieser Arbeit den ethnischen Anpassungsprozess einer Gruppe zu beschreiben, die in Bezug auf das Wertesystem oder die ethnische Grenzziehung distinktiv ist, müssen andere Blickwinkel eingenommen werden. Zu diesem Zweck wird das Angleichungs-Modell des deutschen Migrationsforschers Friedrich Heckmann (1992) skizziert, welches den Prozess des kulturellen Wandels aus der internen wie auch psychologischen Betrachtungsweise minoritärer Gruppe darstellt. Dabei distanziert sich Heckmann von der klassischen Dichotomie von Akkulturation (als natürliche Folge des Kulturkontaktes) und der Assimilierung (als Endstufe der ethnischen Angleichung). Heckmann schlägt ein drei-Stufen­Modell bestehend aus Akkomodation, Akkulturation und Assimilierung vor. So versteht der Autor als Akkomodation:

funktionale [...] Lern- und Anpassungsprozesse bei Personen, die sich infolge eines Lebensortswechels grundlegende Mittel und Regeln der Kommunikation und Tätigkeit der fremden Gesellschaft aneignen müssen, um in dieser Gesellschaft interaktions- und arbeitsfähig zu werden (1992: 168).

Akkomodation wird als eine rein funktionale und notwendige kommunikationstechnische Anpassung verstanden. Einwanderer, die in ein fremdes unbekanntes Land kommen, müssen sich die Sprache und neue Verkehrsregelungen aneignen, um grundlegende Aktivitäten (z. B. Rechnungszahlung oder Arztbesuch) zu meistern, um sich in der neuen Gesellschaft bewegen zu können. Dabei werden in diesem Zyklus keine Veränderungen im Wertesystem oder (in Anlehnung an Orywal und Hackstein) kulturelle Traditionen hervorgerufen (ebd. S. 168f). Die durch die Akkomodation erreichte Akkulturation, als nächstes Stadium des kulturellen Anpassungsprozesses, bedeutet bei Heckmann:

[...] durch Kulturkontakte hervorgerufene Veränderungen von Werten, Normen und Einstellungen bei Personen, den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Qualifikationen (Sprache, arbeitsbezogene Qualifikation, gesellschaftlich-kulturelles Wissen u.a.) sowie Veränderungen von Verhaltensweisen und 'Lebensstilen' ( z.B. in Bezug auf Arbeit, Wohnen, Konsum, Freizeitverhalten, Kommunikationsformen, Heiratsmuster (ebd.).

Aspekte wie die Übernahme neuer Verhaltensweisen, Lebensstile wie auch qualifikatorische Aneignungen, sind in engerem Sinne keine essentiellen Überlebensmaßnahmen mehr, sondern gehen über die rein existenzsichernde Notwendigkeit hinaus. So kommt es bei der Akkulturation, welche die Akkomodation notwendigerweise voraussetzt, neben den soeben genannten adaptierten kulturellen Elementen, ebenso zum Wandel grundlegender gruppenspezifischer Traditionen wie auch zum teilweisen Wandel der Selbstidentität. Dies kann eine interne Neugründung und die Modifikation sozialkultureller Strukturen hervorbringen, welches schließlich auch in der Veränderung der kompletten Gruppenidentität mündet. Eine separate kulturelle Existenz der Gruppe bleibt trotz des individuellen Erfahrungs- und Sozialisationsprozesses, dennoch erhalten. Die Assimilierung (auf der Ebene der Einzelperson wie auch Gruppen) versteht Heckmann als „vollständige“ kulturelle Übernahme durch die ethnische Minderheit und das Verschwinden zuvor existierender ethnischer Grenzziehungen (ebd. S. 169f).

Die einzelnen Stufen verlaufen laut Heckmannjedoch keineswegs bei allen ethnischen Gruppen identisch, sondern müssen aufgrund deren Diversität fall- und gruppenspezifisch betrachtet werden. Genauso geht Heckmann nicht von diskret getrennten Phasen mit einem eindeutig bestimmbaren Übergangs-Zeitpunkt aus, sondern schlägt verschiedene Variablen bzw. Dimensionen vor, in denen unterschiedliche Assimilierungsgrade vorliegen können (ebd. S. 170). Im Gegensatz zu Gordon (1963) erlaubt Heckmanns Operationalisierung des Assimilierungs-Prozesses somit eine differenziertere Analyse von unterschiedlichen Anpassungsgraden in verschiedenen Dimensionen. Sein drei-Phasen-Modell eignet sich daher um die komplexe kulturelle Angleichung der in den USA lebenden Vlach zu beschreiben.

