Zur Bedeutung von Spielerfahrungen außerhalb von Schule für das Lernen in ihr


Examensarbeit, 2004

74 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitender Kommentar

2. Die Wahl des Untersuchungssubjekts
2.1 Fatima Özdemirs sozialer Hintergrund
2.2 Familiärer Hintergrund
2.3 Lernbiografie/ schulische Vorgeschichte
2.4 Mögliche Ursachen des Schulversagens

3. Spieltheorien

4. Die Konzeption des Spielmobils
4.1 Spielmobile im Allgemeinen
4.2 Geschichte des Hanauer Spielmobils
4.3 Die
4.4 Grundlegende Überlegungen zur
4.5 Bedingungen für die Teilnahme am des Spielmobils
4.6 Das Materialkontingent
4.7 Freiwilligkeit und Verantwortung
4.8 Der Zeitplan eines Spielmobilnachmittags

5. Fallrekonstruktion – Derya Özdemir Spielmobil Augustin
5.1 Voraussetzungen der Beobachtungen
5.2 Der Standort „Anne-Frank-Schule“
5.3 Die Aufgaben der Pfandkinder
5.4 Deryas Beteiligung am Angebot des Spielmobils
5.5 Die Spielphase
5.6 Das Bastelangebot
5.7 Interaktion mit den Mitarbeitern
5.8 Abbau und Aufräumphase
5.9 Das Abschlussspiel

6. Fallrekonstruktion – Fatima Özdemir Lernumfeld Schule
6.1 Grundlagen der Fallrekonstruktion
6.2 Klassenanalyse
6.3 Beobachtungen der Stundenanfänge
6.4 Beobachtungen der Biologiestunde Frau Amhaus
6.5 Beobachtungen der Deutschstunde Frau Schäfer
6.6 Beobachtungen der Englischstunde Frau Ivanda
6.7 Resümee der beobachteten Stunden

7. Abschließende Überlegungen zum zwischen außerschulischem Spiel und Lernen in der Schule

8. Literatur

9
9.1 Konzeption des Spielmobils Augustin
9.2 Flyer/ Routenplan des Spielmobils
9.3 Beobachtungsprotokolle
9.1.1 Beobachtungsprotokoll 1
9.1.2 Beobachtungsprotokoll 2
9.1.3 Beobachtungsprotokoll 3
9.4 Raum- und Sitzplan der Klasse H5a Eberhardschule Hanau
9.5 Transkripte der geführten Interviews
9.5.1 Transkript 1
9.5.2 Transkript 2
9.5.3 Transkript 3

1 Einleitender Kommentar

Die vorliegende Arbeit wird sich mit dem Zusammenhang außerschulischer Spielerfahrungen und dem Lernen in der Schule beschäftigen.

Das Spiel ist schon seit je her ein Teil der menschlichen Kultur. Kleinkinder erkunden spielerisch ihre Welt, ihre Neugier treibt sie dazu, Neues auszuprobieren, Dinge nachzuahmen und so zu lernen.

Obwohl es also offensichtlich ist, dass Spiel auch Lernen sein kann, wurde es lange Zeit zwar wahrgenommen und auch gefördert, allerdings nur im außerschulischen Bereich. Der Wandel in Gesellschaft und Wissenschaft, in diesem Bezug ist hier vornehmlich die Lernpsychologie zu nennen, hat dazu geführt, dass Spielen in den letzten Jahren zunehmend auch als Motivations- und Lernfaktor für die Schule und in der Schule etabliert werden konnte.

In der folgenden Arbeit wird aufgezeigt werden, welche Spielerfahrungen Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit, also außerhalb von Schule, machen, die zum Schulerfolg beitragen können.

Dieser Zusammenhang wird anhand einer Fallrekonstruktion aufgezeigt werden.

Im Mittelpunkt dieser Fallrekonstruktion steht Derya Özdemir. Das Mädchen wurde zunächst im vergangenen Jahr, 2003, bei ihrer Teilnahme am Angebot des Hanauer Spielmobils Augustin beobachtet. Im Anschluss daran wurden sowohl ihr soziales Umfeld als auch ihre Lernbiografie durch Gespräche mit einigen ihrer Lehrerinnen erforscht und festgehalten.

