Das Gilles de la Tourette Syndrom - Erkennen, Verstehen und Umgehen


Examensarbeit, 2002

161 Seiten, Note: 1+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

2 Die Geschichte des Tourette-Syndroms

3 Phänomenologie des Tourette-Syndroms
3.1 Definition und Beschreibung von Tics
3.2 Einteilung der Tics
3.2.1 Motorische Tics
3.2.1.1 Einfache motorische Tics
3.2.1.2 Komplexe motorische Tics
3.2.2 Vokale Tics
3.2.2.1 Einfache vokale Tics
3.2.2.2 Komplexe vokale Tics
3.3 Klassifikation der Tic-Störungen
3.4 Sensorisches Vorgefühl
3.5 Krankheitsverlauf

4 Assoziierte neuropsychiatrische Verhaltensauffälligkeiten
4.1 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
4.2 Zwangsstörungen
4.3 Mangelnde Impulskontrolle
4.4 Andere Verhaltenauffälligkeiten

5 Epidemiologie

6 Ätiopathogenese

7 Diagnostik

8 Therapie
8.1 Medikamentöse Therapie
8.2 Psychotherapie
8.3 Verhaltenstherapie
8.3.1 Selbstbeobachtung
8.3.2 Massierte Übungen
8.3.3 Entspannungstechniken
8.3.4 Kontingenzmanagement
8.3.5 Kombinationsbehandlung der Reaktionsumkehr
8.4 Alternative Methoden

9 Das Tourette-Syndrom als Behinderung
9.1 Der Begriff ‚Behinderung’
9.2 Rechtliche Bestimmungen – das Schwerbehindertengesetz

10 Psychosoziale Auswirkungen des Tourette-Syndroms - Bewältigungs- und Unterstützungsmöglichkeiten -
10.1 Stigmatisierung und deren Folgen
10.2 Familiäre Interaktion vom Krankheitsbeginn bis zur Diagnose
10.3 Bedeutung der Diagnose für Eltern und Kind
10.4 Krankheitsbewältigung durch den Betroffenen
10.5 Reaktionen der Familie
10.6 Die Bewältigung des Schulalltags
10.7 Reaktionen der Gesellschaft

11 Aspekte der Förderung durch den Lehrer
11.1 Vorbemerkung
11.2 Die Rolle des Lehrers
11.3 Der Umgang mit den Tics im Unterricht
11.4 Weitere Anregungen
11.5 Tourete-Syndrom und Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung
11.6 Tourette-Syndrom und Zwangsstörungen
11.7 Tourette-Syndrom und Impulskontrollstörung

12 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

Eidesstattliche Erklärung

Vorwort

Ich bin durch einen Beitrag in der Sendung Stern TV auf das Tourette-Syndrom aufmerksam geworden. Der Beitrag mit dem Titel „Leben mit den Tics“ zeigte einen Betroffenen, der darüber berichtete, wie er es schafft mit seinen Tics zu leben und wie er sich wünscht, dass andere auf sein ungewöhnliches Verhalten reagieren. In einem Interview beschrieb er seine vielfältigen Symptome, die er auch während des Berichts zeigte.

Ich hatte als Kind selbst Tics, die glücklicherweise in der Pubertät nachließen. Von ärztlicher Seite bekam ich jedoch nie eine Erklärung. Es wurde alles auf Nervosität abgetan.

Die eben angesprochene Fernsehsendung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Mich beschäftigte die Frage, ob ich auch ein Tourette-Syndrom hatte.

So fing ich an, das Internet nach Informationen zu durchstöbern, getrieben von dem Gedanken, endlich eine Erklärung für meine Tics zu bekommen.

Bei meiner Recherche gelangte ich auf die Homepage der Tourette-Gesellschaft-Deutschland. Dort bekam ich eine Antwort auf meine Frage. Kein Tourette-Syndrom, aber eine andere Art der Tic-Störung.

Die Informationen, die auf dieser Homepage zu finden waren beeindruckten mich sehr. So hieß es dort, dass das Tourette-Syndrom meistens in der Kindheit beginne und innerhalb der Bevölkerung relativ häufig (40000-400000 Betroffene) vorkomme, trotzdem aber in breiten Kreisen der Bevölkerung noch unbekannt sei.

Hier kam mir der Gedanke, dass es nicht unwahrscheinlich ist, als Lehrer einem Schüler mit Tourette-Syndrom zu begegnen.

Demzufolge müssten Lehrer, aber auch alle anderen Personen im schulischen Rahmen etwas über die Krankheit erfahren, informiert werden, welche Anforderungen an sie gestellt werden und Anregungen bekommen, wie der Umgang mit tourette-betroffenen Schülern erleichtert werden kann.

Die Idee, darüber eine Zulassungsarbeit zu schreiben, war geboren!

Die Literatursuche gestaltete sich allerdings als sehr schwierig. Auf dem deutschsprachigen Markt waren nur wenige Bücher zu finden. Bezüglich der schulischen Förderung, gab es außer einer kurzen Lehrerinformation von der Tourette-Gesellschaft Deutschland nichts in deutscher Sprache. Das Angebot englische Bücher war da etwas reichhaltiger. Deswegen wurden manche Themenkomplexe mittels englischer Literatur ergänzt.

Hilfreich bei der Recherche waren Informationen aus dem Internet,speziell die Seiten der Tourette-Gesellschaft Deutschland, Schweiz, USA und Canada.

Innerhalb der Diskussionsforen, die auf der Homepage der Tourette-Gesellschaft Deutschland (www.tourette.de) eingerichtet sind, konnte ich Online-Gespräche mit Betroffenen führen.

Weitere hilfreiche Informationen bekam ich von Frau Prenzel, der Ansprechpartnerin für das Tourette-Syndrom für die Region Nürnberg, die mir einiges über ihren tourette-kranken 19-jährigen Sohn erzählte.

Die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch mit ihrem Sohn ergab sich leider nicht, da Frau Prenzel gleich zu Anfang des Gesprächs betonte, dass ihr Sohn es mittlerweile geschafft habe, seine Tics zu akzeptieren. Die Krankheit sei für ihn nur noch nebensächlich. Um diesen Standpunkt beizubehalten, möchte er nicht auf seine Tics angesprochen werden. Er befürchte, dass sich die Symptome durch ein Gespräch über die Krankheit verstärken könnten. Ebenso vermeide er jeglichen Kontakt zu anderen Betroffenen, aus Angst deren Symptome zu übernehmen und wieder mit einem neuen Problem behaftet zu sein.

