Die Montage als Mittel politischer Realitätsrekonstruktion. Biberkopfs Weg vom egozentrischen Opportunisten zum sozialen Wesen


Hausarbeit, 2005

18 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Exemplarische Analyse: Die Variabilität von ‚Zeit’, ‚Modus’ und ‚Stimme’ als narratologisches Strukturmerkmal des Textes
2.2 Die ästhetische Bewältigung der technisierten Moderne mit Hilfe der Montagetechnik
2.3 Nationalsozialistische und anarchistische Propaganda: Biberkopfs Konfrontation mit einer politisierten Umwelt
2.4 „Herankommen lassen“ – Individuum und Kollektiv zum Ende des Romans

3. Schluss

4. Anhang
4.1 Siglen
4.2 Literaturverzeichnis
4.3 Literaturtheoretische Definitionen

1. Einleitung

Ob als „Krisenroman der Weimarer Republik“[1], als „eindringlichste Warnung gegen den Faschismus“[2], oder als Erklärung der „Feindschaft gegen den organisierten Klassenkampf des Proletariats“[3]: Alfred Döblins Romanwerk Berlin Alexanderplatz[4] wurde sowohl von zeitgenössischen Rezipienten als auch von literaturtheoretischen Forschungsarbeiten schon immer als politischer Text gewürdigt. Neben den Leitmotiven ‚Gewalt’, ‚Sexualität’, ‚Verbrechen’ und ‚Großstadt’ wird dem Politischen im Roman ein großer Stellenwert zugewiesen. Dies liegt zum einen darin begründet, dass der Autor ein möglichst authentisches Bild Berlins der 1920er Jahre zeichnen will[5] – eine Zeit, in der die Großstadtwirklichkeit durch die Konfrontation unterschiedlicher politischer Mentalitäten entscheidend mitgeprägt wurde. Zum anderen gewinnt auch die Zeichnung des Protagonisten Franz Biberkopf eine politische Dimension, sobald man seinen dargestellten Lebensweg als permanenten Kampf zwischen Individuum und Kollektiv versteht.

Diese beiden inhaltlichen Schwerpunkte – die real-historisch bedingte Darstellung politischer Konfrontationslinien zum einen, deren Manifestation in der Figur Biberkopfs zum anderen – möchte ich in dieser Hausarbeit nachvollziehen. Beide Motive erfahren in der im Roman prominenten Technik der Montage ihre eindrucksvollste Realisierung. Auf Grundlage der Intertextualitäts-Theorie Sabina Beckers[6], deren konzeptuelles Augenmerk sich auf die Einbettung prä- und intertextueller Bruchstücke in den vorliegenden Text richtet, möchte ich einmontierte Passagen politischer Natur im Text aufspüren, ihre narrativen Grundmuster berücksichtigen und ihren Stellenwert für die fortschreitende Entwicklung Biberkopfs charakterisieren.

Für diese Untersuchung geeignet halte ich Passagen des 2. Buchs („Hasenheide, Neue Welt, wenns nicht das eine ist, ist es das andere, man muß sich das Leben nicht schwerer machen als es ist“[7] und „Franz ist ein Mann von Format, er weiß, was er sich schuldig ist“[8] ) und Textstellen des 6. Buches („Verteidigungskrieg gegen die bürgerliche Gesellschaft“[9] ). Genau dort dringen politische Mentalitäten der deutschen Zwischenkriegszeit – Nationalsozialismus und Anarchismus – in das diegetische Universum des Romans ein. Dementsprechend sind prätextuelle ‚Fetzen’ besonders reichhaltig zu finden. Für die Figur des Franz Biberkopfs zeigt sich in diesen Passagen besonders deutlich die opportunistische Qualität seiner politischen Überzeugungen.

Der Schluss des Romans (9. Buch: „Lieb Vaterland, magst ruhig sein, ich hab die Augen auf und fall nicht rein“[10] und „Und Schritt gefasst und rechts und links und rechts und links“[11] ) offenbart einen neuen Franz Biberkopf, dessen gesellschaftliche Wahrnehmung sich von Grund auf verändert hat. Diese Entwicklung vom egozentrischen Opportunisten zum sozialen Wesen gilt es, sowohl in formell-narratologischer als auch in psychologisch-figurativer Hinsicht zu beleuchten. Der zweitgenannten Passage (2. Buch, 5. Abschnitt) unterziehe ich eine narratologischen Voruntersuchung, deren Ergebnisse ich als Basis weiterführender Analysen und Interpretationen nutzen möchte.