2 Historischer und ethnographischer Hintergrund

Da ethnische Gruppen, wie im Abschnitt „Ethnizität als soziopolitisches Phänomen“ dargestellt, situativ und variabel sind, muss man sich erst mit ihrem historischen und soziopolitischen Verlauf beschäftigen. Erst dann kann man ein genaues Verständnis für das Handeln einer ethnischen Gruppe nachvollziehen und abschließend Schlüsse über ihre Persistenz-Mechanismen wie auch ihre Vergesellschaftung ziehen.

2.1 Herkunft und Typologisierung der Roma

Die Bezeichnung „Roma“ bezieht sich auf eine Zahl ethnisch verwandter Bevölkerungsgruppen, deren gemeinsame Herkunft je nach Meinung unterschiedlich zu verorten ist. Mit Hilfe linguistischer Analysen, kam man Ende des 18. Jahrhunderts zur Erkenntnis, dass die Roma vor ungefähr 1000 Jahren aus der indischen Region Punjab flohen, um muslimischen Angriffen zu entgehen. In mehreren Migrationsschüben und nach einer zwei Jahrhunderte andauernden Reise durch Zentralasien, den Iran und den Kaukasus, erreichten sie schließlich den östlichen Mittelmeerraum (Fraser 1995: 16ff). Die Sprache der Roma, das Romanes[6] (auch Romani genannt), basiert auf dem Sanskrit, und ist eine Paihatscha-Sprache, beheimatet im Nordwesten Indiens, was die Bestimmung des genaueren Herkunftsorts der Roma ermöglichte (Weiler 1979: 11). Die Bezeichnung „Rom“ selbst wurde ebenfalls aus dem Sanskrit abgeleitet und bedeutet „Mann“ oder auch „Ehemann“ (Fraser 1995: 8).

Die Zigeuner-Bevölkerung lässt sich zwei grobe Teilethnien unterscheiden - die Sinti und die Roma, welche auf gemeinsame Vorfahren zurückzuführen sind. Zu beachten ist, dass der Begriff „Roma“ (oder auch „Rom“) somit doppeldeutig ist. Es wird sowohl als Oberbegriff verwendet als auch, neben den Sinti, zur Benennung der Unterkategorie (Bauerdick 2000).[7] Diese Unterteilung geht auf eine Geschichte zurück, die lange vor der Ankunft in Europa begann und mangels hinreichender Quellen, ebenfalls großen Raum für Spekulationen bietet. Neben sprachlichen Ähnlichkeiten hatten beide Gruppen ein

Tabusystem, welches auf Körpersymbolik und der rituellen Reinlichkeit beruhte.[8] Beide Gruppen sollten zudem um das 5. Jahrhundert in Indien und Persien gelebt und eine nomadische Lebensweise geführt haben. In den damaligen Königshäusern sollen sie vorwiegend als Musiker, Tänzer und Jongleure tätig gewesen sein (Freese 1980: 18ff). Zum ersten Mal sollen sie in Konstantinopel im 11. Jahrhundert gesichtet worden sein. Von dort erreichten sie schließlich im 14. Jahrhundert die Balkanhalbinsel (Lockwood 1985: 91), wo sie heute insgesamt den größten Anteil der weltweiten Zigeuner-Bevölkerung ausmachen (Bauerdick 2000: 12ff). Soziopolitische Ereignisse im Mittelmeerraum führten jedoch allmählich zur geographischen Spaltung beider Gruppen. Viele Sinti, welche lange als Musiker in Mittel- und Osteuropa (Ungarn, Rumänien) tätig waren, erreichten Westuropa (vorwiegend Deutschland, England und Spanien) im 15. Jahrhundert, wo sie schließlich sesshaft wurden. Rom-Zigeuner, die den größten Teil der gesamten Zigeunerbevölkerung ausmachen (zu denen auch die Vlach zählen), sollen weiterhin eine nomadische Lebensform beibehalten haben und sich im Laufe der Zeit in und auch außerhalb Europas verbreitet haben (Nagel 1986: 73). Westeuropa erreichten sie erst im 19. Jahrhundert (Weiler 1979: 11). Im Zuge der langjährigen Separation und der Fremdeinwirkung der Gastgeberländer, kam es so zur Ausdifferenzierung der Sinti und Rom-Zigeuner und gleichzeitig zur Bildung kleinerer distinktiver Gruppen. Kulturell und sprachlich haben sich die Sinti und Rom-Zigeuner derartig verändert, sodass sie sich heute nicht mehr als gemeinsame ethnische Gruppe identifizieren (Hancock 2010a: 101ff).