Ergänzend hierzu wurden Anfang 2004 Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt, um ein Bild ihrer derzeitigen schulischen Leistungen geben zu können.

Die Transkripte der geführten Interviews sind, ebenso wie die Beobachtungsprotokolle der Unterrichtsbesuche, im Anhang aufgeführt.

Da der Begriff des Spielens nur schwer zu definieren ist, und eine sehr große Bandbreite an Beschäftigungen umfasst - das Nachahmen und Ausprobieren kleiner Kinder ist anfänglich bereits als eine Kategorie von Spiel angeführt worden - wird zunächst eine Arbeitsdefinition gegeben werden, um zu klären, was im Folgenden unter „Spiel“ bzw. „spielen“ zu verstehen ist.

Im Anschluss daran wird als ein Beispiel außerschulischer Spielmöglichkeiten das Spielmobil der Stadt Hanau vorgestellt. Dieses fährt seit nunmehr 27 Jahren verschiedene Plätze innerhalb des Stadtgebiets an, so auch jenen, an dem Fatima Özdemir das Angebot seit mehreren Jahren wahrnimmt, und der als einer der sozialen Brennpunkte in Hanau zu nennen ist.

Die Art und Weise ihrer Teilnahme wird im Anschluss daran geschildert. Es wird deutlich werden, wie das Mädchen spielt, auf welches Verhaltensrepertoire es dabei zurückgreift und wie es hierbei mit Gleichaltrigen und Älteren interagiert.

An die Fallrekonstruktion ihres außerschulischen Handelns schließt sich eine Fallrekonstruktion ihres schulischen Leistens an.

In dieser werden nicht nur Beobachtungen geschildert, die während einiger Unterrichtsbesuche gemacht wurden, sondern auch Eindrücke ihrer Lehrerinnen wiedergegeben, um ein stimmiges Bild ihrer kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu geben.

Den Abschluss der Arbeit bildet die Überlegung, auf welche Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Kinder und Jugendliche wie Fatima bei außerschulischen Spielaktivitäten vermittelt bekommen, in der Schule zurückgegriffen werden kann. Ebenso werden hierbei praktische Beispiele für einen Unterricht gegeben, der auf diese zurückgreift.

2 Die Wahl des Untersuchungsubjekts

Es versteht sich von selbst, dass ein Untersuchungsgegenstand wie das Spiel und seine Bedeutung für den Lernerfolg in der Schule nicht auf theoretischer Basis angegangen, sondern nur mittels einer Fallstudie untersucht werden kann.

Eine Fallstudie setzt ein Subjekt voraus, welches im Mittelpunkt der Untersuchung steht, beobachtet wird, und dessen Verhalten beschrieben werden kann.

Für die vorliegende Arbeit ist dieses Subjekt Fatima Özdemir. An ihrem Beispiel soll aufgezeigt werden, inwieweit Kinder und Jugendliche von außerschulischen Spielangeboten profitieren, und welche Auswirkungen die dort gewonnenen Fähigkeiten und Erfahrungen auf die Lernbereitschaft und –fähigkeit haben.

2.1 Derya Özdemirs sozialer Hintergrund

Derya ist 13 Jahre alt und türkischer Herkunft. Ihre Familie lebt schon seit langer Zeit in Deutschland, so dass Fatima hier geboren wurde.

Das Viertel, in dem Fatima lebt, wird von vielen Hanauern als „Klein-Istanbul“ bezeichnet, da dort hauptsächlich Familien türkischer Herkunft und sozial schwache Familien leben.

In den letzten Jahren wandelte sich das Viertel dahingehend, dass dort verstärkt Familien aus dem ehemaligen Ostblock, d.h. Russen und Russlanddeutsche, Polen etc. zuzogen. Den Rest der Bevölkerung bilden Familien anderer Herkunft.

Trotz dieses Wandels werden nach wie vor fast alle dort ansässigen Geschäfte und Dienstleistungen von Menschen türkischer Herkunft betrieben und im Alltagsleben wird dort hauptsächlich türkisch gesprochen. Deutsche Familien gibt es in diesem Viertel, abgesehen von den oben genannten Ausnahmen, den Familien die nah am Existenzminimum leben, nicht.

