Herausforderungen an die Übersetzer anhand Ian McEwans "The Children Act" und Werner Schmitz' "Kindeswohl"


Seminararbeit, 2015

49 Seiten, Note: Unbenotet


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Zum Autor: Ian McEwan
Kurzbiographie
Ian McEwan und die Medien
Ressourcen zu Ian McEwan

II. Zum Übersetzer: Werner Schmitz
Kurzbiographie

III. Inhaltliche Vorstellung des AT
Inspiration für The Children Act
Forschung zu The Children Act

IV. Rezensionsrecherche
Eingangsüberlegungen zur Rezensionsrecherche
Beispiele aus Rezensionen zu Ian McEwans Kindeswohl

V. Herausforderungen an den / die ÜbersetzerIn
Problem 1: Kontraste und Konfrontationen
Problem 2: Juristisches, religiöses und medizinisches Fachwissen
Problem 3: Dialogszenen vor Gericht, im Krankenhaus
Problem 4: Watching the English
Problem 5: der Jugendliche Adam Henry
Problem 6: die Frau Fiona Maye

VI. Übersetzungsfragen an den ZT
Wie (gut) funktioniert der Text als deutscher Text?
Was kann als gelungen hervorgehoben werden?
Was kann als weniger gelungen bezeichnet werden?

VII. Beispiele im Vergleich: AT und ZT
Titel und Eingangszitat (AT S. I, Z. 1-5; ZT S. VII, Z. 1-5)
(AT.1 / ZT.1) Gerichtsverhandlung: Der Fall Adam Henry
(AT.2 / ZT.2) Die Urteilsverkündung
(AT.3 / ZT.3) Die Ballade von Adam Henry

VIII. Fazit und Ausblick

IX. Referenzen

X. Textstellen

Einleitung

Den Einstieg zu finden ist meist der schwierigste Schritt im Erstellungsprozess eines schriftlichen Werkes. Wie gut, möchte man meinen, haben wir es da als ÜbersetzerInnen, die das fertige Werk bereits vorliegen haben, es sich zu Gemüte führen dürfen und es danach lediglich in die eigene Muttersprache übertragen. Doch sowohl Theorie als auch Praxis belehren uns eines Besseren: Es gibt keine einheitliche Lehre der Translation, anhand derer wir unsere Entscheidungen für die Übersetzung treffen und rechtfertigen können. Zudem begegnet uns bisweilen die Meinung, das Übersetzen sei einfach: Mangels des Wissens um die Komplexität der Aufgabe und aufgrund der Tatsache, dass in einem druckreif übersetzten Manuskript die zugrunde liegende Arbeit nicht sichtbar wird.

Anders verhält es sich bei der Übersetzungskritik. Ausgehend vom Ausgangstext (AT) und vom Zieltext (ZT), versucht die dritte Person in Form des Kritikers, den Dialog mit dem Text wieder zu erweitern und aus dem Ergebnis die Vorgehensweise abzuleiten – sozusagen eine Form des reverse engineering. Dass dabei ein guter Text noch lange kein Garant für eine solide Übersetzung ist, dass ein mangelhafter AT durch einen gehaltvollen ZT überstrahlt werden kann, oder dass eine fehlerhafte ZT auch negativ auf den AT rückwirkt, gehört zu den ersten Lektionen, die angehende ÜbersetzerInnen lernen:

“[T]he text in the other language has become almost materially thinner, the light seems to pass unhindered through its loosened fibres. For a spell the density of hostile or seductive ‘otherness’ is dissipated. […] The translator invades, extracts, and brings home. […] Certain texts or genres have been exhausted by translation. Far more interestingly, others have been negated by transfiguration, by an act of appropriate penetration and transfer in excess of the original, more ordered, more aesthetically pleasing. There are originals we no longer turn to because the translation is of a higher magnitude.” [1]