1 Einleitung

Menschen mit Tourette-Syndrom „tanzen aus der Reihe“(Hempel,2001). Sie sind ein Paradebeispiel für Andersartigkeit .

Aufgrund ihrer Krankheit müssen sie Sachen machen, die in der Gesellschaft nicht akzeptabel sind. Sie scheinen sich ‚schlecht zu benehmen’ und ‚geistig verwirrt’ zu sein, da sie ihren Körper nicht unter Kontrolle halten können.

Sie wissen, wie befremdend ihr Verhalten auf die Mitmenschen wirkt.

Aus diesem Grund wagen einige Betroffene den Schritt an die Öffentlichkeit. Sie treten in Talkshows auf, mit dem Anliegen die Bevölkerung über ihre Krankheit aufzuklären, so dass die Auswirkungen ihrer Behinderung besser akzeptiert werden.

Gerade in der letzten Zeit wurden immer wieder Berichte über das Tourette-Syndrom in verschiedenen Fernsehsendungen ausgestrahlt.

Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen kleinen Beitrag zur Aufklärung über die weitgehend noch unbekannte neuropsychiatrische Erkrankung zu leisten.

Mein Anliegen besteht darin, dem Leser und speziell dem Lehrer einen Überblick über das Tourette-Syndrom zu vermitteln, ihn für das Tourette-Syndrom zu sensibilisieren, und ihm zu einem besseren Verständnis der Krankheit zu verhelfen, um somit einen respektvollen Umgang mit Betroffenen zu ermöglichen.

Die Arbeit gliedert sich in zwölf Kapitel.

Im Anschluss an das einleitende Kapitel folgt ein geschichtlicher Abriss des Tourette-Syndroms. Handelt es sich um eine neuzeitliche Erkrankung oder gab es das Tourette-Syndrom auch schon in anderen Epochen? Wer entdeckte die Krankheit und woher hat sie ihren Namen?

Kapitel drei befasst ich mit der Phänomenologie, dem Klinischen Erscheinungsbild des des Tourette-Syndroms. Das Krankheitsbild wird in die Reihe der Tic-Störungen eingeordnet und aufgezeigt, wie sich der Verlauf der Krankheit gestaltet.

Der darauffolgende Abschnitt - Kapitel 4 - beschreibt die oft mit dem Tourette-Syndrom einhergehenden neuropsychiatrische Verhaltensauffälligkeiten.

Wie weit das Tourette-Syndrom verbreitet ist, wie viele Betroffene es in Deutschland gibt, wird in Kapitel fünf dargestellt.

Im nächsten Kapitel wird den Ursachen der Krankheit auf den Grund gegangen.

Kapitel sieben widmet sich der Diagnosestellung und danach werden die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten, die bisher beim Tourette-Syndrom Anwendung gefunden haben,vorgestellt.

Kapitel neun befasst sich kurz mit den behinderungsspezifischen Aspekten des Tourette-Syndroms.

In Kapitel zehn wird den psychosozialen Auswirkungen des Tourette-Syndroms nachgegangen. Im Mittelpunkt stehen hier die Bewältigungsstrategien, die der Betroffene und dessen Familie entwickelt, sowie die Reaktionen des näheren Umfeldes und der Gesellschaft.

In Kapitel elf werden die Ansprüche, die betroffene Kinder an Lehrer stellen erläutert und Anregungen gegeben, wie der Lehrer mit betroffenen Kindern umgehen kann und welche Förderungsmöglichkeiten sich ihm bieten.

Abschließend werden in einem letzten Kapitel alle Ergebnisse noch einmal kurz zusammengetragen.

Das Tourette-Syndrom wird innerhalb der Literatur auch ‚Gilles de la Tourette-Syndrom’ – nach dem vollständigen Namen des Arztes – genannt. In dieser Arbeit verwende ich nur die Bezeichnung Tourette-Syndrom.

Aus Gründen der Vereinfachung der Lektüre wird stets die männliche Form verwendet, innerhalb derer die weibliche Form mit eingeschlossen ist.

2 Die Geschichte des Tourette-Syndroms

Bis heute weiß niemand, wie lange es das rätselhafte Syndrom schon gibt und dennoch wirkt das Erscheinungsbild von TS-Betroffenen von jeher faszinierend auf die Mitmenschen.

Man steht einem Menschen gegenüber, der Verhaltensweisen zeigt, die für die Gesellschaft nur schwer zu akzeptieren sind. Diese Andersartigkeit der Personen wirkt zum einen abschreckend, weckt aber auch gleichzeitig Neugierde.

Durch diese Faszination kam es in der Vergangenheit zu zahlreichen Personenbeschreibungen und zu Mutmaßungen über die Ursachen dieser Krankheit.

In fast allen geschichtlichen Epochen finden sich Beschreibungen dieser Tic-Erkrankung.

Ob es sich in diesen nun folgenden Beschreibungen wirklich um das Tourette-Syndrom, handelt, darüber lässt sich nur spekulieren. Es geht hier also nicht um eine nachträgliche Attestierung des Tourette-Syndroms, sondern vielmehr darum, zu belegen, dass diese Erkrankung schon immer als Andersartigkeit aufgefallen, ja sogar hervorgestochen ist und der adäquate Umgang mit Betroffenen die Menschen damals wie heute vor eine Herausforderung stellt.

Die älteste Erwähnung ist etwa 2000 Jahre alt und stammt von dem griechischen Gelehrten, Arzt und Hippokrates-Schüler Aretios von Kappadokien. Er beschrieb „Fälle von Zuckungen, Grimassenschneiden, Gebell, plötzlichen Flüchen und unvermittelten blasphemischen Äußerungen...“[1] ( zitiert nach Hartung,1995, S.123). So berichtet er von einem ihm bekannten Handwerker, der während der Arbeitszeit völlig unauffällig war, anschließend seinen Tics aber freien Lauf ließ:

Ein Zimmermann war in seinem Geschäft ein ganz tüchtiger Mann. Er verstand es sehr gut, das Holz abzumessen, zu spalten, zu glätten, mit Nägeln zu befestigen, aneinander zu fügen, ein Gebäude mit vielem Geschick aufzubauen, mit seinem Lohnherrn zu unterhandeln, Contrakte abzuschließen und den gehörigen Lohn für die Arbeit auszubedingen. Befand er sich auf seinem Bauplatz, so war er vollkommen bei Verstande. Wenn er aber auf den Markt oder in das Bad oder anderswohin gehen wollte, so legte er seine Werkzeuge weg, seufzte erst einmal und zog dann beim Fortgehn die Schultern in die Höhe. Hatte er sich nun aus dem Gesichte der Gesellen, von seinen Arbeit und dem Wegplatze entfernt, so verfiel er in die vollste Raserei. War er dann wieder zurückgekehrt, so hatte er auch sogleich seinen Verstand wieder.(zitiert nach Hartung, 1995, S.124)

Da Aretios für dieses Verhalten keine wissenschaftlich fundierte Erklärung finden konnte, führte er die Krankheit auf den ‚Einfluss der Götter’ zurück oder machte ‚Manie’ und ‚Wahnsinn’ dafür verantwortlich (ebd., S.123).

