Berufsrisiko Traumatisierung – Die verletzten Seelen der Lokführer

Über die Gefahr von Traumafolgestörungen nach Personenunfällen und die Wirkung von Resilienzfaktoren


Masterarbeit, 2015

139 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Verortung
2.1 Personenunfälle
2.2 Trauma und Traumafolgestörungen
2.2.1 Traumadefinition
2.2.2 Traumaarten
2.2.3 Erleben des Traumas
2.2.3.1 Akute Belastungsreaktion
2.2.3.2 Die traumatische Zange
2.2.4 Traumafolgestörungen
2.2.4.1 Posttraumatische Belastungsstörung
2.2.4.2 Anpassungsstörung
2.2.4.3 Dissoziative Störung
2.2.4.4 Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung
2.2.5 Komorbide Störungen
2.2.5.1 Depressive Störungen
2.2.5.2 Angststörungen
2.2.5.3 Somatisierungsstörungen
2.2.5.4 Substanzmittelmissbrauch
2.2.5.5 Essstörungen
2.2.5.6 Zwangsstörungen
2.2.5.7 Borderline-Persönlichkeitsstörung
2.2.5.8 Suizidalität
2.2.6 Einflussfaktoren für Traumafolgestörungen
2.3 Resilienz
2.3.1 Begriffsbestimmung
2.3.2 Entwicklung der Resilienzforschung
2.3.3 Resilienzfaktoren
2.3.3.1 Schutzfaktoren
2.3.3.2 Risikofaktoren

3 Stand der Forschung
3.1 Die Angst fährt immer mit
3.2 Unfreiwillige Helfer von Selbstmördern
3.3 Posttraumatische Belastungsstörungen bei Lokomotivführern

4 Methodisches Vorgehen
4.1 Fragestellung
4.2 Erhebungsmethode
4.2.1 Operationalisierung
4.2.1.1 ETI – Das Essener Trauma-Inventar
4.2.1.2 Resilienzskala
4.2.1.3 Erhebungsinstrument
4.2.2 Pretest
4.3 Durchführung der Untersuchung
4.3.1 Stichprobe
4.3.2 Durchführung der Datenerhebung
4.4 Auswertungsmethode

5 Darstellung der Daten
5.1 Zusammenfassung Interview 1 (I-01)
5.2 Zusammenfassung Interview 2 (I-02)
5.3 Zusammenfassung Interview 3 (I-03)
5.4 Zusammenfassung Interview 4 (I-04)

6 Auswertung der Ergebnisse
6.1 Berufsalltag
6.2 Unfallerleben
6.2.1 Erleben vor dem Unfall
6.2.2 Erleben während des Unfalls
6.2.3 Erleben nach dem Unfall
6.3 Pflichten der Lokführer bei Unfällen
6.4 Traumafolgestörungen
6.5 Längerfristige Auswirkungen
6.6 Unterstützungsangebote
6.7 Resilienzfaktoren
6.7.1 Personale Schutzfaktoren
6.7.2 Soziale Schutzfaktoren
6.7.3 Potentielle Risikofaktoren

7 Diskussion
7.1 Diskursive Betrachtung der Ergebnisse
7.1.1 Subjektives Erleben der Personenunfälle
7.1.2 Traumafolgestörungen aufgrund erlebter Personenunfälle
7.1.3 Wirkung von Resilienzfaktoren bei der Traumaverarbeitung
7.1.4 Weitere Wirkfaktoren im Kontext des Traumaerlebens
7.2 Beitrag zum Forschungsstand
7.3 Methodenkritische Reflexion

8 Pädagogische Handlungsmöglichkeiten: Ein Ausblick

9 Quellenverzeichnis

10 ANHANG
10.1 Erhebungsbogen
10.2 Interviewleitfaden

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Gemeldete Unfälle in 2013 lt. Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle

Abbildung 2: Die Traumatische Zange nach Michaela Huber

Abbildung 3: Kriterien für die Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10

Abbildung 4: Rahmenmodell der Ätiologie von Traumafolgen

Abbildung 5: Gegenüberstellung der Resilienzskalen RS-25 und RS-11

1 Einleitung

„Aber ich verstehe eigentlich grundsätzlich diese Menschen nicht. Warum müssen die, die sich das Leben nehmen wollen, warum müssen die uns damit reinziehen? Warum muss ich da andere mit belasten? Er ist seine Last von jetzt auf gleich los und schiebt die auf mich ab. Und ich hab da gar nichts mit zu tun.“

(Interview 02)

„Wenn ich groß bin, werde ich Lokomotivführer.“ – Das ist der Traum vieler kleiner Jungen. Bereits ‚Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer‘ oder ‚Thomas die kleine Lokomotive‘ begeistern unzählige Kinder mit ihren Abenteuern. In nicht wenigen Kinderzimmern findet man Miniatureisenbahnen, mit denen leidenschaftlich der Eisenbahnalltag nachgespielt wird. Nicht selten entsteht dabei der Wunsch, selbst einmal eine echte Lokomotive zu fahren. Doch ist es wirklich ein Traumberuf? Auf der einen Seite sicherlich – die Kraft und Technik der Lokomotiven, der abwechslungsreiche Alltag und die tägliche Herausforderung im Umgang mit Mensch und Maschine machen den besonderen Reiz dieses Berufes aus. Doch auf der anderen Seite ist der Beruf des Triebfahrzeugführers (Tf) auch ein sehr stressiger. Tf tragen eine hohe Verantwortung und müssen stets anpassungsfähig sein, denn es kann immer wieder zu Störungen und Änderungen im Bahnverkehr kommen. Ständig wechselnde Schichtpläne belasten sie zusätzlich physisch und psychisch. Kein Tag ist letztlich wie der andere. Und einige sind besonders außergewöhnlich. Das sind die Tage, bei denen ein Tf in einen Personenunfall verwickelt ist. Diese Unfälle kommen häufiger vor, als man annimmt, denn nur die wenigsten Unfälle werden in den Medien thematisiert. Personenunfälle sind für einen Lokführer ein tägliches Berufsrisiko.

Ein großer Teil dieser Personenunfälle wird durch Suizidenten verursacht. Eine Selbsttötung, herbeigeführt durch Überfahrenlassen von einem Zug, impliziert bereits einen Widerspruch in sich. ‚Selbsttötung‘ – sich selbst töten – ist definiert als vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens. Dies entscheidet man selbst, dies führt man selbst durch. Bahnsuizidenten fügen sich diesen gewählten Tod jedoch nicht selbst zu, sie benutzen den Zug und letztlich auch den Lokführer als Werkzeug.

Machtlos und ungewollt werden Lokführer so zu Beteiligten. Sie können dieser Situation nicht entfliehen. Sie können nicht ausweichen, nicht weglaufen und häufig aufgrund physikalischer Gesetze auch nicht rechtzeitig bremsen. Sie sind dieser Situation ausgeliefert. Diese Ausweglosigkeit führt dazu, dass ihre Seele leidet. Sie allein bleiben mit der Aufgabe zurück, mit diesem Erlebnis zurechtzukommen und den Gedanken zu überwinden, dass sie an der Tötung eines Menschen beteiligt waren.

Wie jedoch kann dies gelingen? Wie können Menschen angesichts derartiger Erlebnisse gesund bleiben? Warum sind einige Lokführer besser in der Lage, diese Unfälle zu überwinden als andere? Welche Faktoren haben dabei einen Einfluss?

Personenunfälle – die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod oder schwersten Verletzungen eines anderen Menschen – bedeuten zunächst einmal für jeden Lokführer das Erleben eines Traumas. Doch immer wieder ist auffällig, dass allein das Trauma noch keine Traumafolgestörungen nach sich ziehen muss, denn Art und Schwere eines Traumas allein können diese nicht erklären. Ein Indiz dafür ist die enorm schwankende Länge der Arbeitsunfähigkeit. Einige Lokführer sitzen bereits nach Tagen wieder auf der Lok, andere fallen für Monate aus, wieder andere sind nie wieder in der Lage einen Zug zu steuern. Als Frau eines Lokführers habe ich dieses Phänomen bereits oft beobachtet, was mich letztlich auch zu dieser Arbeit motivierte. Welche Faktoren spielen letztlich bei der Bewältigung derartiger Ereignisse eine Rolle? Ausgehend von der Annahme, dass Menschen individuelle Ressourcen und Schutzfaktoren besitzen, die die Verarbeitung eines Traumas günstig bedingen, zielt diese Arbeit darauf ab, eine Aussage darüber zu treffen, inwiefern das Erleben eines Personenunfalles das Risiko birgt, nachfolgend an einer Traumafolgestörung zu erkranken und welche Faktoren dieses Risiko senken oder auch erhöhen.

Einleitend wird dafür unter Punkt zwei der theoretische Hintergrund beleuchtet. Dabei wird als erstes erläutert, was Personenunfalle sind und wie häufig diese im deutschen Bahnverkehr vorkommen. Als zweites wird zusammengefasst, was ein Trauma ist. Nach einer Definition des Begriffes werden verschiedene Trauma-Ar-ten erklärt. Egal jedoch, welche Traumatisierung einem Menschen widerfährt, alle geraten in dieser Extremsituation an ihre eigenen Grenzen. Sie fühlen sich hilflos und ohnmächtig. Ein Trauma löst Angst und Entsetzen aus. Wie der Mensch in dieser akuten Situation körperlich und auch psychisch reagiert, wird hier im nächsten Abschnitt erklärt. Explizit wird dabei auf die Akute Belastungsreaktion eingegangen, die in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) als unmittelbare Reaktion des menschlichen Organismus auf ein traumatisches Erlebnis zählt. Außerdem wird die ‚traumatische Zange‘ veranschaulicht, die quasi das Notfallprogramm des menschlichen Gehirns beschreibt, um ein Trauma durch automatische Schutzmechanismen abzuwehren. Gelingt eine Verarbeitung des Traumas nicht, kommt es zu Traumafolgestörungen, die nachfolgend beschrieben werden. Dabei wird sowohl auf die verschiedenen Arten von Traumafolgestörungen eingegangen, als auch auf mögliche Begleiterkrankungen. Drittens wird nachfolgend der Begriff Resilienz eingeführt. Unterschiedliche Faktoren, sowohl biologische, psychologische als auch psychosoziale haben Einfluss darauf, wie ein Mensch mit belastenden Lebenssituationen umgeht. Welche Forschungen diese Schutzfaktoren ermittelt haben, wird an dieser Stelle dargestellt, bevor einzelne Schutz- und Risikofaktoren explizit beschrieben werden.

Punkt drei der Arbeit befasst sich mit drei für das Thema der Arbeit bedeutenden Studien, die sich ebenfalls mit dem Thema Trauma durch Bahnunfälle bzw. Bahnsuiziden beschäftigen. Zunächst wird die Studie von Doris Denis vorgestellt, die das subjektive Erleben und mögliche Bewältigungsstrategien Berliner U-Bahnfahrer untersucht. Danach folgt eine Zusammenfassung eines Artikels über die sozialen Bedingungen emotionaler Belastung von Lokführern durch Bahnsuizide und Formen ihrer Bewältigung, die durch teilnehmende Beobachtungen und Interviews ermittelt wurden. Abschließend wird eine Studie der Universität Köln beschrieben, die posttraumatische Beschwerden, ihren Verlauf und mögliche therapeutische Interventionen untersucht.

Dem Forschungsinteresse wird sich empirisch durch qualitative Methoden genähert. Die damit verbundenen Arbeitsschritte, von der Formulierung der Fragestellung, über die Erhebung der Daten bis zur Auswertungsmethoden, werden unter Punkt vier erläutert. Anschließend werden unter Punkt fünf die erhobenen Daten übersichtsartig dargestellt.

Sechstens erfolgt die Auswertung der Ergebnisse. Dabei werden die wissenschaftlichen Daten, orientiert am entwickelten Kategoriensystem, zusammengefasst und bewertet. Unter Punkt sieben werden diese Ergebnisse anschließend wissenschaftlich diskutiert. In einem ersten Schritt werden die Ergebnisse diskursiv betrachtet. Schlussfolgernd wird danach das Fazit als Beitrag zum Forschungsstand gezogen. Abschließend folgt eine Reflexion des methodischen Vorgehens. Punkt acht gibt einen Ausblick auf mögliche pädagogische Handlungsmöglichkeiten im Kontext von berufsbedingten Traumatisierungen und stellt mögliche neue Forschungsvorschläge heraus.

An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung nur die männliche Form verwendet wird. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.

2 Theoretische Verortung

Um Sachverhalte dieser Studie theoretisch begründen zu können, werden an dieser Stelle zunächst die für die Fragestellung relevanten Konstrukte erklärt.

2.1 Personenunfälle

Als Unfall im Eisenbahnbetrieb gilt lt. Richtlinie RL 2004/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über Eisenbahnsicherheit in der Gesellschaft „ein unerwünschtes oder unbeabsichtigtes plötzliches Ereignis oder eine besondere Verkettung derartiger Ereignisse, die schädliche Folgen haben.“ Sie werden unterschieden in die Kategorien Kollisionen, Entgleisungen, Unfälle auf Bahnübergängen, Unfälle mit Personenschäden, die von fahrenden Fahrzeugen verursacht wurden, Bränden und sonstigen Unfällen. Außerdem gibt es schwere Unfälle wie Zugkollisionen oder Zugentgleisungen.

Laut dem jährlich veröffentlichten Jahresbericht der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) sind im Jahr 2013 (Zahlen für 2014 liegen noch nicht vor) 2.353 gefährliche Ereignisse im Eisenbahnbetrieb gemeldet worden. Davon waren 724 Störungen, die den sicheren Betrieb eines Zuges gefährden, und 1.629 Unfälle. Von den verzeichneten Unfällen sind rund die Hälfte Personenunfälle. (vgl. EUB 2013, 10)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Gemeldete Unfälle in 2013 lt. Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle
(vgl. EUB 2013, 10)

Personenunfälle werden unterschieden in Unfälle am bewegten oder stehenden Eisenbahnfahrzeug. Zu Unfällen am bewegten Fahrzeug zählen Unfälle, bei denen Personen von fahrenden Zügen verletzt oder auch getötet werden. So können Personen beispielsweise durch Fahrzeugteile oder fehlerhaft gesicherte Ladungen gefährdet werden. Auch Stürze aus einem fahrenden Zug durch Auf- oder Abspringen führen zu Unfällen. Beim Aufenthalt im Gleisbereich kann es sowohl für Mitarbeiter des Eisenbahnunternehmens als auch für unberechtigte Dritte zu gefährlichen Situationen kommen. Ein besonderer Fall von Personenunfällen durch fahrende Züge sind Bahnübergangsunfälle. Hier werden Bahnübergangsbenutzer durch Zusammenprall mit einem Schienenfahrzeug verletzt oder getötet. Personenunfälle am stehenden Fahrzeug sind insbesondere Unfälle, die sich während des Ein- und Aussteigens der Fahrgäste ereignen. Auch im täglichen Eisenbahnbetrieb kann es am stehenden Zug zu Arbeitsunfällen im Betriebsdienst kommen, beispielsweise beim Zusammenkuppeln der Züge etc. (vgl. EUB 2009, 4f)

Einen großen Teil der tödlichen Unfälle im Eisenbahnverkehr machen jedoch Selbsttötungen aus. Obwohl diese im Bahnalltag oftmals verschleiernd auch als Personenunfälle bezeichnet werden (z.B. ‚Verspätung durch einen Personenunfall‘), zählen Selbsttötungen in den offiziellen Unfallstatistiken nicht zu den Personenunfällen. Sie machen jedoch das größte Unfallrisiko im Eisenbahnverkehr aus. Statistisch gesehen nehmen sich zwei bis drei Menschen pro Tag auf dem Streckennetz der Deutschen Bahn (Im Folgenden: DB) das Leben. Bis zu 1000 Menschen wählen jährlich den Freitod auf den Gleisen. Im Jahr 2013 wurden 834 Selbsttötungen registriert. (vgl. Eisenbahn-Bundesamt 2013, 39) Bemessen an den rund 20.000 Lokführern und der jährlichen Suizidrate erlebt ein Lokführer in einer 45jährigen Berufslaufbahn etwa zwei Schienensuizide. Hinzu kommt noch das tägliche Risiko an anderen gefährlichen Ereignissen im Bahnverkehr beteiligt zu werden. (vgl. Schumacher 2014, 1)

Eisenbahnsuizide zählen zu den härtesten Suizidmethoden, die in der Regel mit sichtbaren Veränderungen des Körpers einhergehen, bspw. Amputationen, Enthauptungen oder andere Körperdurch- oder -abtrennungen bis hin zur vollständigen Entstellung des Körpers. (vgl. Rübenach 2007, 964). Der Selbstmord wird vollzogen oder versucht durch sich Überrollenlassen oder Werfen vor den Zug (vgl. Krämer u.a. 2010, 1021). In der 10. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (Im Folgenden: ICD-10) wird diese Suizidmethode der Kategorie ‚Vorsätzliche Selbstbeschädigung“ zugeordnet, wobei der Kode X81 die „vorsätzliche Selbstschädigung durch Sichwerfen oder Sichlegen vor ein sich bewegendes Objekt“ umfasst (DIMDI 2013, o.A.). Nur etwa 10% der Personen überleben den Versuch, sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Bei vielen Überlebenden bleiben dauernde Schädigungen. Ein Charakteristikum dieser Suizidmethode ist die Beteiligung anderer Personen. Die betroffenen Personen fühlen sich häufig mitschuldig. (vgl. Schmidtke/ Ober 1991, 289). Doch beim Eisenbahnsuizid haben sowohl der Suizident als auch Außenstehende kaum die Möglichkeit den Verlauf der suizidalen Handlung zu kontrollieren. Je nach Geschwindigkeit und Gewicht des Zuges und in Abhängigkeit von Witterungsbedingungen und der Reaktionsfähigkeit des Tf kann es zu einem Bremsweg von mehreren hundert Metern kommen, gemessen vom Erkennen des Suizidenten bis zum Stillstand des Zuges. Beim Bahnsuizid können mehrere Vorgehensweisen voneinander unterschieden werden:

- Vor den Zug springen (häufiger auf freier Strecke als im Bahnhofbereich)
- Sich mit dem ganzen Körper oder nur mit dem Kopf auf die Gleise legen
- Die Gleise entlanggehen oder sich vor den herannahenden Zug stellen
- Von Brücke o.ä. auf die Gleise springen (vgl. ebd., 294)

Aus dem fahrenden Zug springen ist aufgrund heutiger technischer Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr möglich.