So ist es umso erfreulicher, dass im Rahmen dieses Portfolios sowohl AT als auch ZT von hervorzuhebender Qualität sind. Das macht es einerseits zum Vergnügen, sich mit den Texten auseinanderzusetzen. Andererseits wirft es die Frage auf: Welche Perspektive muss die Kritik einnehmen, um sowohl gerecht gegenüber dem ZT aufzutreten, aber dennoch Alternativen sinnhaft begründet anzubringen? Anders ausgedrückt: Wie kritisiert man einen Text, an dem es aus Leser- und Verlagsperspektive nichts Wesentliches auszusetzen gibt? Denn letztendlich ist dies der Kompromiss, den eine Übersetzung herstellen muss: Die Brücke zu schlagen zwischen dem Autor, dem Verlag, dem Leser und der übersetzenden Person selbst; sie muss allen gerecht werden, insbesondere aber dem Markt, damit sie sich gut verkaufen lässt. Kritik muss also auf eine andere Stelle abzielen als auf die kommerzialisierbare Lesbarkeit. In reduzierter Form wird dies im vorliegenden Portfolio angestrebt; wenngleich gesagt werden muss, dass es einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Texten bedarf, um die angedeuteten Ansätze entsprechend auszuarbeiten.

Zunächst sollen kurz Autor und Übersetzer, sowie der AT und seine Rezensionen vorgestellt werden; sodann folgt eine Skizze der Herausforderungen an den oder die ÜbersetzerIn. Generelle Fragen zur Übersetzung werden im nächsten Abschnitt beantwortet und anhand von Beispielen im Vergleich von AT und ZT belegt. Schlussendlich rundet ein kurzes Fazit mit Ausblick die Übersetzungskritik ab.

I. Zum Autor: Ian McEwan

Kurzbiographie

Ian Russell McEwan wird am 21. Juni 1948 im englischen Aldershot (Hampshire) im Süden Englands geboren. Die 62.000 Einwohner umfassende Stadt ist als Home of the British Army vor allem aufgrund seines Militärstützpunktes bekannt. Als Sohn eines Majors verbringt McEwan seine Kindheit unter anderem in Singapur und in Libyen; nach dem Internat studiert er englische Literatur in Brighton und an der Universität von East Anglia. Seit 1974 lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller, der zunächst durch Kurzgeschichten Bekanntheit erlangt: 1975 erscheint die erste Sammlung unter dem Titel First Love, Last Rites; 1978 In Between the Sheets. 1978 erscheint mit The Cement Garden sein erster Roman, der 1993 auch verfilmt wird. Der endgültige Durchbruch gelingt McEwan 1998 mit dem Roman Amsterdam, für den er den Booker Prize erhält. Insgesamt verfasste er bisher 13 Romane, zwei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Kinderbücher, drei Theaterstücke und zwei Libretti[2]. Über sein Schreiben sagt der Autor selbst:

"I think of novels in architectural terms. You have to enter at the gate, and this gate must be constructed in such a way that the reader has immediate confidence in the strength of the building.“ [3]

Er konstruiert seine Geschichten und seine Charaktere um zentrale Themen; genau recherchiert er, wenn Fachwissen vonnöten ist. In einem Interview beschreibt er, dass er gegensätzliche Fantasien und Ziele in seinem Schreiben sieht: Einerseits schätzt McEwan Präzision und Klarheit in seinen Sätzen. Andererseits schätzt er die implizierte Bedeutung in ihren Zwischenräumen. Gegensätze wie der private und der öffentliche Raum, oder das Verhältnis zwischen Mann und Frau, faszinieren ihn:

"I have contradictory fantasies and aspirations about my work. I like precision and clarity in sentences, and I value the implied meaning, the spring, in the space between them. Certain observed details I revel in and consider ends in themselves. I prefer a work of fiction to be self-contained, supported by its own internal struts and beams, resembling the world, but somehow immune from it. I like stories, and I am always looking for the one which I imagine to be irresistible. Against all this, I value a documentary quality, and an engagement with a society and its values; I like to think about the tension between the private worlds of individuals and the public sphere by which they are contained. Another polarity that fascinates me is of men and women, their mutual dependency, fear and love, and the play of power between them. Perhaps I can reconcile, or at least summarise, these contradictory impulses in this way: the process of writing a novel is educative in two senses; as the work unfolds, it teaches you its own rules, it tells how it should be written; at the same time it is an act of discovery, in a harsh world, of the precise extent of human worth.“ [4]