Auch bei anderen bekannten Persönlichkeiten vermutet man heute, dass sie unter einer Form der Ticstörung litten.

Historische Aufzeichnungen des römischen Biographen und Geschichtsschreibers Svetonius stellen den römischen Imperator Claudius (10 v. Chr.- 54 n.Chr.) folgendermaßen dar:

Claudius besaß eine gewisse würdevolle Erscheinung, die sich am ehesten dann zu seinem Vorteil zeigte, wenn er saß oder stand und keine Gefühlsregung zeigte. Denn obwohl er groß, gut gebaut und ansehnlich war sowie einen feingeschnittenen Kopf mit weißem Haar und einen schönen Nacken besaß, stolperte und wackelte er, wenn er ging, wohl wegen der Schwäche seiner Knie. Wenn er durch das Spiel oder das ernsthafte Geschäft erregt war, hatte er einige unangenehme Merkmale aufzuweisen. Es handelte sich dabei um unkontrolliertes Lachen, Speichelfluß im Bereich des Mundes, eine ‚laufende’ Nase, stammeln und anhaltende nervöse Tics. Diese nahmen unter emotionaler Belastung so stark zu, dass sein Kopf von einer Seite zur anderen flog.(zitiert nach Rothenberger,1991, S.200)

Aus der Zeit des Mittelalters stammt eine Sammlung verschiedenster Schriften über und gegen das Hexenwesen. 1487 erschien das von den dominikanischen Inquisitoren Heinrich Institoris und Jakob Sprenger verfasste Buch Der Hexenhammer oder lateinisch Malleus maleficarum, ein Kompendium des Hexenglaubens, das als ‚Hexenprozessordnung’ diente.

Im „Hexenhammer“ wird über einen Priester berichtet, von dem heute angenommen wird, dass er an den Symptomen des Tourette-Syndroms litt.

Wenn er beim Vorübergehen an einer Kirche die Kniee zur Begrüßung der glorreichen Jungfrau beugte, dann streckte der Teufel [der Priester glaubt vom Teufel besessen zu sein] seine Zunge lang aus seinem Munde heraus, und befragt, ob er sich dessen nicht enthalten könnte antwortete er. „Ich vermag das durchaus nicht zu tun, denn so gebraucht er alle meine Glieder und Organe, Hals Zunge und Lunge, zum Sprechen oder heulen, wenn es ihm gefällt. Ich höre zwar die Worte, die er so durch mich und aus meinen Gliedern heraus spricht; aber zu widerstreben vermag ich durchaus nicht. Und je andächtiger ich einer Predigt zu folgen wünsche, desto schärfer setzt er mir zu, indem er die Zunge heraussteckt“. (Sprenger/Institoris, 1991,S.112)

Diese Tic-Symptomatik konnten sich die Zeitgenossen nur damit erklären, dass diese Menschen von Dämonen besessen seien, die sie zu solch ungewöhnlichem Verhalten zwingen. Um die Dämonen wieder auszutreiben bediente man sich des Exorzismus. Zeigte dieser keine Wirkung blieb nur noch die „‚reinigende Kraft des Feuers’, um die angeblichen Hexen und Dämonen auf ewig zu verbannen und die Seele der ‚Besessenen’ zu retten“ (Hartung, 1995,S.126).

In der Literatur werden noch weitere historische Persönlichkeiten erwähnt, denen Wissenschaftler heute nachträglich eine Tic-Erkrankung zuschreiben.

Die Rede ist beispielsweise von Prince de Condé , einem Adligen am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XΙV, der sich alle greifbaren Gegenstände in den Mund steckte, um seine Schrei- und Bellgeräusche zu unterdrücken, von Napoléon, Molière und Wolfgang Amadeus Mozart.

Um Mozart gibt es zahlreiche Spekulationen.

Mozart bediente sich zu gern der Fäkalsprache, wie es in den Briefen an seinen geliebte Bäsle deutlich wird:

...jetzt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins Bett, dass es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund...leben sie recht wohl, ich küsse sie 1000mal und bin wie allzeit der alte junge Sauschwanz Wolfgang Amadé Rosenkranz . (Mozart, zitiert nach Hildesheimer in: Hartung, 1995, S.127)

Manche Wissenschaftler sehen heute Anzeichen für einen vorhandene Koprolalie, ein zwanghaftes Ausstoßen von Obszönitäten.

Dale Hammerschmidt, Professor an der Universität von Minnesota schreibt dazu folgendes:

„Wolfgang Amadeus Mozart hatte eine Anzahl von Eigenartigkeiten, die vermuten lassen, daß er eine neural bedingte Verhaltensstörung - eventuell sogar ein Tourette-Syndrom (TS) gehabt haben könnte...“(www.hypies.com/ts/mozartts.html, Stand: 30.04.2001).

Jedoch weist er auch daraufhin, dass viele Berichte, die von Mozarts Hyperaktivität, seinen Zwängen und seiner Neigung zu Obszönitäten berichten, aus der Zeit stammen, aus der bekannt ist, dass er an Glomerulo-Nephritis litt, einer Nierenkrankheit die später auch sein Leben nahm. „Ruhelosigkeit, Nervenzucken, Grimassieren, Tics (und manchmal gröbere Muskelkrämpfe) - das sind alles auffällige Anzeichen dieser Krankheit- oder zumindest waren sie es in den Tagen, bevor es wirksame Behandlung gab“ (ebd.).

Es scheint also fraglich, ob Mozart tatsächlich TS gehabt hat, unter anderem auch aus dem Grund, dass in der medizinischen Fachliteratur keinerlei Berichte über schriftliche Koprolalie existieren. Ebenso darf man nicht vergessen, dass Alkoholgenuss auch eine mögliche Ursache dieser Aussagen sein kann (ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Jean Gaspard Itard (1775-1838) beschrieb im Jahre 1825 zum ersten Mal das Phänomen der Tics. Er schilderte das auffällige Verhalten einer Patientin, namens Marquise de Dampièrre, einer französischen Adelsdame. Die damals 26-jährige Madame de Dampièrre litt seit ihrem 7.Lebensjahr zunächst unter krampfhaften Kontraktionen der Hand- und Armmuskeln, später kamen noch Körperverdrehungen, außerordentliche Grimassen, bizarre Schreie und das Ausstoßen sinnloser Wörter hinzu ( Shapiro und Shapiro, 1978).