2.2 Trauma und Traumafolgestörungen

Bahnsuizide implizieren ein traumatisches Erlebnis für den betroffenen Lokführer. Doch nicht jedes traumatische Ereignis führt zwangsläufig zu einer Traumatisierung und deren Folgeerscheinungen. Letztendlich tritt eine traumatische Reaktion nur dann ein, wenn das Bewältigungssystem eines Menschen überfordert ist. Wie es zu dieser Überforderung kommen kann und welche Folgen dies nach sich ziehen kann, soll an dieser Stelle erklärt werden.

2.2.1 Traumadefinition

Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Dabei wird nicht spezifiziert, wie und wo jemand verwundet oder verletzt ist. Noch heute ist dieser Begriff in der Medizin die übliche Bezeichnung für Auswirkungen eines Schlags, eines Unfalls oder einer ähnlichen Einwirkung auf den Körper, d.h. er impliziert immer eine physische Schädigung. (vgl. Hantke/ Görges 2012, 53)

Längst hat sich der Begriff Traumatisierung jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch eher für psychische Verletzungen etabliert. In der Umgangssprache wird der Begriff Trauma vielfach als Definition für belastende Ereignisse gebraucht. Das kann eine Scheidung sein, die als belastend empfunden wurde, eine Kündigung vom Arbeitgeber oder eine nicht bestandene Prüfung. Betroffene können diese Situationen durchaus als ‚traumatisch‘ empfinden. (vgl. Ehring/ Ehlers 2012, 11)

In der Fachliteratur werden unter Traumata jedoch weitaus bedrohlichere Ereignisse verstanden. Ereignisse, die als außergewöhnliche Bedrohung erlebt werden und seelische Verletzungen zur Folge haben (vgl. ebd., 11). Die Weltgesundheitsorganisation definiert ein Trauma als „kurz- oder langanhaltende Ereignisse oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.“ (Maercker 2013, 14). Das amerikanische DSM[1] -System nimmt eine noch differenziertere Definition dieser bedrohlichen Ereignisse vor und beschreibt sie als „eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod oder ernsthafter Verletzung oder Gefahr für eigene oder fremde körperliche Unversehrtheit.“ (ebd., 14)

Eine aus dem Trauma resultierende Traumatisierung wird jedoch nicht vom Ereignis selbst ausgelöst, vielmehr ist es von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig. Sicherlich gibt es Ereignisse, die bereits an sich Menschen überfordern. Ob eine Situation traumatisch wird, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab. Jeder Mensch reagiert anders auf traumatische Erfahrungen. Letztlich kommt es darauf an, wie die Situation erlebt wird und welche Ressourcen vorhanden sind, um sie zu bewältigen. Auch wenn ein Ereignis potentiell erst einmal als Notfall empfunden wurde, muss es nicht notwendigerweise zu einem Trauma werden. (vgl. Hantke/ Görges 2012, 53f) Eine traumatische Situation ist letztlich als „[…] das Zusammenspiel von Innen- und Außenperspektive, von traumatischen Umweltbedingungen und subjektiver Bedeutungszuschreibung, von Erleben und Verhalten zu verstehen.“ (Fischer/ Riedesser 1999, 59) Von einer Traumatisierung spricht man erst, wenn es dem Betroffenen nicht möglich ist, dem bedrohlichen Erlebnis ausreichend individuelle Bewältigungsmöglichkeiten entgegenzusetzen. Kann ein Erlebnis während des Geschehens nicht verarbeitet werden, ist man ihm hilf- und schutzlos ausgesetzt. Dies führt zu einer dauerhaften Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. (vgl. ebd., 79)

2.2.2 Traumaarten

Viele unterschiedliche Ereignisse können also Traumata verursachen. Dies bedingt, dass sich verschiedene Klassifikationsschemata für die Einteilung entwickelt haben. Zum einen kann differenziert werden zwischen menschlich verursachten Traumata (man-made disaster), beispielsweise eine Vergewaltigung und zufälligen Ereignissen, wie z.B. Naturkatastrophen oder Unfälle (vgl. Schellong 2013, 44). In der Regel sind traumatische Ereignisse, die von Menschen ausgelöst werden, wesentlich schwerer von Betroffenen zu verarbeiten, denn es erschüttert meistens das grundsätzliche Vertrauen in andere Menschen. Dieses Vertrauen wieder zu erlangen kann ein langer Prozess sein. (vgl. Morgan 2003, 21)

Zum anderen kann eine weitere Unterteilung bei der Häufigkeit vorgenommen werden. Hier unterscheidet man einmalige Traumata, die plötzlich und unerwartet geschehen. Sie werden dem Typ I – den kurzfristigen Traumata zugeordnet. Betroffene sind meist akut in Lebensgefahr und völlig überrascht von der Situation. Andere traumatische Situationen wiederum dauern über einen längeren Zeitpunkt an und/ oder wiederholen sich. Diese zählen zu den langfristigen Traumata des Typ II. (vgl. ebd., 23). Dieser Typ von Traumata ist für Betroffene besonders belastend, da sie sich wiederkehrend mit traumatischen Erlebnissen auseinandersetzten müssen, deren Auftreten zumeist aber nicht zeitlich vorhersehbar ist (bspw. Folter oder Misshandlungen). (vgl. Maercker 2013, 15)

2.2.3 Erleben des Traumas

Ein Ereignis wird zu einem traumatischen Erlebnis, wenn ein Mensch auf eine äußere Extremsituation nicht angemessen vorbereitet ist und seine Bewältigungsmechanismen überfordert sind. Die Erfahrung von Ohnmacht, Angst, Entsetzen und Hilflosigkeit sind zentrale Erfahrungen beim Erleben eines Traumas. Dabei ist letztlich auch unerheblich, ob das beobachtete oder erlebte Ereignis das Leben, die Gesundheit oder physische Integrität der eigenen oder einer fremden Person bedrohte. (vgl. Aguilera 2000, 86)

2.2.3.1 Akute Belastungsreaktion

Als eine unmittelbare Reaktion des menschlichen Organismus auf ein traumatisches Ereignis zählt die Akute Belastungsreaktion (Im Folgenden: ABR), in der Umgangssprache auch häufig als Schockzustand bezeichnet. Daher wird sie an dieser Stelle beim Erleben des Traumas aufgeführt, auch wenn sie in der ICD-10 neben anderen Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (Kategorie F43) aufgeführt wird.

Die ABR ist „eine vorrübergehende Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung entwickelt.“ (DIMDI 2013, o.A.) In der Regel beginnt die ABR als eine Art Notfallreaktion augenblicklich nach dem Ereignis bzw. innerhalb weniger Minuten. Die ICD-10 legt einen unmittelbaren und klaren zeitlichen Zusammenhang zwischen einer ungewöhnlichen Belastung und dem Beginn von Symptomen als Diagnosekriterium zu Grunde. Die Symptome zeigen ein gemischtes und gewöhnlich wechselndes Bild. (vgl. Bengel/ Hubert 2010, 89) In der Akutphase kann es zu Desorientiertheit und einer eingeschränkten Aufmerksamkeit kommen. Die Betroffenen sind unruhig und innerlich wie erstarrt. Typisch ist das sog. ‚sprachlose Entsetzen‘, also die Unfähigkeit das Erlebte in Worte zu fassen. Begleitend setzen vegetative Überreaktionen wie Herzrasen, Schwitzen, Errötung, Blässe oder Übelkeit ein. Es kommt bei vielen Menschen zu ausgeprägten Gefühlschwankungen und schnellem Wechseln von Trauer, Wut und scheinbarer Teilnahmslosigkeit. Auch ein Rückzug von ihrer Umwelt ist nichts Ungewöhnliches. (vgl. DeGPT, o.A.)

Kein Symptom ist längere Zeit vorherrschend. Sie sind innerhalb weniger Stunden oder längstens nach zwei bis drei Tagen rückläufig. Sie klingen ab, sobald man sich vom belastenden Geschehen entfernt. Sollten Symptome allerdings länger als vier Wochen bestehen, sollte eine Änderung der Diagnose in Betracht gezogen werden. (vgl. Bengel/ Hubert 2010, 89).

2.2.3.2 Die traumatische Zange

Auf einen extremen, von außen auf den Menschen einwirkenden Stressor reagiert das menschliche Gehirn mit einem Notfallprogramm. Aversive Reize lösen im Gehirn eine Vermeidungsreaktion aus. (vgl. Bärwald 2013, 8f) Bei Bedrohung oder akuter Gefahr wird im limbischen System eine Umschaltung verursacht, was hormonelle Veränderungen zur Folge hat. Innerhalb kürzester Zeit wird alle Energie in die großen Muskeln geleitet, vor allem in die Arme und Beine – die für Flucht oder Kampf zuständigen Körperteile. Die Großhirnrinde, die für bewusstes Denken, Selbstreflexion, Sinneswahrnehmung, Bewegungsentscheidungen, Sprache und Handlungsalternativen zuständig ist, sowie alle Körperfunktionen, die zusätzliche Energie brauchen, werden heruntergefahren. Gänzlich unbewusst werden diese Schutzmechanismen abgespult. Der menschliche Körper ist völlig auf Kampf oder Flucht eingestellt. Das bewusste Denken kann in dieser Situation nicht oder kaum regulierend eingreifen. Da die Großhirnrinde nicht mehr arbeitet, können keine Informationen, die von außen kommen, sortiert und ausreichend verarbeitet werden. Alle Informationen werden erst einmal im Hippocampus zwischengespeichert und müssen später in den Kurz- oder Langzeitspeicher überführt werden. Der Hirnstamm erhält die lebenserhaltenden Funktionen des Herz-Kreislauf-Systems aufrecht. (vgl. Hantke/ Görges 2012, 33ff)

Nicht immer ist es dem Betroffenen möglich vor dem Stressor reflexartig zu fliehen und nicht immer kann er dagegen ankämpfen. Wenn die Überlebensstrategien nicht von Erfolg gekrönt sind, wenn von außen keine Rettung kommt und die Spannung weiter steigt, dann wendet der Körper die letztmögliche Überlebensstrategie an. (vgl. ebd., 60f) Diesen Prozess definiert Michaela Huber (2005, 39) als die ‚traumatische Zange‘:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Die Traumatische Zange nach Michaela Huber
(vgl. Huber 2005, 39)

Versagen die Schutzmechanismen hat das ‚Freeze‘ und ‚Fragment‘ zur Folge. Freeze bezeichnet eine Art Lähmungszustand. Das Gehirn schüttet eine Flut von Noradrenalin und Endorphinen aus, um der akuten Todesangst entgegen zu wirken. Der Organismus wird betäubt und ist in der Lage sich innerlich vom Geschehen zu distanzieren. Dies begünstigt auch den Vorgang des Fragments. Hierbei wird die traumatische Erfahrung so aufgesplittet, dass einzelne Teile verdrängt werden. Ohne gezielte Anstrengungen kann das Erlebte dadurch nicht mehr zusammenhängend wahrgenommen werden. (vgl. Bärwald 2013, 8f)

2.2.4 Traumafolgestörungen

Nach einem erlebten Trauma ist das Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten und das Selbsterleben erschüttert. Hier kommt es darauf an, wie es um die individuelle Fähigkeit beschaffen ist, mit den Folgen umzugehen und welche Ressourcen vorhanden sind, um das Erlebte zu bewältigen. (vgl. Hantke/ Görges 2012, 101)

Traumafolgestörungen entstehen immer dann, wenn ein erlebtes Trauma nicht verarbeitet werden konnte. Unmittelbar nach dem Ereignis leiden beinahe alle Betroffenen unter dem Erlebnis. Manchen von ihnen gelingt es, die Erfahrungen ins Gedächtnis zu integrieren und traumabezogene Informationen zu verarbeiteten – der Verarbeitungsprozess beginnt. Das Erfahrene wird akzeptiert als ein Teil der Vergangenheit, mit dem man umzugehen gelernt hat. Menschen, bei denen diese Integration nicht stattfindet, gelingt es nicht, Empfindungen und Gefühle, die zum Erlebten gehören zu kontrollieren. Die Erinnerung an das Trauma beeinflusst den Betroffenen in hohem Maße. Sie werden ständig an das Erlebnis erinnert, so dass häufig das psychologische, physiologische und soziale Gleichgewicht darunter leidet. Das Erlebte in der Vergangenheit überschattet die Zukunft. (vgl. van der Kolk/ McFarlene 2000, 27ff)

2.2.4.1 Posttraumatische Belastungsstörung

Prinzipiell kann jegliche Form eines Traumas eine Posttraumatische Belastungsstörung (Im Folgenden: PTBS) auslösen. Es kann immer dann zu einer PTBS kommen, wenn ein Mensch Zeuge eines überwältigenden Erlebnisses oder selbst unmittelbar betroffen war, egal wie psychisch labil oder stabil dieser Mensch im Vorfeld war. (vgl. Aguilera 2000, 85f)

In der ICD-10 findet man die PTBS in der eigenständigen Kategorie F43 ‚Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen‘. Dabei wird angenommen, dass die PTBS als eine direkte Folge eines traumatischen Erlebnisses zu sehen ist, ohne dieses Erlebnis wäre diese Störung nicht entstanden. Die folgende Tabelle stellt die diagnostischen Kriterien nach ICD-10 für eine PTBS dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Kriterien für die Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10
(vgl. Ehlers 1999, 6)

Die eigentlichen Symptome treten in der Regel innerhalb der ersten Monate nach dem Erleben des Traumas auf. Wenn die Symptome ein bis drei Monate andauern, gilt die PTBS als akut. Bleiben sie länger als drei Monate bestehen, spricht man von einem chronischen Krankheitsverlauf. (vgl. Aguilera 2000, 89) Die Symptomatik der PTBS kann in drei Hauptsymptomgruppen gegliedert werden:

INTRUSIONEN/ WIEDERERLEBEN

Personen, die an einer PTBS leiden, erleben häufig Momente, in denen sich Erinnerungen an das traumatische Erlebnis in Form von Bildern, Geräuschen oder anderen lebhaften Eindrücken unbeabsichtigt sowohl in den wachen Bewusstseinszustand als auch als Albträume in den Schlaf drängen. In diesen Situationen kommt es häufig zu Weinanfällen, Furcht oder Wut. Es scheint jedoch für diese plötzlichen Gefühlsaufwallungen keinen direkten Auslöser zu geben. Manchmal wird das Trauma regelrecht wiedererlebt. Dieses Phänomen wird als ‚Flashback‘ bezeichnet. Erinnerungen werden in einer Art Rückblende als so intensiv und realistisch erlebt, dass der Betroffene das Gefühl hat, das Trauma tatsächlich noch einmal zu durchleben. (vgl. Aguilera 2000, 87 & Maercker 2013, 17)

VERMEIDUNG

Oft bemühen sich Betroffene nicht mehr an das traumatische Erlebnis zu denken, was meistens jedoch nicht gänzlich gelingt. Beim Versuch, ihre Gedanken zu unterdrücken, vermeiden Betroffene Situationen und Aktivitäten, die das ursprüngliche Trauma wieder ins Gedächtnis rufen könnten. Oftmals ziehen sie sich sogar aus ihrem sozialen Umfeld zurück und meiden Kontakte mit Angehörigen, Freunden und Kollegen. Sie fühlen sich wie taub. Ihre Gefühlswelt ist im Ungleichgewicht und sie sind nicht in der Lage, selbst nahestehenden Menschen, Gefühle zu zeigen. Dadurch wirken Betroffene oftmals gelangweilt, kalt und mit sich selbst beschäftigt. Das hat wiederum zur Folge, dass sich nahestehende Menschen abgewiesen fühlen. Häufig werden nur noch mechanisch ablaufende Routineaktivitäten durchgeführt. Die Kraft, angemessen auf die Umgebung zu reagieren, fehlt. (vgl. Aguilera 2000, 87f)

HYPERAROUSAL

Hierbei handelt es sich um Symptome der Übererregtheit. Die Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems senkt sich, so dass Belastungen früher und nachhaltiger auf den Betroffenen einwirken. Diese Erregungssteigerung beeinträchtigt zum einen das Schlafverhalten. Sowohl das Einschlafen als auch das Durchschlafen fallen schwer. Zum anderen ist die Aufmerksamkeitspanne am Tage so erhöht, dass Betroffene extrem wachsam gegenüber allen möglichen Reizen sind. Bereits kleinste Berührungen und leiseste Geräusche können dann zu Erschrecken führen. (vgl. Maercker 2013, 17ff)

2.2.4.2 Anpassungsstörung

Eine Anpassungsstörung tritt auf, wenn Menschen ein erlebtes Trauma über einen längeren Zeitraum nicht akzeptieren bzw. sich der neuen Situation nicht adäquat anpassen können. Die Diagnose einer Anpassungsstörung erfolgt durch den Ausschluss anderer Störungen, nicht durch eigene Symptomatik. Eine Anpassungsstörung ist geprägt durch Wiedererleben von traumatischen Erlebnissen in Form von Bildern, Albträumen oder Flashbacks. Betroffenen gelingt häufig keine Anpassung. Sie sind unfähig sich zu erholen und leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten und eingeschränkter Leistungsfähigkeit. Außerdem ist das Sozialverhalten beeinträchtigt. Sie vermeiden die Konfrontation mit Problemen oder den Umgang mit bestimmten Personen. Typische Begleiterscheinungen sind Angst, depressive Verstimmungen und Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle. Die Beschwerden dauern sechs Monate bis maximal zwei Jahre an. (vgl. Maercker 2013, 27f & Sendera/ Sendera 2013, 7f)

2.2.4.3 Dissoziative Störung

Dissoziation ist ein ‚Überlebensmechanismus‘, bei dem der Mensch den Teil der etwas erlebt von dem Teil abspaltet, der das Erlebte empfindet. So ist eine vollkomme Abspaltung der Erinnerung an das Trauma und der damit verbundenen Gefühle möglich. Häufig reicht diese Abspaltung so weit, dass das Erlebte vollkommen verdrängt wird. (vgl. Sautter 2010, 94)

Dissoziative Störungen drücken den innerpsychischen Verarbeitungs- und Bewältigungsprozess traumatischer Erfahrungen aus, bei dem die innere Trennung vom Erlebten über einen längeren Zeitraum besteht und nicht willentlich kontrolliert werden kann. Dissoziative Menschen sind nicht in der Lage, ihre Erfahrungen zu integrieren und sich zu eigen zu machen. Häufige Phänomene dabei sind Amnesien, Depersonalisation und Konversionen, d.h. Abwehrmechanismen, bei denen sich ein psychischer Konflikt durch somatische Symptome bemerkbar macht. Meistens handelt es sich um eine kurzzeitige Unterbrechung des eigenen Bewusstseins, des Gedächtnisses oder der Wahrnehmung der Umwelt. Diese Phänomene verändern das Empfinden der Ganzheitlichkeit der eigenen Person, da das Erinnerungsvermögen an die eigene Vergangenheit, das Identitätsbewusstsein und die Kontrolle über den eigenen Körper eingeschränkt werden. Dissoziative Störungen, die längerfristig anhalten, können zu einer Einschränkung der alltäglichen Funktionsfähigkeit führen. (vgl. Wöller 2006, 86 & Fiedler 2013, 1ff)

2.2.4.4 Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung

Eine Belastung katastrophalen Ausmaßes (z.B. Katastrophen, anhaltende lebensbedrohliche Situationen, Folter) können durch ihre Komplexität und Problematik eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung bei vorher völlig gesunden Persönlichkeiten hervorrufen (vgl. Schellong 2013, 43f). Besteht diese mehr als zwei Jahre, spricht man von einer ‚andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung‘ (ICD-10, F62.0), die zu den komplexen Traumafolgestörungen zählt. Eine PTBS mit einem chronischen Verlauf kann dieser Störung voraus gegangen sein.

Die Störung ist geprägt durch:

- feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt
- sozialen Rückzug
- andauerndes Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit
- chronisches Gefühl der Anspannung, wie bei ständigem Bedrohtsein
- andauerndes Gefühl der Entfremdung (anders als die anderen sein) (vgl. DIMDI 2013, o.A.)

Die Symptomatik darf vor dem traumatischen Ereignis jedoch weder vorhanden noch durch eine andere psychische Störung bedingt sein (vgl. Schellong 2013, 44).

2.2.5 Komorbide Störungen

Der Komplexität traumatischer Erfahrungen zu Schulden treten im Rahmen von Traumafolgestörungen häufig Begleiterkrankungen auf, die sich manchmal nur durch typische Begleitsymptome äußern, häufig jedoch auch den Kriterien einer Störung nach dem ICD-10 entsprechen (vgl. Cillien/ Ziegler 2013, 103).

2.2.5.1 Depressive Störungen

Eine Depression kann eine Folge des massiven Rückzuges und der ständigen Angst nach einem traumatischen Erlebnis sein (vgl. Reddemann/ Dehner-Rau 2012, o.A.). Depressive Störungen zählen zu den affektiven Erkrankungen, bei denen eine pathologische Veränderung der Stimmungslage gepaart mit einem Wechsel des Aktivitätsniveaus im Vordergrund steht. Zu den Kernsymptomen einer depressiven Episode zählen eine gedrückte Stimmung, erhöhte Ermüdbarkeit, Erschöpfung sowie Verlust von Interesse oder Freude. Häufig sind diese begleitet von einer Verminderung des Antriebes, kognitiven Einschränkungen, wie verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, dem Gefühl von Wert- oder Hoffnungslosigkeit, Schuldgefühlen sowie somatischen Beschwerden wie bspw. Appetitverlust oder Schlafstörungen. (vgl. Mahler/ Grabe 2015, 283)

2.2.5.2 Angststörungen

Angst und Panik sind häufig beobachtbare Begleiterscheinungen nach traumatischen Erlebnissen. Sie stehen oftmals in engem Zusammenhang mit dem Erlebten. Diese Ängste sind zunächst eine durchaus schützende Funktion in diesem Kontext, führen sie doch meistens zu einer Vermeidung von Situationen, die Ähnlichkeit mit der traumatischen Erfahrung haben. So wird ein Wiedererleben vorgebeugt. Chronifizieren sich diese Ängste, schränkt es die Betroffenen jedoch erheblich ein. (vgl. Cillien/ Ziegler 2013, 110f)

Eine Angst- oder Panikstörung äußert sich in wiederkehrenden Angstattacken (Panik). Die einzelnen Anfälle dauern in der Regel nur einige Minuten, manchmal aber auch länger. Häufig sind sie von körperlichen Symptomen wie Herzklopfen oder –rasen, Atemnot, Schwindel, Benommenheit, Schwitzen, Brustschmerzen sowie einem Druck- oder Engegefühl in der Brust begleitet. (vgl. Sautter 2005, 86f)

2.2.5.3 Somatisierungsstörungen

Bei Somatisierungsstörungen scheinen sich biologische und psychische Prozesse gegenseitig zu beeinflussen. Dabei können traumatische Erlebnisse einerseits konkrete Auslöser für eine Symptomatik sein, andererseits können wiederholte Traumaerfahrungen ein Risikofaktor für die Entstehung von somatoformen Beschwerden sein. (vgl. Cillien/ Ziegler 2013, 111f). Bei dieser Art Störung werden ehemals seelische Empfindungen auf die Körperebene verlagert und treten dann in den verschiedensten Körperregionen als körperliche Symptome auf. Beispielsweise kann es zu wiederkehrenden oder chronischen Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen sowie Durchfall oder Herzrasen und Schmerzen in der Brust kommen. Müdigkeit ist ebenfalls ein häufig beobachtbares Symptom. (vgl. Sautter 2005, 83f)

2.2.5.4 Substanzmittelmissbrauch

Suchtmittel werden häufig von Betroffenen im Sinne von ‚Selbstmedikation‘ eingesetzt. Alkohol und Drogen verschaffen ihnen eine Reduzierung von Anspannung, Ängsten oder schwer aushaltbaren Gefühlen wie bspw. Scham, Wut oder Schuldgefühle. Angenehme Gefühle werden gesteigert, der Kontakt zu anderen Menschen fällt wieder leichter. Substanzmittel werden so zu einer Möglichkeit Konflikte und das Leben zu bewältigen. (vgl. Cillien/ Ziegler 2013, 115f) In einigen Fällen führt dieser Missbrauch jedoch zu einer Abhängigkeit und den damit verbundenen Folgeproblemen (vgl. Ehring/ Ehlers 2012, 22).