Es ist an dieser Stelle tatsächlich wichtig, dieses Author Statement von der Webseite des British Council Literature ungekürzt einzufügen. Denn es erlaubt Rückschlüsse darauf, worauf der Übersetzer auf der übergeordneten Metaebene zu achten hat, wenn er einen McEwan ins Deutsche überträgt. Die genannten Kontradiktionen stellen zugleich eines der Probleme dar, die in Kapitel V beschrieben werden.

Ian McEwan und die Medien

Ian McEwan gehört zu jener Sorte Autor, die auch über die Grenzen der Buchdeckel hinaus mit Lesern und Medien kommuniziert. Er veröffentlicht Artikel und Essays in Printmagazinen und online, äußert sich zu zeitgenössischen Themen. Es gibt zahlreiche Podcasts, Video-Interviews und Podiumsdiskussionen mit ihm; natürlich spricht er über seine eigenen Werke, äußert sich aber auch zum Zeitgeschehen. Auf der Website des Guardian findet sich beispielsweise ein Essay von McEwan, in dem er sich 2014 zur Frage äußert: the law versus religious belief [5]. Dort beschreibt er das Spannungsfeld zwischen Gesetzgebung und religiösem Glauben, ein aktuell höchst relevantes Thema. Andererseits führt er aus, was ihn zu The Children Act inspirierte.

Dieses Detail über den Zeitdiagnostiker Ian McEwan ist deshalb erwähnenswert, da McEwans Stil sich seit dem Booker Prize und den Ereignissen von 9/11 verändert hat. Anstatt seine Leser mit dem perversen, erschreckenden, düsteren Verhalten seiner Charaktere zu schockieren – typisch für den Gothic Novel –, verhandelt er in seinen Romanen nun Ereignisse aus dem aktuellen Zeitgeschehen; so auch in The Children Act. Im SPIEGEL wird McEwan passend dazu als Romanwissenschaftler bezeichnet[6], der seine Leser heute hauptsächlich interessieren will: „Das Vertraute wird unvertraut. Kaum jemand kann davon so schonungslos erzählen wie McEwan.“ Dabei müssen für den Autor Verstand und Gefühl keine Gegensätze sein, da sie einander bedingen. Allerdings bilden sie ein Spannungsfeld, in dem sie situationsabhängig stets neu ausgehandelt werden.

Das Verhältnis des Autors selbst zu den Medien ist ebenfalls gespannt: Er nutzt sie und wird von ihnen genutzt. Er thematisiert, beziehungsweise kritisiert sie jedoch oftmals in seinen Werken; insbesondere die Tatsache, dass sie Botschaften an die Öffentlichkeit tragen und auch verzerren können. In The Children Act spielt die Medienberichterstattung über die von Fiona gewonnenen Fälle jedoch eine untergeordnete Rolle.

Ressourcen zu Ian McEwan

McEwans eigene Website, www.ianmcewan.com, bietet zahlreiche Ansatzpunkte zur Forschung über den Autor, seine Werke und sein Wirken. Die Liste der Interviews und Veröffentlichungen ist allerdings leider nicht vollständig; aktuell gehalten sind die Unterseiten zu einzelnen Veröffentlichungen[7]. Wissenschaftliche Publikationen über Ian McEwan sind ebenfalls aufgelistet, darunter Books about IanMcEwan [8], sowie Dissertations and Theses [9]. Ian McEwan besitzt eine relativ aktuell gehaltene Facebook -Seite[10], einige wissenschaftliche Arbeiten wurden auf Academia [11] und ResearchGate [12] veröffentlicht. Abseits des wissenschaftlichen Diskurses lohnt ein Blick auf die Fragen zu McEwan auf dem Portal Quora [13].

