Gelebter Geschmack. Eine sensorische Ethnographie über das Verflochten-Sein von Mensch, Weinwahrnehmung und Umwelt


Masterarbeit, 2017

137 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Terroir und die Entstehung von gelebten Geschmackserfahrungen
1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit
1.3 Zugang zum Feld und Methoden einer sensorischen Ethnographie
1.3.1 Verknüpfung der Felder entlang des Terroir-Gedankens
1.3.2 Zur Auswahl der Methoden

2 Historische und kulturelle Einbettung
2.1 Sichtweisen auf Wein: kulturgeschichtliche Entwicklungen in Europa
2.1.1 Wein, Medizin und Naturphilosophie
2.1.2 Zur Güte und Verträglichkeit von Wein
2.1.3 Ende der Elementenlehre und Beginn der Weinchemie
2.1.4 Quantifizierung des Geschmacks
2.2 Von der Eingliederung des Terroir-Gedankens in die Weingesetzgebung

3 Eine Phänomenologie des Geschmacks
3.1 Phänomenologische Herangehensweise als Voraussetzung
3.1.1 Kritik eines rein naturwissenschaftlichen Verständnisses
3.1.2 Von der Anthropologie der Sinne zur Phänomenologie der Wahrnehmung
3.2 Geschmackswahrnehmung und phänomenologische Perspektiven
3.3 Körperwissen und die Inkorporierung gesellschaftlicher Normen
3.4 Wissensvermittlung und das Erlernen von skills
3.5 Wein als Material in Mensch-Pflanzen-Beziehungen

4 Sensorische Ethnographie
4.1 Was es heißt, ein Sommelier zu werden
4.1.1 Einführende Worte
4.1.2 Ablauf einer Weinverkostung
4.1.3 Expertise und Sensorik als Schulung der Aufmerksamkeit
4.1.4 Was es heißt, ein guter Sommelier zu sein
4.1.5 Verkostungssequenzen und die Grenzen standardisierter Schemata
4.1.6 Aufforderungen des Weingeschmacks
4.2 Berührungspunkte zwischen Winzer und Sommelier
4.2.1 Macht und Distinktion
4.2.2 Von Objekten und Materialien
4.3 Ökologie der Weinherstellung
4.3.1 Einführende Worte
4.3.2 Pflanzenpflege im Weinbau
4.3.3 Weinbauliche Rhythmen in der Wetter-Welt
4.3.4 Atmosphären im Weinbau
4.3.5 Gute Pflanzenpflege als leibliche Verbundenheit
4.3.6 Wertorientiertes Handeln und Weingeschmack
4.4 Zur Schönheit des Trinkens und eine phänomenologische Weinverkostung

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Terroir und die Entstehung von gelebten Geschmackserfahrungen

Imagine for a moment that you are at a restaurant dining with friends. The waitress puts a dish of something in front of you that you believe to be a lemon sherbet. You take a bite and for an in- stant you are confused and dismayed. After the spoon touches your tongue, the intervening sen- sation is shocking and seems to be without clear quality: the temperature is wrong, the texture is wrong, the taste is wrong. And then, out of the confusion and indeterminacy, the strange sub- stance is identified and becomes butter. The amount you have eaten may be far more than is usu- ally appropriate, but the overall flavour isn´t bad. What initially was a disgusting lemon sherbet has become a decent, if not tasty, butter (vgl. Korsmeyer 1999, 90-91). Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als würde es ganz konkrete, objektiv wahrnehmbare Geschmäcker geben, auf die unsere Sinnesorgane als Medium gemäß eines Reiz-Reaktion-Prinzips passiv reagieren und die unser Verstand dann aktiv verarbeitet und interpretiert. Eine Butter sollte nach Butter schme- cken, egal in welcher Umgebung wir uns befinden, zu welcher Tageszeit wir diese essen, in wel- cher Gesellschaft wir sind und unabhängig davon, was wir erwarteten, eigentlich im Mund zu haben. Tatsächlich kann Geschmackswahrnehmung und das, was Butter zu Butter werden lässt, jedoch weder auf das Wahrgenommene, die materielle Qualität reduziert, noch als rein geistiger Prozess verstanden werden. Die Fähigkeit Butter zu erkennen ist davon abhängig, ob wir in der Lage sind aus dem sinnlichen Hintergrundrauschen unserer Umgebung - einer Vielzahl von Ge- schmäckern, Gerüchen, Texturen und Farben - bestimmte Signale zu erfassen, zu filtern, zu ord- nen und zu sinnhaften Gestalten zusammenzusetzen, bevor überhaupt eine bewusste Reflexion einsetzen kann. Jene multisensorische Wahrnehmungserfahrung ist dabei immer von Erwartun- gen, Emotionen, Stimmungen, Atmosphären, Vorkenntnissen, Erinnerungen und Umgebungs- qualitäten geprägt und eine Beschreibung, bei der diese auf das neuronale und kognitive Gesche- hen reduziert wird, erscheint unzureichend.

In dieser Arbeit geht es um Geschmack. Im Mittelpunkt meiner ethnographischen Betrachtung steht die Frage, wie eine ganz bestimmte sinnliche Erfahrung, nämlich der Geschmack von Wein, von Menschen lebensweltlich, auf der Basis ihrer jeweiligen Handlungs- und Wahrneh- mungsfertigkeiten als skills, erfahren wird. Meine Feldforschung in der Deutschen Wein- und Sommelierschule und bei großenteils ökologisch oder biologisch-dynamisch arbeitenden Weinerzeugern zeigt nämlich, dass aufseiten der Sommeliers und Winzer unterschiedliche Wahrnehmungsweisen von Wein existieren, die durch eine Vielzahl verschiedener Diskurse und Praktiken sozial und kulturell geformt werden und sich dabei auf den ersten Blick grundlegend unterscheiden. Dieses Anders-Schmecken, das sich vor allem aus dem praktischen Involviertsein und ihrer leiblichen Bezugnahme zum Wein ergibt, liefert eine mögliche Erklärung dafür, warum ich erlebt habe, dass viele Winzer Sommeliers mit einer recht kritischen Haltung gegenübertreten. Um das Feld der Erfahrung erschließen zu können, erschien es somit notwendig, die Lebenswelt meiner Informanten1 zu befragen, aus der sich alles Erleben ergibt.

Ausschlaggebend für diese Erkenntnis war mein Interesse am Thema Terroir 2 . Grundsätzlich handelt es sich um einen Begriff, der einen Gegenentwurf zu industriell produzierten Massen- weinen darstellt. Offizielle Definitionen beschreiben Terroir als Zusammenspiel von „natürli- chen“ Faktoren und der „kulturprägenden“ Tätigkeit des Menschen, die die Eigenheit, den Ge- schmack und den Wert eines bestimmten Gebietes oder Produktes ausmachen. In der Weinschule wird Terroir von Sommeliers entweder als Synonym zu weiteren Begriffen wie „Authentizität“, „Typizität“ oder „Natürlichkeit“ eingesetzt, der Geschmack auf die Bodenqualität und die durch den Boden hervorgerufenen Veränderungen reduziert oder er wird ironisch verwendet und als faktisch nichtig und objektiv nicht nachweisbar abgetan. Viele Winzer hingegen sprechen von Terroir, wenn sie darstellen möchten, dass bestimmte ökologische Bedingungen3 und spezielle Fertigkeiten in der Weinproduktion zu außergewöhnlichen geschmacklichen Qualitäten im Wein führen und um die sie dazu inspirierenden moralischen, ökologischen oder wirtschaftlichen Wer- te auszudrücken. Was diese unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs jedoch gemeinsam haben, ist, dass Terroir immer dann artikuliert wird, wenn es um Wechselwirkungen zwischen Mensch, Wahrnehmung und Umwelt geht, die nicht objektivierbar sind.

Tim Ingold entwirft eine Art ökologische Theorie, in der er darauf aufmerksam macht, dass es ein Irrweg sei, sich auf die Bedeutungszuweisung von Objekten zu konzentrieren, während die tatsächliche materielle Beschaffenheit, die Eigenschaften und Affordanzen der materiellen Welt übersehen werden (vgl. Ingold 2007, S.3). Diesem Ansatz und dem Terroir-Begriff folgend, de- nen zufolge Geschmack relationalen Charakter hat und immer mit der Materie verbunden ist, entschloss ich mich mein Feld zu erweitern und den materiellen Ursprung von Wein in der Weinproduktion kennenzulernen, in der handwerkliche Winzer nicht nur arbeiten, sondern auch im und vom Weinberg leben. Im Verlauf meiner Feldforschung und in der Auseinandersetzung mit dem Terroir-Konzept, das schließlich selbst Geschmackswahrnehmung als Korrelation im- pliziert, rückte also die Frage danach, wie Geschmack von meinen Informanten in der kulturellen Praxis der Weinverkostung qualitativ als gelebter Geschmack erfahren wird, in den Fokus meiner Untersuchung. Wie meine Feldforschung eindrücklich zeigt, gestalten sich die Lebens- welten von Winzer und Sommelier sehr verschieden. Dabei wird deutlich, dass jede geschmack- liche Wahrnehmung immer vor dem Hintergrund eines persönlichen Erfahrungshorizontes ge- macht wird, und dass das Wahrgenommene zum Großteil davon abhängt, was meine Informan- ten wahrzunehmen erlernt haben und wahrzunehmen gewohnt sind, wie sie sich leiblich auf ihre Umwelt beziehen und mit dieser auseinandersetzen. Da jene Bezugnahmen sich sehr unter- schiedlich darstellen, haben Winzer und Sommeliers ihren jeweiligen Handlungs- und Wahr- nehmungsfähigkeiten entsprechend, ihr jeweils eigenes Welterleben. Somit ist Wahrnehmungs- wissen und das Ergebnis jeder Geschmackswahrnehmung immer auch historisch, kulturell und sozial geprägt und nicht mithilfe einer dualistischen Weltsicht erklärbar.

1.2 Ziel und Aufbau der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist es herauszuarbeiten, dass gelebter Geschmack immer multisensorisch, öko- logisch, verkörpert und kulturell situiert ist. Entlang des Terroir-Gedankens wird aufgezeigt, wie sich die Sinne von Winzer und Sommeliers in der Ausübung ihrer Praxis ausformen, wie sich diese Wissensformen und -aneignungen darstellen und als unterschiedliche Wahrnehmungsstile manifestieren.

Eine rein naturwissenschaftliche Theorie des Geschmackssinns und eine strikt physiologische Sichtweise tragen wenig zum Verständnis des lebensweltlichen Wesens des Geschmacks bei, denn Gegenstand der geschmacklichen Wahrnehmung sind eben nicht intrazelluläre Moleküle, sondern Speisen oder auch ein Wein. Um die Einbindung der Geschmackswahrnehmung im komplexen Geschehen des menschlichen Lebens und seiner Umgebung verstehen zu können und um differenziert und detailreich darzustellen, wie Geschmack in seiner Qualität leiblich erlebt wird, ist es notwendig, die Phänomenologie als philosophische Wahrnehmungslehre hinzuzuzie- hen.

Auch aus kulturwissenschaftlicher Sicht lässt sich einwenden, dass Beschreibungen auf neurolo- gischer Ebene nicht zielführend sind, um Aussagen über den gesellschaftlichen Gebrauch des Geschmacks entwickeln zu können. Kulturwissenschaftliche Perspektiven bieten außerdem den Mehrwert, dass sie nicht zwingend versuchen, die kulturelle Praxis der Weinverkostung und ge- lebte Erfahrung der Weinverkoster reduktionistisch mithilfe von vier oder fünf Grundwahrneh- mungen des Geschmackssinns zu beschreiben. Hingegen besteht die Möglichkeit zu fragen, wie Körper und Wahrnehmung in ihrer jeweiligen Umwelt kulturell geformt werden und welche Werte und Normen dieses Erleben entscheidend mitprägen. Des Weiteren bieten sich soziologische Ansätze für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik an.

Konventionelle Positionen in der Anthropologie vertreten die Auffassung, dass Menschen ihre Umwelt in kulturell konstruierten, diskursiven Welten mit Bedeutung ausstatten und halten dabei Subjekt-Objekt oder Natur-Kultur-Dichotomien aufrecht. In dieser Arbeit soll entgegen dieser herkömmlichen Perspektive keine Unterscheidung zwischen Körper und Geist und Natur und Kultur vorgenommen werden, sondern diese werden, gemäß Tim Ingolds Konzeption einer neu- en Ökologie, die die sogenannte dwelling perspective (Ingold 2000) als Sichtweise zugrunde legt, als untrennbar begriffen. Er vertritt den Standpunkt, dass wir nicht nur die Außenwelt von innen her betrachten, sondern selber Teil der Bewegungen sowie Teil von Wind und Wetter sind und als aktives Element in diesem Beziehungsgeflecht mitwirken (vgl. Ingold 2011b).

