Das Neue Denken und sein Erfinder: ist Michail Gorbatschow eine "tragische Figur"?


Hausarbeit (Hauptseminar), 1998

21 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

Gorbatschows Perestroika und das Neue Denken

Interpretativer Dissens

Das Neue Denken und die Außenpolitik

Genese

Grundthesen

Ebenen

Gorbatschow – eine tragische Figur?

Literaturliste

Anmerkungen

Gorbatschows Perestroika und das Neue Denken

„ without being a »great man« as far as his personal qualities are concerned,

Gorbachev has accomplished a great deed. Historically, this is the important thing.“

Anatoli Tschernjajew, The Phenomenon of Gorbachev (1993) .

Diese Arbeit befaßt sich mit dem ”Neuen Denken” Gorbatschows, mit dem Zu­sammenhang zwischen grundlegenden Inhalten und Normen des Neuen Denkens und dem Erfolg respektive Mißerfolg von Gorbatschows Politik der Perestroika. Die Bedeu­tung der Person Michail Gorbatschows für die Politik der Sowjetunion zwischen 1984 und 1990 hat Archie Brown in seinem Buch ”The Gorbachev Factor” intensiv diskutiert. Dabei hat er auf die Schwächen einer Interpretation hingewiesen, die das politische Ereignis der Pe­restroika allein durch die Person Michail Gorbatschows und dessen psychologische Dispo­sition zu deuten versucht. Natürlich bestehen in der Fachgemeinde große Meinungsverschiedenheiten darüber, wie Gorbatschows Anteil an den Ereignissen, die schließlich zum Revolutionsjahr 1989 führten, zu bewerten ist. Eine Interpretation, die sich allein auf die Psychologie Gorbatschows stützt und den Respekt, den sein politisches Vermächtnis verdient, zum Angelpunkt der Analyse macht, greift zweifellos zu kurz. Und gewiß kann man sagen, daß Gorbatschow Wirkung weniger von seiner Person, sondern vielmehr von den Ideen, die er zum Agens seiner Politik machte, herstammt. Diese Ideen sind zusammengefaßt im Begriff des ‘Neues Denkens’.

Das Ziel dieser Arbeit ist ein dreifaches:

– Erstens möchte ich die Reformpolitik Gorbatschows gegen die Art von Kritik ver­teidigen, die annimmt, daß Gorbatschows Interesse in erster Linie der Stabilisie­rung des Systems galt, die er durch punktuelle Reformen im Bereich der Wirt­schaft und der Außenpolitik verfolgte. Eng mit dieser Kritik verknüpft ist die Wahrnehmung Gorbatschows als opportunistischen Akteur, der seine politische Umgebung nicht im Griff hatte und im wesentlich reaktiv handelte.
– Dagegen vertrete ich die Position, daß die Reformen Gorbatschows auf einer sorgfältigen Politikanalyse beruhten, daß das Neue Denken das dynamische Er­gebnis dieser Politikanalyse darstellt, und dadurch nach und nach zum Leitmotiv der Pe­restroika wurde und nicht lediglich die Funktion hatte, die eigene Position und Politik ideologisch abzusichern. So gesehen ist das Neue Denken der Kern der Perestroika und nicht die nachträgliche Rationalisierung einer Ad-Hoc-Politik.
– Schließlich möchte ich das Neue Denken selbst einer kritischen Prüfung unterzie­hen und die Frage stellen, inwiefern das Neue Denken noch eine Bedeutung für das politische Handeln auf dem internationalen Parkett nach dem vorläufigen Ende der sowjetischen Transformationsphase hat.

Eine für diese Arbeit wesentliche Frage: Wie ist zu erklären, daß die Handlungen eines einzelnen Mannes, sei er auch Generalsekretär des Zentralkomitees der Sowjet­union, solch weitreichende Veränderungen nach sich ziehen, daß das politische Leben der Welt in eine neue Phase eintritt? Diese Frage, in der das motivierende Faszinosum dieser Arbeit anklingt, wird gewissermaßen implizit mitgestellt, ohne daß ich versuchen will, sie zu beantworten.

War Michael Gorbatschow nicht nur Erfüllungsge­hilfe einer Reform, die aufgrund der wirtschaftlich und politisch negativen Entwicklung unbedingt notwendig geworden war, und hat er sich nicht bei der Durchführung dieser Re­formen des politischen Abenteuertums schuldig gemacht und letzten Endes die Stabilität der ‘Zweiten Welt’ aufs Spiel gesetzt? Ist Michail Gorbatschow nur auf einer Woge des Wan­dels ‘geritten’, hat er also die weltpolitischen und nationalen Grundströmungen seiner ‘Zeit’ genutzt und seinen Zwecken dingbar gemacht? Oder ist er der Initiator dieses Wandels? Hat nicht erst seine Initiative das tief wurzelnde Mißtrauen zwischen den Blöc­ken aufgelöst und damit den Weg für eine kooperativere, friedlichere, menschlichere Welt freigemacht, in der die Politik nach den Interessen der Menschen handelt und die Menschen nicht mehr in ständiger Angst vor dem nuklearen Holocaust leben müssen?

Dieses Spektrum möglicher Ansichten begegnet uns bei der Interpretation der Ereig­nisse um die Perestroika in der Zeit von 1984 bis 1991 immer wieder. Die Antwort die wir zu geben bereit sind und damit die Interpretation, die wir letzten Endes favorisieren, wird davon abhängen, wie wir die politische Realität sehen: deterministisch oder volun­taristisch-dezisionistisch, oder in ein komplexes Geflecht von Wechselwirkungen einge­bettet. Außerdem müssen wir uns immer wieder bewußt machen, welche Analyseebenen wir in Hinblick auf unseren obengenannten Fundamentalansatz mit einbeziehen wollen.

Das Neue Denken entwickelt über den Horizont seiner Entstehungsgeschichte hinaus eine Aktionsmatrix für weltpolitisches Handeln des neuen Jahrtausends, die den politi­schen Weitblick seines Erfinders beweist. Im weiteren Verlauf dieses Essays werde ich zuerst Genese und Struktur des Neuen Denkens betrachten. Eine wesentliche Quelle hierzu sind die Werke von Michail Gorbatschow selbst, die er im Rückblick verfaßt hat[i]. Daß diese Retrospektive sich nicht ganz aus einer gewissen Voreingenommenheit befreien kann, ist beinahe selbstverständlich. Daher möchte ich der Stimme Gorbatschows die Meinung kritischer Beobachter an die Seite stellen.

Michail Gorbatschow hat seine Rolle gespielt, und die Phase, in der er eine historische Schlüsselposition mit Leben füllte, ist endgültig vorbei. Viele interpretieren die heutigen Aktivitäten Michail Gorbatschows – mit seiner Gorbatschow-Stiftung und den Auftritten in Fernsehshows und selbst Werbespots – lediglich als geschickte Selbstvermarktung und Ausbeutung seines Mythos. Dabei vergessen sie aber, daß die Stimme dieses Mannes mit Konzepten die Welt bewegt hat, die auch heute noch verdienen, gehört zu werden. Die Fähigkeit zu lernen kann man Michail Gorbatschow auf keinen Fall absprechen. Die gleiche Qualität ist auch jenen abzufordern, die vorschnell mit politischen Etikettierungen zur Tagesord­nung zurückkehren wollen.

Interpretativer Dissens

Das ‘Neue Denken’ war der ideelle Leitfaden für die politische Praxis der Ära Gorbatschow. Gorbatschow als Initiator des Neuen Denkens hat die wesentlichen Grundgedanken mit seinen Mitarbeitern erarbeitet und auf die Agenda der politischen Gremien gesetzt. Das Neue Denken ist dabei vor allem im außenpolitischen Zusammenhang entstanden: der Blick auf die Weltsituation bestimmte den ursächlichen Deutungszusammenhang, der auch die Ausformung des Neuen Denkens in anderen Politikbereichen, etwa der Innenpolitik, beeinflußt hat. Aber insgesamt steht vor allem die Außenpolitik der Sowjetunion mit dem Neuen Denken in einer intensiven Wechselbeziehung.

Auf die Verortung des Neuen Denkens, die Zuweisung einer ursächlichen Bedeutung für die Reformprozesse in der Sowjetunion, bezieht sich auch ein grundsätzlicher interpretativer Dissens. So sagt Czempiel: „Das Hauptziel der Gorbatschowschen Reformpolitik nach seinem Amtsantritt im März 1985 war es mit der Perestroika genannten Reformpolitik, die erneut so eklatant gewordene Wirtschaftsmisere des Landes zu beheben. Als sich ein Jahr später zeigte, daß die Reform der Wirtschaft ohne die der Herrschaft nicht möglich sein würde [...] fügte Gorbatschow das Glasnost-Programm der politischen Öffnung hinzu. Beides wurde im Sommer 1987 in der „radikalen Umgestaltung der Wirtschaftsleitung“ zusammengefaßt. Sie sollte das bestehende System nicht aufheben, sondern verbessern, indem sie es reformierte .“[ii] Natürlich hat Czempiel recht, wenn er anspricht, daß Perestroika und Glasnost nicht gedacht waren, das ‘bestehende System aufzuheben’, was immer das auch bedeuten möge. Damit wiederholt er lediglich Äußerungen Gorbatschows, der dies in seinen Reden und Publikationen der 80er Jahre und später auch in seinen Erinnerungen betonte.

Czempiel aber deutet nun die Wirtschaftspolitik mit ihren Effizienzzielen als treibende Kraft und Motor für die Politik der Perestroika. Er identifiziert damit seinen Ansatz als einen instrumentell-strategischen: Perestroika und Glasnost sollen nichts anderes gewesen sein als Instrumente der Systemerhaltung – eine Systemreform um des Machterhalts willen! Sicher hat auch Gorbatschow geglaubt, an den letzten Prinzipien des Leninismus-Marxismus festhalten zu können und war erstaunt, welche Dynamik er selbst in Gang gesetzt hatte. Seine Absicht war, einen sanften Übergang zu ermöglichen – aber nicht im Sinne der Erhaltung eines Systems, das den Kernthesen des Neuen Denken widersprach, sondern im Sinne des Staatserhalts – ein durchaus legitimes Ziel für einen Staatsmann. Tschernjajew erwähnt, daß die entscheidende Meinungsverschiedenheit zwischen Gorbatschow und Jelzin letzlich über die Methode des Wandels entstand; während Jelzin einer Philosophie der revolutionären Veränderung, z.B. mit der Abschaffung der KPdSU anhing, glaubte Gorbatschow an die Möglichkeit der Evolution des Systems.[iii]

Ferner hat die Deutung Czempiels einen strukturellen Charakter, so als ob die Sowjetführung unter Gorbatschow Politik nach feststehenden Regeln und auf wohldefinierten Feldern abzuarbeiten gehabt hätte. Sicher kann Czempiel zurecht darauf verweisen, daß man – um mit Lord Dahrendorf zu sprechen – mit dem Angebot auch die Anrechte, mit der Wirtschaft auch die politischen und gesellschaftlichen Spielregeln reformieren muß[iv]. Aber das politische Klima in der Sowjetunion des Jahres 1984 war auf die Deutung der Wirklichkeit mittels Ideologie, auf die Lösung der Gesellschaftprobleme mit den Mitteln marxistisch-leninistischer Theorie gepolt; das ‘Anrecht’ als Thema der Politik oder die Wirtschaft – vor allem ‘Privatwirtschaft’ – als Politikgebiet waren erst noch zu erfinden und als eigenständige Termini zu etablieren. Von daher ist es absurd, zu behaupten, daß sich ‘nach einem Jahr’ hätte zeigen können, daß dies so nicht funktionierte und daß man, wie an einem politischen Flickenteppich strickend, schnell noch Glasnost hinzugefügt hätte.

[...]


[i] Dies sind Gorbatschows „Erinnerungen“ [1994] und sein Buch „Das Neue Denken“ von 1997, das er zusammen mit Anatoli Tschernjajew und Vadim Sagladin verfaßte.

[ii] Czempiel [1993], Seite 18

[iii] Anatoli Tschernjajew: the Phenomenon of Gorbachev, in: International Affairs 6/1993, S. 37-48

[iv] Ralf Dahrendorf: Der moderne soziale Konflikt – Essay zur Politik der Freiheit, Frankfurt a.M. 1994. Seite 22

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Das Neue Denken und sein Erfinder: ist Michail Gorbatschow eine "tragische Figur"?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaften)
Veranstaltung
Gorbatschows Perestroika aus der Sicht neuer Forschungsperspektiven und Quellen
Note
2
Autor
Jahr
1998
Seiten
21
Katalognummer
V41720
ISBN (eBook)
9783638399272
Dateigröße
488 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit befaßt sich mit dem 'Neuen Denken' Gorbatschows, mit dem Zusammenhang zwischen grundlegenden Inhalten und Normen des Neuen Denkens und dem Erfolg respektive Mißerfolg von Gorbatschows Politik der Perestroika.
Schlagworte
Neue, Denken, Erfinder, Michail, Gorbatschow, Figur, Gorbatschows, Perestroika, Sicht, Forschungsperspektiven, Quellen
Arbeit zitieren
Manfred Kipfelsberger (Autor:in), 1998, Das Neue Denken und sein Erfinder: ist Michail Gorbatschow eine "tragische Figur"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41720

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