Aufgrund dieser Tatsache sind die Deutschkenntnisse vieler dort lebender Kinder und Jugendlicher mangelhaft und Fatima bildet dabei keine Ausnahme. Wie später noch aufgezeigt werden wird, sind ihre Deutschkenntnisse kaum ausreichend, um eine sachliche Diskussion problemlos führen zu können und ihre schulischen Leistungen und Noten sind dementsprechend schlecht.

In ihren Freundeskreis, der fast ausschließlich aus Kindern bzw. Mädchen aus ihrer Nachbarschaft besteht, ist sie vollständig integriert. Im beobachteten Zeitraum, also sowohl während der Aufenthalte des Spielmobils auf dem Gelände der Anne-Frank-Schule in den letzten drei Jahren, als auch während der Beobachtungen an ihrer jetzigen Schule, ist sie immer von Mädchen ihres Alters bzw. etwas jüngeren umgeben.

Innerhalb ihres Freundeskreises scheint Fatima eine dominierende Stellung zu haben, wie auch später noch an Beispielen aufgezeigt werden wird. Dort hat sie meist die Entscheidungsgewalt darüber, an welchen Aktivitäten sie und ihre Freundinnen teilnehmen und wie sie ihre gemeinsam verbrachte Freizeit gestalten.

2.2 Familiärer Hintergrund

Deryas familiärer Hintergrund ist nicht vollständig bekannt.

Sie lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Vater. Über mögliche Geschwister lässt sich keine detaillierte, geschweige denn vollständige Aussage machen, da sie nur wenig hiervon erzählt und auch ihre Lehrerinnen keine genauen Angaben machen konnten.

Fatima selbst erwähnte beim Spielmobil sowohl einen jüngeren als auch einen älteren Bruder, die beide noch bei der Familie leben. Ob es noch weitere Geschwister gibt, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.

Gemäß der Aussage ihrer Klassenlehrerin der Grundschule befindet sich Fatimas jüngerer Bruder noch nicht im Grundschulalter.

Im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossen hatte Fatima ihren jüngeren Bruder in den letzten drei Jahren nie dabei, wenn sie das Spielmobil besuchte. Dies ist für die Verhältnisse in Süd-Ost, wie dieses Viertel im Jargon der Abteilung Jugendarbeit genannt wird, eher unüblich, denn es scheint, dass bei den dort lebenden Familien ältere Geschwister die Pflicht haben, für ihre jüngeren Geschwister die Verantwortung zu übernehmen und auf sie aufpassen müssen und sie aus diesem Grund auch mit zum Spielmobil bringen, wenn dieses vor Ort ist.

So kommt es, dass das Spielmobil zwar offiziell für Kinder unter sechs Jahren nur in Begleitung Erwachsener Spielangebote offeriert, aber dass praktisch eine recht große Zahl von Kindern in Süd-Ost nur in Begleitung älterer Geschwister am Angebot teilnimmt. Faktisch hat die Mehrzahl der Kinder im Grundschulalter bei dem Angebot jüngere Geschwister dabei.

Warum Fatima im Gegensatz zu ihren Altersgenossen ihren Bruder niemals mit beim Spielmobil hatte, lässt sich nicht sagen.

2.3 Lernbiografie/ schulische Vorgeschichte

Fatima besuchte von der ersten bis zur vierten Klasse die Anne-Frank-Schule in ihrem Stadtviertel Hanau Süd-Ost. Wie bereits erwähnt, leben hier vorwiegend Familien türkischer Herkunft und so waren Fatimas Klassenkameraden auch hauptsächlich türkischer Abstammung.

Das Mädchen war von Beginn an keine besonders gute Schülerin. Dies lag unter anderem daran, dass ihre Deutschkenntnisse, trotz ihrer Geburt in diesem Land, nicht besonders gut waren. Auch zeigte sie kein besonders großes Interesse am Unterricht.

Die zweite Klasse musste Fatima an der Anne-Frank-Schule wiederholen, in die neue Klassengemeinschaft wurde sie dann mühelos integriert.