Die Phänomenologie wird insgesamt als philosophische Grundlage der Arbeit betrachtet. Sie bietet sich für die Erforschung der Wahrnehmungsweise meiner Informanten an, da sie im Besonderen die Rolle des wahrnehmenden Leibes, als den der Mensch sich selbst und die Welt erfährt, in den Mittelpunkt rückt. Zusammen mit der Erweiterung um kulturwissenschaftliche, soziologische und weitere wahrnehmungstheoretische Konzepte und Methoden erscheint die Annäherung an eine Phänomenologie des lebendigen Geschmacks möglich.

Im ersten theoretischen Teil der Arbeit wird zunächst ein Abriss über die historische Entwick- lung der Weinverkostung und des Weintrinkens vorgenommen. Darüber hinaus wird der Grund- gedanke des Terroir-Konzepts und dessen Entstehung und Weiterentwicklung dargelegt, da dies relevant ist für das Verständnis der gegenwärtigen kulturellen Bedeutung. Der Theoriekomplex umfasst neben einer kritischen Abgrenzung zu einem rein naturwissenschaftlichen Verständnis des Geschmacks außerdem verschiedenartige theoretische Ansätze und Positionen. Ziel ist es dabei nicht, diese miteinander in Einklang zu bringen - gerade die Unterschiedlichkeit der Theo- rien bietet den Vorteil, dass sie erst in ihrer Art der Zusammenstellung und vor allem praktischen Anwendung der Komplexität einer Phänomenologie des Geschmacks gerecht werden können.

Die Ethnographie, als der zweite Komplex der Arbeit, ist in verschiedene Themenbereiche unter- teilt, die sich im Verlauf der Feldforschung in der Auseinandersetzung mit dem Terroir-Konzept als relevante Leitgedanken herauskristallisiert haben. Zunächst wird die Schulung der Sinne in der kulturellen Praxis der Weinverkostung in der Weinschule dargestellt, die einhergeht mit der Formung des Geschmacks. Dabei zeigt sich, dass es mir als Forscherin erst über das eigene prak- tische Eingebundensein in die Tätigkeiten meiner Informanten ermöglicht wird, mich der kultu- rellen Bedeutung der Praxis annähern zu können. Dieser Teil ist überwiegend mit Erkenntnissen aus meinen autoethnographischen Feldberichten gespeist und zeigt die Entwicklung vom Laien bis hin zum Experten. Damit einher geht auch die Herausbildung gewisser Ideale, die bestim- men, wie sich ein Sommelier innerhalb der Kultur der Sommeliers zu verhalten und bewegen hat und was er wahrnehmen und schmecken sollte. Dies ist relevant, da diese Vorstellungen maß- geblich das Handeln und Wahrnehmungserlebnis des Sommeliers strukturieren. Dabei wird dar- gelegt, wie sich im Verlauf der Weiterbildung mit Erlernung der Expertise ein Werte- und Ge- schmackswandel abzeichnet, so dass die Sommeliers auch das mögen, was sie schmecken. Da Winzer denselben Wein nicht nur anders verkosten sondern auch schmecken und auf andere Art und Weise mit ihm umgehen und arbeiten, zeigt der ethnographische Teil auch detailhaft, wie sich ihre Bezugnahme zum Wein darstellt.

Während Wein in der Kultur der Sommeliers in der Regel als Artefakt betrachtet wird - mit dem Ziel die Wahrnehmung zu objektivieren - ist Wein für meine Informanten, die Weinerzeuger sind, ein dynamisches Material, das verändert wird und selbst verändert. Dabei wird in allen Themenkomplexen Bezug zum Terroir-Gedanken genommen und seine Bedeutung und Ein- flechtung in das Leben und Wahrnehmungserleben meiner Informanten betrachtet. Indem ich den vielfältigen Beziehungen entlang des Terroir-Gedankens und durch die unterschiedlichen Felder folgte, soll in dieser Arbeit ebenfalls der Versuch unternommen werden, die oft als ge- trennt wahrgenommenen Geschmacks- und Arbeitswelten von Sommeliers und Winzer mitei- nander in Verbindung zu bringen. Die stete Betonung einer Unterschiedlichkeit befriedet nicht, sondern verschärft zusätzlich das meist gespaltene Verhältnis zwischen Winzer und Sommelier als Produktion und Handel. Doch was all jene eigentlich vereint, ist ihr geschmackliches Ziel, hochwertigen Terroir-Wein herzustellen und diesen auch als hochwertig wahrnehmen und be- werten zu können.

Im Schlussteil wird der Versuch unternommen, ein phänomenologisches Verkostungsmodell zu skizzieren, das Wein als Material betrachtet und somit versucht das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Wein, Verkoster und Umwelt ernst zu nehmen.

1.3 Zugang zum Feld und Methoden einer sensorischen Ethnographie

Wie wird in der Weiterbildung die Geschmackswahrnehmung geformt, wie verändert sich die Wahrnehmung als Ganzes - und was machen diese Sommeliers eigentlich? Mit diesen Fragen und einer gewissen Faszination für den Terroir-Gedanken im Hinterkopf entschloss ich mich dazu die Weiterbildung zum Geprüften Sommelier IHK in der Deutschen Wein- und Sommelier- schule Koblenz mit einer ethnographischen Feldforschung zu verbinden. Die Feldforschung hat vor allem in der Zeit zwischen Herbst 2014 und Sommer/Herbst 2015 stattgefunden. Mit Beginn der Weiterbildung, deren Seminare sich als Langzeitlehrgang über 12 Monate erstrecken, begann ich auch mein Feld kennenzulernen. Meine eigenen Erfahrungen mit dem Thema Wein be- schränkten sich zu diesem Zeitpunkt auf den gelegentlichen Weinkonsum. Da die Weiterbildung und Zulassung zur Prüfung grundsätzlich eine einschlägige Berufserfahrung erfordern, ergab es sich als logische Konsequenz, dass die meisten Teilnehmer in Gastronomie oder Weinhandel arbeiten und bereits verschiedene Erfahrungen mit Weinverkostungen gemacht hatten. Diese Situation wurde mir am ersten Tag der Weiterbildung schnell bewusst und ich realisierte, dass ich mich auf völlig neue und unbekannte Formen der Kommunikation, des Denkens und Verhal- tens einlassen musste, um die Kultur der Sommeliers von innen her verstehen zu können. Diese Situation bot mir außerdem die Chance, meine eigene Entwicklung vom Laien bis hin zur An- eignung und Verkörperung des Expertenwissens beobachten und dokumentieren zu können.

1.3.1 Verknüpfung der Felder entlang des Terroir-Gedankens

Die Feldforschung selbst hat während des Unterrichts in den Räumlichkeiten der Weinschule stattgefunden, während Kaffeepausen, gemeinsamen Mittagessen in der Stadt Koblenz, bei abendlichen Aktivitäten, die von dem offiziellen Teil der Weiterbildung losgelöst waren, aber auch bei Exkursionen zu Weingütern. Dabei darf der Wein- und somit Alkoholkonsum nicht unerwähnt bleiben und spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Feldforschung. An der Forschung waren anfänglich 18 Teilnehmer zwischen 21 und 55 Jahren und einige Dozenten beteiligt. In der Weinschule selbst ist die Seminarverwaltung und -organisation lokalisiert, wäh- rend die Dozenten auf freiberuflicher Basis für die Weiterbildungstermine an- und abreisen.

Anfang 2015, nach einigen Monaten der Weiterbildung, entschloss ich mich, mein Feld zu er- weitern. Ich stellte fest, dass es nicht zielführend ist, das Feld lokal zu begrenzen und befürchte- te, dass sich meinem Blick so weitgehend bestehende Querverbindungen entziehen könnten. Au- ßerdem stieß es bei mir immer wieder auf Irritationen, dass der Terroir-Gedanke in der Wein- schule so unterschiedlich verwendet oder direkt ironisch als nichtig abgetan wurde, obwohl er ja offensichtlich dennoch irgendeine Relevanz hatte. Eine Betrachtungsweise, die ausschließlich den Fokus auf die Sommeliers als geschlossene und isolierte Kultur in der Institution der Wein- schule legt, erschien mir als verkürzte Darstellung des Lebens eines Sommeliers, da auch jene immer schon intentional gerichtet sind und eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen.

So entschloss ich mich, den Blickwinkel der Untersuchung auf den Gesamtzusammenhang und die bestehenden Beziehungen zwischen Winzer und Sommeliers zu richten und begegnete dem Feld mit Offenheit. Das Feld wurde im Zuge der Forschung, ähnlich einer Multi-Sited Ethno- graphy (Marcus 1995), also erst konstruiert und die verschiedenen Felder dann miteinander ent- lang des Terroir-Gedankens verknüpft. Dabei galt es die oft als getrennt wahrgenommenen „Welten“ von Sommeliers und Winzer miteinander in Beziehung zu setzen. Da der Terroir- Begriff selbst Korrelation impliziert, erschien auch nur diese Herangehensweise dem Thema zu entsprechen.

Um nachvollziehen zu können, was überhaupt die Herkunft des Weingeschmacks - das Terroir - und der materielle Ursprung von Wein ist, weitete ich das Feld also auf die Weinherstellung aus. Dieses Interesse führte mich letztendlich zu drei Winzern in Rümmelsheim, Schweppenhausen und Oestrich-Winkel, die ich erstmalig über Exkursionen der Weinschule kennengelernt habe. Dem Terroir-Gedanken folgend, ergab es sich, dass alle Winzer ökologischen oder biologisch- dynamischen Weinbau betreiben oder nach ähnlichen ökologischen Prinzipien arbeiten. Orte, an denen die Feldforschung im Weinbau stattfand waren die Weingüter, gemeinsame Essen in den Küchen der Familien, Autofahrten zu den Weinbergen und insbesondere die Weinberge selbst. Dabei spielte auch das Wetter eine maßgebliche und zunächst stark unterschätzte Rolle in der Feldforschung. Dies wurde mir erst bewusst, als sich herausstellte, dass Terminvereinbarungen mit Winzern zu treffen ein schwieriges bis unmögliches Unterfangen darstellt, da der Zeitpunkt für weinbauliche Arbeiten immer von den Wetterveränderungen abhängt.

Da es mein Ziel war, den Werten und Vorstellungen meiner Informanten in Weinschule und Weinbau näher zu kommen, erschien mir die teilnehmende Beobachtung als geeignete kulturwissenschaftliche Forschungsmethode für mein Vorhaben:

The ethnographer seeks a deeper immersion in others’ worlds in order to grasp what they experience as meaningful and important. With the immersion, the field researcher sees from the inside how people lead their lives, how they carry out their daily rounds of activities, what they find meaningful, and how they do so. (Emerson / Fretz / Shaw 2011, 3)

Einerseits ging es also darum an den kulturellen Praktiken meiner Informanten in Weinbau und Weinschule teilzunehmen und mich mit den Aktivitäten zu befassen, denen diese nachgehen und andererseits darum die Erfahrungen am eigenen Leib nachvollziehen zu können. Denn nur über das eigene leibliche Erleben wird es mir möglich, mich den Lebenswelten von Sommelier und Winzer annähern zu können. Stets habe ich dabei das eigene Erleben beobachtet und untersucht, so dass autoethnografische Anteile einen bedeutenden Bestandteil meiner Ethnographie ausma- chen.

In der Weinschule habe ich somit als Teilnehmerin und als Ethnographin am Unterricht teilgenommen. Weil es sich dabei überwiegend um Frontalunterricht handelte, waren insbesondere die Situationen interessant, in denen Interaktion zwischen den Teilnehmern und den Dozenten stattfand, also während Gesprächen und zahlreichen angeleiteten Verkostungen. In der Weinproduktion hingegen arbeitete ich bei verschiedenen Aktivitäten in den Weinbergen mit und bei anderen Tätigkeiten, die bei der Arbeit als Winzer eben noch so anfallen.

Da das Feld nicht unmittelbar zeitlich und örtlich begrenzt war - ich also dem Plot folgte - er- streckte sich die Feldforschung über einen Zeitraum von ungefähr 12 Monaten. Dabei galt es insbesondere die eigene Entwicklung und die der Gruppe bei eben jenen Verkostungen und Ge- sprächen zu verfolgen. Es erschien auch hilfreich, sich mit den verschiedenen Dokumenten und Lernunterlagen zu beschäftigen, die die Teilnehmer erhalten, um zu ergründen, welchen Einfluss diese auf das Handeln haben und ob sie Aufschluss über Praktiken wie die Weinverkostung ge- ben können. Hierbei war es das Ziel “[to understand] how such documents are constructed, read, and interpreted by members. In practice, this requires looking closely at what members see as significant [...]" (ebd., 139). Neben der teilnehmenden Beobachtung habe ich als Ergänzung zu meinen eigenen leiblichen Erfahrungen und Beobachtungen zahlreiche ethnographische Gesprä- che mit den Informanten geführt. Dokumentiert habe ich diese Erlebnisse in Form von Feldnoti- zen und -berichten.

Von Beginn der Weiterbildung wussten die Teilnehmer und Dozenten um meine Tätigkeit, im Unterrichtsalltag selbst wurde ich jedoch mehr als Teilnehmerin und nicht als Ethnographin wahrgenommen. Aufgrund der Tatsache, dass in der Weinschule die meisten Teilnehmer Noti- zen anfertigten, verwunderte es nicht weiter, dass ich dies in der Rolle der Forscherin ebenfalls tat. Meine Eindrücke und Wahrnehmungen sowie Gespräche konnte ich so in der Regel während des Unterrichts oder zeitnah danach erstellen, was im Weinbau in dieser Form selten umsetzbar war, da die Eingebundenheit in verschiedene Aufgaben meine Aufmerksamkeit erforderten.

Auch wenn ich dem Plot folgte, so war es im Feld immer wieder unumgänglich als Forscherin auszuwählen, auf welche Aspekte, Themen und Menschen im Besonderen der Fokus gesetzt wird. Eine Darstellung der objektiv wirklichen Wahrheit kann diese Ethnographie also nicht leis- ten. Da jedoch auch davon ausgegangen wird, dass die eigene Wahrnehmung immer mit der Leiblichkeit verbunden ist und es keine empirisch vorhandene Wahrnehmungswirklichkeit und das reine Wesen des Weingeschmacks gibt, wird dies auch nicht angestrebt. Mit dem Verlassen der Felder und der Distanz zum eigenen Erlebten war für mich als Forscherin jedoch der Feldfor- schungsprozess keineswegs abgeschlossen. Als ich begann, das gesammelte Material zu sichten, zeigten sich mir zwischen verschiedenen Berichten neue Querverbindungen auf. Dieser Ab- schnitt war für mich als Forscherin von besonderer Relevanz und für den Erkenntnisgewinn aus den sensorischen Daten entscheidend. Daraufhin ordnete ich reflektierend das Material, verän- derte die Anordnung meiner Berichte und fügte sie Themenfeldern zuordnend, zusammen. Vor allem wurde mir als Forscherin mit der Distanz auf das Erlebte auch erst bewusst, wie sehr diese Feldforschung auch mich selbst verändert hat.

Der Frage, ob der phänomenologische Ansatz, der in dieser Arbeit in die kulturwissenschaftliche Methode der teilnehmenden Beobachtung integriert wird, denn dann als gesonderte Methoden- lehre betrachtet werden kann, entgegnet Waldenfels folgendermaßen: „Dies trifft nur dann zu, wenn man unter Methode kein neutrales Werkzeug versteht, das auf vorgegebene Sachen anzu- wenden ist, sondern buchstäblich einen Weg, der den Zugang zur Sache eröffnet“ (Waldenfels 1992, 31). Die Feldforschung kann dementsprechend weniger als lineare Bewegung verstanden werden, sondern als dynamischer und offener Prozess. Da ich zu Beginn der Feldforschung noch davon ausging, eine andere als diese Ethnographie zu schreiben, ist es offensichtlich, dass sich die Gestalt der Feldforschung immer wieder veränderte. Viele Verbindungen zeigten sich erst im Verlauf der Forschung oder im Nachhinein und rückten als Themenkomplexe in den Vorder- grund, während weniger relevante Themen wiederum in den Hintergrund traten.

1.3.2 Zur Auswahl der Methoden

Während der Leib von den Sommeliers oftmals als Hindernis wahrgenommen wird, dient er mir als Forscherin vor allem als Quelle von Erkenntnis. Nur über die sinnlich-leibliche Wahrneh- mung kann es gelingen, das Feld der Erfahrung, das die Lebenswelt meiner Informanten struktu- riert, zu erschließen. Die sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung erscheint in dieser Perspektive somit nicht mehr nur „Rohstoff“ zu sein, der zunächst einer kognitiven Leistung bedarf, sondern ist Grundlage für ein eigenständiges Erkennen (vgl. Böhle / Porschen 2011, 53). Um also das Beziehungsgeflecht von Mensch, Weinwahrnehmung und Umwelt aus seiner Komplexität ent- flechten und angemessen beschreiben zu können, war es unumgänglich zu den Methoden einer sensory ethnography (vgl. Pink 2009) zu greifen: „the priority is [...] the use of the ethnogra- pher´s own sensorial experiences as a means of apprehending and comprehending other people´s experiences, way of knowing and sensory categories, meanings and practices“ (Pink 2009, 46).

Ein rein physiologisch definiertes Verständnis des Geschmackssinns bringt eine solche For- schung, die es sich zum Ziel macht, annäherungsweise die lebensweltlichen Strukturen der In- formanten aufzudecken und selbst nachzuvollziehen, wie Sommelier und Winzer Wein schme- cken, schnell an ihre Grenzen. Aus diesem Grund ist eine Forschung mit allen Sinnen erfor- derlich. Indem mein eigener sinnlich empfindsamer Leib das Medium zur und in der Welt ist und „das Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“ (Merleau-Ponty 1966, 176) ist, wie Merleau-Ponty darstellt, mein eigener Leib auch die eigentliche Voraussetzung für eine solche Forschung. Des- wegen muss es auch Aufgabe der Ethnographie sein, darzustellen, wie sich der ganze Leib , als den wir uns und die Welt erfahren, an diesen Tätigkeiten ausformt und die multisensorische Ge- schmackswahrnehmung prägt: „[...] the researcher learns and knows through her or his whole experiencing body“ (Pink 2009, 25).

Es erscheint zunächst notwendig zu erklären, wie es überhaupt möglich wird, einen Zugang zur Lebenswelt von Sommelier und Winzer zu erhalten, um dann ein Verständnis dafür entwickeln zu können, warum und wie sie Wein unterschiedlich schmecken. Indem Merleau-Ponty darstellt, dass der Mensch in der Korrelation der Wahrnehmung im leiblichen Empfinden nicht nur die Welt, sondern immer auch sich selbst erlebt, thematisiert er bereits die Rolle des wahrnehmen- den Leibs des Forschers selbst. Gleichzeitig ist jedoch der sinnlich wahrnehmbare Leib auch sinnlich wahrnehmbar für andere. So „wird das Empfinden [zu einer] lebendigen Kommunikati- on mit der Welt“ (Merleau-Ponty 1966, 76). Um dem Erleben und der qualitativen Ge- schmackserfahrung meiner Informanten näher zu kommen, sind also die eigenen leiblichen Er- fahrungen von zentraler Bedeutung. Aus der Korrelation der Wahrnehmung ergibt es sich gleichzeitig, dass auch das Erleben meiner Informanten meine eigene Wahrnehmung prägt, „[...] unser beider Perspektiven gleiten ineinander über, wir koexistieren durch ein und dieselbe Welt hindurch“ (ebd., 406). In mein Wahrnehmungserleben als Forscherin fließen also gleichzeitig immer auch Erfahrungen der Informanten mit ein und gestalten somit den eigenen Erfahrungs- strom immer mit. Nie kann dabei das eigene Erleben deckungsgleich mit dem meiner Informan- ten sein, jedoch gibt es Möglichkeiten, mich diesem anzunähern.

Sarah Pink stellt in Doing sensory ethnography (Pink 2009) hilfreiche Ansätze bereit, die alle die Rolle des Leibes im wissenschaftlichen Kontext und Arbeiten betonen. Wie auch im theoreti- schen Teil zur Phänomenologie des Geschmacks dargestellt wird, lassen sich dabei grundsätzlich zwei Herangehensweisen unterscheiden: Die Anthropology of the Senses um David Howes (2003) und Constance Classen (2005), die den Fokus darauf setzt „how sensory phenomena are culturally significant, how they are meaningful to a given group or category of social actor“ (Pink 2009, 65) und eine phänomenologische Herangehensweise, wie Tim Ingold (2000) und Cristina Grasseni (2007) sie verfolgen. Ingold wendet sich entschieden von der Vorstellung ab, dass sinnliche Wahrnehmung erst dann bedeutungsvoll ist, wenn sie sich als kulturspezifisches Schema erfassen lässt und entgegnet, dass sich die kulturelle Bedeutung der Wahrnehmungswei- sen zuerst über das eigene leibliche und praktische Involviertsein erschließen lässt. Erst wenn der Leib also diese sinnlichen Daten als skills erlernt hat, wird es möglich, diese reflektierend auch auf analytischer Ebene als Modell zu erfassen. Somit leben Winzer und Sommelier nicht in un- terschiedlichen Geschmacks-Welten, sondern sie leben alle in derselben Welt, in der sie durch ihre Art der praktischen Bezugnahme zum und Auseinandersetzung mit Wein eben mehr und andere Dinge schmecken als andere Menschen.

Was all jene Ansätze jedoch vereint, ist, dass die verschiedenen Ethnologen nicht einzelne Sinnesmodalitäten in ihren Arbeiten betrachten, sondern anerkennen, dass die Sinne immer über einen inneren Zusammenhang untereinander verbunden sind, was auch Merleau-Pontys Ansatz einer Synästhesie entspricht: „[...] the idea of a sensory ethnography [...] is based on an understanding of the senses as interconnected and interrelated“ (Pink 2009, 65). Diese verschiedenen Sinnesmodalitäten ergänzen und verflechten sich zu einem Miteinander und werden deswegen als Einheit empfunden. Die Betrachtung des Geschmacks als einen Sinn, der ausschließlich auf der Zunge lokalisiert ist, kann demzufolge nicht zielführend sein, um der lebendigen Erfahrung von Winzer und Sommelier nahe zu kommen. Geschmackswahrnehmung wird in dieser Arbeit somit immer als multisensorisch und in der Bewegung verstanden.

Zugang zu den sinnlichen Daten und Erfahrungen meiner Informanten erhalte ich als Ethnographin nur über „multisensorial embodied engagements with others“ (ebd., 25). In der teilnehmenden Beobachtung habe ich mich somit als Forscherin dem multisensorischen Erleben mit allen Sinnen gewidmet. Indem ich selbst aktiv handelnder Teil des Feldes bin und somit das Erleben meiner Informanten immer auch präge, erscheint es ebenfalls wichtig, die eigene Rolle und Aufgabe als Forscherin darzulegen.

Pink weist darauf hin, dass es nicht nur Aufgabe des Forschers ist, dem Feld mit Offenheit und Aufmerksamkeit zu begegnen, sondern dass dieser sich zunächst dem analytischen Schritt einer Art Wesensforschung unterziehen muss, um dann Erkenntnis aus den sensorischen Daten gewin- nen zu können. Auch der ethnographischen Methode einer teilnehmenden Beobachtung ist es geschuldet, dass der Forscher sich zeitweise vom leiblichen Erleben in der Teilnahme distanzie- ren muss, um reflektierend die kulturelle Bedeutung der Praxis erkennen zu können. So gab es Phasen der Feldforschung, in denen sich die Teilnahme mit der Beobachtung abwechselte oder beide Formen ineinander fließend übergingen. Der Zugang zum Feld als Laie, der Neues zu erlernen hat, ermöglichte mir dabei die Situation, dass ich gewisse Handlungs- und Wahrnehmungsfertigkeiten eben noch nicht verleiblicht hatte. Während Experten jene skills bereits als selbstverständliche Fertigkeit betrachten, die zu ihrer Lebenswelt dazugehört, musste ich diese immer erst in der Praxis noch entdecken und erkennen - somit waren mir die meisten skills auch in der Reflexion noch weitgehend zugänglich und aufdeckbar.