2.2.5.5 Essstörungen

Essstörungen können unterschiedliche Gründe in Folge einer Traumatisierung haben. Zum einen können sie eine Folge eines Appetitverlustes sein oder eines ständigen Ekelgefühls. Zum anderen kann eine Essstörung Ausdruck unterdrückter Aggressionen sein, die gegen sich selbst gerichtet werden. Kein Essen zu sich zu nehmen, kann ein Gefühl von Kontrolle und Autonomie vermitteln. Bei starkem Untergewicht vermindert sich die Schmerzwahrnehmung. Eine Ess-Brech-Sucht kann ebenfalls eine Ventilfunktion haben. Essen befriedigt kurzfristig Bedürfnisse, anschließendes Erbrechen wiederrum kann Aggressionen oder Schuldgefühle kompensieren. Ähnliche Gefühle vermittelt eine Esssucht mit unkontrollierten Heißhungerattacken. Langfristig führen Essstörungen jedoch zu weiteren Selbstabwertungen und schaden dem Körper nachhaltig. (vgl. Reddemann/ Dehner-Rau 2012, o.A.)

2.2.5.6 Zwangsstörungen

Als wesentliches Kennzeichen dieser Störung gelten wiederkehrende Zwangsgedanken oder -handlungen. Es handelt sich dabei um Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die den Betroffenen immer wieder stereotyp beschäftigen. Sie werden als quälend empfunden, weil sie als sinnlos erlebt werden und der Versuch sie zu stoppen meistens erfolglos bleibt. (vgl. Sautter 2010, 104f) Zwangsstörungen können als Ausdruck eines verstärkten Kontrollbedürfnisses gedeutet werden. Sie sollten als Versuch der Betroffenen gewertet werden, den erlebten Kontrollverlust während des Traumas zu kompensieren. Sie vermitteln jedoch nur kurzfristig das Gefühl Ängste zu reduzieren. Langfristig führen sie eher zu einer Einschränkung der Entscheidungsfreiheit und Lebensqualität. (vgl. Reddemann/ Dehner-Rau 2012, o.A)

2.2.5.7 Borderline-Persönlichkeitsstörung

Eine Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus (ICD-10, F60) ist eine spezifische Persönlichkeitsstörung, die sich in Folge von traumatischen Erlebnissen in Kindheit und Jugend entwickeln kann. Bei einer solchen Störung sind zwischenmenschliche Beziehungen durch Angst vor Nähe geprägt und häufig sehr instabil. Durch negatives Verhalten, häufig in Form von streitsüchtigem Verhalten und Konflikten zu anderen, werden diese Beziehungen darüber hinaus noch erschwert. Es besteht eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit impulsives Verhalten zu kontrollieren. Extreme Stimmungsschwankungen sind weitere Symptome. Außerdem empfinden Betroffene auch zur eigenen Identität ein gestörtes Verhältnis. Sie entwickeln Unsicherheiten bezüglich ihres Selbstbildes, ihrer Ziele und ihrer inneren Präferenzen. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird häufig von verschiedenen Formen selbstverletzenden Verhaltens und der Neigung zu parasuizidalen Handlungen oder Suizidversuchen begleitet. (vgl. DIMDI 2013, o.A.)

2.2.5.8 Suizidalität

Ein besonderes Problem stellt die erhöhte Rate von Selbsttötungen bzw. ver-suchten Selbsttötungen bei Betroffenen mit Traumafolgestörungen dar. Immer wieder gibt es Menschen, die mit dem erlebten Trauma nicht fertig werden. Sie haben das Gefühl das Leben nicht mehr zu ertragen. Sie resignieren und verlieren die Hoffnung auf Besserung. In ihrer Verzweiflung entwickeln sie immer wiederkehrende Gedanken und Impulse sich das Leben zu nehmen. Der eigene Tod suggeriert eine Art Erlösung. Bei Verdacht auf mögliche Suizidalität muss aktiv auf die Betroffenen mit einer psychotherapeutischen Betreuung zugegangen werden oder eine stationäre Unterbringung eingeleitet werden. Bei akuter Suizidalität bzw. Selbst-oder Fremdgefährdung ist sogar eine Zwangseinweisung in eine Fachklinik möglich. (vgl. Huber 2005, 150ff)

2.2.6 Einflussfaktoren für Traumafolgestörungen

Die Art und Schwere eines traumatischen Ereignisses allein können Traumafolgestörungen nicht ausreichend erklären. Verschiedene Faktorengruppen beeinflussen den Verlauf und die langfristigen Folgen. Risiko- und Schutzfaktoren wirken prätraumatisch. Ereignisfaktoren beeinflussen den Verlauf peritraumatisch.

Aufrechterhaltungsfaktoren sowie Ressourcen und gesundheitsfördernde Faktoren wirken auf posttraumatische Prozesse, die den Umgang mit dem Trauma und dessen Dauer beeinflussen. Alle Faktoren gemeinsam bedingen das Resultat, das entweder in eine Traumafolgestörung mündet, aber auch eine persönliche Reifung bedingen kann. (vgl. Mearcker 2013, 36)

Zumeist haben peri- und posttraumatische Faktoren, die während oder nach einem traumatischen Ereignis wirken, einen höheren Einfluss auf mögliche Traumafolgestörungen als prätraumatische Faktoren. Die Entwicklung von Traumafolgestörungen hängt demnach damit zusammen, wie der Betroffene das Ereignis beim Erleben verarbeitet und wie er es und dessen Konsequenzen im Nachhinein bewertet und bewältigt. (vgl. Becker-Nehring et al. 2012, 149ff)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Rahmenmodell der Ätiologie von Traumafolgen
(vgl. Maercker 2013, 37)

Als Schutzfaktoren bezeichnet man Charakteristika des traumatischen Ereignisses, des Individuums und/ oder der Umgebung, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Traumafolgestörung vermindern. Als Risikofaktoren gelten umgekehrt Umstände, die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken diese Entstehung negativ beeinflussen. (vgl. Becker-Nehring et al. 2012, 148). Zumeist werden die Begriffe Risiko- und Schutzfaktoren „als gegensätzliche Pole desselben Kontinuums“ verwendet, bspw. kann soziale Unterstützung als Schutzfaktor und fehlende soziale Unterstützung als Risikofaktor gelten (ebd., 149).

In verschiedensten Studien, die sich mit Risiko- und Schutzfaktoren auseinandersetzen, wurden folgende Einflussfaktoren ermittelt:

- Prätraumatische Faktoren:
- Soziodemographische Variablen
- Z.B. Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status, Bil-dungsstand, Intelligenz
- Kritische biographische Erfahrungen
- Z.B. Kritische Lebensereignisse, frühere Traumata, negative Kindheitserfahrungen
- Vorbestehende psychische Störungen
- Persönlichkeitsfaktoren
- Optimismus, Kohärenzsinn, Neurotizismus, Selbstwert, Angstintensität, Religiosität
- Peritraumatische Faktoren:
- Art und Schwere des Ereignisses
- Wahrgenommene Lebensbedrohung
- Peritraumatische Reaktion
- Z.B. emotionale Reaktion, kognitive Verarbeitung, soziale Unterstützung
- Posttraumatische Faktoren:
- Akute psychische Symptome
- Z.B. Ärger, Beunruhigung, Desorganisation des Trauma-gedächtnisses
- Dysfunktionale Kognitionen
- Z.B. Selbstwirksamkeitserwartung, Negative Gedanken zum Selbst, Negative Gedanken zur Welt, Selbstvorwürfe
- Coping und Vermeidungsverhalten
- Z.B. verschiedene Copingstrategien (aktiv, problemorientiert oder vermeidend), anhaltende Dissoziation, Gedankenunterdrückung
- Soziale Unterstützung
- Zusätzliche Stressoren
- Z.B. Involvierung in Gerichtsverfahren, Dauer des Krankenhausaufenthaltes, Schmerzen und andauernde physische Beeinträchtigungen, wahnhafte Erinnerungen (vgl. ebd., 150ff)

2.3 Resilienz

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) beschreibt den Zustand der Gesundheit als vollkommenes körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden und reduziert Gesundheit nicht nur auf das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. (vgl. Ewles/ Simnett 2007, 22) Auch wenn nach wie vor in der Medizin eher der klassische pathogenetische Ansatz gilt Krankheiten zu vermeiden und Risikofaktoren auszuschalten bzw. zu reduzieren, hat sich in den letzten Jahrzehnten dennoch ein Paradigmenwechsel vollzogen. (vgl. Brooks/ Goldstein 2007, 15) Zunehmend wird der Blick nicht nur auf Ursachen und Entstehung von Krankheit gerichtet, sondern Faktoren identifiziert, die den Erhalt von seelischer und körperlicher Gesundheit sichern. In diesem Zusammenhang ist auch das Konzept der Resilienz entstanden und weiterentwickelt worden und soll hier im Folgenden erläutert werden. (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 7)