Als die ersten Zigeuner Anfang des 15. Jahrhunderts in Westeuropa erschienen, hatte man vermutet, dass die unbekannte Bevölkerungsgruppe, welche den Europäern sowohl geographisch, kulturell, wie auch äußerlich so fern schien, auf Grund von Feindseligkeiten und religiöser Verfolgungen über Ägypten nach Europa gelangte (Ladányi/Szelényi 2006: 20). Diese falsche Vermutung ist für die im englischen Sprachgebrauch bekannte Bezeichnung „Gypsy“ verantwortlich, welche im 16. Jahrhundert von dem Wort „Egyptienne“ abgeleitet wurde (Hancock 2010b: XXI). Die Benennungen „Zigeuner“ (oder Gitane im Französischen) soll hingegen aus den griechischen Wörtern „Adcincani“ oder „Athinganos“ stammen und in offiziellen Schriften des Byzantinischen Reiches dokumentiert worden sein, kurz nachdem die Ethnie zum ersten Mal im Konstantinopel gesichtet wurde (Ladányi/Szelényi 2006: 21). Bei den Begriffen Zigeuner oder Gypsy handelt es sich im Gegensatz zu Roma um Fremdbezeichnungen. In der Öffentlichkeit werden die beiden häufig vermieden, da sie zum Teil als pejorativ empfunden werden (Hancock 2010b: XVii).[9]

Zudem werden Zigeuner auf einer dialektalen Ebene unterschieden. Das Romanes, welches bei der Ankunft im Mittelmeerraum noch eine mehrheitlich verständliche Sprache aller Zigeuner-Gruppen war, wandelte sich im Verlauf weiterer Ereignisse, indem es neue sprachliche Elemente adaptierte. Somit entstanden zwei Dialektgruppen: „Those who sojourned in the Balkans speak what have come to be called the Vlach dialects; the others by contrast speak non-Vlach dialects“ (Salo 1977: 34).[10] Der Begriff „Vlach“ bezieht sich auf die historische Region Walachei, gelegen auf den Kerngebieten des heutigen Rumäniens, wo viele die Roma damals versklavt wurden[11] und infolgedessen sich neue dialektale Varietäten herausbildeten (Weyrauch/Bell 1993: 23). Die Unterteilung „Vlach und nicht-Vlach“ ist also eine linguistische Kategorisierung, im Jahre 1915 durch den Autor Bernard Gilliat-Smith entstanden, um die sprachliche rumänische Prägung der damals versklavten Zigeuner zu markieren - im Gegensatz zu allen anderen Zigeunern, welche diese Prägung nicht aufwiesen (Salo 1977: 35).[12]

Wegen unzureichender Quellen sowie unterschiedlicher Betrachtungsschwerpunkte und Zuordnungsweisen gibt es für die Zigeuner keine allgemein anerkannte Klassifizierung (Ladányi/Szelényi 2006: 128).[13] Abgesehen von der Frage nach der Mobilität und anderen Unstimmigkeiten unter Wissenschaftlern, ist zu beachten, dass es sich bei den ethnischen Zuordnungen um Selbst- und Fremdbezeichnungen handelt. So bezeichnen sich die Vlach nicht selbst als solche, sondern als Roma, sowie als Zugehörige ihrer jeweiligen subethnischen Gruppe (wie z. B. Kalderash oder Machwaya): ,,the large Vlach-dialect- speaking group calling themselves Rom, but also identifying themselves by various labels designating smaller sub-groups“ (Salo/Salo 1977: 2). So sind beide Gruppierungen „Sinti - Roma“ sowie „Vlach und nicht-Vlach“ nicht zwangsläufig deckungsgleich. In der Fachliteratur als auch hier ist das Ziel, die emische Sicht der erforschten Gruppe mit Hilfe dieser internen wie auch externen Typisierungsansätze authentisch und empfindungsgetreu wiederzugeben.