2. Hauptteil

2.1 Exemplarische Analyse: Die Variabilität von ‚Zeit’, ‚Modus’ und ‚Stimme’ als narratologisches Strukturmerkmal des Textes

Auf Grundlage des erzähltheoretischen Methodengerüstes von Martinez/Scheffel[12] möchte ich zunächst exemplarisch darstellen, welche Grundtendenzen des Erzählens im Text präsent werden. Hierzu wähle ich eine Textpassage des 2. Buches, 5. Abschnitt[13], um die Ergebnisse dieser Analyse für meine späteren Untersuchungen nutzen zu können.

Wirft man in dieser Passage einen Blick auf das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, lassen sich zahlreiche Variabilitäten aufweisen. So stellt bereits der erste Satz[14] dieses Abschnittes eine Prolepse dar – die Chronologie der Ereignisse wird durchbrochen und der Ausgang der Kneipendiskussion vorweggenommen. Auch Gegenteiliges ist der Fall: Der Satz „Wie Franz reinkam, war großes Spektakel und Reden und Schimpfen.“ markiert an dieser Stelle der Ereigniskette nicht nur durch den verwendeten Imperfekt („reinkam“, „war“), sondern auch in chronologischer Hinsicht eine Rückschau. Eine Vielzahl von Beispielen in diesem Textabschnitt belegt, dass es sich um eine analytische Erzählung mit anachronischen Elementen handelt.

Der Grad der Mittelbarkeit und Perspektivierung erscheint in der Textpassage ambivalent. Insbesondere der hohe Anteil autonomer direkter Figurenrede konstituiert einen dramatischen Modus[15], in dem der Erzähler völlig hinter das Geschehen zurücktritt, z.B.:

Der eine Neue ruft rüber: „Na, wie hat dir das Lied gefallen, Kollege?“ „Mir, gut. Ihr habt Stimmen.“ „Kannst doch mitsingen.“ „Ich eß lieber. Wenn ich fertig bin mit Essen, sing ich mit oder sing auch was.“ „Gemacht.“[16]

Zwar leitet hier die narrative Instanz den folgenden Dialog zunächst noch durch ein verbum dicendi[17] ein („ruft“), im weiteren Verlauf folgt dann aber die eine direkte Rede der anderen, ohne dass die sprechende Figur gekennzeichnet wird. Vergegenwärtigt werden im Text somit nur die gesprochenen Wörter der Figuren, eine distanzschaffende narrative Instanz fehlt.

Auch bei der Präsentation von innerer Figurenrede wird häufig auf den Gebrauch von einleitenden Verben verzichtet, z.B.

Die bilden wohl einen Gesangsverein, können wir Eintritt nehmen, wenn sie singen, rauchen sie nicht. Bei mir brennts nicht. Was ich verspreche, wird gehalten.[18]

Nicht nur die fehlende Einleitung, auch die stakkato-hafte Aneinanderreihung nicht-ausformulierter assoziativer Gedankengänge prägen diesen autonomen inneren Monolog. Global gesehen offenbart sich ein hoher Grad mimetischer Illusion[19] ; das Geschehen wird distanzlos vermittelt.

Sowohl Anachronie als auch die autonomen inneren Monologe erschweren eine eindeutige Bestimmung des dominanten Fokalisierungstyps. Immer wieder vermengen sich die Gedankengänge des Protagonisten mit der ‚Stimme’ der narrativen Instanz. Folgende Passage verdeutlicht die Zuordnungsschwierigkeiten:

Und er sitzt allein am Tisch, […]. Franz, den Kopf aufgestemmt, sagt ein Gedicht auf, das Dohms gemacht hat, und die Zelle ist da, der Spazierhof, er kann sie ruhig ertragen, was mögen jetzt für Jungens drinstecken; er geht jetzt selbst auf dem Spazierhof, das ist mehr als die hier können, was wissen die vom Leben.[20]

Zum einen verweist die Nutzung der dritten Person („er“, „Franz“) auf eine vom Protagonisten losgelöste erzählende Instanz, gleichzeitig ist das Erzählte eng an die Wahrnehmung der Figur gebunden, deren Assoziationen („was mögen jetzt für Jungens drinstecken“, „was wissen die vom Leben“) im Moment des Erzählens mitschwingen. In dieser kurzen Passage ist also von einer internen Fokalisierung[21] zu sprechen, während die anachronischen Textelemente (s.o.) verdeutlichen, dass die narrative Instanz über dem Erzählten schwebt, und über mehr Wissen verfügt als die Figur – somit eine Nullfokalisierung[22] vorliegt. Insgesamt kann man von einem Nebeneinander unterschiedlicher Fokalisierungstypen ausgehen. Es herrscht Polymodalität[23].

Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten erscheinen auch bei näherer Betrachtung der Stimme[24]: Zeitpunkt des Erzählens, Ort des Erzählens und die Stellung der narrativen Instanz zum Erzählten sind nicht eindeutig zu bestimmen. Am ehesten ist von einer extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählinstanz zu besprechen: Weder global betrachtet, noch innerhalb des vorliegenden Textabschnittes deckt sich die Figur des Franz Biberkopfes mit der erzählenden Instanz, auch wenn die distanzlose und unvermittelte Widergabe der Wahrnehmungen Biberkopfs dies bisweilen nahe legen. Das extradiegetische Erzählen mündet immer wieder nahtlos in ein intradiegetisches Erzählen, z.B.

„Es hat mal einen gegeben, der hat eine Wurststulle gegessen, und wie sie im Magen war, hat sie sich besonnen und ist nochmal raufgekommen in den Hals und hat gesagt: war keine Mostrich bei! und dann ist sie erst richtig runtergegangen.“[25]

[...]


[1] Scimonello, Giovanni: ‚Berlin Alexanderplatz’ und die Krisenjahre der Weimarer Republik. In: Werner Stauffacher (Hrsg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien. Münster 1989 - Marbach a.N. 1991. Bern 1993. S. 165.

[2] Bekes, Peter: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz: Interpretation. München 1995. S. 104.

[3] Neukrantz, Klaus: Berlin Alexanderplatz. In: Frank Rainer Scheck (Hrsg.): Erobert die Literatur! Proletarisch-revolutionäre Literaturtheorie und –debatte in der „Linkskurve“ 1929-1932. Köln 1973. S. 82.

[4] Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hrsg. v. Werner Stauffacher. München 2001.

[5] Vgl. Döblin, Alfred: Bau des epischen Werkes. In: Ders.: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Bd.: Aufsätze zur Literatur. Hrsg. v. Walter Muschg. Oldenburg/Freiburg 1963, S. 107.

[6] Becker, Sabina: Becker, Sabina: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930. St. Ingbert 1993. S. 288-295 und S. 333-354.

[7] BA, S. 78-88.

[8] BA, S. 88-97.

[9] BA, S. 264.

[10] BA, S. 447-451.

[11] BA, S. 451-454..

[12] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002, S. 9-89.

[13] BA, S. 88-90.

[14] BA, S. 88.

[15] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002. S. 20. Hervorhebung im Original.

[16] BA, S. 89.

[17] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002. S. 21. Hervorhebung im Original.

[18] BA, S. 89.

[19] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002. S. 20.

[20] BA, S. 90.

[21] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002. S. 28. Hervorhebung im Original.

[22] ebd.., Hervorhebung im Original.

[23] Martinez, Matias/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002. S. 31. Hervorhebung im Original.

[24] ebd. S. 32. Hervorhebung im Original.

[25] BA, S. 89.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Montage als Mittel politischer Realitätsrekonstruktion. Biberkopfs Weg vom egozentrischen Opportunisten zum sozialen Wesen
Hochschule
Universität Münster
Veranstaltung
Einführung in die Analyse und Interpretation literarischer Texte:
Note
2,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
18
Katalognummer
V40526
ISBN (eBook)
9783638390217
ISBN (Buch)
9783656448679
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Montage, Mittel, Realitätsrekonstruktion, Biberkopfs, Opportunisten, Wesen, Einführung, Analyse, Interpretation, Texte
Arbeit zitieren
Michael Bee (Autor:in), 2005, Die Montage als Mittel politischer Realitätsrekonstruktion. Biberkopfs Weg vom egozentrischen Opportunisten zum sozialen Wesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40526

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Montage als Mittel politischer Realitätsrekonstruktion. Biberkopfs Weg vom egozentrischen Opportunisten zum sozialen Wesen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden