Konstanten im filmischen Werk Luis Buñuels. Seine Leitbilder, Motive und Stilistik


Magisterarbeit, 2004

84 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Rolle des Surrealismus im filmischen Werk Buñuels

3. Die Filme
3.1 Ein andalusischer Hund (Un chien andalou), 1929
3.2 Die Vergessenen (Los Olvidados), 1950
3.3 Archibaldo (Ensayo de un crímen), 1955
3.4 Er (Él), 1955
3.5 Viridiana (Viridiana), 1961
3.6 Der Würgeengel (El ángel exterminador), 1962
3.7 Schöne des Tages (Belle de Jour), 1967
3.8 Die Milchstraße (La voie lacteé), 1969
3.9 Tristana (Tristana), 1970
3.10 Der diskrete Charme der Bourgeoisie (Le charm discret de la bourgeoisie), 1972
3.11 Das Gespenst der Freiheit (Le fantôme de la liberté), 1974
3.12 Dieses obskure Objekt der Begierde (Cet obscur object du désir), 1977

4. Konstanten im filmischen Werk Buñuels
4.1 Träume, Visionen und Wahnvorstellungen
4.2 Die Bourgeoisie
4.3 Die Behandlung von Religion
4.4 Gewalt und Grausamkeit
4.5 Sexualität und Erotik
4.6 Leitmotive
4.7 Die surrealistischen Bilder
4.8 Die Schlüsse

5. Zusammenfassung

Anhang

6. Bibliographie
6.1 Allgemein
6.2 Zur Filmgeschichte und – theorie
6.3 Zu Buñuel und seinen Filmen
6.4 Selbstzeugnisse
6.5 Zeitschriftenartikel
6.6 Internetquellen

7. Filmographie

8. Bilddokumentation

1. Einleitung

Der spanische Regisseur Luis Buñuel (1900-1983) verwendet während seines gesamten Schaffens eine sehr individuelle Filmsprache, die seine Werke charakterisiert. Der wiederholte Einsatz bestimmter Archteypen, Themen und Motive wie zum Beispiel die von ihm oft angewendete Interferenz von Realität und Traumwelt geben seinem Werk einen persönlichen Charakter. Hinter dieser ihm eigenen Ausdrucksweise stehen komplexe Einflüsse, die sich in seinem filmischen Werk durch diverse Konstanten manifestieren.

Der Hauptwegweiser Buñuels ist, neben seinen spanischen Wurzeln und der Erziehung durch die Jesuiten, der Surrealismus.

Aus dem Kontakt mit den Intellektuellen seiner Zeit und der intensiven Auseinandersetzung mit surrealistischen Leitwerken wie André Bretons Manifeste, den Schriften Lautréamonts[1], der Philosophie des Marquis de Sade oder den wissenschaftlichen Erkenntnissen Freuds zur Traumdeutung und zu dem Unterbewusstsein des Menschen[2] resultiert sein filmischer Stil. Er basiert auf scharfer Kritik an der bestehenden Ordnung, einer revolutionären Weltanschauung und subtilen Attacken auf Gott, die Gesellschaft und deren oberflächliche Werte. Diese Themen verwendet er in abgewandelten Motiven, jedoch trotzdem mit einer persönlichen Konstanz.

Die Hauptaufgabe der vorliegenden Arbeit soll es nun sein, die filmischen Hauptkonstanten herauszuarbeiten und zu analysieren.

Da Buñuel selbst von sich sagt, dass der Surrealismus besonderen Einfluss auf sein Schaffen ausgeübt hat, soll es Inhalt des zweiten Kapitels sein, diese geistige Bewegung als die wesentliche Konstante und als roten Faden in seinem Gesamtwerk darzustellen. Leitgedanke der Arbeit soll folgende Aussage sein:

Und doch ist mir mein ganzes Leben hindurch etwas geblieben von meiner Zeit – etwas mehr als drei Jahre waren es in der hinreißenden und wilden Gesellschaft der Surrealisten. Geblieben ist mir vor allem der freie Zugang zu den Tiefen des menschlichen Wesens, der uns wichtig war und den wir ersehnten, dieser Ruf nach dem Irrationalen, nach dem Dunklen, nach den Impulsen, die aus den Tiefen unseres Ichs kommen. Ein Ruf, der damals zum erstenmal mit einer solchen Kraft und einem solchen Mut laut wurde und der zusammenging mit einer ungewöhnlichen Rücksichtslosigkeit, einer Lust am Spiel, einer großen Hartnäckigkeit im Kampf gegen alles, was uns verderblich schien. Von alledem habe ich nichts zurückgenommen.[3]

Die Ausführungen zum Surrealismus sollen allerdings eher Ausgangspunkt für das Verständnis und die anschließenden Reflexionen über sein filmisches Werk sein, als eine konkrete Analyse darstellen.

Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind insgesamt zwölf Filme. Beginnend mit einem Beispiel seiner surrealistischen Phase wird sich die Darstellung der filmischen Konstanten über ausgewählte Filme der mexikanischen Zeit der Fünfziger und Sechziger Jahre bis hin zu seinem französischen Spätwerk der Siebziger Jahren erstrecken.

Kapitel 3 wird eine kurze Einführung in die behandelten Filme und einen Ausblick auf die sich wiederholenden Elemente in Luis Buñuels Werk geben.

Im Hauptteil der Arbeit (Kapitel 4) werden schließlich einige der immer wiederkehrenden Elemente im Œvre Buñuels konkret hervorgehoben und im Kontext untersucht. Worum handelt es sich bei diesen Elementen? Welches sind die Hauptkonstanten? Die Arbeit wird sich angesichts des Umfangs auf die wesentlichen beschränken müssen.

Hervorgehoben werden zum einen die thematischen Konstanten wie Träume und Visionen, die Behandlung der Bourgeoisie und der Religion, sowie die Themenkomplexe Gewalt/Grausamkeit und Sexualität/Erotik. Anschließend werden die wichtigsten formalen Konstanten, wie die Hauptleitmotive in seinem Werk, sowie die sich repetierenden surrealistischen Bilder und die rätselhaften Schlüsse als besonderes Kennzeichen Buñuels Schaffen hervorzuheben sein.

Kapitel 5 stellt die Zusammenfassung der Ergebnisse dar.

Im 6. Kapitel findet sich eine themenrelevante Allgemeinbibliografie, Literaturangaben zu Luis Buñuel und den behandelten Filmen, sowie Selbstzeugnisse, Zeitschriftenartikel und Internetquellen.

Der Anhang bietet eine Filmographie der behandelten Filme (Kapitel 7).

Die begrenzte Auswahl des Bildmaterials soll die konstante Verwendung bestimmter Motive verdeutlichen (Kapitel 8).

Für die Übersetzungen aus dem Spanischen ist die Autorin verantwortlich.

2. Die Rolle des Surrealismus im filmischen Werk Buñuels

Eine zentrale Frage, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden soll, ist, unter welchen Gesichtspunkten Buñuels Werk am Geeignetsten zu betrachten ist und welche Aspekte seine Arbeit entscheidend beeinflusst haben.

Es ist die These der Autorin, dass nach Beschäftigung mit Buñuels Filmsprache schnell deutlich wird, dass der Surrealismus die Hauptkonstante in seinem Werk ist, aus der seine Filmsprache und seine Themenwahl entsteht.

Es mag aus heutiger Sicht durchaus diffizil sein, die Gesamtheit der Ideen des Surrealismus in ihrer Komplexität und Ambivalenz zu verstehen. Es ist jedoch sinnvoll, die Bewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu betrachten, an dem viele Spanier trotz erklärter Neutralität teilnehmen[4] und in der sich ein mentaler und intellektueller Umsturz, nicht nur innerhalb der desillusionierten Intellektuellenkreise, vollzieht. Ein Auflehnen gegen die Gesellschaft und die Kirche stellt einen Weg dar, die posttraumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Da der Surrealismus prinzipiell auf den Erkenntnissen von Traumbildern beruht, gibt er letztendlich jedem die Möglichkeit, sich damit zu identifizieren.

Die Bewegung hat sich zu Beginn der Zwanziger Jahre aus dem Dadaismus heraus entwickelt, doch erst André Breton prägt den Terminus mit seiner Definition aus dem Jahre 1924:

Surrealismus ist die reine psychische Selbstbewegung, durch welche man es unternimmt, mündlich, schriftlich oder auf irgendeine andere Weise das wirkliche Funktionieren der Vorstellung auszudrücken. Ein Diktat des Denkens unter Ausschaltung jeglicher von der Vernunft ausgearbeiteter Kontrolle, außerhalb jeglicher ästhetischer oder moralischer Bedenken.

Enzykl. Philos. : Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Realität gewisser bisher vernachlässigter Formen der Assoziation, an die Allmacht des Traumes, an das uninteressierte Spiel der Vorstellungen. Er sucht endgültig alle anderen Mechanismen aufzuheben und sich an ihre Stelle zu setzen in der Lösung der Grundprobleme des Lebens.[5]

Das Prinzip des Unlogischen, des Irrationalen und Zufälligen wird besonders von der französischen Avantgarde genutzt, um tief in den Bereich des Unterbewussten vorzudringen. Sie glauben nicht mehr an die sichtbare Wirklichkeit und suchen eine allumfassenden Realität, eine „Überwirklichkeit“, aus der sich auch der spätere Name Surrealismus, von französisch „sur“, dt. „über“ ableiten lässt.

Ähnlich dem Expressionismus bleibt nun auch der Surrealismus nicht ausschließlich auf die Bildende Kunst beschränkt, sondern ist eine kulturübergreifende Bewegung, die sich von der Literatur, über die Fotografie und schließlich auch auf den Film ausbreitet. Er verbindet eine internationale Gruppe von Künstlern und Intellektuellen in Paris, zu der schließlich auch Buñuel stößt.[6]

Wichtige Impulse liefern den Surrealisten die von Sigmund Freud entwickelten Theorien der Psychoanalyse. Freuds Untersuchungen zur Traumdeutung bezeugen, dass der größte Teil unserer geistigen Identität im Unterbewussten zu finden ist, und dass das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen nicht unbedingt von bewussten Kräften geprägt ist.

Dieses anfangs noch weitgehend unerforschte Gebiet der Wissenschaft versuchen nun auch diverse Künstler zu ergründen. Die Vorstellung, dass es neben der sichtbaren Welt auch noch eine andere, unterbewusste Welt der verdrängten Erfahrungen und Erlebnissen gab, fasziniert die Künstlergruppe.

Resultierend daraus, wollten sie nun der Surrealität auf unterschiedliche Weise Ausdruck verleihen. Das Ziel ist es immer, die Außenwelt mit der Innenwelt zu vergleichen, beziehungsweise die erste mit der zweiten zu ersetzen. Sie machen sich die Erkenntnis zueigen, dass vor allem in der Welt der Träume das Unterbewusste des Menschen zutage tritt. Dazu die Zentralfigur André Breton in seinem „Ersten Manifest des Surrealismus“ (1924): „Ich glaube an die zukünftige Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Wirklichkeit, der Surrealität.“[7] So gibt der Hauptdenker der Bewegung den Rahmen für eine weitere Entwicklung des Surrealismus vor. Ausgangsebene für die allgemeine künstlerische Produktion wurden somit Träume, Visionen, Wahnvorstellungen, spontane Assoziationen und Halluzinationen, prinzipiell alles, was das Unterbewusstsein eines Menschen definiert.[8]

Im intellektuellen Umfeld der Studentenresidenz in Madrid kommt nun auch Buñuel mit den führenden Surrealisten der Zeit in Kontakt, die sein Denken entscheidend beeinflussen. Die Söhne aus meist gutbürgerlichen Verhältnissen verbindet besonders ein Schlagwort des Surrealismus, die Devise „épater le bourgeois“ (épater, frz.: imponieren, verblüffen), der auch Buñuel bis in sein Spätwerk treu blieb. Die Aufdeckung der Unmoral der Gesellschaft stand innerhalb der Gruppe thematisch im Vordergrund.

Die Bewegung stützt sich hinsichtlich dessen auf die Wirkung des Skandals. Laut Buñuel war es die Hauptwaffe im Kampf gegen die ihnen verhasste Gesellschaft:

Er (der Skandal, Anmerkung der Autorin) erschien ihnen lange Zeit als das wirksamste Mittel, um die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den verdummenden Zugriff der Religion, den plumpen kolonialistischen Militarismus zu entlarven und die geheimen, widerwärtigen Triebfedern des zu stürzenden Systems aufzudecken […]. Das eigentliche Ziel des Surrealismus war nicht, eine literarische Bewegung ins Leben zu rufen, auch keine neue Malerei, nicht einmal eine neue Philosophie, sondern die Gesellschaft hochgehen zu lassen, das Leben zu ändern.[9]

In engem Zusammenhang mit den triebunterdrückenden Mechanismen der Gesellschaft ist der Aspekt der amour fou zu betrachten, welcher die Surrealisten tiefgründig beeinflusst hat und mit diesem Titel André Breton selbst ein Buch herausgegeben hat.[10] Auch Buñuel zeigt sich fasziniert von dieser laut ihrer eigenen Definition absoluten Liebe, die außerhalb der Regeln der Vernunft existiert und den gesellschaftlichen Normen widerspricht und damit im Gegensatz zu einer „vernünftigen“ Liebe steht.[11] Schon in seinem ersten Film Ein andalusischer Hund bedient er sich diesem Prinzip und es folgen weitere, in denen dieses Muster im Vordergrund steht, wie zum Beispiel L´age d´or. Es sollen im Verlauf seiner Karriere weitere Filme mit diesem Sujet verwirklicht werden. Er und besonders sein letztes Werk Dieses obskure Objekt der Begierde seien an dieser Stelle zu nennen.

Ähnlich diesem Konzept der amour fou ist die Vorgehensweise der Überraschung und somit der gesamte surrealistische Grundsatz der juxtaposition, der Gegenüberstellung unvereinbarer Dinge, sowie der „image-choc“, der unvorhersehbare bildliche Schock für das Auge zu sehen: „Chance must work for a surprise solution. This is a key principle for the Surrealists, and the surprise finding might be of a person or an object […]”.[12] Das Prinzip des Zufalls ist bedeutend für das surrealistische Weltverständis und besonders Buñuels spätere Filme weisen einige durch Zufall geprägte „Überraschungseffekte” auf. Der Gegensatz von Zufall und Voherbestimmung und das Zusammenfügen dieser Gegensätze bietet den Surrealisten eine Vielzahl an artistischen Möglichkeiten und erweist sich zudem als wichtiges Mittel zur Befreiung von religiösen Unterdrückungsmechanismen. Denn wer die Existenz Gottes negiert, unterwirft sein eigenes Dasein zwangsläufig dem Zufallsprinzip. „Der Zufall ist der große Meister aller Dinge, so Buñuel“[13] Die Surrealisten glauben an nichts außer an die Macht des Zufalls und die des Unterbewusstseins.

Dieser Nihilismus hängt demnach mit dem Religions- und Glaubensverständnis der Mitglieder der Bewegung zusammen. Die Gruppe ist entschieden anti-klerikal eingestellt, die Zeitschrift „La Révolution surrealiste“ gibt sich zumindest bewusst anti-religiös.[14] Dieser Aspekt scheint Buñuel in besonderem Maße anzusprechen, dessen Atheismus paradoxerweise auf seiner Erziehung bei den Jesuiten beruht.[15] Im Interview mit Max Aub sagt er zum Thema Glauben (und bezieht sich hier auf eine später filmisch verwirklichte Vision):

Da ist ein Mann, der in einer Zeitung liest und auf dem Bett sitzt. Er senkt die Zeitung, blickt in die Kamera und sagt: Mein Hass gegenüber der Wissenschaft und mein Horror vor der Technologie bringen mich vielleicht noch zu jenem absurden Glauben an Gott (aus: Das Gespenst der Freiheit) Dann geht der Film weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und genau das ist meine Meinung. Das ist auch noch heute eine vollkommen surrealistische Haltung. An Gott zu glauben ist absurd […].[16]

Es findet sich gleichsam in vielen Filmen Buñuels das Thema Religion in kritischer Weise behandelt und es soll im Laufe seines filmischen Schaffens zu einer seiner Hauptkonstanten werden.

Stilistisch bietet sich der Surrealismus schließlich besonders für das Medium Film an, dessen photographische Herkunft die abstraktesten Phantasien und Ideen durch Montage und juxtaposition eigentlich gegensätzlicher Dinge oder Situationen plausibel erscheinen lässt. Dazu Buñuel über die Rolle des surrealistischen Kinos:

El cine es un arma maravillosa y peligrosa si la maneja un espíritu libre. Es el mejor instrumento para expresar el mundo de los sueños, de las emociones, del instinto... El cine parece haberse inventado para expresar la vida subconsciente[...].

Übersetzung: Das Kino ist eine wunderbare und zugleich gefährliche Waffe, wird sie von einem freien Geist benutzt. Es ist das beste Instrument, die Welt der Träume, der Emotionen, des Instinkts auszudrücken… Das Kino scheint sich selbst erfunden zu haben, um das unterbewusste Leben, dessen Wurzeln so tief in die Poesie hineinreichen, auszudrücken […].[17]

Sämtliche oben besprochenen Leitthemen des Surrealismus finden wir in Buñuels Nachlass. Anhand dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, in welcher konstanten Themenverwendung sich sein filmischer Stil manifestiert.

Einige Konstanten aus seinem filmischen Repertoire gehen also direkt auf den Surrealismus zurück, es spielen aber auch andere Elemente, wie seine Verwurzelung in der spanischen Kultur, seine jesuitische Erziehung oder seine persönlichen Obsessionen, die allerdings weitgehend auf dem frühen surrealistischen Einfluss fußen, eine Rolle bei der Motivwahl. Die generell bevorzugte Ikonographie wie zum Beispiel Tiere, Beine/Füße oder Pianos, die seine Filmsprache charakterisiert, wird, wie diese Arbeit aufzeigen möchte, im Laufe seiner filmischen Entwicklung zu einer Konstanten in seinem Werk. Die Filme sind somit eine Hommage an den Surrealismus („Sie bringen sogar glänzender als die besten Gemälde und die besten Schriften den eigentlichen Kern des surrealistischen Ansatzes und seine zentrale Idee zum Ausdruck: Die Erkundung des Unterbewussten.“[18]) und stellen gleichzeitig eine persönliche Referenz an das Leben des Regisseurs dar. Diese zentrale Idee soll auch bei der nun folgenden Analyse immer berücksichtigt werden.

3. Die Filme

Es kann und soll nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, den Inhalt der Filme wiederzugeben, dafür siehe zum Beispiel bei Aranda, Edwards oder Schwarze, um nur einige zu nennen. Sie offerieren detaillierte Inhaltsangaben der Buñuelschen Filme.

In diesem Kapitel soll vielmehr ein kurzer Überblick über die Filme unter Berücksichtigung der Konstanten erfolgen.

In einer Zeitspanne von 48 Jahren entstanden insgesamt 32 Filme, zwanzig davon in Mexiko, neun in Frankreich und drei in Spanien.

Die ausgewählten Filme möchten einen Bogen über sein Gesamtwerk spannen und die Konstanten in verschiedenen Jahrzehnten, unter verschiedenen Produktionsbedingungen und in verschiedenen Ländern analysieren.

Es ist festzustellen, dass sein Erstlingswerk Ein andalusischer Hund vollständig surrealistisch ist. Seine mexikanischen Filme dagegen sind eher von einem sozialkritischen bis fast dokumentarischem Charakter geprägt (zum Beispiel Die Vergessenen), wobei er auch in dieser Periode immer surreale Bilder in den Erzählfluss einschiebt. Auf die behandelten Filme ist die Aussage über die mexikanische Natur „Das ist Surrealistenlandschaft“[19] von Rezzori zwar nicht unbedingt anwendbar, da sie größtenteils innen spielen, doch kann man davon ausgehen, dass Buñuel auch darauf aufmerksam geworden ist und sich diesen Umstand nicht nur bei Filmen wie Simon in der Wüste zunutze gemacht hat. Bei der Betrachtung der kommerzielleren mexikanischen Filme sollte berücksichtigt werden, dass sie zum einen mit einem minimalen Budget gefertigt wurden und dass sie außerdem stark der Zensur unterlagen. Buñuel befand sich zudem in einer privaten Situation, in der die Finanzierung des privaten Lebensunterhaltes im Vordergrund stand und die Erlangung künstlerischen Ansehens vermutlich eher zweitrangig war.[20] Die artistische Freiheit im Filmemachen stellte sich erst mit zunehmendem Erfolg in seiner dritten, französischen Phase ein.

In seinem Spätwerk wendet er sich wieder verstärkt der surrealistischen Bildsprache zu. Im Vergleich zu den Werken seiner mexikanischen Phase ist klar erkennbar, dass sich für Buñuel der Kreis mit dem Alter wieder schließt und er in seinen späten Filmen vermehrt auf surrealistische Elemente und Strukturen zurückgreift.

So lassen sich drei Hauptschaffensphasen abgrenzen: In der surrealistischen Phase im Paris der Zwanziger und beginnenden Dreißiger Jahre konnte er dank des Geldes seiner Familie unabhängig filmen. In der zahlenmäßig produktivsten Zeitspanne von 1947 bis Mitte der Sechziger Jahre dominierten Auftragsarbeiten unter ökonomisch unfreien Arbeitsbedingungen der mexikanischen Filmindustrie. Diese Situation verbesserte sich durch Buñuels zunehmende internationale Reputation und den Einstieg von französischen Koproduzenten. In seinem Alterswerk ab Mitte der Sechziger orientierte er sich vollständig sowohl künstlerisch als auch finanziell nach Frankreich.[21]

3.1 Ein andalusischer Hund (Un chien andalou), 1929

Durch diesen Film gelingt ihm die Aufnahme in die Gruppe der Surrealisten unter André Breton. Nach einem, heute als „Schlüsselwerk der Filmgeschichte“ bezeichneten Film Buñuels (Das goldene Zeitalter von 1930, nicht Gegenstand der Arbeit) gibt es zunächst, vor dem politischen Hintergrund der Zeit, keinerlei weiter Ambitionen, surrealistische Filme zu produzieren.[22]

Bei seinem Erstlingswerk führt er Konstanten ein, die natürlich erst rückblickend und als Teil des Gesamtwerks als solche zu erkennen sind. Retrospektiv gesehen gibt der Film wichtige Anhaltspunkte für spätere Themen und Motive in Luis Buñuels Filmsprache.

Er gehört zu Buñuels erster surrealistischer Trilogie, die aus Ein andalusischer Hund, L´age d´or (1930) und Las Hurdes/Tierra sin pan (Las Hurdes / Land ohne Brot , 1932) besteht. Über das erste filmisches Projekt sagt Buñuel: „Ich tauchte in der Gesellschaft Salvador Dalís bis zum Grunde in den Surrealismus hinein und machte meinen ersten Film „Un chien andalou“.[23]

Das Hauptanliegen der beiden Spanier, die surrealistische Ideen filmisch verwirklicht sehen wollten, bestand primär in zwei Aspekten: das Publikum zu schockieren und die Welt des Traums mit filmischen Mitteln darzustellen. Mit traditionellen Sehgewohnheiten sollte gebrochen werden und somit sollte auch die herkömmliche Einheit eines Kunstwerkes verloren gehen. Edwards hebt hervor:

The concern with the revelation of the ´unconscious feelings of man´ is, of course, in true surrealist manner, an important feature of the film, the source, indeed, of much of its lasting value. But other factors too were important in its making. The element of joke, of outrageous surrealist humor, […] and, in addition there was, of course, that other surrealistic requisite – the need to shock.“[24]

Zu sehen sind einzelne, zufällig aneinander gereihte Episoden von traumhaftem Charakter. Es gibt keinen Handlungsstrang im gewohnten Sinne, mit Anfang, Entwicklung, Klimax und Auflösung, sondern eher ineinander übergehende Sequenzen ohne im ersten Moment erkennbaren Sinn, vielmehr nach der absurden Logik des Zufalls aufgebaut. Buñuel erklärt seine Intention und Umsetzung dieser vermeintlichen Zusammenhanglosigkeit so:

Es ging nicht darum, ein Bild mit dem anderen zu verbinden auf der Grundlage, von Verstand und Unverstand, sondern ausschließlich darum, dass sich eine Kontinuität entwickelte […]. Es ist einfach ein surrealistischer Film, in dem die Bilder, die Bildfolgen sich nach einer „logischen“ Ordnung aneinanderreihen, aber deren Ausdruck von Unterbewussten abhängt, das von Natur aus seine „Ordnung“ hat.[25]

Buñuel behauptet zudem, dass kein Bild im Film Symbolcharakter habe: „Wir ließen irrationale Bilder aufsteigen, ohne jede Erklärung.“ Das Drehbuch beruhe auf dem Konzept

keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe, die Tore des Irrationalen weit zu öffnen, nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.[26]

Der Film gliedert sich in drei Hauptabschnitte, die der Zuschauer nur der Einblendung der Untertitel „Èrase una vez“ (Es war einmal), „Ocho años después“ (Acht Jahre später) und „Hacia tres de la madrugada“ (Gegen drei Uhr morgens) entnehmen kann. Der Film beginnt mit dem berühmten Aufschlitzen des Auges der Frau, ein surrealistisches „image-choc“, welches bis heute nicht an seiner Ausdruckskraft eingebüßt hat Auf dessen Bedeutung wird zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen.

Ein offensichtlich signifikanter Themenkomplex, der sich ausmachen lässt und durch den gesamten Film zieht, ist die mitunter aggressive Sexualität/Erotik und die Darstellung der amour fou,[27] einer der Leitbegriffe der Surrealisten. Eng im Zusammenhang damit steht laut Edwards die Darstellung der Innenwelt der Akteure: „The revelation of unconscious thoughts and feelings, the film´s constant preoccupation […]“[28].

Ziel des ganzen Films ist es im Wesentlichen, die Sprache des Unterbewussten auszudrücken. Der Einfluss Sigmund Freuds wird hier evident und soll das Lebenswerk Buñuels hinsichtlich der Vermischung von Traumwelt und Realität stark beeinflussen. Dazu Alcala:

...que para Buñuel la distinción sueño y realidad nunca es estéticamente perfecta, sino que ambos estados vitales se integran en una superior unidad síquica. Siguiendo en esto las teorías de Freud, la esfera consciente y la subconsciente tienen la misma consistencia anímica en el cine de nuestro director.[29]

Übersetzung: […]dass für Buñuel die Unterscheidung zwischen Traum und Realität ästhetisch nie perfekt ist, sondern das beide lebendige Zustände sind, die eine höhere psychischen Einheit bilden. Darin den Freudschen Theorien folgend, haben die bewusste und die unterbewusste Sphäre in den Filmen unseres Regisseurs die gleiche seelische Beschaffenheit.

Das bedeutet, dass für Buñuel dem Traum die gleiche Bedeutung zukommt, wie dem Wachzustand; eine Haltung, die in seinen späteren Filmen schon durch die großzügige Verwendung von Traumsequenzen alsbald offenbar wird.

Obwohl Buñuel sich gegen eine (Über-)Interpretation seiner Filme wehrte, wurde von vielen Kritikern in fast jede Szene nach einem etwaigen Symbolgehalt geforscht und dieser besonders im Bereich Sexualität und Tod gefunden. Diese Vorgehensweise ist nach Meinung der Autorin in Frage zu stellen und wird im Kontext der vorliegenden Arbeit versucht zu vermeiden.

Der Surrealismus war eine antisymbolische Bewegung. Wenn der Film per se eine Traumwelt bzw. die Vorgänge des Unterbewussten nach surrealistischem Verständnis darstellen soll, impliziert dies, dass kein allgemeiner Entschlüsselungscode gelten kann, da Träume nur in persönlichem Zusammenhang analysierbar sind.

3.2 Die Vergessenen (Los Olvidados), 1950

„Mit „Die Vergessenen“ habe ich zu mir selbst zurückgefunden.“[30] (Luis Buñuel)

Es hat einen immensen Zeitsprung zwischen Buñuels surrealistischer Anfangsphase und der Zeit im Exil im Mexiko gegeben. Zu manchen Filmen dieser Zeit sieht er sich retrospektiv in kritischer Distanz, erachtet sie jedoch notwendig für seine Entwicklung.[31] Erst das sozialkritische Drama Die Vergessenen bringt Buñuel wieder ins internationale Blickfeld. Nach der Uraufführung in Mexiko, die „reacciones violentíssimas“[32] (sehr gewaltsame Reaktionen wg. der extremen Darstellung der mexikanischen Realität) hervorruft, gewinnt er in Cannes 1951 den Preis für das beste Drehbuch.[33] Zusammen mit Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz und Er zählt er zu den international erfolgreichsten mexikanischen Produktionen.[34]

Es handelt sich bei dem Werk nur auf den ersten Blick um eine gesellschaftskritische und dokumentarische Arbeit.[35] Unter der Oberfläche des vermeintlichen Realismus verbirgt sich immer noch ein surrealistisches Interesse Buñuels, welches sich in der Darstellung der Innenwelt der Protagonisten manifestiert und besonders durch Träume und Wahnvorstellungen derselben zum Ausdruck kommt:

I had seen things which had distressed me very much, and I wished to portray them on the screen, but always with that love of the instinctive and the irrational that I have and which is to be found everywhere.[36]

Auch findet der aufmerksame Zuschauer eine Reihe von Buñuels favorisierten Themen wieder, die sich in den untersuchten Filmen ebenfalls darstellen, wie zum Beispiel die Behandlung von Gewalt, Erotik und einige seiner von nun an immer wieder vorkommenden Leitmotive, wie z.B. Tiere. Die Nähe der menschlichen und der animalischen Welt scheint in seinen Filmen dadurch konstant reflektiert zu werden.

Der Film ist eine Darstellung des hoffnungslosen Lebens der Slumkinder Mexikos und ihren täglichen Überlebenskampf, ohne familiären oder gesellschaftlichen Rückhalt, ohne Moralvorstellungen und die Aussicht auf Bildung. Buñuel wirft einen pessimistischen Blick auf die Zustände im Land und doch sind sie, da geht die Autorin konform mit Schwarze „ein Plädoyer für die Veränderung der Welt“. Durch die filmische Konfrontation mit der Wirklichkeit will Buñuel dem Zuschauer vor Augen führen, dass „wir nicht in der besten aller Welten leben“.[37] Wie auch in späteren Filmen vertritt Buñuel die These, dass die Barmherzigkeit sinnlos ist, wenn die sozialen Umstände nicht an der Wurzel geändert werden.

Das Ende des Films ist ergo auch kein glückliches, sondern lässt den Zuschauer verstört zurück. Pedro und Jaibo, die Hauptfiguren des Films, werden ermordet und Pedro an einem Abhang am Rande der Stadt entsorgt.

3.3 Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (Ensayo de un crímen), 1955

Interessant stellt sich hier schon zu Beginn der Betrachtung der übersetzte Titel des Films dar. Auf Spanisch „Ensayo de un crímen“, was mit „Versuch eines Verbrechens“ zu übersetzen wäre, wird der Filmtitel jedoch mit Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz ins Deutsche übertragen (ab hier abgekürzt mit Archibaldo). Doch der Hinweis, dass es sich bei Archibaldos Morden nur um Versuche handelt, und somit um Morde, die lediglich in seiner Imagination geschehen, ist nach Meinung der Autorin ein wichtiger Aspekt.

Der gesamte Film baut auf diesen Mordvisionen auf, die kein einziges Mal verwirklicht werden. Archibaldo, verwöhntes Kind aus gut bürgerlichem Hause, hat aufgrund eines Kindheitserlebnisses den unwiderstehlichen Drang zu morden. Die Vorstellung einer solchen Tat gibt ihm Macht und ein Überlegenheitsgefühl, das er auch auf unterbewusste Weise mit sexueller Lust in Verbindung bringt. Doch seine Mordversuche bleiben Phantasien und lassen sich nicht verwirklichen, da sie entweder von einem anderen ausgeführt werden oder die betreffende Person sich selbst umbringt.

Der Befriedigung seiner Mordlust kommt er im Fall der jungen Lavinia am nächsten, deren Puppe, ein verblüffendes Abbild ihrer selbst, er in einer Inszenierung eines „Quasi-Mordes“ verbrennt.

Das Ende des Films überrascht, da es in einer auffälligen Weise glücklich ist: der Neurotiker scheint durch die kathartische Wirkung des Verbrennens und die Aussicht auf Ehe geheilt. Es ist dabei zwar zu bedenken, dass das mexikanische Filmpublikum einen gewissen Grad an „sentimentalismo“ verlangte, sonst war der Film nicht zu verkaufen[38]. Doch wirkt es derart übertrieben, dass man sich fragen muss, welche Rolle die Ironie spielt.

Thema des Films ist dennoch die Darstellung eines geistig Kranken und seiner scheiternden Mordvisionen. Auch hier, wie schon in Ein andalusischer Hund und Die Vergessenen kommt inneren Vorgängen und Träumen eine wichtige Bedeutung zu.

3.4 Er (Él), 1955

„El […] ist einer meiner Lieblingsfilme. Eigentlich hat er gar nichts Mexikanisches, denn die Handlung könnte sich überall ereignen. Es ist das Portrait eines Paranoikers.“[39] (Luis Buñuel)

Im selben Jahr wie Archibaldo fertig gestellt, erinnert vieles thematisch und stilistisch an den unmittelbaren Vorgänger in Buñuels Filmographie.

Thema von Er ist die Darstellung eines an extremer Eifersucht erkrankten Mannes und seine (nur scheinbare) Selbstfindung durch den Glauben.

Hintergrund des Szenarios ist die Unmoral der Gesellschaft, die Buñuel schon seit den Anfängen bei den Surrealisten beschäftigt. Schwarze dazu: „Von der Beziehung zwischen Wahnsinn und Gesellschaft hat Buñuel auch in späteren Jahren eine surrealistische Vorstellung. Nicht der Wahnsinnige ist krank, so sagen seine Filme, sondern die Gesellschaft in der er lebt.“[40] Die Relation zwischen Gesellschaft und dem Menschen als Individuum und Teil der Gesellschaft wird ihn in den folgenden Filmen in immer stärkerem Maße beschäftigen.

Während einer Messe verliebt sich der ältere Bourgeois Francisco in die junge Gloria. Hier führt Buñuel ein Thema ein, das sich im Laufe seiner Filme zu einer evidenten Konstante entwickeln soll. Fast kein Film entsteht mehr, ohne die Darstellung oder Fixierung auf Füße/Beine der handelnden Personen. Die Ansätze zu dieser Obsession sind schon in Filmen wie Die Vergessenen zu finden und erhalten ihre Kontinuität durch Er und die folgende Filme.

Franciscos Besessenheit entsteht, als er Glorias Füße zum ersten Mal erblickt und wandelt sich in die Besessenheit, sie zu besitzen. Tatsächlich heiratet sie ihn und erlebt die absolute Bevormundung, Einengung und seelische Misshandlung bis hin zu einem Mordversuch. Nach dem Klimax des Films, dem psychischen Zusammenbruch Franciscos in der Kirche, entscheidet er sich für ein Leben im Dienste der Religion, ein Entschluss, der jedoch wieder durch Buñuels Schlusssequenz – dem Zickzacklauf des Protagonisten aus der Kameraperspektive heraus - ironisiert wird.

Es finden sich wiederholt die Behandlung der Innenwelt des Protagonisten, die durch seine Wahnvorstellungen filmisch umgesetzt wird. Der Rolle der Kirche wird hier zum ersten Mal im Rahmen der untersuchten Filme eine größere Bedeutung eingeräumt.

Das Prinzip der amour fou wird von Buñuel erneut thematisiert. Paranaguá spricht von „einem „Remake“ von L´age d´or, in Bezug auf den Sadismus, den Symbolismus und das Perverse.“[41] Langsam bildet sich der Konflikt alter Mann – junge Frau heraus, ein Themenkomplex, der Buñuel im Folgenden immer wieder beschäftigen wird. Ebenfalls lässt sich langsam eine Konstanz in der Wahl der Protagonisten erkennen, da sie (mit Ausnahme von Die Vergessenen) alle zu der Bourgeoisie gehören; ebenso wird allmählich deutlich, dass die Kirche/ Religion eine zunehmend wichtige Position einnimmt; auch beginnt der Zuschauer auf die enigmatischen Schlüsse und immer wieder in den Erzählfluss eingewobenen rätselhaften Bilder aufmerksam zu werden.

3.5 Viridiana (Viridiana), 1961

Viridiana ist der erste Film, den er 1961 wieder in Spanien dreht und der gleich zu einem Skandal führt, da er von der spanischen Zensur als blasphemisch bezeichnet und nach erstmaligem Kürzen sogar ganz verboten wird.

Im Grunde ist Viridiana ein Film schwarzen Humors, der zweifellos von ätzender Schärfe ist. […] Im Film kommen bestimmte erotische Obsessionen aus meiner Kindheit zum Ausdruck.[…] Gewiss haben diese religiöse Erziehung und der Surrealismus unauslöschliche Spuren in meinem Leben hinterlassen. In Viridiana finden Sie die meisten der Themen, die mir am Herzen liegen und für die ich mich besonders interessiere.[42] (Luis Buñuel)

Thema des Werkes ist die Sinnlosigkeit der Caritas, sowie die Folgen einer sexualitätsfeindlichen Haltung der Kirche, die alle Freiheitsbestrebungen des Menschen mit ihren Restriktionen zunichte macht und ein Scheitern in der realen Welt mit sich zieht.

Viridiana kommt aus dem Kloster zu ihrem Onkel Don Jaime, einem Hidalgo cervantinischer Tradition, welcher mehr als nur väterliches Interesse an ihr zu haben scheint, da sie ihn an seine verstorbene Frau erinnert. Der Versuch ihrer Vergewaltigung resultiert in seinem Selbstmord. Viridiana, entehrt und nicht mehr in der Lage, zurück ins Kloster zu gehen, sieht sich gezwungen, ein weltliches Leben zu beginnen und nimmt sich mit ihrer calor humano, ihrer menschlichen Wärme, den Bettlern und Obdachlosen der Gegend an. Doch das Projekt scheitert vor allem an der Schlechtigkeit der Bettler. Am Ende gibt Viridiana, nach einer zweiten versuchten Vergewaltigung durch die Bettler und deren Aufstand gegen sie, ihren karitativen Weg auf.

Die nun immer wiederkehrenden Themen und Motive in Buñuels Filmsprache werden zunehmend evident. Fetische, Träume, offensichtliche Referenzen an Freud, enigmatische Details, der offene Schluss und der Mensch im Konflikt mit der Religion bilden bereits eindeutige Konstanten in seinem Werk.

3.6 Der Würgeengel (El ángel exterminador), 1962

Der Würgeengel, dessen Titel auf das gleichnamige Gemälde von Valdés Leal (17. Jahrhundert) anspielt, erinnert in der Zufälligkeit des Filmtitels an Ein andalusischen Hund: es kommt im ganzen Film kein Engel vor, genauso wenig wie es einen andalusischen Hund in seinem Erstlingswerk gibt. Mit dem Film kehrt Buñuel verstärkt an seine Anfänge zurück.

Nach Viridiana hatte Buñuel nun zumindest die künstlerische Freiheit, einen Film nach seinen Vorstellungen zu drehen, wobei auch dort die Finanzierung, wie bei den bescheidenen Budgets der vorangegangen mexikanischen Filme, wieder ein Problem darstellt:

El éxito de Viridiana permitió a Buñuel rodar El ángel exterminador con total libertad, excepto ,naturalmente, en lo económico, a propósito de lo cual lamentó tener que haber rodado con las limitaciones mexicanas.[43]

Übersetzung: Der Erfolg von „Viridiana“ erlaubte es Buñuel, den „Würgeengel“ mit vollster Freiheit zu drehen, außer, natürlich, was das Finanzielle angeht, weswegen er sich beklagte, mit den Beschränkungen der mexikanischen Filmindustrie drehen zu müssen.

Sich besonders auf Buñuels Anfangswerke beziehend, hat der Film eindeutig surrealistische Züge, da er sich zunehmend undurchsichtig entwickelt und den Zuschauer am Ende grübelnd über den Sinn des Geschehens zurücklässt. Damit stellt der Film laut Schwarze einen Wendepunkt in Buñuels Schaffen dar:

Während er gerade in seinen mexikanischen Filmen bis dahin versucht hatte, in die realistische, der tradierten Logik folgenden Beschreibungen irrationale Segmente einzuschmuggeln, folgt er jetzt wieder der Maxime André Bretons: Das Wunderbarste am Phantastischen ist, dass das Phantastische nicht existiert, alles ist wirklich.[44]

Diese Überlegung ist angesichts der Handlungsentwicklung des Geschehens durchaus berechtigt. Es handelt sich bei dem Film um ein Werk voller undurchschaubarer Wiederholungen und unerklärlicher Phänomene, für die der Regisseur zu keinem Zeitpunkt eine Lösung offeriert. Das ist, so die Vermutung der Autorin, der Ausdruck der Freiheit, von der Buñuel bei der Realisation des Films spricht. Generell sagt Buñuel über den Film, dass er nichts bedeute und kein Symbol darin zu finden sei, ähnlich wie er schon den Interpretationsgehalts bei Ein andalusischer Hund oder L´age d´or negiert.[45]

Der Film handelt von einer bourgeoisen Abendgesellschaft, die nach einem vornehmen Essen das Anwesen aus unerfindlichen Gründen nicht verlassen kann. Sie scheinen im Raum gefangen ohne zu wissen warum und ohne, dass der Zuschauer weiß warum. Die vorher so distinguierte Gesellschaft degradiert sich in zunehmendem Maße selbst, der Verfall ihrer Manieren, der Sitten und der Moral, die Buñuel generell in Frage stellt, setzt ein: sie reagieren mit Wahnträumen, werden krank und klagen über das ihnen auferzwängte Schicksal, manche werden geradezu animalisch und kopulieren hinter dem Sofa; alle werden impertinent.

Letztlich gelingt der Gruppe das Ausbrechen aus ihrem Gefängnis, indem sie die Anfangssituation des Abends wiederherstellen. Die folgende Szene zeigt dieselbe Gruppe in einer Kirche, doch als sie das Gotteshaus verlassen wollen, ist es ihnen unerklärlicherweise wieder nicht möglich. Der Film beginnt von vorne, eine Kreisbewegung setzt ein und er endet mit dem Bild einer in dieselbe Kirche laufenden Schafherde. Die Autorin empfindet das Ende, wenn nicht den gesamten Film als intellektuelle Herausforderung und Provokation nach alter surrealistischer Tradition.

Buñuel rekurriert zunehmend auf seine filmischen Anfänge und schöpft aus seinem mittlerweile reichen Erfahrungsschatz als Filmemacher, indem er seine Lieblingsthemen und Motive wie die Satire der Bourgeoisie, die Parodie auf die Kirche, die Innenwelt der Handelnden und einige persönliche Ikonographien, wie Tiere oder das Piano einfließen lässt. Die rätselhaften Schlüsse scheinen mittlerweile zu einer Art Markenzeichen -und somit Konstanten- im filmischen Schaffen geworden zu sein. Kapitel 4.8 wird explizit darauf eingehen.