2.2 Entstehung der Vlach in Südosteuropa

Nach der kurzen geschichtlichen Skizzierung wird nun konkreter auf die Herausbildung der Vlach-Zigeuner während der Sklavenhaltung auf den Gebieten des ehemaligen Rumänien eingegangen, sowie auf die durch die Knechtschaft herbeigeführte gruppenspezifischen Eigenheit und Anschauungsweise der Vlach - von einigen Tsiganologen, wie Hancock (2010b: 97), als slave mentality bezeichnet.

Angekommen in der Balkan-Region des 14. Jahrhunderts siedelten sich einige Zigeuner in den damaligen Fürstentümern Moldau und Walachei an (zusammen mit Transsylvanien das Kernstück des heutigen Rumänien bildend),[14] deren Reichtümer für viele vielversprechend zu sein schienen. Auch wenn zur untersten Stufe der sozialen Hierarchie gehörend, waren sie durch ihr handwerkliches Können in etablierten Nischen, für die dortige Bevölkerung wirtschaftlich bedeutend. Der Wohlstand schwand, als sich das Osmanische Reich über große Teile Nordafrikas, des Nahen Ostens und schließlich auch über die Balkanhalbinsel ausweitete. Die sozioökomische und politische Lage des einst feudalen Rumäniens änderte sich schlagartig: Die ansässigen Fürstentümer wurden von den Osmanen tributpflichtig gemacht, woraufhin die bis dahin freien Bauer sowie einige Bevölkerungsgruppen, den Fürstentümern von nun an hohe Abgaben zahlen mussten. Dies führte sie anfangs in eine wirtschaftliche Bedrängnis und später in die Schuldenknechtschaft, die im Jahre 1382 begann und viele Jahrhunderte andauern sollte (Teichmann 2001: 1).

Neben den landwirtschaftlichen Hilfsdiensten, die viele Zigeuner (die späteren Vlach) ausführen mussten (Bauerdick 2000: 12), wurden sie durch ihr gutes Handwerk ebenfalls zu persönlichen Sklaven in den Königshäusern und Klöstern ernannt. Alleine in der Walachei wurden dem Fürsten 4000 Zigeunerfamilien, und den umliegenden Klöstern jeweils 40 Zigeunerfamilien als Leibeigene überlassen (Gronemeyer/Rakelmann 1988: 62).[15] Neben ihren herkömmlichen Nischen als Kupferschmiede, Siebhersteller oder auch Wahrsager mussten sie unter anderem als Goldgräber oder -wäscher, Feldarbeiter oder Hausangestellte (Köche, Gärtner oder Schneider) arbeiten (Fraser 1995: 223).[16] Es wurde ein elaboriertes roma-feindliches Strafgesetzbuch errichtet, das seine Gültigkeit bis zum Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert hatte (Gronemeyer/Rakelmann 1988: 62). Hier ein Ausschnitt des walachischen Gesetzbuches vom Jahre 1818, nach Hancock (1987: 28) zitiert:

[...] §2: Gypsies are born slaves.

§3 : Anyone born of a mother who is a slave, is also a slave. [.]

§5: Any owner has the right to sell or give away his slaves.

§6: Any Gypsy without an owner is the property of the Prince.

Die Sklavenhalter waren somit per Dekret geschützt und hatten freie Hand über das komplette Leben ihrer Leibeigenen, und nutzten dies teils skrupellos aus (Fraser 1995: 224). Durch das Fehlen von Konsequenzen, schwanden die Hemmschwellen der Herren, und die Zigeuner-Sklaven wurden nach Belieben physisch und psychisch gequält, vergewaltigt oder gar umgebracht (Hancock 1987: 20). So hatte man den Zigeuner-Sklaven, die als „dunkelhäutige Fremde“ bezeichnet wurden, jegliche Menschenwürde aberkannt (Teichmann 2001: 2). Basierend auf der Wert- und Bedeutungslosigkeit eines jeden einzelnen, wurde mit den Zigeunern zudem ein regelrechter Handel betrieben (ebd.). Viele junge Zigeunerinnen mussten den Aristokraten als Mätressen dienen. Um wiederum die weiblichen Aristokratinnen vor potenziellen sexuellen Übergriffen männlicher Zigeuner-Sklaven zu schützen, wurden viele Zigeuner zwangssterilisiert. Wegen der sexuellen Ausbeutung, soll ein erheblicher Teil der versklavten Roma, sprich der heutigen Vlach, die Nachkommenschaft rumänischer Herren sein, was deren helleren Hauttyp im Vergleich zu anderen Zigeunern erklärt (Hancock 1987: 19ff). Ein rumänischer Aktivist und Zeitzeuge, welcher für die Befreiung der Roma-

Bevölkerung kämpfte, beschrieb die allgemeine Lage der damaligen Zigeunersklaven wie folgt:

[...] human beings wearing chains on their arms and legs, others with iron clamps round their foreheads, and still others with metal collars about their necks. Cruel floggings and other punishments, such as starvation, being hung over smoking fires, solitary confinement, and being thrown naked into snow or a frozen river, such was the treatment meted out to the wretched Gypsy (Fraser 1995: 223).

Als Antwort auf diese Zustände, kam es im 19. Jahrhundert schließlich zu vielen von den Roma initiierten Revolten. Die blutigen Ereignisse sowie eine (nach dem Muster westeuropäischer Mächte) entstandene zeitgenössische Gewissensethik, führten allmählich dazu, dass sich das damalige Rumänien ebenfalls emanzipieren wollte. In den Königtümern wurden nach und nach Reformen eingeführt, welche schließlich die langerhoffte Befreiung der Zigeunersklaven sowie anderer Leibenteigneten brachte. Die Abschaffung der Sklavenhaltung erfolgte in beiden Fürstentümern im Jahre 1856 (Fraser 1995: 224).[17] Dennoch mussten unter diesen Bedingungen ganze Generationen von Zigeuner-Familien ein halbes Jahrtausend ums Überleben kämpfen. Im Zuge der langen Knechtschaft und der damit einhergehenden Abschottung von anderen Zigeuner-Gruppen, entstand eine Sprachgemeinschaft, deren Dialekt von Gilliat-Smith erstmals als Vlach bezeichnet wurde. Abgesehen von der dialektalen Gemeinsamkeit, war es vor allem das gemeinsame Gruppenzugehörigkeitsbewusstsein, welche sich aus der geteilten Geschichte ergab. Als Schutz vor externen Gefahren war es für die Vlach (früher aus verschiedenen kleineren Zigeuner-Stämmen bestehend) lebensnotwendig sich als ethnisches Kollektiv zu konstituieren (Kanwar 2000: 1273f). So erscheint hier die Ethnogenese als Resultat soziopolitischer Benachteiligungen

Die aus der rumänischen Versklavung hervorgetretenen Vlach lassen sich gegenwärtig vier Subgruppen zuordnen. Zu den Vertretern gehören demnach die Kalderash, Machwaya, Lowara und Churara. Sie bilden unterschiedliche Natsias, von Sutherland (1975: 14) als „tribe“ (dt. „Stamm“) übersetzt und weisen feine kulturelle, sprachliche[18] und äußerliche Differenzen auf. Einige Vlach-Gruppen wurden nach für sie charakteristischen Tätigkeiten benannt. So waren die „Churara“ traditionelle Siebhersteller (ciur; Rum. „Sieb“), die Kalderash Kesselhersteller und -flicker (caldare; rum. „Kessel“) und die Lowara Pferdehändler (lo; ung. „Pferd“). Die „Machwaya“ hingegen, welche vor der Sklavenhaltung serbische Gebiete bewohnten, wurden nach der dortigen Region „Machva“ benannt (Hübschmannová 2003: 3).[19] [20] Auch wenn sich die einzelnen Gruppen gegenseitig akzeptieren und untereinander ein kulturelles Gemeinempfinden herrscht, beansprucht dennoch jede Natsia für sich das alleinige Recht, die authentischen Roma-Gruppe zu sein. Die Markierung ethnischer Abgrenzung untereinander ist, wie später deutlich wird, von signifikanter Bedeutung (Sway 1988: 64). Lockwood nennt dabei den Begriff „pan-Gypsy sentiment“ der balkanischen Zigeuner, also eine pan-ethnische gruppenspezifische Empfindung, welche jedoch, wie er ergänzend sagt, wegen dem alltäglichen Kontakt zu den Gadsche2 und weiterer soziopolitischer Faktoren, langsam schwindet (Lockwood 1985: 97). Wie sich im Verlauf zeigen wird, betrifft diesjedoch nicht die nordamerikanischen Vlach-Gruppen.