Mit dieser Auflistung der Quellen über McEwan soll auf seine Bedeutung als Autor hingewiesen werden. Das heißt für einen deutschen Verlag, dass strategisch ein renommierter, erfahrener Übersetzer vorzuziehen ist, um die Texte ins Deutsche zu übertragen. Einerseits, weil ein solcher Übersetzer das nötige Fingerspitzengefühl und ausreichend Erfahrung für diesen Autor hat. Andererseits, weil er zwar Respekt, nicht aber Angst vor der Macht des AT hat, da er selbst auf zahlreiche literarische Werke zurückblicken kann, die seine Legitimität unterstützen. So auch im Fall von Ian McEwan. Sämtliche seiner ins Deutsche übertragenen Werke sind im Diogenes-Verlag erschienen; die bisherigen, ausschließlich männlichen Übersetzer griffen oder greifen auf einen weitreichenden und vielschichtigen Erfahrungshorizont in mehreren Bereichen zurück: als Anglisten, studierte Übersetzer, Schriftsteller, Kritiker, Herausgeber.

II. Zum Übersetzer: Werner Schmitz

Kurzbiographie

Generell wechselt der Ian McEwan-Übersetzer alle paar Jahre; seit Solar 2010 übersetzt Werner Schmitz die Romane. Nach Sweet Tooth 2012 ist The Children Act sein dritter McEwan. Werner Schmitz wurde 1953 in Köln geboren und lebt heute in Celle; über ihn existiert eine eigene Wikipedia-Seite[14] – als Übersetzer nicht selbstverständlich. Schmitz studierte ursprünglich Volkswirtschaft und kam erst danach zum Literaturübersetzen. Seine Spezialgebiete: Belletristik, Biographien, Texte zur Literaturgeschichte, Astronomie und Musik.

Schmitz als McEwan-Übersetzer einzusetzen, macht Sinn: Sein Astronomie-Wissen konnte er bei Solar einsetzen; Biographie- und Literaturgeschichtskenntnisse waren bei Sweet Tooth und The Children Act hilfreich, in dem auch Musik eines der untergeordneten Themen ist. Zudem beschäftigt sich Schmitz auch mit anderen großen britischen und amerikanischen Autoren. Zu seinem Portfolio zählen beispielsweise Paul Auster, Philip Roth, Ernest Hemingway, Henry Miller, Don DeLillo, und John le Carré, sowie McEwans einstiger Freund Martin Amis. Die Donna Leon-Reihe, die Biographie von Eric Clapton und einige Jugendbücher hat Schmitz ebenfalls ins Deutsche übertragen. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für „seine Übersetzungen zeitgenössischer amerikanischer Literatur, insbesondere für seine Übertragung der Romane Paul Austers“[15].

Hinsichtlich der Recherche zu Werner Schmitz‘ Renommee als Übersetzer von Ian McEwan muss erwähnt werden muss, dass wie so oft die Übersetzung an sich fast nie (siehe unten) Thema in den Rezensionen ist, sondern lediglich die Texte an sich als Werke. Natürlich deutet die fehlende Übersetzungskritik darauf hin, dass die ZT als gelungen bezeichnet werden können; als lesbarere Texte, deren Sprache hinter dem Inhalt verschwindet, so dass die Rezensenten sich ganz den Geschichten widmen können. So wie in etwa die Akustik in einem Konzertsaal nicht bewusst wahrgenommen wird, weil sie so gut ist, dass die Zuhörer sich auf die Musik konzentrieren können. Auch dass Schmitz und McEwan etwa im selben Alter sind, ist für die Übersetzung hilfreich.

Man sollte allerdings meinen, dass gerade bei bekannten Autor-Übersetzer-Konstellationen, wie im vorliegenden Fall, durchaus einmal die Übersetzung an sich in einem separaten Artikel hätte thematisiert werden können. Doch sie wird bestenfalls in einigen Rezensionen in Einzelsätzen erwähnt. Die einzigen konkreten Beschreibungen von Werner Schmitz‘ Übersetzungsleistung finden sich in Rezensionen seiner neuen Hemingway-Übersetzungen: Verschiedene Quellen schreiben, er übersetze moderner, weniger hölzern, verständlicher als Hemingways Stammübersetzerin Annemarie Horschitz-Horst, ohne dabei Hemingway zu verfremden. Auch sei es Schmitz beispielsweise gelungen, den alten Mann durch komplexere Sätze im Deutschen nicht dumm klingen zu lassen; wohingegen eine wortgetreuere Übersetzung aus dem Englischen aufgrund des einfachen Satzbaus dieses Urteil hätte erlauben können[16].