Auch nach der Wiederholung der zweiten Klasse wurden Fatimas Noten nicht besser. Zwar schaffte sie bis zum fünften Schuljahr die Versetzung jedes Mal, allerdings waren ihre Noten immer an der unteren Leistungsgrenze, in fast allen Hauptfächern waren ihre Leistungen mangelhaft.

Aus diesem Grund wurde Fatimaa im vierten Schuljahr dahingehend überprüft, ob sie nach dem Ende der vierten Klasse gegebenenfalls auf eine Sonderschule wechseln muss.

Bei Gesprächen mit Fatimas Mutter konnte die Klassenlehrerin diese von der Notwendigkeit von Nachhilfeunterricht für Fatima überzeugen, den das Mädchen dann auch erhielt. In Folge dessen verbesserten sich Fatimas Noten so weit, dass in den versetzungsrelevanten Fächern eine Vier erreicht wurde und das Mädchen zum fünften Schuljahr in den Hauptschulzweig der Otto-Hahn-schule in Hanau wechseln konnte.

Die Otto-Hahn-schule in Hanau ist eine Gesamtschule, die, vor allem im Hauptschulzweig, vor allem von Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft besucht wird. Ihre Besonderheit liegt dementsprechend auch darin, dass herkunftssprachlicher Unterricht angeboten wird.

Da nach dem Wechsel auf die weiterführende Hauptschule der Nachhilfeunterricht für Fatima von Seiten der Eltern eingestellt wurde, sind die Noten des Mädchens in den meisten Fächern erneut mangelhaft. Vor allem im sprachlichen Bereich ist sie extrem schlecht. Von Beginn des fünften Schuljahres an, stand Fatima unter besonderer Beobachtung ihrer dortigen Lehrer, vor allem ihrer Klassenlehrerin Frau Ameling. Gegen Ende des Jahres 2003 und im März des Jahres 2004 wurde das Mädchen erneut sonderschulüberprüft. Gemäß den Angaben von Frau Ameling ist sie damit nicht die einzige in ihrer Klasse, sondern teilt dieses Schicksal mit etwa einem Drittel ihrer Mitschüler, die ebenfalls nur unzureichende Noten erbringen.

2.4 Mögliche Ursachen des Schulversagens

Die Gründe für dieses Schulversagen sind jedoch nicht nur singulär auf fehlende Unterstützung seitens des Elternhauses zurückzuführen, sondern vielfältig.

Auch in anderer Hinsicht spielt der familiäre Hintergrund eine wichtige Rolle.

Wie Holtappels und Hornberg in ihrem Aufsatz „Schulische Desorganisation und Devianz“ ausführen, sind sozialschichtspezifische Unterschiede maßgeblich für Schulerfolg oder –versagen verantwortlich.

Kinder, deren Familie der unteren sozialen Schicht angehört, wie es auch auf Fatimas zutrifft, sind „weniger adäquat auf die schulischen Leistungs- und Konformitätsanforderungen vorbereitet“ als ihre Altersgenossen der mittleren und oberen Schichten, da sie über geringere Zugangschancen zu Mitteln, die für den Schulerfolg wichtig sind, wie beispielsweise „Sprach- und Ausdrucksvermögen, intrinsische Motivation und Anstrengungswille, Selbständigkeit und Selbstkontrolle“ verfügen (Holtappels u. Hornberg, 1997; S. 344).

Hinzu kommt, dass Mütter und Väter der unteren sozialen Schichten und insbesondere ausländischer Herkunft, es schwerer haben, ihren Kindern Hilfe bei den Hausaufgaben oder Schulproblemen zu geben. Auch sind sie weniger intensiv darum bemüht, beim Versagen ihrer Kinder einzugreifen und suchen in diesem Fall seltener Kontakt zur Schule bzw. den Lehrern. (Holtappels u. Hornberg, 1997; S. 344f. )

Die Äußerungen, sowohl von Deryas Klassenlehrerin in der Grundschule, als auch ihrer jetzigen Klassenlehrerin, bestätigen diese Aussage, denn Deryas Eltern schienen und scheinen nicht an kommunikativem Austausch mit den jeweiligen Lehrkräften über die schulischen Leistungen ihrer Tochter interessiert zu sein.[1]

Doch es sind nicht ausschließlich Gründe, die im privaten, familiären Umfeld von Kindern und Jugendlichen zu finden sind, die zum Schulversagen führen.