In einem Artikel, der in der Zeitschrift ‚ Archives Generales de Médecine’ veröffentlicht wurde, hieß es:

In the midst of a conversation that interests her extremely... all of a sudden, without being able to prevent it, she interrupts what she is saying or what she is listening to with bizarre shouts and with words that are even more extraordinary and which make a deplorable contrast with her intellect and her distinguished manners. These words are for the most part gross swear words and obscene epithets and, something that is no less embarrassing for her then for the listeners, an extremely crude expression of a judgment or of an unfavourable opinion of someone in the group . (Kushner, 1999, S.10)

Einige Jahre nach Itards Beschreibung nahm sich auch der bekannte Neurologe Jean Martin Charcot , Lehrer und Vorgänger von Georges Gilles de la Tourette, dem Fall der Marquise de Dampièrre an. Er beobachtete ihre Symptome, die schon mehrere Jahrzehnte andauerten bis zu ihrem Tode 1884. Madame de Dampièrre starb im Alter von 86 Jahren, ohne, dass sie ihre gesellschaftliche Stellung je verlor. Auch Jahre nach ihrem Tod erschienen in den französischen Zeitungen immer wieder Artikel, die über ihre Tics berichteten und Listen mit obszönen Wörtern, die sie zu verwenden pflegte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im Jahre 1885 veröffentlichte Charcots Schüler, der französische Neurologe Georges Gilles de la Tourette (1857-1904) neben acht anderen Fällen auch den der Madame de Dampièrre.

Er präsentierte seine auf historischen und eigenen Beobachtungen basierende Fallstudie in der Zeitschrift „Archive de Neurologie“ mit dem Titel „Untersuchung über einen Nervenstörung, die durch Auffälligkeiten der motorischen Koordination gekennzeichnet und von Echolalie und Koprolalie begleitet ist“ (Rothenberger,1991, S.175) .

Der Originaltitel in französischer Sprache lautete: » Étude sur une affection nerveuse caractérisée par l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et de coprolalie» (www.tourette.ch/tgs/wer_war_tourette.html, Stand: 30.04.01).

Das bisher noch namenlose Syndrom wurde nun zum ersten Mal kategorisiert und von anderen neurologischen Erkrankungen abgegrenzt, denn in der Vergangenheit wurde das Tourette-Syndrom oft mit Epilepsie verwechselt.

Als charakteristisch für das Syndrom beschrieb Gilles de la Tourette „ein konvulsivisches Zucken, unfreiwilliges Wiederholen von Wörtern oder Handlungen anderer (Echolalie und Echopraxie) sowie das zwanghafte Ausstoßen von Obszönitäten oder Flüchen (Koprolalie)“ (Hartung, 1995,S.130).

Weiterhin stellte er fest, dass Männer öfter von dieser Krankheit betroffen waren als Frauen und viele Patienten überdurchschnittlich intelligent waren.

Außerdem fand er heraus, dass sich die Patienten ihres Zustandes stets bewusst waren und die Symptome von Patient zu Patient variierten.

Gilles de la Tourette konnte Häufungen von Tic-Störungen innerhalb der Familie feststellen, womit er den Weg der genetischen Forschung vorzeichnete, der jedoch erst Ende der 70er Jahre aufgegriffen wurde.

Viele seiner Beobachtungen und Erkenntnisse haben bis heute Gültigkeit, nur in einem Punkt wurde Tourette korrigiert. Da sich unter seinen Patienten nur Erwachsene befanden, zog er den Schluss, dass es sich bei der Krankheit um ein lebenslanges chronisches Leiden handeln würde.

Erst in den letzten Jahren wurde Tourette s Annahme revidiert, denn nach Angaben von Rothenberger (1991) gibt es immer wieder Tourette -Patienten, die eine vollkommene Remission der Störung erreichen oder zumindest eine deutliche Verbesserung, und zwar im späten jugendlichen Alter und frühen Erwachsenenalter. Wie häufig dies vorkommt, kann noch nicht gesagt werden, die Zahlen schwanken zwischen 3-18%.

Die Krankheit der Tics, ‚Maladie des Tics’ erhielt nun Tourette zu Ehren seinen Namen. „Charcot rewarded Tourette for his brilliant characterization and description of the symptoms and their developmental course by naming his new disease entity after him” (Shapiro and Shapiro,1978, S.18).

Nach Tourettes Tod kam es zu einer Reihe wildester Spekulationen und Deutungen dieser Krankheit. Nach Shapiro und Mitarbeitern (1978) lässt sich die Literatur über Tic Störungen, speziell über das Tourette-Syndrom in sieben Phasen einteilen, jede mit einem eigenen charakteristischen Vorgehen bezüglich des Untersuchens, Verstehens und Behandelns der Patienten mit Tic-Störungen.

Die erste Phase von 1825-1900 schließt 23 Veröffentlichungen ein, unter denen sich auch die von Gilles de la Tourette befand. Das Anliegen bestand darin, die Krankheit von anderen neurologischen Auffälligkeiten abzugrenzen und eine charakteristische Symptomatik aufzudecken. Die Forscher führten die Krankheit auf seelische Instabilität oder auf Vererbung zurück. So wurde das innerfamiliäre Vorkommen von Tic-Erkrankungen zwar untersucht, aber Erklärungen dafür, wie die Vererbung von statten geht, gab es noch nicht.

Die zweite Phase begann kurz vor 1900, als sich Ärzte, Neurologen und Psychiater zunehmend für die Psychologie der Patienten, der Krankheiten und der Menschen überhaupt interessierten. Demzufolge wurden psychische Faktoren für die Krankheit verantwortlich gemacht.

In der dritten Phase, etwa von 1921-1955 dominierten psychoanalytische Theorien. „Tics und Tourette-Syndrom wurden u.a. als eine Neurose charakterisiert, die der Hysterie gleich und einen organischen Faktor beinhalte“ (Rothenberger,1991, S.5).

Die Autoren zu dieser Zeit waren bestrebt spezifische Persönlichkeitstypen oder dynamische Konflikte bei den Patienten aufzudecken.