Für Merleau-Ponty drückt sich in der leiblichen Wahrnehmung die Verbindung zur Welt aus, so dass der Mensch immer schon durch „[die mit uns] der Welt verknüpfenden intentionalen Fä- den“ (Merleau-Ponty 1966, 10) auf etwas gerichtet ist. Somit erscheint es notwendig, wie auch Pink anmerkt, zuallererst sich selbst als Forscherin zu betrachten, um zu verstehen wie man wahrnimmt und schmeckt, bevor die Reflexion beginnt. Für Merleau-Ponty ist der Leib die Grundlage des Zur-Welt-Seins - mein Leib, der sich in jeder Situation einrichtet und mich als Forscherin dabei durch unsichtbare Fäden der Intentionalität mit der Welt verknüpft - Fäden, die sich schon in den frühesten Kontakten mit der Welt ausgebildet haben. Da der Mensch jedoch im Handeln und auch in der Reflexion ein Teil der Welt ist, sie gleichzeitig produziert und in sie eingebunden ist, wird es nie möglich sein, die intentionalen Fäden vollkommen aufzudecken (ebd.). Die Erkenntnisse, die ich gewinnen kann, sind somit meine eigenen leiblichen Erfahrun- gen. Als Forscherin ist es demnach meine Aufgabe, neben der Nähe und Teilnahme an den kultu- rellen Praktiken auch Abstand von den mich anleitenden intentionalen Fäden zu gewinnen, in- dem ich versuche mich ihnen durch Distanz und Beobachtung zu entziehen (vgl. Merleau-Ponty 1966, 11). Durch die Spannung zwischen Nähe und Distanz, die Merleau-Ponty auch Erstaunen nennt und indem ich durch Aufmerksamkeit beobachte wie die Reflexion beginnt, gelingt es mir, der von mir als selbstverständlich erachteten Wahrnehmungsweise einen Schritt näher zu kom- men.

Insgesamt erscheint es also notwendig das eigene sinnliche Erleben in der Teilnahme mit Phasen der Distanz abzuwechseln, um nicht nur mein eigenes Handeln und Wahrnehmen zu reflektieren, sondern auch das meiner Informanten im Feld. Nur indem ich mein Erleben beobachte und mir meine eigene intentionale Bezugnahme reflektierend bewusst mache, kann es mir gelingen, mei- ne leiblichen Erfahrungen einer sensorischen Ethnographie entsprechend, angemessen zu be- schreiben.

Der einzige Weg, mich dem kulturellen Wissen von Winzer und Sommelier anzunähern, führt über die Erfahrung am eigenen Leib. Die Teilnahme an den kulturellen Praktiken in Weinschule und Weinbau ist somit notwendige Voraussetzung, damit es überhaupt möglich wird, die skills, die das Sinnesmodell von Winzer und Sommelier bestimmen, am eigenen Leib spüren und ver- stehen zu können. Durch Aufmerksamkeit und die wiederholte Tätigkeit können diese Praktiken dann zur Gewohnheit werden und erst die gemeinsame Erfahrung ermöglicht es mir, reflektie- rend im Erfahrungsstrom Zusammenhänge zu erkennen. Die lebendigen Geschmackserfahrun- gen, die meine Informanten machen, werden jedoch nie die meinigen sein. Meine leiblichen Er- fahrungen im Feld eröffnen mir zwar einen breiten Zugang zur Wahrnehmungswelt von Winzer und Sommelier, sie werden und können aber nicht deckungsgleich sein. Umso intensiver sich die Selbsterfahrung jedoch darstellt, desto mehr kann ich mich an die Erfahrung der Informanten herantasten. Somit ist es von besonderer Wichtigkeit für diese Ethnographie, das eigene leibliche Erleben möglichst detailreich darzustellen. Da der sinnlich-empfindende Leib, der seiner Um- welt mit Offenheit gegenübertritt und sich dabei durch gewisse Qualitäten informiert fühlt, auch Atmosphären erleben kann, sollen auch diese in der Ethnographie thematisiert werden.

Hierbei muss ebenfalls angemerkt werden, dass auch verbale Äußerungen über jene Sinnesdaten, die vor allem in der Weinschule eine vermeintlich entscheidende Rolle spielen und in der Tat in angeleiteten Verkostungen einen wichtigen Bestandteil darstellen, dennoch erst durch das eigene Erleben entstehen können. Deshalb wird der Fokus in dieser Arbeit auch nicht auf die Bedeutung von Sprache gesetzt. Welche Bedeutung die verbalen Anweisungen im Prozess des Erlernens haben, wird thematisiert, jedoch ist es eine andere, als meist angenommen wird.

Sensorischen Daten werden demnach erst als kulturelles Sinnesmodell bedeutsam, sobald sie sich am eigenen Leib ausgeformt haben. Ingold weist darauf hin, dass der Forscher seiner Um- welt nur durch das praktische Involviertsein, durch „’hands-on’ experience“ (Ingold 2000, 291) mit allen Sinnen kulturell bedeutsame Handlungs- und Wahrnehmungsfertigkeiten entnehmen kann - eine angemessene Forschung erfordert somit von mir das aktive Erlernen von skills. Vo- raussetzung für diesen Lernprozess ist zunächst, dem Feld mit Offenheit und Aufmerksamkeit zu begegnen. Da es in Weinschule und Weinbau sehr verschiedenartige Wissensformen gibt, die es von mir zu erlernen gilt, deren Unterschiedlichkeit auch der theoretische Teil näher beleuchtet und der praktische Teil vor allem zeigt, werden im Folgenden nur wesentliche Merkmale der Wissensvermittlung skizziert, die für das methodische Arbeiten im Feld besonders von Bedeu- tung sind.

Die meisten skills lassen sich in Gesprächen oder verbalen Anleitungen von meinen Informanten kaum und schwer erfassen, so dass deutlich wird, dass sie nicht immer unmittelbar der Reflexion zugänglich und leibgebunden sind. Viele meiner Informanten thematisieren skills weder, noch sind sie ihnen immer vollkommen bewusst, da sie diese als einen für sie selbstverständlichen und dazugehörigen Teil ihrer Lebenswelt erachten. Jedoch sind es gerade die skills, die es ihnen er- möglichen, sich auf eine ganz gewisse Art und Weise in ihrer Umwelt zu verhalten. Skills sind somit keine isolierte Eigenschaft des Körpers, sondern „of the whole system of relations consti- tuted by the presence of the artisan in his or her environment“ (ebd.). Selten sind es dabei aus- schließlich sprachliche Anleitungen oder theoretische Wissensbestände, die es mir als Forscherin ermöglichen, skills zu erlernen, sondern das aufmerksame und praktische Miteinander in der kulturellen Praxis. Voraussetzung ist somit, dass ich als Forscherin zuallererst praktisch tätig und in die Arbeiten von Winzer und Sommelier eingebunden werde. Erst in der Ausführung der kul- turellen Praxis, indem ich mich als Forscherin den Tätigkeiten aufmerksam widme, können sich skills von mir erkennen lassen. Vor allem sind es „qualities of care, judgement and dexterity“ (ebd.), die skills davon unterscheiden, eine rein physiologische senso-motorische Fähigkeit zu sein.

In der Weinschule ist es insbesondere die kulturelle Praxis der Weinverkostung, in der verschie- dene skills, wie das Einschenken der korrekten Füllmenge oder Schwenken des Weinglases und das Erkennen von bestimmten Aromen im Wein, benötigt werden. Um die Lebenswelt von mei- nen Informanten im Weinbau kennenzulernen, habe ich hingegen in den Weinbergen mitgearbei- tet, was diverse multisensorische skills erfordert und einen Laien schnell überfordert. Erst durch das praktische Engagement und Beobachtung, Nachahmung und vor allem Wiederholung wird es möglich, sich diesen fließenden Ausführungen und Fertigkeiten anzunähern. Verbale und the- oretische Anleitungen sind dabei hilfreich, ersetzen dabei aber nicht die eigentliche Ausführung, sondern zeigen mir, worauf ich als Laie meine Aufmerksamkeit zu richten habe. Indem ich den Anleitungen folge, erlerne ich langsam, welche Qualitäten eines wahrgenommenen Dings mir als wahrnehmenden Menschen erlauben, damit Handlungen auszuführen, so dass sich mir wiederum neue Prozesse offenbaren können. Auch im Weinbau gibt es spezielle geschmackliche skills und Aromen im Wein, die den Winzer dazu anleiten zu Handeln - andere Aromen jedoch, als es bei den Sommeliers der Fall ist.

Indem ich der unterschiedlichen Verwendung des Terroir-Gedankens folgte, wurde ein Ziel der Arbeit, das Anders-Schmecken von Winzer und Sommelier aufzuschlüsseln. Da das leibliche Erleben zwar auch durch kulturelle Ideale geprägt wird, sich jedoch vor allem durch die Le- benswelt erschließen lässt, ist ein Verständnis der skills von Winzer und Sommelier von ent- scheidender und zentraler Bedeutung für diese Arbeit.

Der langwierige Aufenthalt in der Weinschule hat es mir erlaubt, mir ein eigenes leibliches Wis- sen anzueignen, während ich mir im Weinbau, der eigentlich eine jahrelange Beschäftigung er- fordert, ein partielles Leibwissen erarbeiten konnte. Jedoch eröffnet mir dieser geteilte Zugang mit meinen Informanten ein neues Komplex des leiblichen Erlernens, das grundsätzlich potenti- ell offen und dynamisch ist. Da ich allen Situationen zu Beginn der Feldforschung als Laie be- gegnete, wurde ich dabei in der Regel von einem Experten im Feld angewiesen. Wie sich diese „education of attention“ (Gieser 2008, Ingold 2000) als Schulung der Aufmerksamkeit - und somit auch als phänomenologische Methode - darstellen kann, zeigt die Ethnographie.

2 Historische und kulturelle Einbettung

2.1 Sichtweisen auf Wein: kulturgeschichtliche Entwicklungen in Europa

In Weiter- und Ausbildungen zum Sommelier wird Wein nicht einfach getrunken, sondern auf eine ganz bestimmte Art und Weise konsumiert - er wird verkostet. Dabei kommt eine Expertengruppe zur geschmacklichen Beurteilung von Weinen zusammen und probiert in der Regel geringe Mengen verschiedener Weine und spuckt sie dann wieder aus. Diese Experten sind daraufhin trainiert worden, bestimmte Dinge in einem Wein wahrzunehmen und ihre Wahrnehmungen entsprechend kommunizieren zu können. Oftmals wird dabei mit global genormten Schemata mit dem Ziel größtmöglicher Objektivität gearbeitet.

Sprachgeschichtlich steckt im französischen Wort Sommelier la somme (die Last), was auf das griechische la sagma (das Lasttier, Packesel) zurückgeht. Mitte des 13. Jahrhunderts tauchte der Begriff das erste Mal auf und bezeichnete dabei den, der Lasttiere anführte. Ab dem 14. Jahr- hundert war Sommelier der, der im Heer für den Proviant zuständig war und erst ab Anfang des 19. Jahrhundert wurde der Sommelier erstmals in einem ähnlichen, wie dem heutigen Sinn registriert (vgl. Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales 2012).

Weinbeschreibungen lassen sich heute auf Etiketten von Weinflaschen, in Zeitungen, Magazi- nen, im Internet in Foren, Blogs und Online-Shops sowie speziellen Publikationen für Kenner und Experten finden. Auch gibt es diverse Websites, bei denen Konsumenten und Laien ihre Verkostungsnotizen und Eindrücke online stellen können und es kommt nicht selten vor, dass man reflektierende Weintrinker darüber sprechen hört, "wie ein bestimmter Wein ist". Ein Bei- spiel vom bekannten Weinkritiker Robert M. Parker zeigt, wie Weinbeschreibungen häufig aus- sehen:

Utter perfection, the 2005 Cote Rotie La Landonne exhibits a similar scorched earth/burning ember and ba- con fat-scented nose as well as copious quantities of black fruits, truffles, and forest floor. Incredibly dense and masculine with unreal levels of concentration, and beautifully integrated tannin, acidity, and ok, this remarkable 2005 may turn out to be the longest-lived La Landonne since the debut vintage of 1978 (which is still going strong). Cellar this cuvee for 5-6 years, and consume it over the following 35+ years. 100 points. (Robert Parker 2016)

Während sich die Anforderungen an Wein, auch bedingt durch den technologischen Fortschritt, veränderten, war auch die Herangehensweise an Wein von starken Veränderungen geprägt. Eine kurze historische Einordnung ist notwendig, um die Ausübung und Bedeutung der Weinverkos- tung und -beurteilung heute in seinem kulturgeschichtlichen Kontext verstehen zu können. Auch wenn die Mehrzahl der Wein trinkenden Menschen wenig oder gar nicht über den Geschmack von Wein spricht, geschweige denn sich über das Reden über Wein Gedanken zu machen - so ist das Thema dennoch von Relevanz. Viele kulturelle Praktiken und die Wahrnehmung des Selbst und des eigenen Wahrnehmungserlebnisses sowie die Kommunikation und Einordnung dieser subjektiven Erfahrungen hängen mit den Veränderungen der Weinsprache zusammen. Auch die soziale und ökonomische Bedeutung von Geschmack ist nicht unerheblich und wird unterschätzt. Wie ist es also zu dieser Entwicklung gekommen - zumal wir einst darüber nachdachten, was in den Lebensmitteln und Getränken war, die wir konsumierten und welche Lebensmittel zu uns am besten passten.

2.1.1 Wein, Medizin und Naturphilosophie

Korsmeyer berichtet, dass anders als heute am Ende des 16. Jahrhunderts für Geschmack allge- mein noch neun Geschmacksqualitäten anerkannt waren, nämlich süß, sauer, scharf, herzhaft, rau, fettig, bitter, fade und salzig. Albrecht von Haller war es, der dieser Liste anregend, aroma- tisch, urinartig und modrig hinzufügte (vgl. Korsmeyer 1999, 76). Diesbezüglich lässt sich also eine gewisse begriffliche Verarmung feststellen. Von der Antike bis hinein in das 16. und 17. Jahrhundert war die Weinsprache in ihrer Art und Komplexität im Vergleich zur heutigen Zeit sehr begrenzt. In Aufzeichnungen eines Physikers aus England lassen sich lateinische Kategorien für die Beschreibung von Wein finden wie dulcia, astringentia, acerba und austera. Eine ähnli- che Auflistung lässt sich einem Text The Blood of the Grape entnehmen, in dem die vier Ge- schmäcker sweet, acute, austere und milde unterschieden werden. Derartige Kategorisierungen waren üblich für die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Differenziertere Weinbeschrei- bungen lassen sich kaum finden. Wein schmeckte - oder er war instabil, also unsauber durch z.B. bakterielle Veränderungen, die den Wein zu Essig werden ließen (vgl. Shapin 2012, 53). Dieses begrenzte Vokabular lässt sich noch auf die Einteilung der Sinne nach Aristoteles zurückführen, der zwischen Sehen und Hören als Fernsinne und den Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn als Nahsinne unterschied. Somit wurde lange Zeit eine Hierarchie der Sinne aufrechterhalten und das Schmecken und Riechen als niedrigere Sinne bewertet, während der Sehsinn als der edelste der fünf Sinne galt (vgl. Sibley 2001, 207-211). Einige Jahrhunderte später kritisierten Philosophen und Weinkenner die Diskrepanz zwischen der Vielzahl an vorhandenen Geschmäckern und der Anzahl an Wörtern, mit denen man diese beschreiben konnte. Wenn zu dieser Zeit aber tatsächlich Aromen oder Geschmäcker im Wein erwähnt wurden, dann waren dies meist die Stärke, Süße und der medizinische Wert des Weines (vgl. Shapin 2012, 53-54).

2.1.2 Zur Güte und Verträglichkeit von Wein

Dies bedeutet jedoch nicht, dass den Menschen die Eigenschaften des Weines, den sie kauften und tranken, gleichgültig waren - im Gegenteil. Diese waren ihnen möglicherweise noch wichti- ger als den heutigen Konsumenten, da ein Großteil der Weine eben nicht gut war. Im 18. Jahr- hundert war Misstrauen gegenüber der Güte und Qualität eines Weines allgegenwärtig. Wenn die Weine sauber waren, wurde jedoch auch nicht viel über den Geschmack dieser gesprochen, son- dern der Fokus eher auf den medizinischen Wert gelegt. Weine, die ein "pleasant aroma, or what is called a raspberry bouquet" (Jaucourt 1765) hatten, sollten gut für die Verdauung und verträg- lich für ältere Menschen sein. Beschreibungen unsauberer Weine gab es hingegen früh, da es wichtig war, diese identifizieren zu können: "some wines have a smell of the cask, some smell ‚cooked’, and others smell of stockings. All such wines are unwholesome" (ebd.). In seinem Aufsatz Of the Standard of Taste gibt David Hume eine Geschichte aus Don Quijote wider, in dem ebenfalls die Güte und Qualität des Weines angesprochen wird. In jener Geschichte hatten die Bewohner hatten ein Fass Wein, was eigentlich sauber sein sollte und forderten Sanchos Verwandte, die als Weinkenner galten, dazu auf, ihre Meinung abzugeben:

One of them tastes it, considers it, and after mature reflection pronounces the wine to be good, were it not for a small taste of leather, which he perceived in it. The other, after using the same precautions, gives also his verdict in favor of the wine; but with the reserve of a taste of iron, which he could easily distinguish. You cannot immagine how much they were both ridiculed for their judgement. But who laughed in the end? On emptying the hogshead, there was found at the bottom, an old key with a leathern thong tied to it. (Hume 2005, 202)

Thematisiert wird hier wiederum die Güte - ein Wein mit Schlüssel oder Lederriemen war nicht gut, da er Inhaltsstoffe enthielt und Geschmäcker hatte, die nach den Vorstellungen der Men- schen nicht in einen Wein gehörten. Erwähnt wird ebenfalls, dass es Menschen gab, die in der Lage waren, derartige Beurteilungen besser als andere abgeben zu können, die also gute Verkos- ter waren. Auch Brillat-Savarin konnte im 19. Jahrhundert kaum Differenzierteres zu den Eigen- schaften und der Beschaffenheit von Wein sagen, was in einem starken Gegensatz zu seinen um- fangreichen Beschreibungen von Speisen steht. Zur Erweiterung des Vokabulars, was Ge- schmack allgemein angeht, äußert er sich jedoch: "[We] have been forced to depend on a small number of generalizations such as sweet, sugary, sour, bitter, and other like ones which express, in the end, no more than the words agreeable or disagreeable" In einem seiner Kapitel, in denen er Wein direkt erwähnt, drückt er seinen Unmut darüber aus, dass ein vorzügliches Essen durch die mindere Qualität des Weines geradezu beleidigt wird. Jedoch macht auch er keine Angaben, welche Eigenschaften es denn genau sind, die den Wein gut oder schlecht machen (vgl. Brillat-Savarin 2009, 48 / 147).

Auch in europäischen Ländern, in denen kein Wein produziert wurde, gehörte dieser als Nah- rungsmittel zum Alltag der Menschen dazu und war allgemein anerkannt dafür, verschiedene Effekte auf den menschlichen Körper zu haben. In der weit verbreiteten galenischen Medizin existierte die grundsätzliche Einteilung der Welt in die vier Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer und die Qualitäten warm, kalt, trocken und feucht, auf denen alles in der Welt basieren sollte - so auch der Wein oder der Verkoster. Aus diesem Naturverständnis bildete sich eine ele- mentische Medizin heraus (vgl. Böhme 2004, 165). Es wurde den Menschen geraten, Wein zu trinken, der am besten zur Konstitution und Natur des eigenen Körpers passt und allgemein sei Wein gut für diejenigen Menschen, denen Wein eben schmeckte. Großes Interesse wurde in der Medizin auch der wärmenden Wirkung von Wein entgegengebracht und dementsprechend nach dem Grad der Wirkung Klassifizierungen (Grad 1-3) vorgenommen. Dabei ging man davon aus, dass der Wein mit zunehmendem Alter heißer wird. Solche Weine wurden beispielsweise melan- cholischen Menschen empfohlen, denen eine kühle Konstitution zugesprochen wurde (vgl. Shapin 2012, 61-62).

2.1.3 Ende der Elementenlehre und Beginn der Weinchemie

Mit den Arbeiten des Chemikers und Mikrobiologen Louis Pasteur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert verschwanden galenische Konzepte endgültig und wurden von einer systematischen praktischen Chemie und messenden Forschung ersetzt. Mit der Entdeckung der alkoholischen Gärung und den darauffolgenden Forschungen von Brande, Liebig und Mulder wurde es nicht nur möglich, den Alkoholgehalt zu beeinflussen, sondern es wurde auch festgestellt, dass dieser Einfluss auf den Geschmack des Weines hat. Industrialisierung und Globalisierung hatten zur Folge, dass die Menschen nun nicht mehr nur ihren regionalen Wein trinken konnten, sondern zunehmend auch Wein aus anderen Ländern mit anderen Geschmäckern. Somit wurde erkannt, dass es große Unterschiede zwischen den Weinen verschiedener Länder gab. Auch anderen In- haltsstoffen wie dem Zuckergehalt und den freien Säuren im Wein wurde nun Beachtung ge- schenkt. Trotzdem gab es noch große Unterscheide zur heutigen Weinchemie zu verzeichnen.

Während man heute z.B. Forschungen unternimmt, um zu erkunden, warum ein Sauvignon Blanc von der Loire anders als einer aus Neuseeland schmeckt, widmeten sich zu diesem Zeit- punkt die Wissenschaftler eher der Frage, was es genau ist, was den Wein so weinig macht und zu Wein werden lässt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als sich die Überzeugung durchsetzte, das es einen Grund für die verschiedenen Geschmäcker und Aromen im Wein gibt, entwickelte sich auch die Aromachemie weiter und Chemiker stellten zum ersten Mal eine Klassifikation von Aromen und Gerüchen auf. Demzufolge gäbe es chemische Elemente, die jeden Wein aroma- tisch beeinflussen, einige, die erst während der Alterung entstehen und Aromen, die von den Umgebungsbedingungen der Rebe abhängen. Daraufhin begann man auch eine größere Anzahl an Weinaromen und -kategorien zu verwenden, wie z.B. bouquet (komplexer Geruch), franc de go û t (Weine, die nur Aromen der Rebsorte aufweisen) oder acerbe (rau, stechend), die der Pari- ser Weinhändler André Julien in einem Handbuch, das die richtige Wahl des Weines themati- siert, veröffentlichte. In den 1890er Jahren wurde ein önologisches Handbuch von Giacomo Grazzi-Soncini aus dem Italienischen übersetzt, auf dessen Grundlage die Weinsprache Ende des 19. Jahrhunderts beruhte. Grazzi-Soncini betonte die Wichtigkeit der menschlichen Sinne bei der Weinbeurteilung und entwickelte eine Liste von Weinaromen und -geschmäckern, die er teilwei- se auch in einen chemischen Kontext bringen konnte. Außerdem traf er die Unterscheidung zwi- schen profumo, womit er den Geruch von guten Weinen beschrieb, sapore, dem Geschmack und abboccato, einer bestimmten Aromakomponente, die beim Schlucken wahrgenommen werden sollte. Neben diesen Kategorien gab es ebenfalls eine Liste mit Aromen und Geschmäckern wie lebendig, erdig, rein, warm, fruchtig oder bitter. Wärme brachte man z.B. mit dem Alkoholgehalt in Verbindung, während Fruchtigkeit auf den Zucker der Trauben zurückgeführt wurde (vgl. ebd., 67-69).

Bis zum 19. Jahrhundert gab es jedoch auch Diskussionen darüber, wie sich die Beziehung zwischen dem Geschmack am Gaumen und dem Geschmack für z.B. Malerei oder Kunst darstellte. Ästhetik war bis zu diesem Zeitpunkt eher die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit. Guter Wein wurde literarisch umschrieben und eine Beschreibung war mit dem Ziel verbunden, die komplexen Geschmacksempfindungen auch beim Zuhörer hervorzurufen, damit der Zuhörer diese nachempfinden kann. Diese Art der ästhetischen Geschmackserfahrung brachte man ebenfalls mit den Themen Kunst, Schönheit und der Natur in Verbindung.