2.3 Grundzüge und soziale Organisation der Vlach

Ein Charakteristikum der Vlach das direkt aus ihrer jahrhundertlangen Knechtschaft resultiert, sind ihr Mentalitätswandel und Konservatismus, die die kulturelle Eigenheit der Gruppe in besonderem Maße prägten. In jeder noch so strikten und gewaltsamen Unterdrückung, so Kearney (1979: 248), bleibt immer noch Raum für die Freiheit des menschlichen Geistes. So kam es einerseits zur Festigung des bestehenden Wertesystems, andererseits zur Bildung eines neuen sehr konservativen Denkmusters:

The impact of over five centuries of enslavement has very deeply affected the identity and character of contemporary Vlax-speaking Romanies. Being socially - and for most groups physically -isolated as slaves for almost their entire existence in the West, Vlax Romani language and culture, while extensively influenced by Romanian, have at the same time remained conservative in comparison with those other groups (Hancock 2010a: 129).

Dieser Charakterzug der Vlach betrifft alle Lebensbereiche der Gruppe und bezieht sich sowohl auf externe wie auch auf interne Aspekte. Abgesehen von der soeben beschriebenen slave mentality der Vlach, zeichnen sie sich durch eine stark hierarchisierte Sozialstruktur aus. Wie alle Zigeuner-Gruppen besitzen sie interne Verhaltensregeln des sozialen Lebens, sowie rechtliche Mechanismen zur Wahrung dieser Regeln. Dabei fungieren die rechtlichen Regelungen ebenfalls als Abgrenzungskriterium gegenüber anderen Gruppen. Das Fundament der Rom-Zigeuner, in dem auch der Vlach, liegt dem Grundprinzip der Romaniya zugrunde, welches eine rechtliche und moralische Instanz bildet. Sie regelt das interne soziale Leben der Vlach, das auf einem Werte- und Tabusystem basiert (Kanwar 2000: 1272). So besitzen sie strikte, geschlechterorientierte Meidungsvorschriften sowie ein damit einhergehendes striktes Schamgefühl. Dabei spielt Marime, vor allem bei den Vlach eine fundamentale Rolle. Einerseits ist es die Vorstellung der rituellen Beschmutzung, die aufgrund der Nichteinhaltung verschiedener Reinheitsvorschriften zum Vorschein kommt. Andrerseits kann es die soziale Ausgrenzung aus der eigenen Gemeinde (Weyrauch/Bell 2001: 24). Was die Vlach gegenüber allen anderen Roma und sogar Rom-Zigeunern deutlich unterscheidet, ist in welcher Weise sie die interne Gerichtsbarkeit regeln. Nur sie haben nämlich eine formelle Methode der Rechtsprechung, welche sich in Form der Kris manifestiert, einem Schiedsgericht, das aus älteren Mitgliedern bestehet und für eine friedliche Konfliktlösung zuständig ist (Lee 2001: 189). Sutherland erwähnt die bedeutendsten Identifikationsmerkmale der Vlach, auf deren Basis sie sich von anderen Gruppen abgrenzen:

For the Rom use of the language Romanes and acceptance of romania (Law and tradition), including shame (lashav) and marime as embodied in the kris, are the most important conditions for accepting someone as Rom (Sutherland 1975:17).[21]

Im Gegensatz zu den Gadsche, von denen sich die Vlach gänzlich distanzieren möchten, sehen sie alle anderen Zigeuner-Gruppen, die nicht zu den Rom-Zigeunern gehören, als eine Art „Halb-Zigeuner“ an, da diese trotz vieler Unterschiede dennoch unbestritten auch Gemeinsamkeiten aufweisen (Salo 1977: 42).

In Hinblick auf das Glaubensbekenntnis greifen Zigeuner (abhängig von regionalen und soziopolitischen Gegebenheiten) auf die römisch-katholische, jüdische, islamische und hellenische, sprich orthodoxe Religion zurück (Kearney 1979: 21ff). Wegen dem langen Aufenthalt auf dem Balkan, bekennen sich die Vlach der orthodoxen Religion bzw. den orthodoxen Ostkirchen an (Hancock 1996: 25). Dabei bilden sie, wie alle Zigeuner, einen religiösen Synkretismus, ergänzt durch hinduistische Elemente (als ehemalige Bewohner Indiens). So haben sie einen starken Glauben an Geister beibehalten sowie an den Gott О Del, welcher mit Reinlichkeit, Gesundheit und Glück verbunden wird (Silverman 1979: 130).