Die organische und konstitutionelle Komponente war gewöhnlich charakterisiert durch einen unbewussten muskulären Erotizismus gegenüber dem Vater, Abwehrtendenzen gegenüber lustbetontem Daumenlutschen, narzißtischem Onanismus, analem Sadismus, gehemmten Aggressionen oder zwanghaften Impulsen. Denn in jedem Falle meinte man, der Tic sei symbolisches Ausdrucksverhalten eines zugrundeliegenden Konflikts, dessen Spezifität nicht zu finden war. (Rothenberger,1991, S.5)

Diesen tiefenpsychologischen Ansätzen stand selbst Freud , der Begründer der Psychoanalyse kritisch gegenüber und äußerte sich mit den Worten: „Es dürfte sich da um etwas Organisches handeln“(ebd).

Innerhalb der Jahre 1954-1965, der vierten Periode, folgten einige epidemiologische Studien. Die Studien wurden an einer Vielzahl von Tourette-Patienten durchgeführt, so dass die Ergebnisse repräsentativer wurden.

Die fünfte Phase begann Mitte der 50er Jahre mit der Einführung von Psychopharmaka zur Behandlung von Tics und des Tourette-Syndroms. 1961 konnte die erste erfolgreiche Behandlung einzelner Patienten mit dem Medikament Haloperidol verzeichnet werden. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte man sich wieder an die Vermutung, dass die Krankheit organische Ursachen habe. Die Beziehung des Neurotransmitters Dopamin zu den Basalganglien wurde bekannt.

Parallel dazu entwickelte sich eine sechste Phase, in der Tic-Störungen erstmals unter lern- und tiefenpsychologischen Gesichtspunkten betrachtet wurden.

Die siebte und letzte Phase seit 1975 ist charakterisiert durch die verschiedensten biologisch-datenorientierten Studien. In dieser Zeit erfuhr eine größere Anzahl an bisher nicht identifizierten und nicht diagnostizierten Patienten von ihrer Störung. Es wurden sowohl psychologische Aspekte als auch biologische Aspekte in Betracht gezogen.

Die medizinische Forschung in Bezug auf das Tourette-Syndrom ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Wünschenswertes Ziel bleibt es immer noch die Ursachen der Krankheit zu erkennen, um diese dann auch adäquat behandeln zu können.

„Die moderne Tourette-Forschung versucht das Syndrom in seiner gesamten Komplexität zu begreifen und sieht das Leiden als kombinierte ‚biopsychosoziale’ Funktionsstörung, für deren weitere Erforschung eine enge Zusammenarbeit unterschiedlicher medizinischer Fachgebiete unabdingbar ist“ (Hartung,1995,S.134).

3 Phänomenologie des Tourette-Syndroms

3.1 Definition und Beschreibung von Tics

Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, auch Tourette-Syndrom (TS) genannt, ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch Tics charakterisiert ist. Das Tourette-Syndrom fällt unter die Kategorie der Tic-Störungen und stellt die am massivsten ausgeprägte Unterform dar. Hier soll zunächst das Phänomen der ‚Tics’ an sich vorgestellt werden, um dann später die verschiedenen Tic-Störungen zu klassifizieren (siehe Punkt 3.4).

Ein Tic (franz.: Gesichts-, Nervenzucken) bezeichnet eine „meist automatisch, gelegentlich willkürlich beeinflussbare, plötzlich einsetzende Muskelzuckung... [ursächlich] in Zusammenhang mit Erkrankungen des extrapyramidalen Systems, z.B. Gilles-de-la-Tourette-Syndrom...“(Pschyrembel, 2002, S.1662).

Das in unserer Umgangssprache oft gebrauchte Wort ‚Tick’, im Sinne von ‚jemand tickt nicht richtig’, hat mit dem Beschriebenen nichts gemein. ‚Tic’ bezeichnet ein spezielles neurologisches Symptom.

Prof. Dr. Aribert Rothenberger, Experte auf dem Gebiet der Tic-Störungen und speziell der Tourette-Forschung an der Universität Göttingen definiert Tics folgendermaßen:

Tics treten als unwillkürliche Bewegungen oder vokale/verbale Äußerungen auf, bei denen funktionell zusammenhängende Skelettmuskelgruppen eines Körperbereichs gleichzeitig bzw. nacheinander beteiligt sind. Die Tics sind plötzlich einschießend, kurzdauernd, unerwartet, stereotyp wiederkehrend; in der Intensität, Häufigkeit und Art schwanken sie und erscheinen in zeitlich unregelmäßiger Folge. (Rothenberger, 1991,S.9)

Die Bezeichnung ‚unwillkürlich’ kann zu Verwirrungen führen und wird oft falsch interpretiert, da es Betroffenen häufig gelingt, ihre Symptome für kurze Zeit zu unterdrücken. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine vollständige Unterdrückung der Tics, sondern vielmehr um ein zeitliches Hinauszögern schwerer Tic-Entladungen. Dieses Hinauszögern verlangt sehr viel Konzentration und Anstrengung. Irgendwann wird der Drang den Tic rauszulassen so groß, dass ihm nachgegeben werden muss. In den seltensten Fällen kann der Tic ganz unterdrückt werden. Gerade in der Öffentlichkeit, in der Schule oder Arbeit versuchen Betroffene ihre Tics zu unterdrücken. Sobald sie sich dann in geschützter, vertrauter Umgebung befinden, wie etwa zu Hause, lassen sie ihren Tics freien Lauf (Rothenberger und Banaschewski,2001).

Tics können durch bestimmte Faktoren beeinflusst werden.

Wenn ein Betroffener über seine Tics spricht, beispielsweise in einem Interview, dann kann dadurch das Auftreten der Tics verstärkt werden oder ‚alte’ Tics treten wieder in Erscheinung (Leckman et al.,2001).

Ebenso können Tics in Zusammenhang mit ärgerlicher oder freudiger Erregung oder auch innerlicher Anspannung und Stress verstärkt werden. In entspanntem Zustand oder durch Konzentration auf eine willkommenen Aufgabe lassen sie meistens nach (Rothenberger und Banaschewski,2001).

Einigen Betroffenen nach, ist es auch möglich, dass man Tics von anderen Personen übernimmt. So meiden manche das Treffen mit Gleichgesinnten, um das ‚sich Einnisten’ von ‚fremden Tics’ zu vermeiden. Dies erklären sich Forscher mit dem zwanghaften Verhalten, das mit Tourette-Syndrom verbunden sein kann (ebd.).