Deryas oft desinteressiertes Verhalten im Unterricht zeigt deutlich, dass das Mädchen an den Unterrichtsinhalten selbst nicht interessiert ist.

Hier hat die Institution Schule selbst in vielerlei Hinsicht Mitschuld an ihrem Verhalten und Versagen.

Einer der wohl wichtigsten Gründe ist die Unterordnung schulischer Prozesse unter formale Leistungsnachweise. (Holtappels u. Hornberg, 1997; S. 330 ) Alles in der Schule Geleistete wird nach „altbewährten“ Schemata, dem Notensystem, bewertet. Lehrprozesse finden hauptsächlich dahingehend statt, dass die Schüler bei einer späteren Leistungsüberprüfung gute Noten erzielen.

Aus diesem Grund steht der Frontalunterricht bei vielen Lehrern noch immer an erster Stelle der von ihnen verwendeten Unterrichtsmethoden, da sie diese offenbar als die effektivste Form der Wissensvermittlung und Schulung intellektueller Fähigkeiten ansehen. (Meyer, 2002; S. 61-63)

Eine Vielfalt und regelmäßige Abwechslung der Unterrichtsmethoden ist, ebenso wie fächerübergreifender Unterricht, noch immer zu selten anzutreffen, doch als Problem stellt sich hierbei wiederum dar, dass die zu erreichenden Zensuren nicht von allen Schülern mit diesen verfügbaren Mitteln und Methoden erreicht werden können, wie bereits oben erläutert wurde.

Wie in den folgenden Unterrichtsbeobachtungen aufgezeigt werden wird, trifft dies auch auf Fatima zu.

Fatimde nicht aufgrund ihrer Lernbiografie als Beobachtungssubjekt ausgewählt. Die Beobachtungen und Interviews für die Fallrekonstruktion des Mädchens innerhalb der Bildungseinrichtung Schule wurden erst zu Beginn des Jahres 2004 gemacht.

Sie wurde ausgewählt, weil sie, wie später noch eingehend beschrieben werden wird, bei ihrem Erscheinen beim Spielmobil im Juni und Juli 2003 sehr auffällig war.

3 Spieltheorien

Die vorliegende Arbeit wird sich im Folgenden mit der Bedeutung außerschulischer Spielerfahrungen für das Lernen in der Schule beschäftigen.

Doch was ist Spielen überhaupt? Was kennzeichnet eine Tätigkeit als Spiel? Im Folgenden soll zunächst eine Arbeitsdefinition für diesen Begriff gegeben werden.

Beschäftigt man sich in der alltäglichen Praxis mit Kindern und ihrem Spiel, so erscheint es einem auf den ersten Blick als etwas völlig Selbstverständliches, wenn nicht sogar Triviales.

Kinder spielen in den unterschiedlichsten Situationen, an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Formen. Sie passen sich ihrer Umgebung an, nutzen diese für ihr Spiel und prägen diese mit ihrem Spiel. Jeder Zuschauer des kindlichen Spiels sieht dies, macht es sich aber in den seltensten Fällen bewusst. Er nimmt das Spiel als etwas völlig Normales wahr und macht sich meist erst Gedanken darüber, wenn es fehlt.

Versucht man sich dem Phänomen des Spiels aber von der wissenschaftlichen Seite aus zu nähern und eine Definition hierfür zu finden, so sieht die Situation völlig anders aus.

Kinder spielen in den unterschiedlichsten Situationen, an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Formen. Und genau dies macht eine Definition des Spiels so schwierig. Meyers Weltlexikon versucht es mit folgender:

„(Spiel ist eine) Tätigkeit, die aus Vergnügen an einer Ausübung als solcher bzw. am Gelingen vollzogen wird. Bis zum Vorschulalter bleibt das Spiel meist Einzelbeschäftigung, erst später, als Gruppenspiel, bekommt es Wettbewerbscharakter und wird durch die Einigung auf bzw. Vorgabe von Vorschriften zum Regelspiel.“ (S. 3256)

Aber wird diese Definition dem Spiel wirklich gerecht? Ist sie allumfassend genug?

Wohl kaum, denn Spiel ist viel mehr als das.