III. Inhaltliche Vorstellung des AT

Ian McEwan, The Children Act

Auf Englisch erschien The Children Act als Hardcover mit 240 Seiten zuerst in England bei Jonathan Cape (Random House Group) am 2. September. Die deutsche Übersetzung, Kindeswohl, mit 224 Seiten erschien als Hardcover im Januar 2015 bei Diogenes. Der Längenvergleich ist aufgrund der unterschiedlichen Formatierung nur bedingt aussagekräftig; der Vergleich der E-Books weist für die englische Version 2337 „Locations“ aus, für die deutsche Übersetzung 2641. Hinsichtlich der Tatsache, dass deutsche Zieltexte im Allgemeinen weitaus länger sind als ihre englischen Ausgangstexte, könnte dies einen ersten Rückschluss darauf erlauben, dass der Übersetzer Werner Schmitz getreu der Maxime der präzisen Sprache McEwans übersetzt hat.

Der Roman spielt in der heutigen Zeit (2012); der Titel ist eine Anspielung auf den 1989 im britischen Parlament verabschiedeten Children Act, in dem es um das Kindeswohl geht. Die offizielle Inhaltsangabe des englischen Textes liest sich wie folgt:

“Fiona Maye is a leading High Court judge, presiding over cases in the family court. She is renowned for her fierce intelligence, exactitude and sensitivity. But her professional success belies private sorrow and domestic strife. There is the lingering regret of her childlessness, and now, her marriage of thirty years is in crisis. At the same time, she is called on to try an urgent case: for religious reasons, a beautiful seventeen-year-old boy, Adam, is refusing the medical treatment that could save his life, and his devout parents share his wishes. Time is running out. Should the secular court overrule sincerely held faith? In the course of reaching a decision Fiona visits Adam in hospital - an encounter which stirs long-buried feelings in her and powerful new emotions in the boy. Her judgment has momentous consequences for them both.“ [17]

Im Deutschen wird Kindeswohl so zusammengefasst:

„Familienrecht ist das Spezialgebiet der Richterin Fiona Maye am High Court in London: Scheidungen, Sorgerecht, Fragen des Kindeswohls. In ihrer eigenen Ehe ist sie seit über dreißig Jahren glücklich. Da unterbreitet ihr Mann ihr einen schockierenden Vorschlag. Und zugleich wird ihr ein dringlicher Gerichtsfall vorgelegt, in dem es um den Widerstreit zwischen Religion und Medizin und um Leben und Tod eines 17-jährigen Jungen geht.“ [18]

In beiden Fällen halte ich die Inhaltsangaben für ungenügend: Das Urteil über das Schicksal des 17-jährigen Adam Henry wird als zentrales Moment im Roman dargestellt; allerdings wird es bereits am Ende der ersten Hälfte vollstreckt. Erst die daraus resultierenden Folgen in der zweiten Hälfte des Romans stellen die eigentliche Geschichte dar. The Children Act ist in fünf Kapitel aufgeteilt, die an den Aufbau des klassischen Dramas erinnern:

Abbildung 1 Die Handlung im klassischen Drama als Vorbild für The Children Act [19]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwar kann die inhaltliche Erfassung des ZT an dieser Stelle nur angedeutet werden. Jedoch halte ich es in Bezug auf die Übersetzung für wichtig, die Bedeutung der einzelnen Abschnitte des Romans hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für die Gesamtgeschichte richtig einordnen zu können. Es stellt sich zudem die Frage, ob The Children Act nicht auch eine Novelle sein könnte: Der Text ist verhältnismäßig kurz und alles dreht sich um eine zentrale Begebenheit. Dies jedoch wäre an anderer Stelle genauer zu untersuchen.

Im ersten Kapitel bereitet sich die angesehene Richterin am Familiengericht Fiona Maye, Mitte vierzig, auf einen Fall für den kommenden Tag vor; die Geschichte beginnt Ende Juni. Es geht um einen Sorgerechtsstreit unter orthodoxen Juden. Im Verlauf des Abends streitet sie mit ihrem Mann Jack, der sich über das mangelnde Sexleben in ihrer kinderlosen Ehe beklagt und sie für eine Affäre verlassen will. Der Streit setzt sich in Phasen fort, Fiona schweift jedoch gedanklich wiederholt zum morgigen Fall und zu einem anderen mit siamesischen Zwillingen ab, der sie emotional ausgelaugt hat. Zwischendurch ein Notruf: Für Dienstag wird ein Eilverfahren im Fall Adam Henry angesetzt; er ist der Sohn zweier Zeugen Jehovas, an Leukämie erkrankt und kann nur durch eine Bluttransfusion gerettet werden. Er und seine Eltern verweigern diese aufgrund ihres Glaubens.

Im zweiten Kapitel begleiten wir Fiona am Montag und am ans Gericht. Ihre Handlungen und ihr Denken springen zwischen der Ehekrise und den aktuellen Fällen hin und her; wir erfahren zudem, dass sie Klavier spielt. Am Dienstag findet die Anhörung der Parteien im Fall Adam Henry statt: Die Eltern und die Vertreter des Krankenhauses, sowie die Anwälte, vertreten ihre Positionen. Nach einer Pause hält Fiona das Schlussplädoyer und kündigt an, ins Krankenhaus fahren zu wollen, um sich selbst ein Bild von Adams Situation zu machen – und um herauszufinden ob er weiß, dass er sterben wird, wenn er die Transfusion verweigert.

Im dritten Kapitel fährt Fiona am Dienstagnachmittag ins Krankenhaus zu Adam; für eine Richterin durchaus ungewöhnlich. Die Begegnung mit Adam wird detailliert beschrieben. Die beiden sprechen über den Tod, über sein Leben, seine Gedanken und seinen Glauben. Als angehender Poet auf dem Sterbebett liest er ihr ein Gedicht vor, spielt Geige und sie singt dazu. Daraufhin fährt sie zurück ans Gericht und verkündet ihr Urteil: Adam soll gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner Eltern die Bluttransfusion erhalten. Denn das Kindeswohl steht über dem religiösen Glauben und Adams Verhalten weise darauf hin, dass er leben wolle. Nachts zuhause wartet Jack vor der Tür auf sie. Sie lässt ihn herein, jedoch findet keine Aussprache zwischen den beiden statt.

Im vierten Kapitel ist Spätsommer, einige Monate sind vergangen, jedoch hat sich an der Situation zwischen Fiona und Jack nichts geändert. Fiona erhält einen Brief von Adam. Er hatte sie zunächst für ihr Urteil zu seinem Überleben gehasst, es mittlerweile aber verstanden und sich vom Glauben seiner Eltern abgewandt und nun habe er Fragen an sie. Fiona jedoch wahrt professionelle Distanz und antwortet nicht. Als ein zweiter Brief kommt, schickt sie eine Sozialarbeiterin zu Adams Familie, die sich von seinem Wohlbefinden überzeugt. Eine morgendliche Frühstücksszene zwischen ihr und Jack stellt einen ersten Anhaltspunkt zur Wende in der Ehekrise dar. Sodann bricht Fiona auf zu einer Reise in ländliche Gebiete, um an den dortigen Gerichten Recht zu sprechen. Am ersten Abend in Newcastle trifft sie auf Kollegen; auf einmal steht Adam vor der Tür, der bei ihr leben möchte. Sie schickt ihn zurück nach Hause. Zur Verabschiedung jedoch küsst sie ihn und befürchtet, dieser Moment der Selbstentgleisung könne berufliche Folgen haben, obwohl sie anscheinend dabei nicht gesehen wurde.

