Hintergründe und Wesen der befreienden Alphabetisierung bei Paulo Freire und Anwendung seiner Konzeption in der politischen Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen


Hausarbeit, 2000

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Emanzipatorische Alphabetisierung – Sprachschule der Freiheit
1. ‘Kultur des Schweigens’ und ‘Kultur des Lärms’
2. Lesen und Schreiben ist mehr...

III. Die Konzeption Paulo Freires hierzulande – Politische Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen
1. Voraussetzungen und Rahmenbedingungen
2. Die praktische Umsetzung
a) Grundvorbereitung
b) Untersuchung des Wortschatzes der Gruppe
c) Auswahl der generativen Wörter
d) Erarbeiten der Kodierungen
e) Ausarbeiten von Arbeitsplänen
f) Vorbereitung von Übungstafeln
g) Dekodierung im Dialog
3. Schwierigkeiten bei der Durchführung

IV. Schlußbetrachtung

V. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Der Brasilianer Paulo Freire war einer der bedeutendsten Pädagogen überhaupt. Seine pädagogischen Grundsätze spiegeln sich heute in vielen Bereichen wider und sind schon fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Er selbst nannte sich unter anderem auch deshalb „Wanderprediger des Offensichtlichen“[1]. Trotzdem wurde und wird die Bedeutung und vor allem die Verwendbarkeit seiner pädagogischen Prinzipien und seiner Konzeption für die Verhältnisse hierzulande oft bestritten. Diese Zweifel möchte ich mit der vorliegenden Arbeit versuchen zu relativieren und die Relevanz der Theorie und Praxis Freires gerade – aber nicht nur – für die (Alphabetisierungs-)Arbeit mit MigrantInnen in Deutschland herausstellen.

Der Kontext der lateinamerikanischen Realität und das dadurch geprägte Leben Freires waren der Nährboden für seine Pädagogik. Um ihn und sein Lebenswerk wirklich verstehen zu können, ist es absolut notwendig, diese Hintergründe zu kennen und immer wieder im Blick zu haben. Da ich mich schon seit längerer Zeit mit Lateinamerika im Allgemeinen und Freire im Besonderen beschäftige, verzichte ich wegen des begrenzten Umfangs dieser Arbeit auf eine Darstellung des soziohistorischen und biografischen Kontextes.

Im ersten Teil meiner Arbeit werde ich darauf eingehen, wie sich Unterdrückung auf Menschen auswirkt. In Folge zeige ich auf, unter welchen Bedingungen und inwiefern Alphabetisierung zur Befreiung beitragen kann. Im darauf aufbauenden zweiten Teil skizziere ich eine meiner Meinung nach ziemlich gelungene Übertragung von Freires Konzept auf die politische Alphabetisierungsarbeit mit Migrantenjugendlichen in Deutschland.

II. Emanzipatorische Alphabetisierung – Sprachschule der Freiheit

1. ‘Kultur des Schweigens’ und ‘Kultur des Lärms’

In seinem Buch ‘Pädagogik der Unterdrückten’ beschreibt Paulo Freire eindrucksvoll ein Phänomen, welches er ‘Kultur des Schweigens’ genannt hat. Damit gemeint ist die Sprachlosigkeit der Unterdrückten angesichts einer für sie übermächtig und unveränderlich erscheinenden Realität der Unterdrückung. Es ist ein Schweigen der Hoffnungslosigkeit aufgrund einer täglichen zermürbenden Ohnmachtserfahrung. Und dieses Phänomen ist mit Sicherheit überall und nicht nur in den sogenannten ‘Dritte-Welt-Ländern’ zu finden, wenngleich es in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten kann.[2]

So spricht Alexander J. Seiler in seinem Interview mit Freire von einer ‘Kultur des Lärms’ in Industriestaaten.[3] Im Bezug darauf stellt Paulo Freire die folgende Verbindung her:

„Daß Sie die Kultur der industrialisierten Welt als ‘Kultur des Lärms’ bezeichnen, ist sehr interessant, denn es heißt nichts anderes, als daß die Kultur des Schweigens in einem bestimmten Augenblick dialektisch in die Kultur des Lärms umschlägt. (...) Lärm besteht aus Worten, die wir nicht richtig sagen können, weil uns die historische Praxis fehlt. Lärm ist der Anschein, eine Stimme zu haben, aber solange wir bloß Lärm machen, haben wir keine Stimme. In diesem Sinn ist die Kultur des Lärms eine Dimension der Kultur des Schweigens. Und in diesem Sinn gibt es in der sogenannten Ersten Welt die Kultur des Schweigens so gut wie die Kultur des Lärms.“[4]

Die von Verzweiflung geprägte Sprachlosigkeit – ob nun als Schweigen oder Lärm – gipfelt in einer Selbsterniedrigung. Das bedeutet, daß die Unterdrückten irgendwann selbst von ihrer angeblichen allgemeinen Unfähigkeit überzeugt sind. Sie nehmen diese für sie aussichtslose Situation oft sogar als ‘gottgegeben’ oder ‘schicksalsbestimmt’ hin. In vielen Fällen bleibt nur Selbstzerstörung im Sinne von Gewalt gegen sich selbst (z.B. Drogenmißbrauch) und gegen ihresgleichen (z.B. Schlägereien) als Ventil.[5]