Es kann auch sein, dass ein Betroffener willentlich eine bestimmte Handlung durchführt (z.B. berührt er etwas oder er küsst jemanden), aus der sich dann ein Tic entwickelt (ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1:Titelbild bei Hartung (1995)

Das folgende Bild zeigt einen Tourette-Patienten, während eines Tics:

Um sich als Nicht-Betroffener den Ablauf eines Tics besser vorstellen zu können, ist es hilfreich das Vorgehen eines Schluckaufs näher zu betrachten.

Denn wenn wir Schluckauf haben, dann können wir diesen zwar für eine gewisse(n) Zeit unter Kontrolle halten, aber dann merken wir, wie dieser Drang immer mehr nach Erfüllung des Bewegungsimpulses verlangt; und nach kurzer Zeit müssen wir dann dem Schluckauf freie Bahn geben. Wenn der Schluckauf schließlich kommt, geht eine gewisse Zuckung durch unseren Körper. Das entspricht ungefähr dem ausgeführten Tic. (Rothenberger und Banaschewski,2001, S.128)

Eine weiteres ähnliches Vorgehen vollzieht sich, wenn man abends im Bett liegt, man ist schon fast am Einschlafen und plötzlich durchfährt ein Zucken den ganzen Körper. Nach dem Zucken ist man entspannt und schläft ein. Eine solche Zuckung zu verspüren, kann mit dem Erleben eines Tics verglichen werden.

3.2 Einteilung der Tics

Zunächst unterscheidet man motorische und vokale Tics, die wiederum hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades in einfache und komplexe Formen unterschieden werden.

3.2.1 Motorische Tics

3.2.1.1 Einfache motorische Tics

Einfache motorische Tics kennzeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr rasch, plötzlich einschießend und nicht zweckgerichtet sind. Primär treten sie im Bereich der oberen Extremitäten auf. Am häufigsten sind Gesicht und Kopf betroffen, danach folgen die Schultern und Arme. In eher selteneren Fällen verlagern sich die Tics auf die unteren Extremitäten, sprich Rumpf und Beine. Die Tics können für den Betroffenen schmerzhaft sein, ihn in peinliche Situationen bringen, zu unmöglichen Zeitpunkten auftreten und somit die Mitmenschen brüskieren (Rothenberger, 1991).

Beispiele:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2.1.2 Komplexe motorische Tics

Im Gegensatz zu den einfachen motorische Tics sind komplexe oft langsamer und scheinbar zweckgerichtet.

Komplexe motorische Tics gehen oft einher mit dem Drang nach Berührungen, Schlagen oder Beißen eigener Körperteile. Selbstdestruktives Verhalten kann ebenso auftreten.

Beispiele:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Innerhalb der komplexen motorischen Tics werden noch besondere Formen unterschieden, wie Kopropraxie, Echopraxie und Touching, die dem Betroffenen erhebliche Probleme im Umgang mit Mitmenschen bereiten können.

Bei Kopropraxie zeigen TS- Patienten Bewegungen mit obszönem Inhalt. Dies können Berührungen der eigenen Geschlechtsteile, unanständige Gesten, sowie das Zeigen des Mittelfingers (‚Stinkefinger’) oder Masturbationsbewegungen sein.

Echopraxie (auch Echokinese genannt) umfasst das Imitieren von Handlungen und Gesten anderer Personen. Die Beobachtungen verankern sich so fest im eigenen Denken, dass beim Betroffenen ein starker, nicht mehr unterdrückbarer Drang entsteht, diese Handlungen auch auszuführen. So ist es möglich, dass sich aus der Nachahmung ein neuer Tic entwickelt

Touching bezeichnet das unwillkürliche Berühren von Gegenständen und Personen. Häufig handelt es sich lediglich um ein kurzes Antippen, seltener ist es mit Berührungen des Gegenübers in dessen Brust-, Gesäß- oder Genitalbereich verbunden ((Rothenberger, 1991; Banaschewski und Rothenberger,2001).

3.2.2 Vokale Tics

Vokale Tics werden genauso wie die motorischen Tics, je nach Schweregrad in einfache und komplexe Formen unterteilt.

3.2.2.1 Einfache vokale Tics

Hier werden vom Betroffenen sprachlich bedeutungslose Laute und Geräusche produziert, die plötzlich ausgestoßen werden.

Einfache vokale Tics sind beispielsweise :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.2.2.2 Komplexe vokale Tics

Der Unterschied zu den einfacheren Formen liegt darin, dass die Äußerungen linguistisch bedeutungsvoll sind. Einzelne Wörter, Phrasen und zum Teil ganze Sätze werden ausgesprochen, die allerdings in keinerlei Zusammenhang mit dem Gesprächsthema stehen.

Beispielsätze:

- „Wau – oh ja – oh Mann, jetzt hast du’s gesagt – jupp, das ist es –aber aber aber... – richtig, richtig... – ach ja, ach ja...“
- „Sei still, hör auf, ok ok, ist klar, ist klar. Es geht mir besser – richtig richtig“ (Rothenberger, 1991,S.16ff)

Für den Gegenüber entsteht oft der Eindruck, als ob der Betroffene stottern oder stammeln würde. Gehäuft treten diese Symptome bei Sprechpausen oder zu Beginn eines Satzes auf, so dass es dem Betroffenen Schwierigkeiten bereitet oder ihn sogar blockiert, das zu sagen was er eigentlich möchte (ebd).

Weiterhin kann es während des Sprechens zu Veränderungen der Lautstärke kommen, eine übermäßige Betonung bestimmter Wörter oder gar ein merkwürdiger Sprechakzent kann sich entwickeln.

Wie bei den motorischen Tics gibt es auch hier Sonderformen, wie die , Palilalie, Echolalie und Koprolalie, die sich belastend auf das soziale Miteinander auswirken können.

Bei Palilalie wiederholt der Betroffene selbstgesprochene Wörter, Silben oder Satzteile. Liegt eine stark ausgeprägte Form vor, dann hat das Ähnlichkeit mit dem Stottern, gelegentlich treten sogar Sprechblockaden auf.

Beim Phänomen der Echolalie wiederholt der Betroffene gehörte Wörter oder ganze Sätze anderer. Dies geschieht völlig grundlos. Oft handelt es sich um „Sprechweisen, die der Patient im Grunde als dumm, geschmacklos oder sogar als vulgär betrachtet“ (Rothenberger, 1991,S.20).