Obwohl zu dieser Zeit bereits in Frankreich Wein klassifiziert und bewertet wurde, geschah dies ohne tiefgreifende Hinweise auf bestimmte aromatische Unterschiede zwischen den Weinen. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich eine Art der Weinsprache durch, die erneut an die Antike erinnern ließ und weniger beschreibend war, sondern die Wirkung des Weines auf den Weintrin- ker in den Mittelpunkt stellte (vgl. ebd., 63-71). Bekannt wurden zu dieser Zeit die Veröffentlichungen vom Engländer George Saintsbury aus seinem Notes on a Cellar-Book, in dem all jene Weine informell bewertet und beschrieben wurden, die er in seinem Leben getrunken hatte, allerdings ohne dabei irgendwelche Aromen zu nennen, wie wir sie heute kennen.

Auch der französische Landwirt und Wissenschaftler Jules Guyot, dessen Reberziehungssystem heute in Europa weit verbreitet ist, äußerte Ende des 19. Jahrhunderts seine Hoffnungen auf die Durchsetzung einer rationalen, referentiellen und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Weinsprache (vgl. Shapin 2012, 73).

2.1.4 Quantifizierung des Geschmacks

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es für interessierte Laien und Konsumenten kaum Bücher über die Verkostung von Wein oder Werke, die einen Überblick über die internationale Wein- welt geben. Fachliteratur für Experten zum Thema Weinbau und Önologie war hingegen zahl- reich vorhanden. Dies änderte sich zu dieser Zeit - auch bedingt durch die zunehmende Verfüg- barkeit und Vergleichbarkeit von Waren - grundlegend und eine Vielzahl an Lexika, praktischen Anleitungen zur Verkostung und Handbücher über Wein, wie z.B. Hugh Johnsons bekannter World Atlas of Wine erschienen. 1953 fand zum ersten Mal der jährlich ausgeführte Verkos- tungswettbewerb von Oxford und Cambridge Studenten statt, bei dem internationale Weine blind verkostet wurden. Daraufhin entstanden auch weitere Weinwettbewerbe. Mit dem technologi- schen Fortschritt in der Weinherstellung war außerdem verbunden, dass immer weniger fehler- hafte Weine entstanden und die Weine insgesamt als qualitativ besser wahrgenommen wurden.

Zunehmend breiteten sich verschiedene Tendenzen in der Art der Weinbeschreibung aus: Die Fachsprache von Önologen, Sommeliers und anderen Experten bestand einerseits aus Bezeich- nungen, die streng an eine bestimmte Wahrnehmung geknüpft sind (z.B. die Säure, der Gera- nienton, der Essigsäureethylester), die sich önologisch herleiten lassen und andererseits aus un- genaueren Bezeichnungen, mit denen versucht wurde, die Komplexität der lebendigen Wahr- nehmung zu fassen (z.B. Harmonie, ein üppiger oder komplexer Wein). Immer populärer wurde auch eine Herangehensweise, bei der die Qualität eines Weines mit Zahlen quantifiziert und be- wertet wird (z.B. Bewertung von 1-10). Gleichzeitig gab es die Herangehensweise, Wein auf wenige Merkmale zu reduzieren, um auch Konsumentenerwartungen zu bedienen, wobei z.B. intersubjektiv nachvollziehbare Metaphern und Analogien verwendet wurden (z.B. wie Vanille, Paprika oder Walderdbeere).

In den 1960er und 70er Jahren verwendete eine Reihe von bekannten Weinkritikern, wie Hugh Johnson, ein Bewertungssystem mit Sternen und imitierten damit den Guide Michelin, der be- reits seit 1900 existierte. 1959 entwickelte ein Professor an der UC Davis in Kalifornien ein 20- Punkte-Schema und seit den 1970er Jahren wurde das 100-Punkte-Schema von Robert Parker immer bekannter und findet heute noch Anwendung. Diese Weinkritiker richten ihre Bewertun- gen nach von ihnen festgelegten Idealtypen - die unbekannt sind - eines jeden Weines aus. Au- ßerdem haben sie mit dieser Art der Bewertung die Möglichkeit Hunderte Weine in sehr konden- sierter Form zu präsentieren. Da sich der Weinmarkt zunehmend international ausrichtete und sich interessierte Weintrinker mit einer Vielzahl verschiedener Weinbaugebiete und Weingütern auseinandersetzen mussten, waren diese Bewertungsschemata sehr hilfreich für Konsumenten. Auf einen Blick erkennen Verbraucher aus der Vielzahl der Weine diejenigen, die hoch bewertet wurden - eine Art der Abhebung, wie sie mit Verkostungsnotizen nicht möglich wäre. Für den Weinhandel wurde somit gleichzeitig ein wirksames Marketing-Werkzeug geschaffen (vgl. ebd. 73-79).

Während in Deutschland heute für die Landesprämierung für Wein und Sekt ein 5-Punkte- Schema verwendet wird, wird in Europa weitgehend das 20-Punkte-Schema eingesetzt. Interna- tional bekannt ist das 100-Punkte-Schema nach Robert Parker. Bei diesen Schemata werden die Einzelnoten von Farbe, Klarheit, Geruch, Geschmack oder Gesamteindruck addiert und als Ge- samtnote veröffentlicht. Die Details der einzelnen Kriterien werden hingegen nur selten der Öf- fentlichkeit zugänglich gemacht. Mit dem Anspruch der Objektivität wird Wein de- kontextualisiert. Genuss gehört in die "richtige Welt" und analytische Bewertung in die, der Ex- perten, da Ersteres Subjektivität beinhaltet und Analytik dagegen diese um jeglichen Preis ver- meiden möchte. Mit diesen Weinbewertungen und De-Kontextualisierungen verbinden Experten oftmals auch eine Art moralische Verpflichtung, den Verbraucher vor Mystifizierungen, Betrug und Willkür zu schützen. Auch das Aromarad von Ann C. Noble wurde an der UC Davis entwi- ckelt, um "facilitate the description of the flavors perceived by ordinary drinkers". Indem es eine Auswahl an bestimmten Aromen anbietet und Weinsprache standardisiert, soll es die Kommuni- kation vereinfachen und eine Weinsprache, die von Emotionen und subjektiven Empfindungen geprägt ist, ersetzen. Noble erklärt den Grund für die Entwicklung damit, dass "novice tasters cannot smell anything" und dass sie nicht die richtigen Worte haben, um ihre Wahrnehmung erklären zu können. Nutzer des Aromarads sollten für die jeweiligen Aromen sogenannte Stan- dards vorbereiten - für das Aroma Vanille sollte man z.B. wenige Tropfen Vanilleextrakt in Weißwein geben (vgl. Noble 2016) und damit die Geruchswahrnehmung und Wiedererkennung genau dieser Gerüche trainieren.

Wie ich in meiner Feldforschung erfahren habe, ist die heute unter Experten weit verbreitete Weinsprache keine Sprache mehr, die medizinisch orientiert und qualitative Erfahrung darstellen und höchstens in Kundengesprächen Empfindungen hervorrufen soll. Vielmehr wird der Versuch unternommen, die Inhaltsstoffe zu beschreiben, die nachweislich im Wein vorhanden sind und diese dann je nach Grad der Expertise und Intention des Experten in einen kausalen Zusammen- hang zum geschmacklichen Erlebnis zu bringen. Wenn diese Verkoster von dem Aroma grüne Paprika reden, welches sie oft bei der Rebsorte Cabernet Sauvignon erkennen, haben sie chemi- sche Substanzen im Hinterkopf, die auch in anderen Lebensmitteln enthalten sind. Das Aroma wird durch 2-Methoxy-2-isobutylpyrazine verursacht, die sowohl in grüner Paprika, als auch in den Trauben von Cabernet Sauvignon analytisch nachzuweisen sind. Diese Fertigkeit, Rück- schlüsse auf die chemische Beschaffenheit zu ziehen, wird jedoch nur von wenigen Experten beherrscht. Dabei ist dies jedoch auch nicht Ziel eines jeden Experten und wird überwiegend von denen praktiziert, die ein größeres Interesse am Weinbau hegen und nicht nur an der Verkostung und Bewertung von Wein interessiert sind. Der weitaus größere Anteil der Sommeliers erkennt durch Training und viele Verkostungen z.B. das Aroma grüne Paprika zielgenau wieder und weiß reflektierend auch, dass das Aroma "typisch" ist für diese Rebsorte und weiß auch, dass dies durch bestimmte chemische Substanzen hervorgerufen wird, kennt aber diese Substanzen namentlich nicht und hegt auch kein Interesse dafür, diese benennen zu können, da es für die Arbeit der Experten, die in der Regel Weinbewertung, Verkostungen und Empfehlungen um- fasst, eben nicht relevant ist. Besonders trainiert werden Sommeliers dabei auf sogenannte Wein- fehler wie Kork, dessen Geruch nach "nasser Lappen" und "Pappe" mit dem Begriff TCA (2,4,6- trichloranisol) erklärt wird.

Auf dem globalisierten Markt wird der Konsument damit konfrontiert, aus einer großen Produkt- vielfalt den besten Wein, mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis oder dem, der seinen Freunden am meisten gefallen wird oder am besten schmeckt, auswählen zu müssen. Obwohl Wein als Getränk heute dem breiten Spektrum der Gesellschaft zugänglich sein soll, ist die Fä- higkeit guten oder den besten Wein zu erkennen, nur einer bestimmten Gesellschaftsschicht vor- enthalten und eine solche Expertise hat von Beginn an immer auch eine soziale Komponente und verweist auf das kulturelle Kapital. So hat sich die Vorstellung verbreitet, dass Wein schmecken und eine Wahl treffen etwas ist, bei dem man auch Fehler begehen kann (vgl. Shapin 78-86).

Das alkoholische Getränk, das einst verwendet wurde, um den Körper zu wärmen, Freude zu bereiten oder um dessen berauschende Wirkung zu spüren, hat nun die Fähigkeit, Menschen in Verlegenheit zu bringen, wenn sie eben nicht in der Lage sind die "richtigen" Aromen zu erken- nen. Nicht nur der globale Markt, das Vokabular, die kulturellen Praktiken veränderten sich, sondern vor allem auch das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität.

Finally, the social changes which altered the place and function of wine drinking in many cultures spawned new vocabularies of taste, partly meant to parse the sensory effects of wine in a culture increasingly wanting to know what things were made of and what things were worth and increasingly skeptical of evocative vocabularies which were associated with an aristocratic, and possibly corrupt, old social order. In these, and many other ways every historically situated society tastes it wines differently. Tell me what you taste, and I will tell you who you are. (Shapin 2012, 86)

2.2 Von der Eingliederung des Terroir-Gedankens in die Weingesetzgebung

Das Wort Terroir stammt aus dem Französischen aus den Komponenten terre für Erde und terri- toire für Gebiet und wurde bis in die 1920er Jahre ausschließlich für Lebensmittel wie Käse, Fleisch, Wurst oder Öl verwendet. Von der 1855 im Bordeaux in Frankreich vorgenommenen Klassifikation wird angenommen, dass dies die ersten Versuche in der Weinproduktion waren, die Qualität der Weine mit Bezug zu ihrer Herkunft zu vermarkten. Diese Klassifikation war jedoch nicht in die staatliche Gesetzgebung eingegliedert. Die Idee, mithilfe der Herkunft auf die Qualität verweisen zu können, wurde im späten 19. Jahrhundert vor allem in sozio-politischen Bewegungen ein wichtiges Thema, als es darum ging, französische landwirtschaftliche Erzeug- nisse vor Nachahmung zu schützen. 1930 wurde das Institut National des Appellations d ´ Origine (INAO) gegründet, eine staatliche Institution, die über die Vergabe der Appellations d ´ Origine (AOC) und der Einhaltung der damit verbundenen Vorschriften wacht (vgl. Trubek 2008, 24- 25). Die amerikanische Historikerin Kolleen Guy beschreibt in ihrem Buch über die Geschichte des Champagners, wie diese erste offizielle französische Herkunftsbezeichnung, die AOC Champagne, entstanden ist. Sie dokumentiert, dass Terroir und das System der Herkunftsbe- zeichnungen französischen Ursprungs sind. Um die Zeit der Wende vom 19. bis 20. Jahrhundert wurde Champagner als ein Konsumprodukt der internationalen Elite betrachtet und galt als Symbol für Frankreich und die französische Lebensart. Auch in dieser Zeit war Champagner also schon Luxusgut und Machtsymbol.