In der Tat wird ein Spiel aus Vergnügen daran, also um seiner selbst Willen gespielt. Es hat seinen Sinn nur in sich selbst und ist in aller Regel frei von anderen Zwecken. (Scheuerl, 1997, S. 161) „Professionelle Spieler“, wie beispielsweise hoch bezahlte Fußballer oder Tennisspieler, sind demnach keine Spieler im eigentlichen Sinne und spielen auch nicht, sondern arbeiten; sie betreiben „ihr“ Spiel um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und nicht aus der Freude daran oder um sich zu entspannen.

Ebenso wie die Freude daran ist Entspannung ein wichtiges Merkmal von Spiel, das allerdings gleichzeitig mit Spannung einhergehen muss. Bei Flitner heißt es hierzu, dass „für das Spiel die Gewissheit (kennzeichnend ist), dass die Entspannung auf die Spannung folgt.“ (Flitner, 2002; S. 67)

Dies deutet auch bereits auf die Notwendigkeit eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen beiden hin, welches gegeben sein muss, um ein Spiel in Gang zu halten. Denn ist die Spannungskurve zu flach und die Entspannungsphasen überwiegen, so kann das Spiel für die Spieler schnell langweilig und von ihnen aufgegeben werden.

Nimmt allerdings die Spannung überhand, artet das Spiel in Toberei aus und seine Regeln werden verletzt, was letztlich ebenfalls zum Spielabbruch führt.

Hier wiederum wird deutlich, dass Regeln und deren Einhaltung von elementarer Bedeutung für viele Spiele sind. Wie bereits erwähnt, hat das Spiel keinen anderen Sinn als in sich selbst. Aus diesem Grund hat es Regeln, die es zu dem machen, was es ist. Sie sind demnach „mächtig und unbedingt, über jede Diskussion erhaben. Es gibt keine Begründung, warum sie so und nicht anders sind .“ (Scheuerl, 1997; S. 161)

Hierzu schreibt auch Callois (1958, zitiert bei Scheuerl, 1997; S. 160): „Die verworrenen und verwirrenden Gesetze des gewöhnlichen Lebens werden in diesem begrenzten Raum und für diese gegebene Zeit ersetzt durch neue, eigenmächtige und unwiderlegbare Regeln, die man als solche annehmen muss und die den korrekten Ablauf der Partie bestimmen. Der Falschspieler, der die Regeln verletzt, heuchelt doch zumindest, sie zu respektieren.“

Es gibt jedoch auch Spiele, die keine expliziten Regeln benötigen.

Hierzu zählen solche Spiele, in denen Kinder „so tun als ob“. Bei diesen Spielen erfüllt das „als ob“ den gleichen Zweck wie eine Regel, es gibt den Handelnden Richtlinien vor, wie diese sich zu verhalten haben.

Die oben zitierten Äußerungen „[…] in diesem begrenzten Raum […]“ und „[…] für diese begrenzte Zeit […]“ verweisen auf ein weiteres Charakteristikum des Spiels.

Spielen findet in einer Phantasiewelt statt, einer Scheinwelt, die räumlich und zeitlich vom übrigen Dasein abgetrennt ist. Festgelegte Regeln begrenzen den Spielraum hinsichtlich dieser beiden Dimensionen, Spielmaterialien und/oder die Phantasie der Mitspieler gestalten diesen aus.

Spiele können nur dann erfolgreich betrieben werden, wenn alle Spieler die gleichen Gewinnchancen haben und das Ergebnis offen ist. Sind die Gewinnchancen ungleich verteilt und das Ergebnis absehbar, so verliert es seinen Reiz und wird schließlich aufgeben.

Es wird hier bereits deutlich, dass die oben angeführte Definition, die Meyers Weltlexikon liefert, nicht umfassend genug ist, da sie nicht alle angeführten Punkte beinhaltet. Noch unbrauchbarer wäre sie, wenn hier noch alle weiteren Kriterien aufgezählt werden würden, die Spiel in seinen verschiedensten Erscheinungsformen charakterisieren.