Bei der Koprolalie werden sozial wenig akzeptable Wörter mit obszönem Inhalt unwillkürlich herausgeschleudert. „Die plötzlich einschießenden, explosiven Äußerungen von unflätigen und schmutzigen Wörtern oder mehr oder weniger ausführlichen sexuellen und aggressiven Kurzaussagen sind für den Patienten und seine Umgebung besonders unerfreuliche Erscheinungen“(Rothenberger,1991,S.19).

Beispiele für Koprolalie nach Rothenberger (1991):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Hintergründe dieses Phänomens sind heute noch unbekannt. Zahlreiche Spekulationen reichen vom zufälligen Auftreten obszöner Worte bis hin zu teilweise willentlichen Provokationen. Die Forscher vermuten einen Kurzschluss im „Wächter-System“ des Zentralnervensystems, welches normalerweise die Aufgabe hat, solche Äußerungen zu verhindern (www.tourette.de/foren Stand: 15.02.2002).

Nach Angaben von Leslie Packer (1994) tritt die Koprolalie erst 4-7 Jahre nach dem Beginn der ersten Tics auf. Weiterhin schreibt sie, dass weniger als 30% aller

Tourette-Betroffenen dieses Symptom entwickeln (www.tourettesyndrome.net Stand:15.02.2002).

Weiterhin ist auch die gedankliche Koprolalie zu erwähnen. Dem Patienten schießen plötzlich „unsinnige Gedanken über anstößige oder obszöne Wörter, Ausdrücke oder Sätze“ in den Kopf (Rothenberger,1991, S.239).

Sie grenzt sich insofern von wirklichen Zwangsvorstellungen ab, als dass hier nicht einmal versucht wird die Gedanken zu ignorieren, zu unterdrücken oder zu neutralisieren (ebd.).

Um sich einen Eindruck von der Koprolalie zu verschaffen, zitiere ich nun eine Textstelle, in der Marcel Weickart bei Hartung (1995) über seine Koprolalie spricht und auf die Frage antwortet, warum er gerade diese Wörter verwendet. Die von ihm koprolalisch verwendeten Ausdrücke sind kursiv geschrieben.

‚Ich bin jedenfalls kein Sexmonster ... Vom Sinn der Worte, ficken, verbinde ich damit nichts. Ich verbinde damit, was jeder andere auch damit verbindet. Es ist nicht so, dass es eine bestimmte Bewandtnis hat, genau diese Worte auszusprechen, weil es für mich eine besondere Bedeutung hätte, ficken, ich zum Beispiel sexuell frustriert wäre oder Erlebnisse gehabt hätte in meiner Kindheit, die in die Richtung gehen. Ich muß nichts kompensieren, ficken, und habe kein starkes Bedürfnis, sexuelle Dinge auszuleben oder so. Damit hat es nichts zu tun, es ist wahllos. Ich könnte genauso ›Kuchen‹, ›Kaffeetasse‹ oder ›Wurstbrot‹ sagen, aber es sind eben diese Worte. Ich glaube, weil es provokativ ist. Dass ist der einzige Aspekt. Ich sage nicht bewusst, dass ich provozieren will, aber es scheint etwas in mir zu sein, was damit zu tun hat.’( Hartung,1995, S.77)

Neben dem hier zitierten Wort ‚ficken’, verwendete Marcel während des Interviews, das Sven Hartung durchführte, auch Wörter wie ‚bumsen’, ‚ Arschficker’, ‚Arschloch’, ‚tot’. Die Unterhaltung wurde oft durch diese Wörter unterbrochen.

3.3 Klassifikation der Tic-Störungen

Wie schon erwähnt ist das Tourette-Syndrom eine Tic-Störung. Die Tic-Störungen werden aufgrund des vorliegenden Chronifizierungsgrades und des isolierten bzw. gemeinsamen Auftretens von motorischen und/ oder vokalen Tics anhand der üblichen empirisch entwickelten Klassifikationssysteme ICD-10 (WHO,1990)2, DSM IV (APA,1994)3 eingeteilt:

Tab.1: Klassifikation de Tic-Störungen (Banaschewski und Rothenberger, 1997,S.205)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.4 Sensorisches Vorgefühl

Nachdem schon beschrieben wurde, wie sich ein Nicht-Betroffener den Ablauf eines Tics vorstellen kann, stellt sich nun die Frage, was ein TS-Betroffener selbst von seinen Tics verspürt.

Einige Betroffene - hauptsächlich Erwachsene, Kinder weniger - empfinden ein sensorisches Vorgefühl, das unmittelbar vor einem Tic wahrgenommen wird. Dieser ‚Sensorische Tic’ zeigt sich durchschnittlich erst drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome. Dieses Vorgefühl kann sich in Form von innerer Unruhe, einem Kribbeln im Bauch oder einem Spannungsgefühl in bestimmten Körperregionen äußern, insbesondere entlang des Schultergürtels, im Nackenbereich und an Händen und Füßen (Lang, 1993; Leckman et al., 2001).

Nimmt ein Betroffener diese Gefühle wahr, so wird er versuchen die Bewegungen und Lautäußerungen zu unterdrücken. Das gelingt aber meistens nur kurzfristig, denn innerhalb von Sekunden oder Minuten steigt dieses sensorische Empfinden derart an, dass dem Betroffenen nichts anderes mehr übrig bleibt, als seinen Tics freien Lauf zu lassen (Rothenberger und Banaschewski,2001).

Rothenberger (1991) vergleicht dieses Ansteigen der Empfindungen mit dem Druck in einem Dampf-Topf. „Der Druck in einem Dampf-Topf wird so groß, daß der Deckel bald abspringen muß“( S.22).

Nachdem sich der Tic entladen hat, erlebt der Betroffene für kurze Zeit einen Zustand der inneren Ruhe, er weiß aber genau, dass sich schon nach Sekunden eine neue Welle innerer Anspannung anbahnt und sich die ganze Prozedur, vielleicht in einer anderen Körperregion wiederholt.

Einige Betroffene beschreiben dieses Gefühl folgendermaßen:

A need to tic is an intense feeling that unless I tic or twitch, I feel as if I am going to burst. Unless I can physically ‘tic’, all of my mental thoughts centre on ‘ticking’ until I am able to let it out. It’s a terrible urge that needs to be satisfied… (Leckman et al., 2001, S.4)

Ein anderer Tourette-Patient berichtet:

I guess it’s a sort of an aching feeling, in a limb or a body area, or else in my throat, if it precedes a vocalization. If I don’t relieve it, it either drives me crazy or begins to hurt (or both)- in that way it’s both mental and physical. (ebd.)