In der Region Champagne wurde die zweite Gärung der Hefen in der Flasche, die die Bläschen- bildung bewirkt, zufällig entdeckt. Als die Champagnererzeuger merkten, dass grundsätzlich jeder Weinerzeuger auf der ganzen Welt in der Lage ist, einen solchen schäumenden Wein zu produzieren und sie realisierten, welches Marktpotenzial damit verbunden war, taten sie alles, um für die Einzigartigkeit des Champagners zu werben. Dabei stellten sie die Verbindung zwi- schen dem Getränk, dem Ort und den Produzenten her, die gemeinsam historisch gewachsen waren. Champagner wurde eine weltweit bekannte Marke. Dies änderte jedoch nichts an der Tat- sache, dass die Weinbauern in diesem Gebiet von ihrer Existenz bedroht waren. Die Folge war, dass sie anfingen für ihr "Terroir" zu kämpfen und betonten, dass der Champagner kein her- kunftsloses Label war, sondern eher ein Produkt des einzigartigen Bodens und der Herkunft. Ihr Ziel war es, Rechte an der Marke Champagner zu erhalten, dessen Label nun bereits weltweit benutzt wurde. Dieser landwirtschaftliche Hintergrund der Bewegung, deren Ziel es war die Herkunft und das Produkt zu schützen, bildet die Grundlage der Geschichte des Terroirbegriffs.

In der Region agierten immer schon große Familienunternehmen als Händler und übernahmen alle Prozesse nach der Weinlese - also auch das Marketing. Die Weinbauern selbst sind in der Champagne in der Regel also diejenigen, die das "Rohmaterial" liefern. Dass es Ziel der Wein- bauern war, die Wertschätzung der Böden und Trauben zu erhöhen und Anteil an dem wirt- schaftlichen Erfolg zu haben, wird somit verständlich. Die Winzer der Region waren die ersten, die bewirken konnten, dass zwischen 1905-1908 eine gesetzlich definierte Abgrenzung des Champagnegebietes vorgenommen wurde. Viele beschwerten sich jedoch, dass die Abgrenzung des Herkunftsgebietes willkürlich vorgenommen und politisch manipuliert worden sei. Aus die- sen Entwicklungen entstand dann die Institution der INAO mit einer Überarbeitung der Gesetz- gebung (vgl. Guy 2003). Während in den Anfängen noch die Herkunft, Böden und Trauben im Vordergrund standen, wurden nun auch die Einzigartigkeit und besondere Qualität als wichtige Parameter betont, die in der Gesetzgebung verankert wurden. Ab etwa 1935 wurde Terroir also nicht mehr nur deskriptiv eingesetzt, sondern wurde zu einem Begriff, mit dem man eine gewisse Qualität und Authentizität bestimmte und definierte.

1990 wurde dann ein Gesetz verabschiedet, das allen landwirtschaftlichen Produkten grundsätz- lich die Möglichkeit gab, AOC Status zu erhalten. Von der Entstehung des Systems bis heute war dies jedoch nicht für Einzelpersonen oder Unternehmen möglich, sondern nur für eine Gruppe von Produzenten, die bereits für eine bestimmte Zeit, an einem bestimmten Ort mit spe- ziellen Techniken ein Lebensmittel herstellten - die Fertigkeiten mussten historisch gewachsen sein. Der Prozess der Aufnahme ist langwierig und mit strengen Regeln und Auflagen verbun- den. Dabei wird in jedem Schritt der Aufnahme auch in Verkostungen geprüft, ob das Produkt die typicit é und sensorischen Eigenschaften und Merkmale hat, die in dieser Zeit als typisch gal- ten. Die INAO gibt selbst an, dass das AOC System den Regionen gewährleistet, alle Vorteile ihrer Ressourcen voll ausschöpfen zu können:

With the extraction of the specifics of their terroir, and the search to value and protect the agricultural pos- sibilities in a geographic zone, AOC products can be genuine instruments for managing and supporting ter- ritory. [Whereas] standardization leads to delocalization... [the AOC system] supposes that the consumer takes initiative, recognizes the superiority of a strongly identified product and agrees to pay the price. (Tru- bek 2009, 30)

Der AOC Status garantiert somit Erzeugern einer Region ebenfalls ökonomischen Erfolg (vgl. ebd). Wie Elizabeth Barham herausstellt, wird dieser Prozess der Aufnahme von der französi- schen Regierung stark subventioniert (vgl. Barham 2003, 7). Bei derartigen Diskussionen über die französische Auseinandersetzung mit den Themen Identität, kulturelles Erbe und kollektives Gedächtnis kommen viele Soziologien zu dem Schluss: "it could be argued that appellation contr ô l é e is a notion that has spread to the whole fabric of France“ (Bowen, Demossier, Picard 2002, 9). Auch Trubek hält fest: "Fixing practices to a certain time and place, and then creating value for these practices [...] is now a larger cultural undertaking" (Trubek 2008, 31).

Da in Europa lange Zeit Herkunftsbezeichnungen nicht als Marke eingetragen werden konnten und somit eine Vielzahl von Produkten missbräuchlich für billigere Imitate genutzt wurden, wurde dieser Problematik entgegnet, indem man auf europäischer Ebene innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in den 1990er Jahren erstmals zum Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel spezielle Regeln und Verordnungen erließ.

Auch das europäische Weinrecht ist in diese Gesetzgebung eingegliedert. Dabei müssen die Weingesetze der Mitglieder der EU im Einklang mit diesem übergeordneten Weinrecht stehen, jedoch haben die Mitgliedsländer weitgehend Regelungsfreiheit in der Art der Ausgestaltung ihrer Gesetze. Das AOC System gilt für viele der im europäischen Weinbau festgelegten weinrechtlichen Bestimmungen und Qualitätsstufen als Grundlage, an deren herkunftsbewussten Herangehensweise sich viele Länder orientierten.

Die Systematik der französischen Appellationen kann man sich wie eine vierstufige Pyramide vorstellen. Die niedrigste Stufe umfasst z.B. Appellationen, die sich auf ganze Weinbauregionen erstrecken. Die Gebiete und Lagen werden je aufsteigender Stufe geographisch kleiner, wobei damit auch strengere Regeln in Bezug auf zugelassene Rebsorten, Anbau- und Vinifikationsver- fahren, Grundertrag pro Hektar, Alkoholgehalt und Etikettierungsvorschriften verbunden sind.

Das deutsche Weinrecht beruht auf einer Einteilung in Güteklassen. Unterschieden werden Deut- scher Wein ohne Herkunftsbezeichnung, Wein mit geschützter geographischer Angabe und Wein mit geschützter Ursprungsbezeichnung, worunter Qualitäts- und Prädikatsweine fallen. Während z.B. in der ersten Kategorie Trauben aus ganz Deutschland verwendet werden dürfen, müssen in der letzteren Kategorie, die Trauben und Weine innerhalb eines Anbaugebietes (z.B. Mosel) her- gestellt werden. Die letztere Kategorie umfasst also die als qualitativ besser angesehenen Weine. Während in Frankreich die obersten Qualitätsstufen immer kleiner werdende Parzellen umfassen, ist dies in Deutschland nicht der Fall. Hier erfolgt die Einteilung der besseren Weine in lagenun- abhängige Prädikatsstufen (Kabinett, Spätlese, Auslese etc.), womit man prinzipiell davon aus- geht, dass in allen Anbaugebieten gleichwertige Weine erzeugt werden können (vgl. Deutsches Weininstitut 2015).

Diese Herangehensweise, dass Güte und Qualität am Zuckergehalt des Mostes gemessen werden, wurde lange Zeit kritisiert und dies ist auch heute noch der Fall. Aus dem Wunsch heraus, Quali- tät nach Herkunft zu definieren, verabschiedete der Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP), eine Vereinigung von um die 200 Weingütern in Deutschland, eine neue Klassifikation, die die Qualität unter anderem nach der Herkunft bestimmt. Die Klassifikation ist am französi- schen Weinrecht orientiert und unterteilt in VDP.Gutswein, VDP.Ortswein, VDP.Erste Lage und VDP.Große Lage. Winzer, die also z.B. Mitglied des VDP sind und ihren Wein als Große Lage aus den vermeintlich besten Parzellen ihrer Weinberge vermarkten wollen, müssen gleichzeitig sehr strengen Anforderungen im Weinbau, wie z.B. einem geringen Ertrag, folgen. Der Verband kommuniziert auch, dass ihre Herangehensweise dem Terroir-Gedanken entspricht: "Große Weine sind nicht Ausdruck des Terroirs, von dem sie stammen, sondern auch das Werk indivi- duellen Schaffens. Deshalb verstehen wir uns als Handwerker und Künstler, die gleichermaßen Weinbau betreiben und Weinkultur schaffen" (vgl. VDP 2016). Eine Aufnahme in den Verband ist jedoch keinesfalls für jeden Winzer möglich. Der Verband selbst bestimmt, welche Weingüter er aufnehmen möchte und welche nicht und die Gründe sind nicht transparent gestaltet. Die Ge- setze des VDP sind auch nicht in das Deutsche Weinrecht eingegliedert. Der Terroir-Begriff meint hier vor allem die geographische Herkunft und Klassifikation in Lagen, die einen solchen "herkunftsgeprägten [...] und handgefertigten Wein", "im Einklang mit der Natur" (ebd.) hervor- bringen kann, obwohl sie auch die Rolle des Menschen im Prozess der Weinbereitung erwähnen.

Heute wird der Terroirbegriff in der Weinliteratur, auf Websites, in Foren oder in der Werbung meist verwendet, um einen Zusammenhang zwischen einem Territorium und den Geschmacksei- genschaften der dort hergestellten Rohwaren oder Produkte zu beschreiben. Das Konzept be- trachtet dabei einige Nahrungsmittel als ein typisches Ergebnis, das durch die Interaktion zwi- schen umweltbedingten Faktoren und menschlichen Faktoren entsteht. Weinkritiker Hugh John- son definiert es als „the whole ecology of the vineyard: every aspect of its surroundings from bedrock to late frosts to autumn mists, not excluding the way the vineyard is tended, nor even the soul of the vigneron“ (Johnson 1998, 4). Je nach Definition wird der Einfluss des Menschen auf den Wein dabei unterschiedlich gewertet. Insgesamt wird meistens angegeben, dass sich Terroir aus folgenden Elementen zusammensetzt: einer abgegrenzten Region, dem Zusammenspiel zwi- schen umweltbedingten Faktoren wie Klima, Wetter und Boden sowie menschlichen Faktoren wie die Fähigkeiten und Entscheidungen des Winzers und letztlich aus einem „typischen“ Er- gebnis.

Die Weinbranche war in dieser Zeit von starken Veränderungen gekennzeichnet. Immer mehr Produzenten schlossen sich zusammen, um preisgünstigeren Wein und eine höhere Menge her- stellen zu können, so dass multinationale Weinunternehmen wie Constellation Brands, Gallo oder Pernot Ricard entstanden, die eine große Vielzahl der am Markt verfügbaren Weine produ- zieren. Für den Konsumenten ist es in der Regel nicht direkt ersichtlich, dass verschiedene Wei- ne von ein und demselben Produzenten hergestellt werden. Dabei ist für die Unternehmen wich- tig, dass die Weine einer Vielzahl von Konsumenten gefallen, und dass die Weine einem be- stimmten, gleichbleibenden Geschmacksprofil entsprechen. Die moderne Kellertechnik hatte zur Folge, dass es möglich wurde, z.B. in Kalifornien Weine zu produzieren, die Weinen, wie sie lange Zeit nur in einer bestimmten Region in Frankreich hergestellt worden sind, ähnelten oder auch in wüstenähnlichen Gegenden Wein anzubauen. Dabei wurden aufwendige Methoden der Weinbereitung imitiert und durch kostengünstigere ersetzt. Diese Weine werden wie auch andere industriell gefertigte Lebensmittel unter Zuhilfenahme von Methoden aus der Getränketechnolo- gie mit dem Ziel des maximalen Ertrags und der geschmacklichen Optimierung hergestellt. Viele Experten sind zwar in der Lage Unterschiede zu erkennen, den meisten Konsumenten gefallen jene aus Kalifornien jedoch besser, da sie den geschmacklichen Vorlieben des durchschnittlichen Konsumenten oftmals eher entsprechen und gefälliger wirken. Diese Art der Bewirtschaftung veränderte nicht nur den Weinhandel, sondern auch die Weinberge haben sich zu großen mono- kulturellen Flächen und aus dem Gleichgewicht geratenen Ökosystemen entwickelt. Mit dem Ziel der quantitativen Ertragsoptimierung, durch u.a. unsachgemäße Düngung und dementspre- chend niedrige Biodiversität können die Unternehmer effizienter Wein produzieren und ver- markten. Somit kam es zu einer großen globalen Konzentration im Weinsektor und nur finanz- kräftige Konzerne sind in der Lage, den weiter ansteigenden Ansprüchen an Weinbau, modernste Kellertechnik und teuren Vertrieb zu erfüllen.