2.3.1 Begriffsbestimmung

Der Begriff Resilienz lässt sich vom englischen Wort ‚resilience‘ ableiten, was so viel bedeutet wie Widerstandsfähigkeit, Spannkraft und Elastizität. Die Resilienzforschung entwickelte sich in den 1970er Jahren aus der Entwicklungspsychopathologie, die die Risikoeinflüsse auf die Entwicklung von Kindern untersuchte. Seitdem wurde das Konzept der Resilienz zunächst in Großbritannien und Nordamerika weiterentwickelt und ist seit Ende der 1980er Jahre auch ein Teil der deutschen Forschung. (vgl. Fröhlich-Gildhoff, Rönnau-Böse 2009, 13)

Entwickelt hat sich die Resilienzforschung aus den Studien des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Er entwickelte das Konzept der Salutogenese als Gegenpol der klassischen Pathologie, in der es um Ursachen für Krankheiten, deren Früherkennung, Behandlung und Vermeidung geht. In seinem Modell fragt er nicht mehr nach den Bedingungen von Krankheit, sondern nach den Bedingungen von Gesundheit und deren Förderung. Gesundheit wird von ihm nicht als statischer Zustand, sondern als dynamischer Prozess verstanden. Eine konsequente Trennung von Gesundheit und Krankheit schließt er aus, vielmehr nimmt er alle Aspekte des Wohlbefindens eines Menschen in Betracht. Er sieht den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit. Salutogenese will die Geschichte des ganzen Menschen erfahren und geht davon aus, dass Gesundheit nicht nur durch die Bekämpfung von Risikofaktoren und Krankheitserregern erhalten wird, sondern dass es heilsame Faktoren und Ressourcen gibt, die zur Gesundheitserhaltung beitragen. Das Konzept der Salutogenese fragt danach, welche Ressourcen und Schutzfaktoren Menschen helfen ihre Gesundheit zu erhalten. Es wird nicht nach Krankheitsursachen gesucht, sondern von einem ganzheitlichen Verständnis ausgehend definiert, wie und warum Menschen trotz Belastungen gesund bleiben oder wieder gesund werden können. (vgl. Büssers 2009, 5ff)

Darin findet man den Bezug zum Resilienzkonzept. Viele Faktoren, sowohl biologische, psychologische als auch psychosoziale, haben Einfluss darauf, wie Individuen mit belastenden Lebensumständen umgehen. Nach wie vor sind sich jedoch Forscher nicht einig über eine konkrete Definition von Resilienz. In den Anfängen ging man bei der Resilienz von einem stabilen Persönlichkeitsmerkmal aus, eine angeborene Widerstandkraft gegenüber widrigen Lebensumständen. Mittlerweile sieht man Resilienz als Ergebnis eines Interaktionsprozesses zwischen Individuum und Umwelt. Resilienz wird nicht mehr als Persönlichkeitseigenschaft betrachtet, sondern als dynamischer Anpassung- und Entwicklungsprozess. (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 10f) Eine gelungene Definition von Resilienz findet man bei Welter-Enderlin:

„Unter Resilienz wird die Fähigkeit von Menschen verstanden, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen.“ (2010, 13)

So kann Resilienz als eine Kompetenz angesehen werden, widrige Lebensumstände oder traumatische Lebensereignisse durch individuelle psychische Widerstandsfähigkeit und angepasste Lösungsstrategien zu überwinden und sich davon zu erholen. Dabei wissen resiliente Menschen zwar nicht, wie sie eine Situation überstehen, aber sie besitzen ausreichend kognitive, emotionale und soziale Verhaltensweisen, die ihnen helfen, sich der Herausforderung zu stellen, sich anzupassen und funktionsfähig zu bleiben. (vgl. Berndt 2014, 80)

2.3.2 Entwicklung der Resilienzforschung

Als grundlegende und auch bedeutsamste Studie der Resilienzforschung gilt die Kauai-Studie von Werner und Smith. Sie setzt sich erstmals systematisch mit Risikokindern auseinander, die sich trotz widriger Lebensumstände, die auf der hawaiianischen Insel Kauai herrschten, zu kompetenten Erwachsenen entwickelt haben. Hauptziel der Studie war es, Langzeitfolgen von prä- und perinatalen Risikobedingungen sowie die Auswirkungen ungünstiger Lebensumstände in der frühen Kindheit auf physische, kognitive und psychische Entwicklung der Kinder zu identifizieren. In einer Längsschnittuntersuchung wurden von 698 asiatischen und polynesischen Kindern, die im Jahr 1955 geboren wurden, über 40 Jahre hinweg durch Interviews und Verhaltensbeobachtungen Daten über die Lebens- und Gesundheitssituation erhoben. Ein Drittel von ihnen lebte mit einer hohen Risikobelastung, wie z.B. chronische Armut, geringes Bildungsniveau der Eltern oder familiäre Problemlagen. Gut zwei Drittel der Gesamtstichprobe zeigten negative Konsequenzen. Sie entwickelten Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen. Einige Probanden wurden straffällig oder verhältnismäßig früh schwanger. Das restliche Drittel entwickelte sich trotz dieser risikoreichen Lebensumstände jedoch unauffällig. Diese Probanden wuchsen zu zuversichtlichen, selbstsicheren und leistungsfähigen Erwachsenen heran. Im Alter von 40 Jahren gab es bei dieser Gruppe im Vergleich eine geringere Todesrate, weniger chronische Gesundheitsprobleme und Scheidungen. Alle gingen trotz ökonomischer Belastungen einer Beschäftigung nach und waren nicht auf soziale Dienste angewiesen. (vgl. Wustmann Seiler 2012, 87f)

Werner entdeckte bei diesen Probanden, die sich signifikant vom Rest der Untersuchungsstichprobe unterschieden, Schutzfaktoren, die die negativen Auswirkungen widriger Umstände abmildern. Dazu gehörten protektive Faktoren wie: eine wenigstens durchschnittliche Intelligenz, günstige Temperamenteigenschaften, eine gute schulische Kompetenz, Selbstvertrauen, Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten, die emotionale Bindung an Bezugspersonen und Unterstützung von außen wie bspw. Kirche, Jugendgruppe oder Schule. (vgl. Kormann 2009, 192f)

Ähnliche Studien wurden dann auch in Deutschland durchgeführt. Zu den bekanntesten zählen die Mannheimer-Risikokinder-Studie und die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie.

Die Mannheimer-Risikokinder-Studie entwickelten Lauch und Mitarbeitern am Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit als prospektive Längsschnittstudie. Dabei wurde untersucht, wie sich Kinder und Jugendliche unter bestimmten Risikobelastungen entwickeln und welche möglichen protektiven Faktoren existieren, um unter diesen Bedingungen eine positive Entwicklung zu verzeichnen. In der Studie wurden 362 Kinder und Jugendliche der Geburtsjahrgänge 1986-88 von der Geburt bis ins Jugendalter begleitet und zu fünf Erhebungszeitpunkten untersucht. (vgl. Klein 2012, 21) Als risikoerhöhende Bedingungen wurden sowohl prä- und perinatale Komplikationen (z.B. niedriges Geburtsgewicht, Sauerstoffmangel) erfasst, als auch psychosoziale Belastungen (z.B. ungünstige familiäre Lebensverhältnisse, niedriges Bildungsniveau der Eltern oder beengte Wohnverhältnisse). Die Ausprägung der Risikobelastung wurde auf einer dreistufigen Skala eingeschätzt: keine, leichte oder schwere Belastung. In der Auswertung ergaben sich neun Risiko-Teilgruppen. Sie reichten von einer maximal belasteten Gruppe in beiden Risikobereichen bis hin zu einer Gruppe, die in beiden Bereichen völlig unbelastet war. Damit unterstreicht die Studie die Bedeutung früher Belastung für die kindliche Entwicklung. Kinder, bei denen sowohl organische als auch psychosoziale Risikofaktoren ermittelt wurden, sind stärker in ihrer Entwicklung beeinträchtigt als diejenigen, die nur wenigen oder keinen Belastungen ausgesetzt sind. (vgl. Wustmann Seiler 2012, 90f) Der Schwerpunkt der Studie lag damit nicht primär auf den Schutzfaktoren, sondern darauf, welche Prozesse eine tragende Rolle bei der gesunden Entwicklung von Kindern spielen (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 16).