Im fünften Kapitel vergeht Fionas restliche Reise im Zeitraffer; sie verabredet sich zu ihrer Rückkehr mit Jack. Ausschnitte aus ihrem Leben zeigen, dass die beiden sich langsam wieder an einander gewöhnen. Ende Oktober kommt erneut ein Brief; er trägt den Titel: „Die Ballade von Adam Henry“. Fiona ignoriert ihn erneut, obwohl sie in Gedanken zurückschreibt. Danach dreht sich die Geschichte um die bevorstehende Weihnachtsaufführung, bei der Fiona und ihr Kollege Mark gemeinsam auftreten werden. Am Abend des Konzerts erfährt Fiona, dass Adam sich umgebracht hat. Sie übersteht die Vorführung und flieht danach nach Hause, um die zunächst unleserliche letzte Zeile der Ballade Adams zu entziffern. Sie erkennt, dass sie Adams Tod durch ihr Schweigen mitverschuldet hat. Als Jack sie findet, will sie zunächst nicht darüber sprechen, letzten Endes offenbart sie sich ihm aber und teilt sich ihm mit:

„Sie lagen Auge in Auge im Halbdunkel, und während die große, vom Regen reingewaschene Stadt jenseits des Zimmers in ihre sanfteren nächtlichen Rhythmen zurückfand, und ihre Ehe holpernd in ihren gewohnten Gang, erzählte sie ihm mit fester, ruhiger Stimme von ihrer Scham, von der Liebe dieses wunderbaren Jungen zum Leben und von ihrem Anteil an seinem Tod.“

Am Ende des Romans findet somit eine überraschende Wendung statt: Zu Beginn ist Fionas Privatleben aus dem Gleichgewicht geraten, dafür hat sie beruflich Erfolgt. Zum Ende hin haben sich die Waagschalen ins genaue Gegenteil gekippt; ihre Ehe heilt, doch beruflich ist ihr die Situation mit Adam Henry entglitten. Nach Genette ist die erzählte Zeit in The Children Act meist länger als die Erzählzeit; jedoch gibt es einige Schlüsselstellen, in denen sie gleichzeitig verlaufen: Bei Begegnungen von Fiona und Adam, an zentralen Punkten im Ehestreit zwischen Fiona und Jack, oder wenn Fionas Gedanken um die Briefe kreisen, die sie Adam niemals schreibt. Die erzählte Zeit erstreckt sich insgesamt über ein halbes Jahr.

Inspiration für The Children Act

Am 5. September 2014, drei Tage nach dem Roman, veröffentlichte Ian McEwan einen Essay auf der Webseite des Guardian [20]. Darin beschreibt er, was ihn zu The Children Act inspiriert hat; sowohl inhaltlich, als auch sprachlich. Für den Übersetzer ist diese Selbsterklärung hilfreiches Material, um den Autor besser verstehen zu können. Denn gerade bei berühmten Schriftstellern dürfte es sich in der Praxis als schwierig erweisen, direkt während der Übersetzung in Kontakt zu treten und nachzufragen, wenn etwas unklar ist.

In diesem Essay also schreibt McEwan, er habe vor einigen Jahren an einem Dinner mit einigen Richtern teilgenommen, die sich über ihre Fälle vor Gericht unterhalten hatten. Beeindruckt habe ihn dabei sowohl die Präzision in der Recherche und Ausführung der Gerichtsurteile, als auch die ästhetische Sprache in der Urteilsverkündigung:

“At one point, our host […] got up and reached from a shelf a bound volume of his own judgments. An hour later, when we had left the table for coffee, that book lay open on my lap. It was the prose that struck me first. Clean, precise, delicious. Serious, of course, compassionate at points, but lurking within its intelligence was something like humour, or wit, derived perhaps from its godly distance, which in turn reminded me of a novelist's omniscience. I continued to note the parallels between our professions, for these judgments were like short stories, or novellas; the background to some dispute or dilemma crisply summarised, characters drawn with quick strokes, the story distributed across several points of view and, towards its end, some sympathy extended towards those whom, ultimately, the narrative would not favour.”

[...]