Als Reaktion darauf begannen kleine und mittlere Betriebe ihre Marktnische zu definieren und auch die Nachfrage nach handwerklichen, regionalen oder saisonalen Produkten stieg an. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Industrialisierung in der Weinherstellung und Konfektionie- rung des Weingeschmacks begannen immer mehr Winzer, sich mit Themen wie der Ertragsredu- zierung zugunsten besserer Traubenqualität und einer auf Tradition und Unverwechselbarkeit ausgerichteten Weinstilistik zu beschäftigen, um auf dem Markt bestehen zu können.

In der Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der Globalisierung und Industrialisierung in der Nahrungsmittelindustrie, den damit verbundenen schwerwiegenden Folgen für Klima und Umwelt, der Bildung großer Lebensmittelkonzerne, die zunehmend die Weltmärkte beherrschen, ist gleichzeitig auch ein Bedeutungsgewinn des Regionalen, Lokalen und Handwerklichen zu verzeichnen - also Werte, die von der Globalisierung bedroht scheinen (vgl. Matthiesen 2005, 12). Dementsprechend oft wird der Begriff Terroir auch als Floskel im Marketing von Weingütern verwendet, um Handwerk und Herkunft zu suggerieren.

Wie meine Feldforschung darstellt, wurde Terroir im Alltag meiner Informanten im Weinbau jedoch weniger als leere Marketingfloskel verwendet und selten meinte der Begriff nur ein Stück bewirtschaftete landwirtschaftliche Fläche. Vielmehr zeigte sich in meiner Arbeit mit den Win- zern, dass sie damit eine Art der affektiven Bindung meinten, die aus der aktiven Auseinander- setzung mit ihrer Umwelt resultiert und ihren Geschmack prägt. Interessant erscheint also weni- ger die Frage, was Terroir heute ist, sondern in welchen Zusammenhängen Terroir im Alltag artikuliert und vor allem in die kulturelle Praxis eingebunden und in ihr angewendet wird.

3 Eine Phänomenologie des Geschmacks

3.1 Phänomenologische Herangehensweise als Voraussetzung

In der Kultur der Sommeliers in der kulturellen Praxis der Weinverkostung in der Regel als Arte- fakt wahrgenommen und behandelt. Selten wird dabei bedacht, dass eine Verknüpfung zwischen dem wahrnehmenden Leib des Verkosters und dem Wein besteht und diese sich gegenseitig be- einflussen. Auch der Ort spielt dabei eine wesentliche Rolle. Wie ich aufgezeigt habe, ist ein solches Verständnis auch kulturgeschichtlich keinesfalls immer selbstverständlich und es zeich- net sich vielmehr die Tendenz ab, das Wahrnehmungserlebnis des Schmeckens mehr und mehr von der sinnlichen Erfahrung loslösen und objektivieren zu wollen. Unterschwellig ist sowohl bei den Sommeliers als auch den Winzern bekannt, dass die Sensorik in der Anwendung ver- schiedener Verkostungsschemata ein unzureichendes Modell bietet, um das komplexe Wahr- nehmungserlebnis des Schmeckens beschreiben zu können. Jedoch empfinden vor allem Som- meliers den Leib eher als lästig und hinderlich, da er ihnen im Wege steht in ihrem Ziel, das "reine Objekt" des Weines fassen und alle Aromen finden zu können. Weinverkoster versuchen in der Regel etwas Wesentliches über den Wein auszusagen, das objektiv und empirisch wahr und abgesichert ist, eine Herangehensweise, die subjektiven Empfindungen und ästhetischer Wahrnehmung überlegen sei. Der Körper und die Sinnesorgane sind für sie ein Instrument und Werkzeug, das beherrscht und gezielt eingesetzt werden kann. Gleichermaßen kann er sich aber auch der eigenen Verfügung entziehen und einem somit im Wege stehen. Es ist also äußerst be- denkenswert, dass meine Informanten die Weinverkostung als eine Praxis erleben, in der Ver- koster, Wein und Umwelt in ein sich gegenseitig konstituierendes Beziehungsgeflecht eingebun- den sind.

3.1.1 Kritik eines rein naturwissenschaftlichen Verständnisses

Wie bereits angedeutet, ist ein rein naturwissenschaftliches Verständnis der geschmacklichen Wahrnehmung reduktionistisch und nicht zielführend, wenn es darum geht, der qualitativen Er- fahrung der Verkoster nahe zu kommen. Würde man Geschmack isoliert in einem Labor unter- suchen, so kommt man zu dem Schluss, dass der eigentliche Geschmackssinn uns zwar bei der Unterscheidung einer süßen Banane von einer sauren Gurke hilft, die eigentliche Leistung jedoch unsere Nase vollbringt. Um sich dessen bewusst zu werden, wird in der Weinsensorik oftmals ein kleiner Test durchgeführt: Die Sommeliers erhalten einen „Sensorik-Teller“ mit verschiede- nen Substanzen, unter anderem Zimtzucker. Sie sollen sich die Nase zuhalten, die Mischung in den Mund nehmen und darauf achten, was sie wahrnehmen. Nachdem sie dann die Hand wegge- nommen haben, sollten sie den Zimtzucker erkennen und verstehen, dass das Aroma Zimt aus- schließlich der Geruchswahrnehmung zuzuordnen ist, während wir die Geschmacksqualität süß mithilfe der Zunge schmecken können.

Nach der naturwissenschaftlichen Physiologie bzw. Biologie lassen sich vier Grundqualitäten des Geschmacks unterscheiden - süß, sauer, salzig und bitter. Viele Reize haben dabei Misch- qualitäten, wie z.B. süßsauer. Zusätzlich wird eine Geschmacksempfindung für Glutamat, also Natriumsalze, anerkannt, der Umami-Geschmack. Die unterschiedliche Erregung in verschiede- nen Fasergruppen enthält die Information über die jeweilige Geschmacksqualität. Die Gesamter- regung aller Fasern enthält dann die Information über die Reizintensität und das Gehirn ist da- raufhin in der Lage, diesen verschlüsselten Code über Mustererkennungsprozesse zu erkennen und daraus Art und Konzentration des Reizstoffes zu identifizieren (vgl. Heckmann / Lang / Schmidt 2011, 387-391). Während der Mensch also in der Lage ist, vier oder fünf Geschmacks- qualitäten zu erkennen, kann er etwa 10.000 verschiedene Düfte unterscheiden. In diesem olfak- torischen System liegen eine Vielzahl von Duftstoffrezeptoren, mit denen Duftstoffe aus der Atemluft und Duftstoffe aus Speisen, die beim Zerkauen und Bewegen von Nahrung im Mund entstehen und über die Verbindung von Mund- und Nasenhöhle zur Nasenschleimhaut retronasal aufsteigen, wahrgenommen werden. Man unterscheidet somit die orthonasale von der retronasa- len Geruchswahrnehmung. Da die retronasalen Aromen erst wahrgenommen werden können, wenn sich der Wein im Mund befindet, wird sie oft mit dem physiologisch definierten Ge- schmack auf der Zunge verwechselt, da man im Moment des Schmeckens außerhalb einer Wein- verkostung selten eine solche Unterscheidung trifft. Diese Verwechslung wird in der Kultur der Sommeliers als schwerwiegender, grundlegender Fehler angemahnt. Deswegen werden in einer Weinverkostung die Aromen, die beim direkten Riechen in das Glas wahrgenommen werden von denen, die bei der Bewegung des Weines im Mund retronasal entstehen, streng unterschieden. Die Riechzellen müssen die Duftmoleküle in der Luft erkennen und dafür sorgen, dass deren Duftinformationen in das Gehirn gelangen.

Eine Unterscheidung der Duftstoffe ist physiologisch gesehen auf eine zentralnervöse Leistung des Gehirns zurückzuführen. Düfte werden aufgrund verschiedener Kriterien in Duftklassen ein- geteilt, doch es gelinge bislang weder mit physiologischen, biochemischen oder psychophysi- schen Methoden diese zufriedenstellend voneinander abzugrenzen. Geruchsklassen umfassen verschiedene Kategorien wie blumig, ätherisch, moschusartig, kampferartig, schweißig, faulig und stechend (vgl. ebd., 393-398). Hierbei ist anzumerken, dass diese Kategorien vor allem nach chemischen Verbindungen und Ähnlichkeiten zusammengestellt wurden, die sich nicht unbe- dingt immer mit der geruchlichen Erfahrung decken. Cyclische Terpene riechen z.B. balsamisch und kampferartig und sind unter anderem in Lebensmitteln wie Muskat, Fenchel, Kümmel, Ber- gamotte, Minze, Rose oder Safran und teilweise auch in Wein enthalten. In der Weinsensorik werden zur Einteilung der Gerüche unterschiedliche Schemata verwendet. In der Regel werden jedoch Klassifikationen verwendet, deren Kategorien nicht nach chemischen, sondern nach ge- ruchlichen Ähnlichkeiten zusammengestellt worden sind, wie die Einteilung in fruchtig, blütig, vegetabil, würzig, holzig / röstig / erdig, balsamisch, animalisch und chemisch. Auch wird insge- samt in der Naturwissenschaft die Rolle der Textur, Viskosität, der Konsistenz sowie der wär- menden bzw. kühlenden Wirkung von Lebensmitteln und deren Einfluss auf die Geschmacks- empfindung anerkannt und in der Weinsensorik als Mundgefühl bezeichnet. Stellen wir uns den Unterschied zwischen einem ganzen Stück Würfelzucker und einer Zuckerwatte auf der Zunge vor, so lässt sich dies nachempfinden. Gibson weist darauf hin, dass der Mund als außergewöhn- lich sensibles Organ sogar in der Lage ist, ohne die Hilfe der Augen Größe, Form und Struktur von Objekten auszumachen, was von Erwachsenen aber selten genutzt wird (vgl. Gibson 1966, 143-144). Auch erkennen naturwissenschaftliche Theorien an, dass Geschmack mit Esskultur und gesellschaftlichen sowie individuellen Gewohnheiten und Ernährungsverhalten zu tun hat oder dass der Geruchssinn im Gehirn Emotionen auslösen kann:

No sooner had the warm liquid, and the crumbs with it, touched my palate than a shudder ran through my whole body, and I stopped, intent upon the extraordinary changes that were taking place. An exquisite pleasure had invaded my senses, but individual, detached, with no suggestion of its origin. [...] - this new sensation having had on me the effect which love has of filling me with a precious essence; or rather this essence was not in me, it was myself. (Proust 2011, 294).

[...]


1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.

2 Im Folgenden wird der Begriff Terroir als bekannt vorausgesetzt, weshalb ich darauf verzichten werde, ihn kursiv hervorzuheben.

3 Ökologische Bedingungen weisen in diesem Zusammenhang sowohl auf spezielle verbandsrechtliche Vorschriften innerhalb des Ökologischen und Biologisch-dynamischen Weinbaus hin, die sie zu beachten haben, aber insbeson- dere auch auf ihre Art der ökologischen Beziehung zum Wein, in der sie eine wechselseitige Einflussnahme aner- kennen.

Ende der Leseprobe aus 137 Seiten

Details

Titel
Gelebter Geschmack. Eine sensorische Ethnographie über das Verflochten-Sein von Mensch, Weinwahrnehmung und Umwelt
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Kulturwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
137
Katalognummer
V375766
ISBN (eBook)
9783668555389
ISBN (Buch)
9783668555396
Dateigröße
1219 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phänomenologie, Geschmack, lived taste, Kulturwissenschaft, phenomenology of taste, taste culture, sensory ethnography, tastescapes, Geschmackslandschaft, Sarah Pink, autoethnoraphy, Phänomenologie des Geschmacks, Gelebter Geschmack, Geschmackskulturen, Soziologie des Geschmacks, Geschmackswahl, Distinktion, perception, multisensory, multisensorische Ethnographie, Soziologie des Essens, Geschmack haben
Arbeit zitieren
Verena Becker (Autor:in), 2017, Gelebter Geschmack. Eine sensorische Ethnographie über das Verflochten-Sein von Mensch, Weinwahrnehmung und Umwelt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375766

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