Nach Aussagen der Patienten wird dieses Vorgefühl oft belastender empfunden als die Tics an sich.

Gerade zu Zeiten, in denen der Patient körperlich oder seelisch belastet ist, können diese sensorischen Entladungszyklen wiederholt auftreten. Die Körperempfindungen, die dem Tic vorausgehen sind also eng mit den motorischen Entladungen verbunden und dürfen demnach nicht isoliert betrachtet werden. Man kann vereinfacht auch sagen, „daß die Körperempfindungen bei TS als Vorwarnungen dafür gesehen werden können, daß bald eine Körperaktion ansteht“ (Rothenberger,1991, S.23).

Patienten mit dieser Art von Verbindung zwischen sensorischen Phänomenen und Tics erleben ihre Tics oft so, als hätten sie einen willentlichen Aspekt. Sie haben das Gefühl, sich selbst und den Grad der Beeinträchtigung in gewisser Weise kontrollieren zu können und erst dann die Kontrolle an einen sie bestimmende Kraft abzugeben, wenn sie die Belastung selbst nicht mehr ertragen können

So interpretiert manch ein Betroffener seine Tic-Bewegung als Kapitulation gegenüber der Krankheit(ebd).

3.5 Krankheitsverlauf

Der Verlauf der Erkrankung vollzieht sich nach Rothenberger (1991) individuell sehr unterschiedlich, so dass er nicht vorhersagbar ist. Meist ist er langdauernd.

Das Erstmanifestationsalter der Tic-Störung liegt zwischen 2 und 15 Jahren, mit einem Median von 7 Jahren (Shapiro et al.,1978; Bruun & Budman, 1993).

Die Symptomatik beginnt meist mit einfachen Tics im Gesichtsbereich, wie Augenblinzeln, Augenrollen, Verziehen des Mundwinkels, Mundaufsperren oder Kopfrucken. Im weiteren Verlauf breiten sich die Tics zumeist vom Kopf- zum Extremitätenbereich aus. Komplexere Bewegungen treten erst später auf (Rothenberger und Banaschewski, 2001).

Es können aber auch unwillkürliche Lautäußerungen wie Räuspern und Naserümpfen als erste Zeichen gesehen werden. Manchmal beginnt die Störung auch mit mehreren Symptomen, d.h Muskelzuckungen und Lautäußerungen treten fast gleichzeitig auf (Rothenberger und Banaschewski, 2001).

Der Beginn vokaler Tics erfolgt zumeist 2-4 Jahre nach dem ersten Auftreten der motorischen Tics (ebd.).

Rothenberger (1991) verbindet das frühe Auftreten im Kindesalter mit „biologischen und psychologischen Reifungsvorgängen im Gehirn. Um das siebte Lebensjahr erfährt das Gehirn des Kindes eine entscheidende Weiterentwicklung, so dass das Kind eine Art „ ‚Wieder –Eineichung’ seines zentralnervösen Systems auf die Umweltanforderungen bewältigen muß“(S.13).

Bei einem Großteil der Patienten verstärken sich die Symptome bis zum 12./ 13. Lebensjahr und lassen dann zwischen dem 16. und 30. Lebensjahr (bei etwa 75% der Tourette-Patienten) nach. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass die „Überempfindlichkeit des Dopaminsystems in den Basalganglien mit dem Älterwerden von selbst abnimmt“(Rothenberger und Banaschewski,2001, S.123).

Es sind auch Fälle von Spontanremissionen vor allem in der Spätadoleszenz bekannt, Nach Döpfner (1993) liegen die Spontanremissionsraten für das Tourette-Syndrom zwischen 3 und 40 %.

Die Tics selber wechseln sich über die ganze Zeit ihres Bestehens ab oder ergänzen sich. Ihre Intensität und Häufigkeit steht in starkem Zusammenhang mit der emotionalen Befindlichkeit. Vor allem in Situationen, in denen Betroffene unkontrollierbarem Stress ausgesetzt sind, wie etwa bei der Einschulung, Schulwechsel, Prüfungen, Scheidung etc. können sich die Tics verstärken Demgegenüber führen Entspannung und Ruhe, sowie ein verständnisvolles, stabiles, soziales Umfeld eher zu einer Symptomreduktion. (Banaschewski und Rothenberger, 2001).

Mit dem Rückgang der Tics sind aber oft nicht alle Schwierigkeiten vorbei. Andere Verhaltensauffälligkeiten, wie ein begleitendes Hyperkinetisches Syndrom und Zwangsmerkmale können weiter bestehen oder gar in den Vordergrund treten.

„Eine ungünstige Prognose ist am ehesten mit einer starken Ausprägung und lang andauernder vokaler Tic-Symptomatik, Lernschwierigkeiten, Zwangsmerkmalen und ADHS verbunden“ (Banaschewski und Rothenberger, 2001, S.124).

So stellt das Tourette-Syndrom zwar eine chronische Erkrankung, aber nicht zwangsläufig eine lebenslange Erkrankung dar. Tourette-Patienten haben eine normale Lebenserwartung (Rothenberger,1991).

[...]


[1] Die Schriften des Kappadocier Aretaeus aus dem Griechischen übersetzt von Dr.A.Mann, Wiesbaden 1858, S.53

2I nternational Statistical C lassification of D iseases, Injuries and Causes of Death’, 10. Version, veröffentlicht von der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

3 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Version, veröffentlicht von der American Psychiatric Association(APA)

Ende der Leseprobe aus 161 Seiten

Details

Titel
Das Gilles de la Tourette Syndrom - Erkennen, Verstehen und Umgehen
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Erziehungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Psychologie)
Note
1+
Autor
Jahr
2002
Seiten
161
Katalognummer
V28374
ISBN (eBook)
9783638301725
Dateigröße
1789 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird das Tourette - Syndrom in all seinen Facetten beleuchtet und speziell für Pädagogen Tipps zum Umgang mit Betroffenen gegeben. In dieser Arbeit wird das Tourette - Syndrom in all seinen Facetten beleuchtet und speziell für Pädagogen Tipps zum Umgang mit Betroffenen gegeben. In dieser Arbeit wird das Tourette - Syndrom in all seinen Facetten beleuchtet und speziell für Pädagogen Tipps zum Umgang mit Betroffenen gegeben.
Schlagworte
Gilles, Tourette, Syndrom, Erkennen, Verstehen, Umgehen
Arbeit zitieren
Stephanie Zimmermann (Autor:in), 2002, Das Gilles de la Tourette Syndrom - Erkennen, Verstehen und Umgehen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28374

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