[1] Steiner, George. 2004 [1975]. „The Hermeneutic Motion“. The Translation Studies Reader. Hrsg. Lawrence Venuti. New York/London: Routledge. 193-198.

[2] Quelle: http://www.ianmcewan.com/bib/books/ abgerufen am 19.7.2015

[3] Quelle: http://www.theguardian.com/books/2008/jun/12/ian.mcewan?cat=books&type=article abgerufen am 19.7.2015

[4] Quelle: http://literature.britishcouncil.org/ian-mcewan abgerufen am 19.7.2015

[5] Quelle: http://www.theguardian.com/books/2014/sep/05/ian-mcewan-law-versus-religious-belief abgerufen am 19.7.2015

[6] Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-131147853.html abgerufen am 19.7.2015

[7] Zu The Children Act: http://www.ianmcewan.com/bib/books/childrenact.html abgerufen am 19.7.2015

[8] Quelle: http://www.ianmcewan.com/bib/books-about/ abgerufen am 19.7.2015

[9] Quelle: http://www.ianmcewan.com/bib/dissertations/ abgerufen am 19.7.2015

[10] Quelle: https://www.facebook.com/pages/Ian-McEwan/305499726425 abgerufen am 19.7.2015

[11] Quelle: https://www.academia.edu/Documents/in/Ian_McEwan abgerufen am 19.7.2015

[12] Quelle: https://www.researchgate.net/search.Search.html?type=publication&query=ian%20mcewan&tabViewId=55ab2b53614325548c8b4587&previous=researcher abgerufen am 19.7.2015

[13] Quelle: https://www.quora.com/Ian-McEwan-author abgerufen am 19.7.2015

[14] Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Schmitz_(%C3%9Cbersetzer) abgerufen am 19.7.2015

[15] Quelle: http://www.boersenblatt.net/447481/ abgerufen am 19.7.2015

[16] Beispiele für Rezensionen von Werner Schmitz‘ Hemingway-Übersetzungen, jeweils abgerufen am 19.7.2015 - http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/das-problem-mit-der-einfachheit-1.17486387 - http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article111310378/Wenn-der-Fisch-des-alten-Mannes-zu-stinken-anfaengt.html - https://www.perlentaucher.de/buch/ernest-hemingway/paris-ein-fest-fuers-leben.html - https://www.perlentaucher.de/buch/ernest-hemingway/der-alte-mann-und-das-meer.html - https://www.perlentaucher.de/buch/ernest-hemingway/fiesta-roman.html

[17] Quelle: http://www.ianmcewan.com/bib/books/childrenact.html abgerufen am 19.7.2015

[18] Quelle: http://www.diogenes.de/leser/katalog/a-z/k/9783257069167/buch abgerufen am 19.7.2015

[19] Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Regeldrama_Aristoteles.jpg abgerufen am 19.7.2015

[20] Quelle: http://www.theguardian.com/books/2014/sep/05/ian-mcewan-law-versus-religious-belief abgerufen am 19.7.2015

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Herausforderungen an die Übersetzer anhand Ian McEwans "The Children Act" und Werner Schmitz' "Kindeswohl"
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Anglistik)
Veranstaltung
Übersetzungskritik
Note
Unbenotet
Autor
Jahr
2015
Seiten
49
Katalognummer
V303763
ISBN (eBook)
9783668021112
ISBN (Buch)
9783668021129
Dateigröße
778 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ian McEwan, Übersetzung, Übersetzungskritik, Anglistik, Roman, Literaturwissenschaft, Walter Benjamin, Lance Hewson, Tobias Döring, Claudia Schattmann-Kuntschner, Kate Fox, Immanuel Kant, George Steiner, Werner Schmitz, Radegundis Stolze, Übersetzungstheorie, Translation, Übersetzungswissenschaft, Translation Studies, Literaturübersetzung, Literary Translation, Englisch
Arbeit zitieren
Simone Lackerbauer (Autor:in), 2015, Herausforderungen an die Übersetzer anhand Ian McEwans "The Children Act" und Werner Schmitz' "Kindeswohl", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/303763

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