Überdies hinaus haben die Vlach eine auf Verwandtschaft basierende soziale Hierarchie. Die Ältesten erfreuen sich eines hohen Prestiges, denen insgesamt viel Respekt und Anerkennung endgegengebracht wird (Silverman 1979: 51).[22] Die wichtigste soziale Einheit der Rom-Zigeuner ist die Familiya d. h. die erweiterte Familie, welche durch die Tatsache, dass eine Roma-Frau im Durchschnitt fünf bis sechs Kinder bekommt, sehr groß ist (Gropper 1975: 1). Zur Familiya gehören die Eltern mit den unverheirateten, verwitweten und geschiedenen Kindern, wie auch den verheirateten Söhnen mit deren Ehefrauen und Kindern. Verheiratete Töchter wohnen hingegen bei dem Ehemann und seiner Familie. Aus der patrilokalen Heiratsfolge sowie der Zugehörigkeit des Kindes zur väterlichen Verwandtschaftsgruppe erschließt sich eine patrilineare Deszendenzform, die typisch für Rom-Zigeuner ist (Fraser 1995: 238).[23] Da die Vlach durch die Versklavung einen großen Wert darauf legen, in einer hermetischen Gemeinde, abgeschottet von den Gadsche zu leben, steht der Familiya eine wichtige Rolle zu.

[...]


[1] Der Fachbegriff Assimilierung wird wo nicht anders gekennzeichnet als einheitliche Übersetzung des englischen Fachbegriffs „Assimilation“ verwendet. Er steht nicht in Abgrenzung zum ebenfalls in der deutschsprachigen Literatur verwendeten Fachbegriff Assimilation (Siehe hierzu Aumüller 2009).

[2] Hervorhebung des Zitats wie im Original.

[3] Weitere Funktionen und Prägungen der Ethnizität werden im späteren Verlauf besprochen.

[4] Die beiden Ansätze entstanden in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Bis in die 60er Jahre ging man dabei von einem drei-Generationen-Modell aus, welches die Länge der Assimilierbarkeit der Einwanderungsgruppen darstellte (Langenfeld 2001: 285).

[5] Mit der starken Zuwanderung hatte man bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts über die Reduzierung und Quotierung der Einwanderung diskutiert. Die US-amerikanischen Einwanderungsgesetze der 20er Jahre begrenzten als Folge drastisch die Zuwanderung von Ost- und Südeuropäern sowie Asiaten, unter der Prämisse, dass so große Gruppen nicht mehr assimilierbar seien (Heckmann 1992: 165f).

[6] Abgesehen von den Gruppenbezeichnungen (z.B. Kalderash, Machwaya) werden alle Selbstbezeichnungen der Vlach, durch Kursivschrift hervorgehoben.

[7] Zur Unterscheidung zwischen dem Ober- und Unterbegriffs, wird nach Weiler die Bezeichnung Rom-Zigeuner zur Markierung der Unterkategorie verwendet (Weiler 1979: 8).

[8] Darauf sowie auf einige Unterschiede zwischen den Gruppen wird im späteren Verlauf eingegangen.

[9] Auf die Negativität der Begriffe wird später eingegangen. In Anlehnung an Gronemeyer/Rakelmann (1988) und Weiler (1979) wird neben der Bezeichnung Roma auch der Begriff Zigeuner synonym verwendet.

[10] Der Begriff hat ebenfalls verschiedene Schriftformen. Meistens wird es wie im obigen Zitat verwendet.

[11] Dies wird im nächsten Kapitel erläutert.

[12] Beide Dialektgruppen sind größtenteils unverständlich und weisen zudem viele interne, regional bedingte Varietäten auf. Die Anzahl aller Romanes-Varietäten wird anhand verschiedener Gruppierungen auf ungefähr 60 geschätzt (Fraser 1995: 302), wodurch das Romanes als Oberkategorie mittlerweile als „eine zusammenfassende Bezeichnung für die Gesamtheit derselben Mundarten“ verstanden wird (Weiler 1979: 7).

[13] So ist beispielsweise die Gleichsetzung der Sinti mit der Sesshaftigkeit und der Roma mit dem Nomadentum einigen Autoren wie z. B. Weyrauch/Bell (2001: 23) zufolge, eine abwegige und vereinfachte Fremdkategorisierung; wenn man zudem bedenkt, dass die Vlach, eine vermeintliche Roma- und somit Nomaden-Gruppe, über 500 Jahre durch die Versklavung zur Sesshaftigkeit gezwungen wurde.

[14] Die Karte der Fürstentümer (zum Zeitpunkt der Abschaffung der Sklaverei), siehe Appendix (Abbildung 2).

