"Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich." In diesem Zitat der deutsch-jüdischen Lyrikerin Else Lasker-Schüler offenbart sich bereits die Problematik, die sich aus der Auseinandersetzung mit ihrem Leben und Werk ergibt. So tendiert sie dazu, Fakten über ihr Leben entweder gänzlich zu verschweigen oder sie in ihrem Werk und der vorgenommenen Selbstmystifizierung so stark zu poetisieren, dass die Frage nach einer Dokumentation der Realität erhebliche Schwierigkeiten aufwirft. Dieser enorme Drang nach Poetisierung und Mystifizierung ihres Lebens ist im Wesentlichen in dem Unvermögen begründet, sich in der Realität zurechtzufinden. Lediglich ihre grenzenlose Fantasie und die daraus resultierende Lyrik helfen Lasker-Schüler, den Alltag zu überstehen: „Ich sterbe am Leben und atme im Bilde wieder auf.“ Diese Tendenz konfrontiert jedoch einen jeden, der sich mit ihrem Werk auseinandersetzt, mit der Herausforderung eines nahezu grenzenlosen Übergangs zwischen Realität und Fiktion sowie Werk und Autorin.
Die vorherrschende Deutung der Forschung fokussiert sich überwiegend auf die autobiografischen Elemente ihres Werkes und interpretiert dieses als Spiegel ihres Lebens. Auch bei ihrem Gedichtzyklus Gottfried Benn, der im Zentrum dieser Arbeit steht, dominiert die Lesart, die 1917 erstmals veröffentlichten Gedichte als Dokumentation einer vermeintlichen Liebesbeziehung zwischen Lasker-Schüler und dem Dichter Gottfried Benn zu deuten. Obwohl die offenkundige Nennung Benns im Titel diese Deutung zunächst nahelegen mag, scheint mir die – in der Sekundärliteratur weniger vertretene – Vorgehensweise angemessener, verstärkt zwischen Werk und Biografie der Lasker-Schüler zu differenzieren und insbesondere bei Rückschlüssen von der Lyrik auf ihr Leben Vorsicht walten zu lassen. Dieser Ansatz sieht sich auch durch de Mans Aufsatz Autobiographie als Maskenspiel bestärkt: Ihm zufolge sei eine Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiografie „keine Frage von Entweder-Oder […], sondern unentscheidbar.“ Denn während jede Fiktion allein durch ihre Autorenschaft persönlich geprägt sei, gehe es in der Autobiografie umgekehrt wie bei jedem fiktionalen Buch „um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration.“
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Leben und Selbstmystifizierung der Lasker-Schüler
2.1 Die Kindheit als verlorenes Paradies
2.2 Abkehr vom bürgerlichen Leben
3 Der ‚Spielgefährte‘ Gottfried Benn
4 Mystische Welten: Die Lyrikerin in ihrem Verhältnis zur Religion
5 Einbettung der Lyrik Lasker-Schülers im Zeitkontext
5.1 Gattungsmerkmale und Lebensgefühl des Expressionismus
5.2 Lasker-Schüler - eine expressionistische Lyrikerin?
6 Das einseitige Gespräch des lyrischen Ichs mit dem lyrischen Du
7 Überwindung der Einsamkeit und Verlorenheit
8 ÄDer kühle Tag“: Ablehnung des irdischen Daseins
9 Gegenwelt zur Realität: auf der Suche nach dem verlorenen Paradies
9.1 Himmlische Bildbereiche als mystische Symbole
9.2 Die Bedeutung der Farbmetaphorik
9.2.1 Blau und Gold: die Farben des Himmlischen
9.2.2 Schwarz und Weiß: die Farben der irdischen Welt
9.2.3 ‚Bunt‘: die Farbe des lyrischen Ichs
9.2.4 Rot: die Farbe des Lebens und der Liebe
9.3 Die Liebe als Maske für die Gottessuche
9.4 Daseinsbewältigung reflektiert in der Naturbeschreibung
10 Das Spiel mit dem lyrischen Du als Daseinsüberwindung
10.1 Das erotische Liebesspiel
10.2 Kindliches Spiel als Eskapismus
11 Die Liebe als daseinsbewältigende Macht? Die paradoxe Beziehung zum lyrischen Du
12 Ausblick
13 Literaturverzeichnis
13.1 Primärliteratur
13.2 Sekundärliteratur
14 Abkürzungsverzeichnis
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