[...]


[1] Vgl. Klaus Bittermann: Das Geheimnis des unglaublichen Comte de Lautréamont. Berlin 1982, S. 139f.

[2] Vgl. Max Aub/ Luis Buñuel: Die Erotik und andere Gespenster. Nicht abreißende Gespräche. Berlin 1984,

S. 131.

[3] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, in: Heinrich v. Berenberg (Hrsg.). Berlin 2000, S. 123.

[4] Vgl. Klaus-Jörg Ruhl: Ploetz. Die Geschichte Spaniens und Portugals zum Nachschlagen. Mit einer kurzen Geschichte Andorras. Freiburg 1998, S.135f.

[5] Goetz, Alice: Luis Buñuel: eine Dokumentation. Herausgegeben vom Verband des deutschen Filmclubs e.V. anlässlich der Retrospektive. Bad Ems 1965, A 41.

[6] Vgl.C.B. Morris: Surrealism and Spain. 1920-1936. Cambridge 1972, S. 26-40.

[7] Goetz, Alice: Luis Buñuel: Eine Dokumentation, A 42.

[8] Vgl. Xavier Barral i Altet (Hrsg.): Die Geschichte der spanischen Kunst. Barcelona 1996, S. 439-452.

[9] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 121.

[10] Vgl. André Breton: L´amour fou. München 1970, S. 76-79.

[11] Vgl. Roger Rejda (Diss.): Surrealism and Buñuel´s ‘The discreet charme of the bourgeoisie’. University of Nebraska 1981, S. 36.

[12] ebd. S. 37.

[13] Buñuel, Luis: Mein letzter Seufzer. Königsstein/Ts. 1983, S. 162.

[14] Vgl. www.kunstwissen.de, S. 4 von 10. (Stand: 15.05.2004)

[15] Vgl. Joan Mellen: The world of Luis Buñuel. Essays in criticism. Oxford/New York 1978, S. 6.

[16] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 90.

[17] Sánchez Vidal, Agustín: Luis Buñuel. Madrid 1999, S. 10.

[18] David, Yasha (Hrsg.): ¿Buñuel! Auge des Jahrhunderts. Publikation anlässlich der Ausstellung und der Film-Retrospektive ¿Buñuel! Auge des Jahrhunderts, vom 04.0294-24.04.94 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1994, S. 7.

[19] Rezzori, Gregor v.: Die Toten auf ihre Plätze! Tagebuch des Films „Viva Maria“. Hamburg 1966, S. 79.

[20] Vgl. Michael Schwarze: Luis Buñuel. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1985, S. 55-59.

[21] Vgl.Thomas Koebner (Hrsg.): Filmregisseure. Biographien, Werkbeschreibungen, Filmographien. Stuttgart 1999, S. 92.

[22] Vgl. Carlos Rincón (Hrsg.): Luis Buñuel. „Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen“. Berlin 1994, S.100.

[23] Goetz, Alice: Luis Buñuel: eine Dokumentation, A 31.

[24] Edwards, Gwynne: The discreet art of Luis Buñuel. A reading of his films. London/New York 1982, S.42-43.

[25] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 61-62.

[26] ebd., S. 64.

[27] Vgl. Alice Goetz: Luis Buñuel: eine Dokumentation, B2 und B48.

[28] Edwards, Gwynne: The discreet art of Luis Buñuel, S. 56-57.

[29] Alcala, Manuel: Buñuel, cine e ideología, Madrid 1973, S. 129.

[30] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 135.

[31] Vgl. Michael Schwarze: Luis Buñuel, S. 56.

[32] Sánchez Vidal, Agustín: Luis Buñuel, S. 157.

[33] Vgl. Gwynne Edwards: The discreet art of Luis Buñuel, S. 89.

[34] Vgl. Ávil Dueñas /Iván Humberto (Hrsg.): El cine mexicano de Luis Buñuel. Estudio analítico de los argumentos y personajes. Mexiko 1993, S. 140, S. 175.

[35] Vgl. Rebeca Crespo y Crespo/ Fernando Ros Galiana: Guía para ver y analizar.“Los olvidados“ de Luis Buñuel (1950). Valencia 2002, S.18.

[36] Edwards,Gwynne: The discreet art of Luis Buñuel S. 90.

[37] Schwarze, Michael: Luis Buñuel, S. 60.

[38] Vgl. Javier G. Vilaltella: Die Filme Buñuels in Mexiko. In: Luis Buñuel. Film-Literatur-Intermedialität. Hrsg. v. Ursula Link-Heer/Volker Roloff. Darmstadt 1994, S. 126f.

[39] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 79.

[40] Schwarze, Michael: Luis Buñuel, S.69.

[41] Paranaguá, Paulo Antonio: El. Luis Buñuel: estúdio critíco. Barcelona 2001, S. 82.

[42] Buñuel, Luis: Objekte der Begierde, S. 136-137.

[43] Sánchez Vidal, Agustín: Luis Buñuel, S. 234.

[44] Schwarze, Michael: Luis Buñuel, S. 87.

[45] Vorspann zu dem Film (dt. Fassung): „Wenn der Film, den Sie jetzt sehen werden, Ihnen rätselhaft oder anstößig erscheint, so deshalb, weil auch das Leben es ist. Wie das Leben, so ist der Film voller Wiederholungen und vielfach interpretierbar. Der Autor erklärt, dass er keine Symbole geben wollte, zumindest nicht bewusst. Die beste Deutung von […] „Der Würgeengel“ ist vielleicht die, dass es von der Vernunft her keine Deutung gibt.“

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Konstanten im filmischen Werk Luis Buñuels. Seine Leitbilder, Motive und Stilistik
Hochschule
Universität zu Köln
Note
2.0
Autor
Jahr
2004
Seiten
84
Katalognummer
V37911
ISBN (eBook)
9783638371254
ISBN (Buch)
9783640866915
Dateigröße
793 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstanten, Werk, Luis, Buñuels
Arbeit zitieren
Tania Beerbaum (Autor:in), 2004, Konstanten im filmischen Werk Luis Buñuels. Seine Leitbilder, Motive und Stilistik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37911

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