[15] Insgesamt sollen in Rumänien in der kompletten Periode der Knechtschaft über 500.000 Zigeuner versklavt worden sein (Hancock 1987: 33).

[16] Näheres dazu, siehe Hancock 2010b.

[17] Die Abschaffung der Sklaverei, welche den befreiten Vlach neue Reisemöglichkeiten bot, bedeutete nicht zwangsläufig das Ende der Feindseligkeiten. Während viele Vlach weiter nach Westeuropa zogen, von wo sie schließlich weiter nach Amerika reisten, siedelten sich viele in Ungarn an. Dort angekommen, waren sie erneut einer Politik ausgeliefert, welche gegenüber dieser Minderheit alles andere als gut gesinnt war. Um eine homogene Gesellschaft in Ungarn zu schaffen, wurden dort ab dem 2. Weltkrieg, unter dem damaligen kommunistischen Regime, jegliche Formen der Individualität oder wirtschaftlicher Eigenständigkeit, mit starker Faust unterdrückt. So hatte man mit allen Mitteln versucht, die Vlach sowie andere ungarischen Zigeuner­Gruppen, gerade durch ihre Andersartigkeit auffallend, in die Mehrheitsbevölkerung zu assimilieren (Stewart 1997b: 84ff).

[18] Die dialektalen Unterschiede auf dem Balkan resultieren aus der dichten Besiedlung und der Aufsplittung der dortigen Zigeuner, welche sich jeweils nach Region, Sprachgebrauch, Mobilität oder gar dem ausgeübten Beruf richten kann (Lockwood 1985: 93ff).

[19] Die Schreibformen der einzelnen Vlach-Gruppen werden unterschiedlich wiedergegeben. In Anlehnung an Nagel (1986) werden sie in dieser Arbeit wie soeben kursiviert widergegeben.

[20] Gadsche ist eine Eigenbezeichnung der Roma, die sich auf alle nicht-Zigeuner bezieht. Mangels einer Standardisierung der Schriftform, gibt es ebenfalls mehrere Schreibformen des Wortes. Gadsche entspricht der von Gronemeyer/Rakelmann (1988) verwendeten Schriftform.

[21] Die Kris welches nur charakteristisch für die Vlach ist, wird hier als Merkmal der Rom-Zigeuner allgemein genannt. So wird deutlich, dass bei Sutherland, wie auch bei anderen Autoren (z.B. Gropper 1975, Silverman 1979, Kearney 1979, Salo 1981) der Begriff Rom (zudem American Rom, American Gypsy) als Synonyme und allgemeingültige Bezeichnungen für die von ihnen erforschten Vlach-Gruppen verwendet werden. Grund dafür ist, dass der Begriff Vlach (als Fremdbezeichnung) von den Autoren nicht gebraucht wird und zudem es die einzig bekannte Rom-Zigeuner der USA sind (Sutherland 1975: 10).

[22] Die soziale Hierarchie zeichnet sich bei den Rom-Zigeunern nach der Abfolge: alter Mann, alte Frau, verheirateter Mann, verheiratete Frau, unverheirateter Mann, unverheiratete Frau, frischvermählter Mann, frischvermählte Frau, Söhne und zuletzt Töchter (Silverman 1979: 52). So ist nicht nur eine alters- und geschlechtsbedingte Rangordnung erkennbar, sondern auch eine, die sich auch nach dem Zivilstand richtet. Genaueres dazu, s. Miller (1994).

[23] Die Sinti folgen der Matrilinearität d. h. es besteht eine matrilokale Heiratsfolge; die Verehrung der Ahnen geschieht mütterlicherseits. Zudem hat der Mutterbruder eine bedeutende Stellung in der Familie (Weiler 1979: 20f).

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Die ethnische Persistenz der Roma am Beispiel der Vlach in den USA
Hochschule
Universität zu Köln  (Ethnologisches Seminar)
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
76
Katalognummer
V283265
ISBN (eBook)
9783656823711
ISBN (Buch)
9783656824589
Dateigröße
1014 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Magisterarbeit habe ich in Kongruenz mit den Korrekturen, Verweisen und Verbesserungsvorschlägen meiner Professoren überarbeitet.
Schlagworte
persistenz, roma, beispiel, vlach
Arbeit zitieren
Zaneta Nowak (Autor:in), 2013, Die ethnische Persistenz der Roma am Beispiel der Vlach in den USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/283265

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