Es erscheint demnach geradezu unmöglich, „das Spiel“ als solches zu definieren. Aus diesem Grund wird in der folgenden Arbeit, wenn immer es sich um den Begriff des Spielens handelt, der Maßstab Hilbert Meyers angelegt, der Spiel als Urphänomen beschreibt, das durch neun zentrale wiederkehrende Merkmale beschrieben werden kann:

„1 . Spielen erfordert einen freien Raum, weil es selbst frei von fremden Zwecken ist . […]
2 . Spielen ist in sich zielgerichtet . […]
3. Spielen findet in einer Scheinwelt statt . […]
4. Spielabläufe sind mehrdeutig und offen . [… ]
5 . Spielen schafft eine handelnde Auseinandersetzung mit den Mitspielern oder dem Spielobjekt . […]
6. Spielen erfordert die Anerkennung von Spielregeln . […]
7. Im Spielen müssen die gleichen Rechte und Gewinn- oder Beteiligungschancen für alle Mitspieler bestehen . […]
8 . Spiele erfüllen sich in der Gegenwart . […]
9. Spielen macht Spaß . […]“

( Meyer, 2002; S. 342f)

4 Die Konzeption des Spielmobils Augustin

Wie im vorhergehenden Kapitel deutlich geworden ist, ist es schwierig „das Spiel“ als solches zu definieren. Dies liegt zum einen, wie bereits aufgezeigt, an seinen verschiedensten Ausprägungen. So unterschiedliche diese sind, so unterschiedlich sind in der heutigen Gesellschaft auch die Angebote für Kinder und Jugendliche, sich spielend zu beschäftigen. Zahlreiche Einrichtungen wie Kindertagesstätten und Jugendgruppen bieten Spielmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Formen an. Als ein Beispiel außerschulischer Spielmöglichkeiten soll hier nun das Spielmobil Augustin der Stadt Hanau anhand seiner Konzeption vorgestellt werden.

4.1 Spielmobile im Allgemeinen

Da es deutschlandweit etwa 350 Spielmobile gibt, ist selbstverständlich, dass die folgende Konzeption nicht auf alle zutrifft. Sie ist in Zusammenarbeit der Mitarbeiter des Hanauer Spielmobils mit den leitenden Angestellten der Abteilung Jugendarbeit der Stadt Hanau entstanden.

Im Folgenden wird kurz dargestellt, welche Unterschiede es allein zwischen den deutschen Spielmobilen gibt. Spielmobile anderer Länder werden nicht aufgeführt.

Die fahrenden Spielstätten unterscheiden sich bereits äußerlich.

Während das Hanauer Spielmobil ein alter, umgebauter Stadtbus ist, so gibt es in anderen Städten beispielsweise Lieferwagen, die durch Fundraising von Kurierdienstunternehmen wie UPS oder anderen übernommen werden konnten, aber auch LKWs oder Bauwagen.

Ebenso unterscheiden sich Spielmobile in der Art der Ausstattung. Während in Hanau der Schwerpunkt auf Gesellschaftsspielen, Fahrzeugen und dem Bastelangebot liegt, gibt es auch Fahrzeuge, die ausschließlich Material für Wasseraktivitäten an Bord haben, aber auch reine „Skate-“ und „ Medienmobile“.

In letzteren ist es selbstverständlich, dass die Teilnehmer das Angebot im Bus wahrnehmen, was in Hanau, wie in vielen anderen Städten, nicht vorgesehen ist.

Selbstverständlich gibt es noch eine große Zahl an Unterschieden, die zu nennen wären, denn Spielmobile gibt es in fast jeder vorstellbaren Ausführung. Abhängig ist diese auch davon, ob es in öffentlicher oder privater Trägerschaft ist, denn nicht alle werden, so wie es in Hanau der Fall ist, unter Schirmherrschaft der Stadt oder Gemeinde angeboten. In Frankfurt beispielsweise ist der Träger ein Verein, der „Abenteuerspielplatz Riederwald e.V.“. Inzwischen gibt es auch Kirchen und Firmen, die Spielmobile betreiben. Aber auch Gliederungen des Kinderschutzbundes und Kinderhilfswerke sind als Träger zu nennen. (BAG Spielmobile e.V. 2001, S.8)

Die Art der Trägerschaft bestimmt neben der Ausstattung auch die Konzeption des jeweiligen Spielmobils.