2. Lesen und Schreiben ist mehr

Ausgehend von den beschriebenen Folgen der Unterdrückungssituation und dem darauf basierenden Grundsatz Freires, „Erziehung kann niemals neutral sein.“[6], muß Alphabetisierung die unterdrückten Menschen zur Selbstbefreiung befähigen. Dies ist nur möglich, wenn Lesen und Schreiben nicht mehr nur in reduzierter Sichtweise als mechanische Fähigkeiten verstanden werden. Freire schreibt hierzu:

„Viel wichtiger als die Technik des Lesens und Schreibens zu beherrschen ist es, die Wirklichkeit lesen und schreiben zu lernen, d.h. die Wirklichkeit zu verstehen, zu begreifen, zu verändern.“[7]

Alphabetisierung muß von einem emanzipatorischen Ansatz getragen sein, will sie wirklich die Menschen dazu anleiten, die ersten Schritte in die Freiheit zu tun. Wie aber kann durch Alphabetisierung ein Befreiungsprozeß in Gang gesetzt werden?

Sehr vereinfachend dargestellt wird der Vorgang des Lesen- und Schreibenlernens wie folgt auf die konkrete Lebenswelt der Analphabeten bezogen.[8] Dazu werden die Menschen mit Schlüsselwörtern in kodierter Form, z.B. als Bilder, Dias, etc. konfrontiert. Wichtig dabei ist, daß die in den Kodierungen versteckten Schlüsselwörter den Menschen bekannte Realitäten repräsentieren. Durch die Beschäftigung mit den verschlüsselten Darstellungen beginnt eine Dekodierung derselben. Die Analphabeten werden dazu angeregt, die Kodierungen kritisch zu analysieren und darüber zu sprechen. Dadurch kristallisieren sich nach und nach die entscheidenden Schlüsselwörter heraus, die dann als Grundlage für das Erlernen bzw. Üben und Verbessern der Lese- und Schreibtechnik dienen. Entscheidend ist der Vorgang der Bewußtseinsbildung oder Bewußtwerdung, womit das kritische Begreifen der Realität gemeint ist, welches schließlich zur schöpferischen Praxis mit Aktion und Reflexion führen muß.[9]

„Nur wer die Welt ‘benennen’ kann, ist in der Lage, sie zu begreifen und daraufhin auch zu verändern. (...) Alphabetisierung entwickelte sich bei Paulo Freire als Sprachschule der Freiheit.“[10]

III. Die Konzeption Paulo Freires hierzulande – Politische Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen

Im Folgenden versuche ich darzustellen, wie Freires Alphabetisierungskonzeption auf hiesige Verhältnisse – in diesem Fall die politische Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen – angewendet werden kann. Die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes in der Arbeit mit ausländischen Kindern, und nicht nur Kindern, liegt auf der Hand.

„Millionen von Migrantenkindern müssen das Lesen und Schreiben deutscher Wörter einüben, doch sind dies nur zu oft Sprachhülsen, deren Sinn den Kindern nicht aufgeht. Die eigene Kultur oder nur die eigenen Lebensumstände kommen in diesen Übungen kaum vor.“[11]

Dieser Situation Rechnung tragend, entwickelte Petra Datta basierend auf Freires Pädagogik und Methode ein Rahmenkonzept, welches für unterschiedliche Bezugsgruppen modifiziert werden kann.

[...]


[1] Freire 1981, S. 85

[2] vgl. Lange 1971, in: Freire 1998, S. 10 f.

[3] vgl. Freire 1981, S. 133 ff.

[4] ebd., S. 136

[5] vgl. Freire 1998, S. 48 f.

[6] Lange 1971, in: Freire 1998, S. 13

[7] Freire 1981, S. 104 f.

[8] siehe hierzu ausführlich Kapitel III. 2.

[9] vgl. Freire 1998, S. 79 ff.

vgl. Simpfendörfer 1991, S. 7 in: Dabisch und Schulze (Hg.) 1991

[10] ebd., S. 6

[11] Dabisch 1999, S. 26 f. in: Dabisch (Hrsg.) 1999

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Hintergründe und Wesen der befreienden Alphabetisierung bei Paulo Freire und Anwendung seiner Konzeption in der politischen Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Veranstaltung
Analphabetismus als gesellschaftliche und pädagogische Herausforderung
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
14
Katalognummer
V33773
ISBN (eBook)
9783638341691
Dateigröße
511 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit wird zwar Referat genannt, ist aber eine schriftliche Ausarbeitung entsprechend einer Hausarbeit, die wissenschaftlichen Kriterien entspricht!
Schlagworte
Hintergründe, Wesen, Alphabetisierung, Paulo, Freire, Anwendung, Konzeption, Alphabetisierung, Migrantenjugendlichen, Analphabetismus, Herausforderung
Arbeit zitieren
Thomas Haug (Autor:in), 2000, Hintergründe und Wesen der befreienden Alphabetisierung bei Paulo Freire und Anwendung seiner Konzeption in der politischen Alphabetisierung mit türkischen Migrantenjugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33773

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