Im Gegensatz dazu stellte die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie explizit die seelische Widerstandkraft von Kindern und Jugendlichen sowie Schutzfaktoren, die außerhalb der Familie zu einer resilienten Entwicklung beitragen können, in den Mittelpunkt der Forschung. (vgl. ebd., 16) Die Untersuchungsgruppe setzte sich aus 146 Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren, die alle in einem Heim aufwuchsen und aus einem sehr belasteten Multi-Problem-Milieu mit unvollständigen Familien, Armut, Erziehungsdefiziten, Gewalttätigkeit und Alkoholmissbrauch stammten. Diese Jugendlichen wurden von Vorneherein auf Basis von Fallkonferenzen, Erzieherberichten und Selbsteinschätzungen der Jugendlichen in zwei Vergleichsgruppen unterteilt. So wurde eine Gruppe mit 66 Jugendlichen gebildet, die als resilient eingestuft wurden. Die andere Gruppe wies im Gegensatz dazu ausgeprägte Erlebens- und Verhaltensstörungen auf. Die Jugendlichen beider Gruppen wurden interviewt und anhand von Fragebögen befragt. Dabei wurden vier Merkmalsbereiche erfasst: biographische Belastungen und Risikobedingungen, Problemverhalten bzw. Erlebens- und Verhaltensstörungen, personale Ressourcen und soziale Ressourcen. (vgl. Wustmann Seiler 2012, 92f)

In der Studie konnten viele Schutzfaktoren ermittelt werden, die sich zum größten Teil mit den Erkenntnissen der Kauai-Studie decken. Die als resilient eingestuften Jugendlichen verfügten über Resilienzfaktoren wie bspw. eine realistische Zukunftsperspektive, einem positiven Selbstwertgefühl, einer hohen Leistungsmotivation und waren in der Lage, auf aktives Bewältigungsverhalten zurückzugreifen. Bedeutend öfter hatten sie eine feste Bezugsperson, waren fähiger, soziale Beziehungen auch außerhalb der Familie einzugehen und waren zufriedener mit der erhaltenen sozialen Unterstützung. Auch das in den Heimen herrschende Erziehungsklima hatte einen Einfluss auf die Resilienz, je positiver es erlebt wurde, desto stabiler waren auch die Jugendlichen. (vgl. Klein 2012, 22f & Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 16f)

Neben diesen drei Studien haben sich zahlreiche Studien mit verschiedenen Risikobelastungen von Kindern und Jugendlichen und der Wirkung von Risiko- und Schutzfaktoren beschäftigt. Erst in jüngerer Vergangenheit setzen sich Forscher vermehrt mit der Anwendung des Resilienzkonzeptes auf Erwachsene und zunehmend auch auf Organisationen auseinander. Dabei kann bereits auf die Erkenntnisse zu protektiven Faktoren und Prozessen bei Kindern und Jugendlichen zurückgegriffen werden und auf Fragen nach gesunderhaltenden Faktoren bei Erwachsenen ausgeweitet werden. Neben einer Identifizierung von Risiko- und Schutzfaktoren, stehen im Zentrum der Forschung im Erwachsenenalter die Anpassung an chronisch widrige Bedingungen (z.B. sozioökonomische Benachteiligung oder Minderheitenstatus), vor allem aber die erfolgreiche Bewältigung stressreicher und potenziell traumatischer Ereignisse. In den bisherigen Studien zum Erwachsenalter wurde dabei deutlich, dass Resilienz ein weit verbreitetes Phänomen ist und die menschliche Psyche eine große Anpassungsfähigkeit besitzt. Selbst nach der Konfrontation mit schwerwiegenden kritischen Ereignissen bleiben i. d. Regel mindestens über die Hälfte der Betroffenen stabil, früher wurde diese Stabilität eher als Ausnahme betrachtet. Resilienz wird dabei in den Studien häufig als relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal, als die psychische Widerstandsfähigkeit an sich betrachtet. Risiko- und Schutzfaktoren können in personale, soziale und soziokulturelle Faktoren unterteilt werden. Sie stehen in gegenseitiger Wechselwirkung zueinander. Die Anwesenheit von Schutzfaktoren verheißt nicht absolute Immunität gegenüber bestimmten Stressoren, andersherum existieren möglicherweise Risikofaktoren, die einen schädigenden Einfluss haben können. Ziel der Resilienzforschung im Erwachsenalter ist es, Schutzfaktoren zu ermitteln, Modelle zum Zusammenwirken dieser Faktoren zu entwickeln und darauf aufbauend Interventions- und Präventionsmaßnahmen zu entwerfen, um Resilienz zu stärken. (vgl. Bengel/ Lyssenko 2012, 7ff)

2.3.3 Resilienzfaktoren

Im Laufe ihrer Entwicklung müssen sich Menschen immer wieder anderen Lebenssituationen anpassen. Resilienz ist dabei jedoch keine stabile Größe, die Unverwundbarkeit garantiert. (vgl. Scharnhorst 2010, 35ff) Resilienz bewahrt den Menschen nicht vor negativen Lebensereignissen. Sie hilft nur, mit diesen Ereignissen flexibler und funktionaler umzugehen. (vgl. Friborg et al. 2003, 66) Dabei verfügen Menschen bereits von Natur aus über eine Reihe von Fähigkeiten und Eigenschaften, die zur Resilienz beitragen und auf die in unterschiedlichen Situationen zur Bewältigung zurückgegriffen werden kann. Das sind Faktoren innerhalb und außerhalb einer Person, die im Falle einer Belastung das Risiko einer negativen Bewältigung mildern. (vgl. Lyssenko et al. 2010, 1067)

Beim Konzept der Resilienz muss man von einem Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren ausgehen. Resilienz entsteht immer in einem kulturellen, historischen, ökonomischen und menschlichen Entwicklungskontext. (vgl. Hildenbrand 2006, 24) Als erstes trifft ein Stressor auf Umweltbedingungen mit spezifischen Risiko- und/ oder Schutzfaktoren. In einem transaktionalen Prozess zwischen Person und Umwelt kommen dann personale Ressourcen, also Resilienzfaktoren, zum Tragen. Aus diesem Zusammenspiel ergibt sich im zweiten Transaktionsprozess, dem Resilienzprozess, eine Anpassung, d.h. die positive oder negative Bewältigung der stressauslösenden Situation. (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 37)

In verschiedenen Stresssituationen kann Resilienz unterschiedlich ausgeprägt sein. So kann man mehrere zentrale Charakteristika nennen:

- Resilienz ist dynamisch:
- Individuelle Widerstandskraft bzw. resilienter Umgang mit Stressoren entwickeln sich prozesshaft und in der Interaktion von Mensch und Umwelt.
- Resilienz ist variabel:
- Personen, die zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben widerstandsfähig sind, können zu einem anderen Zeitpunkt weniger widerstandsfähig sein.
- Resilienz ist situationsspezifisch:
- Personen können auf den einen Stressor resilient reagieren, bei einem anderen jedoch durchaus größere Schwierigkeiten bei der Bewältigung haben. Dabei kommt es nicht primär auf die Stärke des Stressors an, sondern auf das individuelle Erleben.
- Resilienz ist multidimensional:
- Anpassungs- und Bewältigungsleistungen können in verschiedenen Lebens- und Kompetenzbereichen unterschiedlich ausgeprägt sein. (vgl. Bengel/ Lyssenko 2012, 26f)

Bei den Einflussfaktoren unterscheidet man zwischen Risiko- und Schutzfaktoren. Dabei lässt sich nicht immer klar abgrenzen, was ein Risiko- und was ein Schutzfaktor ist. Das Vorhandensein eines Schutzfaktors impliziert nicht sofort eine Immunität gegen bestimmte Stressoren. Er vermindert lediglich die Wahrscheinlichkeit eines negativen Bewältigungsergebnisses. Außerdem darf man das Vorhandensein von Schutzfaktoren nicht als Abwesenheit von Risikofaktoren interpretieren. (vgl. ebd., 27f) Schutz- und Risikofaktoren können also nicht einfach gegeneinander aufgerechnet werden, so dass sie sich letztlich aufheben. Man kann jedoch sagen, dass die einen Faktoren mehr Einfluss auf die Bewältigung haben als andere. Und: Je mehr Schutzfaktoren vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines positiven Bewältigungsergebnisses. Risiko- und Schutzfaktoren beeinflussen sich in einem komplexen Wirkmechanismus. Zum einen sollten sie daher nicht einzeln voneinander betrachtet werden. Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass auch das subjektive Bewertungs- und Bewältigungsverhalten einen hohen Einfluss auf die Situation hat. (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Rönnau-Böse 2009, 37)

[...]


[1] Das DSM - Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (englisch für ‚Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen‘) ist ein Klassifikationssystem in der Psychiatrie herausgegeben von der American Psychiatric Association zur Diagnose psychischer Störungen.

Ende der Leseprobe aus 139 Seiten

Details

Titel
Berufsrisiko Traumatisierung – Die verletzten Seelen der Lokführer
Untertitel
Über die Gefahr von Traumafolgestörungen nach Personenunfällen und die Wirkung von Resilienzfaktoren
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
139
Katalognummer
V374165
ISBN (eBook)
9783668525153
ISBN (Buch)
9783960951247
Dateigröße
2123 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Resilienz, Trauma, Posttraumatische Belastungsstörung, Personenunfälle
Arbeit zitieren
Tatjana Suda (Autor:in), 2015, Berufsrisiko Traumatisierung – Die verletzten Seelen der Lokführer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374165

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