Einige sind ganzjährig unterwegs, andere werden nur in den Sommermonaten betrieben, je nach Kosten- und Mitarbeiterkontingent.

Die Kosten werden zumeist von den Kommunen übernommen, in manchen Bundesländern gibt es auch finanzielle Unterstützung vom Land, einige Spielmobile sind aber auch ausschließlich kommerziell tätig.

Auch hinsichtlich des sozialen Anspruchs unterscheiden sich Spielmobile. Während einige nur den Anspruch haben, Kindern kurzweiligen Spaß und Unterhaltung zu bieten, so arbeiten andere ganz bewusst an Brennpunkten. Dort können sie durch besondere Maßnahmen und Angebote deeskalierend und präventiv, aber auch bildend wirken.

4.2 Geschichte des Hanauer Spielmobils

Seit über 25 Jahren ist das Spielmobil der Stadt Hanau unterwegs und bietet den Kindern, aber auch den Erwachsenen der Stadt Möglichkeiten zu Spiel, Abenteuer und Abwechslung.

Es stand von Beginn an unter der Regie der Abteilung Jugendarbeit, heute dem Fachbereich Soziale Dienste der Stadt untergeordnet, und befindet sich demnach im Verantwortungsbereich des Sozialdezernenten der Stadt. Das Spielmobil wurde anfänglich von hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeitern betreut, seit 1986 beschäftigt die Stadt aus Kostengründen jedoch nebenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

4.3 Die Mitarbeiter

Das Anforderungsprofil an diese Mitarbeiter ist vielfältig:

Zum einen sollten diese pädagogisch qualifiziert und geschult sein. Das bedeutet, dass sie sich in einer Ausbildung zu einem pädagogischen Beruf befinden oder diese bereits abgeschlossen haben sollten. Sie müssen über ausgeprägte praktische Erfahrung im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit verfügen, da erwartet wird, dass sie in der Lage sind, große Gruppen zu betreuen und zu lenken. Gleichfalls sollten sie mit der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen vertraut sein.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darüber hinaus sollten die Mitarbeiter Moderations- und Animationsfähigkeit besitzen, um die Menschen, die das Angebot nutzen wollen, zu Spielen und anderen Aktivitäten zu animieren. Dies kann sowohl durch Anleitung geschehen als auch durch aktive Teilnahme des Mitarbeiters als Mitspieler oder Spielpartner.

Beim Uno-Spielen mit einem Kind in Mittelbuchen

Ebenso wichtig sind Kreativität, Organisationstalent und Flexibilität[2], da bei der Arbeit am Spielmobil sicht selten Situationen entstehen, wie beispielsweise ein unerwartet hohes Interesse am Angebot. In diesem Fall kann es vorkommen, dass das geplante Bastelangebot verändert und neu überdacht werden muss, weil nicht genügend Materialien vorhanden sind oder das Angebot zu aufwendig wäre.

Es kommt auch häufig vor, dass Kinder zum Standort kommen, die Hilfe brauchen, ihre Scheu oder gar Furcht vor Unbekanntem zu überwinden. Hier ist es dann nötig, dass die Mitarbeiter einfühlsam auf diese Kinder zugehen, sie ansprechen und versuchen, sie in das Angebot zu integrieren.

[...]


[1] Vgl. hierzu die Transkripte der geführten Lehrerinterviews mit Frau Schulze und Frau Amhaus, die im Anhang nachzulesen sind.

[2] Vgl. Hanauer Spielmobilkonzeption 2003, S. IIff

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Zur Bedeutung von Spielerfahrungen außerhalb von Schule für das Lernen in ihr
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Pädagogik der Sekundarstufe)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
74
Katalognummer
V29646
ISBN (eBook)
9783638311113
Dateigröße
821 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Grundlage dieser Arbeit waren neben der Spieltheorie auch Beobachtungen und Interviews, deren Protokole und Transkripte hier allerdings nicht angehängt sind.
Schlagworte
Bedeutung, Spielerfahrungen, Schule, Lernen
Arbeit zitieren
Kerstin Giesel (Autor:in), 2004, Zur Bedeutung von Spielerfahrungen außerhalb von Schule für das Lernen in ihr, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29646

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